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"Blinder Tod" ist der erste von insgesamt fünf geplanten Bänden rund um das Ravensburger Kripoteam. Jeder Band wird von einem anderem Sinnesorgan als Leitthema begleitet. Touristische Attraktionen sowie landschaftliche und kulturelle Begebenheiten rund um die Bodenseeregion prägen die spannenden, abgründigen Kriminalfälle. Ebenfalls abgebildet ist das historische Zeitgeschehen um die Corona-Pandemie beginnend im Frühjahr 2020, insbesondere aus dem Blickwinkel der verschiedenen Polizeiprotagonisten. Ein vielschichtiger Kriminalroman mit einer gehörigen Portion Lokalkolorit aber auch multikulturellen Aspekten. Mehrere Handlungsstränge ziehen sich durch das Buch und finden teils in den weiteren Bänden ihre Fortsetzung. Wie weit würden Sie gehen, um Ihr Augenlicht zu retten? Ein Bodenseekrimi – tiefgründig, packend, überregional Ravensburg, Februar 2020 Die ehrgeizige Kommissarin Becca Brigg ist mit ihrem neuen Team unter den Eindrücken der sich weltweit ausbreitenden Covid-19-Pandemie einem ungewöhnlichen Fall auf der Spur. Am Gehegezaun der Touristenattraktion Affenberg bei Salem wird eine weibliche Leiche gefunden der skurrilerweise ein Auge fehlt. Zeitgleich rückt die Badener Landfleisch GmbH mit seinen Geschäftsführern ins Visier der Ermittler. Beccas neuer Partner im Präsidum Ravensburg, KHK Herz, ein Exfeldjäger der Bundeswehr kämpft sich indes durch seine eigene Hölle.
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2023
Diener
O, ich bin hin!
Mylord, euch blieb ein Auge,
die Straf an ihm zu sehn. – O!
(Er stirbt.)
Cornwall
Dafür ist Rat: heraus, du schnöder Gallert!
Wo ist dein Glanz nun?
Gloster
Alles Nacht und trostlos.
Shakespeare, König Lear, 3. Akt, Szene 7
Blinder Tod
Becca Brigg - Kripo Ravensburg - Band 1
Von Karina Abrolatis
2. Auflage, Erstveröffentlichung Taschenbuch 09.06.23
© Karina Abrolatis – alle Rechte vorbehalten.
Impressum:
Rina Abro - Texte & mehr
Dorfhalde 5
88662 Überlingen
www.bodenseekrimis.de
Coverfoto & Umschlagsgestaltung:
© Rina Abro - Texte & mehr mit Canva Pro
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN Softcover: 978-3-384-06877-4
ISBN Softcover Großschrift: 978-3-384-06879-8
ISBN Hardcover: 978-3-384-06878-1
ISBN E-Book: 978-3-384-07060-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Februar 2020
Friedhof Überlingen
Donnerstag, der 27.02.2020
Die Villa
Freitag, der 28.02.20
Affenberg Salem
2 Wochen später – Freitag der 13.03.2020
Unerwartetes
Samstag, der 14.03.2020
Verhärtete Fronten
Tage später - Donnerstag, der 19.03.2020
Rumänien
Freitag, der 20. 03. 2020
Eine gewaltige Sauerei
Samstag, der 21. 03. 2020
Präsidium Ravensburg
Montag, der 23.03.2020
Gewogenheit
Dienstag, der 24.03.2020
Immenstaad Bodensee
Mittwoch, der 25.03.2020
Schuldig
Donnerstag, der 26.03.2020
Rettungsringe
Freitag, der 27.03.2020
Westafrika
Montag, der 30. 03.2020
Freud und Leid
Dienstag der 31. 03.2020
Epilog
Sonntag, der 5. April 2020
Über dieses Buch
Quellenangaben:
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Prolog
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Prolog
Februar 2020
Die knochig wirkende junge Frau trug trotz der frostigen Februartemperaturen nicht mehr als ein dünnes Krankenhausnachthemd, das hinten weit offenstand. Bei jedem ihrer Schritte wehte es den mit starker Gänsehaut überzogenen nackten Rücken frei. Das Mädchen aber spürte die winterkalte Erde unter ihren bloßen Füßen nicht länger. Auch die scharfkantigen Bucheckern mit ihren stachligen Hüllen, die den Waldboden übersäten und die sich jetzt unbarmherzig in ihre Fußsohlen bohrten, nahm sie nicht mehr wahr. Ihre körpereigenen Stresshormone hatten die Kontrolle vollständig übernommen. Der Puls hämmerte und das Blut rauschte laut in ihren Ohren. Adrenalin und Noradrenalin jagten im Wettstreit durch die Blutbahn. Alle nicht unmittelbar überlebenswichtigen Körperfunktionen waren ausgeblendet. Ihr geschwächter Organismus war dabei, die letzten Energiereserven zu mobilisieren.
Hektisch und vorsichtig zugleich schob die Frau ihren mageren Körper Schritt für Schritt vorwärts; über Bodenunebenheiten, Blätter und kleinere Äste. Ihre Arme streckte sie schützend voran, um nicht aus Versehen auf vor ihr auftauchende Hindernisse zu prallen.
Ihr Versuch, im Gehen den stabilen Verband von den Augen zu reißen, der sie völlig blind machte, scheiterte kläglich. Der stechende Schmerz, der durch das Zerren an der Binde verursacht wurde, drang kurz und scharf durch den Adrenalinpegel in ihre Wahrnehmung und nahm ihr vorübergehend den Atem.
Wenn ich doch nur etwas sehen könnte! Ein Eichelhäher stieß seinen Warnruf aus. Wasser plätscherte. Ein Bach? Verzweifelt lief Stella schneller, als gut für sie war. Mehrmals war sie bereits gestolpert und konnte sich gerade noch fangen, kurz davor auf den gefrorenen, harten Boden zu schlagen. Vor allem, kurz davor eingeholt zu werden. Laub raschelte unter ihren Füßen. Jegliche Sinne waren jetzt fest auf das Geräusch der bedrohlich nahenden Schritte hinter ihr fixiert und ließ sie jede Vorsicht vergessen. Der Abstand zwischen der Gejagten und dem Jäger verringerte sich jedoch seltsamerweise nicht, obwohl Stella, blind, wie sie durch den Verband war, nur langsam vorankam.
Die Person spielte mit ihr, genoss die Jagd und zögerte das Stellen des Wilds hinaus.
Wenige Minuten davor, als sie sich noch im Auto befanden, hatte Stella sich unendlich schwach und schwindelig gefühlt. Ihre Gedanken kreisten wild hinter dem pochenden Auge, dessen erbarmungslosen Schmerz sie sich nicht erklären konnte. Dieser Schmerz war in den letzten Tagen deutlich intensiver und tiefliegender geworden. Irgendetwas stimmte nicht. Absolut nicht. Der Druckverband saß fest um ihren Kopf und bedeckte beide Augen, obwohl nur eines davon tatsächlich operiert war. Die Erklärung des Arztes, dass der Heilungsprozess dies erforderte, hatte sich einleuchtend angehört. Augen funktionierten nun einmal paarweise.
Stella zermarterte sich den Kopf, zu wem die Hände gehörten, deren fordernde Berührungen auch jetzt noch auf ihrem Körper brannten. Einer der Ärzte? Wer war der Mann?Man erwarte Dankbarkeit von ihr, hatte er mehrmals mit drohendem Unterton gesagt. Dieselbe eindringliche Stimme befahl ihr in den letzten Wochen wiederholt, keinen Laut von sich zu geben, wenn sie den OP-Erfolg nicht gefährden wollte.
Stella war stumm geblieben. Tag für Tag. Obwohl der Ekel sowie die Angst, die seine Hände auf ihrem Körper verursachten, sie fast um den Verstand brachten. Es war der Preis, den sie zahlen musste, um wieder sehen zu können, redete sie sich wiederholt ein, um nicht völlig zu verzweifeln.
Ich will nicht blind werden. Alles, nur das nicht!
Halte es aus, Stella, ermahnte sie sich permanent.
Halte es irgendwie aus …
Sie wollte diesen Preis bezahlen, koste es, was es wolle, und ließ darum den Mann alles tun, was er verlangte. Nur wenn er zu grob wurde und ihr weh tat, wehrte sie sich halbherzig - genutzt hatte es nichts.
Wie viele Wochen waren vergangen, seit sie nach Deutschland gekommen war? In der immerwährenden Dunkelheit des Augenverbands war ihr jegliches Zeitgefühl abhandengekommen. Die gedämpften Geräusche des Hauses, die sie gelegentlich in ihrem Zimmer hörte, gaben Stella keinerlei Tagesrhythmus.
Sie war brav gewesen. Ganz brav. Sie konnte sich mit dem Gedanken nicht abfinden, für den Rest ihres Lebens auf einem Auge blind zu sein. Und was, wenn mein zweites Auge ebenso erkrankt? Was dann? Ich bin noch so jung. Ich will sehen!
Das war es wert, alles zu ertragen.
Erneut versuchte sie, verzweifelt zu begreifen, wieso man sie vorhin in das Auto gezerrt hatte. Was war passiert? Sie hatte sich an sämtliche Anweisungen gehalten! Ich war still, wenn der Mann kam, und habe keinen Ton von mir gegeben. Ich habe mich dankbar gezeigt! Plötzlich veränderte sich der Fokus ihrer Gedanken.
Weshalb kann ich die Motorengeräusche des Autos nicht hören? Wir fahren doch! Ich müsste den Motor doch hören können! Eine mächtige Welle der Panik breitete sich in Stella, wie ein sich aufrollender Teppich aus und ließ ihre Gedanken immer konfuser und unlogischer werden. Ist mein Gehör durch irgendetwas geschädigt? Wohin fahren wir denn? Wenn ich doch nur die Worte verstehen könnte!
Es gelang Stella in der sich jetzt immer weiter ausbreitenden Panik nicht, einen der umherwirbelnden Gedanken festzuhalten und eingehender zu betrachten. Oder diese gar zu ordnen. Als das Fahrzeug abrupt stoppte, wurde sie auf das Armaturenbrett nach vorne geschleudert. Sie war nicht angeschnallt gewesen. Ihr Kopf prallte hart gegen die Windschutzscheibe. Dann schloss sich plötzlich ein brutaler Griff um ihren Oberarm und sie wurde vom Beifahrersitz nach draußen gezerrt. Die jäh erneut aufwallende Angst verdrängte jegliche Benommenheit aus Stellas Körper.
„Lauf, Dreckstück!“
Der anschließende Schubs in den Rücken, der ihr gegeben wurde, war roh. Stella entwich unwillkürlich ein jämmerliches Wimmern aus ihrer Kehle. Sie verstand kein Deutsch. Der verachtende, schneidende Tonfall war jedoch unmissverständlich international und ließ sie augenblicklich trotz ihrer Blindheit vorwärts stolpern. Nur weg. Weg von dieser eiskalten, erbarmungslosen Stimme. Weg von der Person, die sie hergebracht hatte. Ihr dünnes Nachthemd blieb an irgendetwas hängen. Ein Ast schrammte über den nackten Rücken. Mit einem verzweifelten Aufschluchzen riss sie sich los. Nur weiter. Weg von hier. Immer weiter, zog die Gedankenkette durch sie hindurch. Ihr Zeh stieß hart gegen einen größeren Stein. Der Schmerz indes erreichte ihr Gehirn, den ausgeschütteten Stresshormonen sei Dank, gnädigerweise nicht.
Weiter Stella, lauf weiter.
Unvermittelt prallten ihre ausgestreckten Hände auf kaltes Metall. Sie griff hektisch und tastend danach. Was war das? Ich muss weiter. Schnell! Ihre fiebrig tastenden Hände erkannten, dass die Metallstäbe, die vor ihr nach oben in die Höhe ragten, sich über ihre jetzt gestreckten Arme hinaus fortsetzten. Ein Hinüberklettern erschien unmöglich. Und als sie sich hektisch nach unten bückte, wurde Stella zu ihrem Entsetzen bewusst, dass ein darunter Durchkriechen ebenfalls nicht möglich sein würde. Sie versuchte es weiter rechts. Dann links. Vergeblich. Sie tastete sich an dem eisigen Metall entlang, obwohl ihrem Unterbewusstsein jetzt schon klar war, dass sie nicht mehr weiter kam.
Der Weg vor ihr war versperrt.
Unnatürlich laut dröhnte Stella Radu der eigene, stoßweise gehende Atem in den Ohren. Die Schritte des Jägers hinter ihr kamen jetzt sehr schnell näher. Zu schnell. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihr Körper schien völlig steif, wie paralysiert. Stumm betete Sie.
O Maria, ajută-mă!
Ein ohrenbetäubendes, animalisches Kreischen, das ihr den letzten Atem nahm, erhob sich direkt vor der jungen Frau. Oder war das Geräusch über ihr? Dann war der Wald plötzlich totenstill und nur das leise Gemurmel des schmalen Bachs erklang friedvoll zwischen den hohen Bäumen.
Der Schatten, der alles beobachtet hatte, stahl sich lautlos, weit oben in den Baumkronen davon.
Friedhof Überlingen
Donnerstag, der 27.02.2020
Ein hohles, prasselndes Geräusch, eigentümlich unpassend, durchdrang Hauptkommissarin Becca Briggs fokussierte Wahrnehmung. Es hörte sich ähnlich einem heftig herabfallenden Starkregen an. Verursacht wurde es durch die Handvoll Erde, die sie nur sehr zögerlich fallen gelassen hatte, und die jetzt auf den dunklen Sarg in der Tiefe traf. Die Kommissarin hatte diesen Klumpen in ihrer Hand nicht loslassen wollen. Etwas in ihr hatte sich widerwillig dagegen gesträubt, die Faust, die die Erde fest umschloss, zu öffnen und das sauber polierte Holz des Sargs damit zu beschmutzen. Es fühlte sich an, als würde sie Dreck nach ihrer toten Schwester werfen.
Wie in Trance reihte sich Becca neben ihre Eltern und Aage ein, die als engste Angehörige seitlich am offenen Grab Spalier standen. Sie hatten unmittelbar vor ihr das rituelle Schauspiel mit der geworfenen Erde vollzogen, wie wenn sie tatsächlich in diesem Moment Abschied genommen hätten. In Wahrheit waren sie jedoch völlig unfähig, ihre wahren Gefühle im Augenblick überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Nach und nach würde jetzt die ganze Trauergemeinde diese althergebrachte Prozedur wiederholen. Stumm und allein begleitet von der prasselnden Musik der herabfallenden Erde.
Von Beileidsbekundungen am Grab war bitte abzusehen, so stand es in der Zeitungsanzeige des hiesigen SeeTageblatts vor ein paar Tagen:
Tatjana „Taja“ Jorgensen Geboren am 30. März 1984 und für ewig von uns gegangen am 17. Februar 2020
Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht (Josua 1.5b)
Gedruckt war die Anzeige in romantisch geschwungener kursiver Schreibschrift und daneben prangte ein Farbfoto ihrer glücklich lächelnden Schwester.
Wenigstens regnete es nicht an diesem ansonsten so trostlosen Tag. Der eisige Ostwind vom gestrigen Aschermittwoch hatte sich sanft zurückgezogen. Die kahlen Bäume mit ihrer dunkelfeuchten Rinde auf dem Friedhofsgelände in Becca Briggs Geburtsort Überlingen begleiteten stoisch das unter ihnen stattfindende Trauerspiel. Nur vereinzelt blitzte Zuversicht spendend ein Schneeglöckchen zwischen den unzähligen Gräbern auf.
Becca hatte ihren Blick starr auf die scharfe Abbruchkante der ausgehobenen Erdgrube direkt vor ihr gerichtet, so, als könne diese ihr irgendwelchen Halt geben.
Helga Brigg, ihre strenggläubig katholische Mutter, hatte stoisch auf eine Erdbestattung für ihre Tochter bestanden. Weder Becca selbst noch Tajas Ehemann Aage gelang es, ihr diesen Unsinn auszureden. Der Vater versuchte es aus Erfahrung erst gar nicht. Sie bemühten sich, mit unzähligen Argumenten ein Urnengrab im Friedwald oder im Kolumbarium zu favorisieren. Der agnostische Aage wohnte zudem viel zu weit weg, um sich dauerhaft um eine Grabstelle zu kümmern. Letztlich siegte der in Glaubensfragen ausgeprägte Wille ihrer Mutter, die sich unverzüglich dazu verpflichtete, die Grabpflege langfristig zu übernehmen. Becca blieb skeptisch. Mindestens zwei Jahrzehnte betrug die übliche Liegezeit für ein Erdgrab. Ihre Mutter wäre bei dessen Auflösung vierundneunzig Jahre alt. Sofern sie dieses stolze Alter überhaupt erreichen würde. Für Becca, die nur knappe zwanzig Kilometer entfernt der elterlichen Wohnung und des Überlinger Friedhofs lebte, war es unschwer zu erraten, wer sich im Falle einer fortschreitenden Gebrechlichkeit ihrer Mutter darum kümmern würde.
Die Gedanken der Kommissarin driften weiter in die Vergangenheit. Fort von den gefühlsleeren Augen der Mutter, die gramgebeugt, aber gnädig abgeschirmt durch die verschriebenen Beruhigungsmittel des Hausarztes, das Unfassbare über sich ergehen ließ. Und weg vom Vater, der mit sich rang, in militärisch starrer Haltung die Fassung zu bewahren, die er zeit seines Lebens durch eiserne Disziplin niemals verloren hatte.
Becca kam, wie sie so dastand und die Trauergemeinde langsam an ihnen vorüberzog, Schampus in den Sinn. Sie erinnerte sich, wie der ehemals schwanzwedelnde Teil der Familie Brigg jeden auf seine ganz eigene Art geliebt hatte. Insbesondere Taja, das Nesthäkchen, kam in den Genuss des ausgeprägten Beschützerinstinktes des Hundes. Der Bobtailrüde hatte die beiden Schwestern ein Hundeleben lang durch die Kindheit begleitet.
Nach seinem Tod wurde die Haltung von Haustieren laut Mietvertrag im Wohnkomplex generell verboten, was einen Nachfolge-Familienhund unglücklicherweise ausschloss. Unzählige Bilder flackerten an Beccas innerem Auge vorbei, wie der zottelige Hund mit seiner großen, himbeerrosafarbenen Zunge verbotenerweise über ihre zarten Mädchengesichter leckte. Sie und Taja kichernd, wie es nur zwei völlig unbeschwerten Kindern gelang. Der Bodensee bot im Sommer für Mensch und Tier vergnügliche Badefreuden. Wenn das untrennbare Dreigestirn das Wasser nach ausgiebigen Planschorgien verließ, schüttelte Schampus sein langes Fell trocken und spritzte dabei regelmäßig die Schwestern zu derer großen Heiterkeit nass. Soprane Mädchenstimmen quietschten lautstark zwischen bassartigem Bobtailgebell. Es waren unbeschwerte Kindertage.
Vater Erich Brigg, der seinem täglichen Dienst als Polizeiobermeister in der Dienststelle Überlingen nachging, wusste Wohnung und Kinder bestens durch seine patente Frau versorgt. Helga Brigg hatte nach der Hauswirtschaftsschule gar nicht erst angefangen zu arbeiten, sondern jung geheiratet und den Status der Ehefrau vorgezogen. Der in Polizeiuniform durchaus schmuck aussehende Erich, den sie im Überlinger Kursaal beim Tanz kennengelernt hatte, stellte mit seinem Beamtenstatus die Idealbesetzung für eine solide Familiengründung dar. Der fordernde Beruf ihres Mannes bedingte, neben dem positiven Effekt, gut versorgt zu sein, allerdings auch, dass Beccas Mutter meist anfallende Alltagsprobleme alleine lösen musste.
Die allgegenwärtigen Ängste, der Ehemann würde eines Tages nicht mehr lebend von einem Polizeieinsatz zurückkehren, trieben sie derweil immer tiefer in die tröstenden Arme der katholischen Kirche. So gab eine seit der Kindheit verwurzelte Religiosität Helga Brigg den nötigen Halt und die Kraft, die Ungewissheiten in ihrem Leben auszuhalten. Der eher ländlich geprägte Bodenseeraum rangierte zwar generell nicht im oberen Drittel der Kriminalstatistik, doch gelegentlich kam es auch hier zu lebensbedrohlichen Gewaltanwendungen im kriminellen Milieu und im Zuge dessen zu schwerverletzten Polizeibeamten. Lebte Beccas Vater in seinen Dienstjahren bereits mit einem gewissen Berufsrisiko, so hatte seine älteste Tochter heutzutage als Hauptkommissarin bei der Kripo in Ravensburg einen offenkundig noch gefährlicheren Job inne. Dies lag zum Teil in der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft, aber auch im andauernden Personalmangel begründet.
Becca und Taja erlebten indes ihre Kindheit völlig sorgenfrei und bekamen von alldem nichts mit. Die nicht berufstätige Mutter war stets für sie da. Ein Fels in der Brandung des Lebens. Und Erich Brigg erfuhr durch seine Töchter die Art von Heldenverehrung, die sonst nur denen zuteilwurde, die das ultimative Böse in der Welt bekämpften. Er jagte die Gesetzlosen und kümmerte sich um die Schwachen der Gesellschaft. So befand er sich in den verehrenden Augen seiner Töchter auf direktem Level mit Robin Hood und Superman.
Das Verhältnis der beiden Schwestern war beständig eng und innig. Damals wie heute.
Becca, immerhin zehn Jahre älter, fungierte mehr als eine mitverantwortliche Erziehungsberechtigte denn gleichwertige Schwester. Sie erlebte mit ihrem großen Altersvorsprung bewusst die Geburt der kleinen Nachzüglerin mit. Und auch das damit verbundene tiefe Glück der Eltern über den verspäteten Segen. Becca begleitete Tajas Einschulung, den späteren Wechsel auf die höhere Schule und schließlich das einschneidende Ereignis von Tajas erster großer Liebe: ein pupertätspickelgesichtiger Siebzehnjähriger mit blauem Moped und cooler Frisur im Fringe-Style. Nach ein paar wenigen Monaten war der junge Draufgänger bereits mit einer anderen großen Liebe beschäftigt und Becca tröstete das Nesthäkchen bei ihrem ersten Liebeskummer.
Taja entwickelte sich charakterlich völlig anders als Becca, die schon im Kindesalter dazu neigte, eher regelkonform zu handeln. Auch ließ die Kommissarin in der Grundschule bereits Ehrgeiz erkennen und fuhr durchaus, wenn nötig, die Ellenbogen gegen Mitschüler aus. Nicht von ungefähr stieg sie nach Abschluss des Gymnasiums in die Fußstapfen des verehrten Vaters und schlug die höhere Polizeilaufbahn ein.
Taja hingegen war auf eine oberflächlich heitere Art gedankenlos lebenslustig. Bis auf einen heimlich gerauchten Joint im Teenageralter entgleiste ihr antikonservativer, leicht rebellischer Charakter dann glücklicherweise aber nicht. Sie hatte rundweg Spaß am Leben und nahm die Dinge the easy way, wie sie gern betonte. Taja war eine Sympathieerscheinung, die ihre unmittelbare Umgebung im Handumdrehen mit Leichtigkeit bezauberte.
Papas Prinzessin. Sein Augenstern. Für Becca ein Spagat, die Verdrängung in die zweite Reihe durch ihre jüngere Schwester nicht übel zu nehmen. Eines Tages jedoch wurde der vergötterte Vater letztlich von seiner Prinzessin durch die Heirat mit Aage stillschweigend abgesetzt. Der blonde Hüne mit dem Wikingeraussehen trug Taja von da ab auf seinen riesigen Händen durchs Leben. Liebevoll entführte er Beccas Schwester in seine Heimat nach Glücksburg an der Ostsee. Hoch, bis fast an die dänische Grenze.
Doch der verheißungsvolle Ortsname sollte dem Paar nicht das bringen, was er versprach.
Über tausend Kilometer von den heimischen Gefilden im Bodenseekreis entfernt, bauten die beiden Verliebten Aages reetgedeckten Hof um. Ein Erbstück seiner früh verstorbenen Eltern. Ein schmuckes Fachwerkhaus mit nicht wenigen Hektar saftiger Wiesen drum herum. Immer eine Brise Ostseewind in der Nase, vermischt mit dem allgegenwärtigen Salzgeruch des nahen Meeres. Sie brauchten einige Jahre, um unter anderem aus dem alten Gemäuer ein hochmodernes Büro für Aage herauszuschälen. Als erfolgreicher IT-Spezialist zählte er zu den Besserverdienern, die vom Homeoffice aus ihre Brötchen verdienen konnten. Das junge Paar richtete ein großzügiges Wohnzimmer mit offener Küche und Kamin ein. Auf Tajas Wunsch hin ebenso zwei separate Kinderzimmer, schon mit lustigen Comic-Motiv-Tapeten verheißungsvoll geschmückt. Sie plante, ihre Anstellung als chemisch-technische Assistentin auf halbtags zu reduzieren, sobald sich der sehnliche Wunsch nach eigenen Kindern erfüllen würde. Inzwischen über dreißig Jahre alt, tickte die biologische Uhr diesbezüglich.
Die lange Schlange der Abschiednehmenden am blumengeschmückten Grab, so kam es Becca Brigg jedenfalls vor, wollte kein Ende nehmen. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit jetzt erneut der Zeremonie zugewendet und erkannte einige ehemalige Schulfreunde von Taja wieder. Nachbarn bekundeten ihre Solidarität mit ihrer Anwesenheit und entfernt bekannte Gesichter zogen vorüber. Auch frühere Polizeikollegen ihres Vaters befanden sich unter der Trauergemeinde. Es war eine unbeschreibliche Tragödie, das eigene Kind bestatten zu müssen, die im gesellschaftlichen Leben Überlingens sehr viel Mitgefühl hervorrief. Es schien, als wäre die halbe Stadt zum Friedhof gekommen, um ihre Anteilnahme zu bekunden.
Erneut schlug eine Handvoll Erde prasselnd auf den Sarg, diesmal begleitet von einer einzelnen, roten Blume. Allmählich drang die Kälte zu Becca durch. Der trübe, Hochnebel verhangene Himmel über ihnen wurde dem trostlosen Anlass gerecht.
Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen. (Josua 1.5b)
Bei dem Gedanken an den Anzeigentext im SeeTageblatt, den ihre Eltern zusammen mit Aage ausgesucht hatten, durchzog Becca jäh eine Woge der Bitterkeit. Tja Josua, wer immer du gewesen bist: Ich glaube dir nicht! Diese hier, verdammt nochmal, hat dein Gott eindeutig fallen gelassen!
Schnell blickte die Kommissarin auf Grund dieser gotteslästerlichen Sätze zu dem erstarrten Gesicht von Helga Brigg hin. Es schien, als müsste sie sich vergewissern, dass die Mutter ihre häretischen Gedanken nicht zu lesen vermochte. Mütter waren bekanntlich eine Spezies für sich, denen war alles zuzutrauen. Langsam kroch zudem die Wut wieder in ihr empor und verschaffte sich Raum. Dieses Gefühl, das den dumpfen Schmerz der verbitterten Trauer rasch verdrängte, erschien der Kommissarin deutlich besser ertragbar. Wut hatte sie im Griff. Die war beherrschbar. Es ging dabei letztlich nicht nur um die ungerechte Tatsache, dass Taja vor ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag diese Welt hatte verlassen müssen, nein, es drehte sich vor allem auch um das Wie.
Zu dem Zeitpunkt, da sie alle fest daran geglaubt hatten, sie würde diesen verdammten Krebs besiegen, schlug dieser erneut mit voller Wucht zu. Tajas einst so lebhaft wippenden, blonden Locken hatten nicht einmal die Zeit gefunden, vollständig nachzuwachsen. Die letzten Wochen waren grauenvoll mit anzusehen. Wie sie immer weniger wurde. Ihre einstmals so helllodernde Flamme begann unaufhörlich zu verlöschen. Taja war bis auf das Skelett abgemagert. Das früher so hübsche Gesicht, ein mit gräulicher Haut überspannter Schädelknochen. Zwei übergroß wirkende, verzweifelte Augen darin, die stumm darum flehten, weiter leben zu dürfen.
Unzählige Tote waren der erfahrenen Kriminalbeamtin Becca Brigg im Laufe ihrer Dienstjahre begegnet. Leichen, die auf alle erdenklichen Arten ums Leben gekommen waren. Ihre zum Teil ausgeprägten körperlichen Entstellungen verliehen diesen Toten mitunter die Aura eines entsprungenen Protagonisten aus Saurons Armee der Herr der Ringe Trilogie. Dazu gesellte sich meist ein Verwesungsgeruch, der jede menschliche Ähnlichkeit heftig leugnete.
Ja, Hauptkommissarin Brigg verfügte über einen professionell abgehärteten Schutzpanzer im Umgang mit Verstorbenen. Jedoch waren diese Menschen bereits tot. Nichts vermochte diese Tatsache mehr zu ändern. Die Rechtsmedizin, sowie die Kriminologen, begutachteten fachgerecht distanziert und wissenschaftlich ihre seelenleeren Körperhüllen. Stets darum bemüht, die Verantwortlichen des frühzeitigen Ablebens eines Opfers zur Rechenschaft zu ziehen. Das war der einzige Dienst, den man ihnen und ihren Angehörigen noch zu erweisen vermochte.
Nichts von alldem hatte die Hauptkommissarin darauf vorbereitet, ohnmächtig einem über viele Wochen andauernden Sterbeprozess einer geliebten Person beiwohnen zu müssen. Denn dieser, noch um sein Leben ringende Mensch, atmete. Das war eine völlig andere Hausnummer. KHK Brigg stürzte sich im Präsidium blindlings in ihre Arbeit; übernahm freiwillig Dienste und absolvierte Überstunden bis zur absoluten Erschöpfung. Dennoch erlebte sie hilflos, wie Vater und Mutter Brigg gleichermaßen Stück für Stück mit der sterbenden Schwester aufhörten zu leben. Es war ihr ebenso unmöglich, der zunehmenden Verzweiflung Aages auszuweichen, der unfähig schien, seinen Tränenfluss zu beherrschen. Der körperlich riesenhaft erscheinende Mann weinte unaufhörlich wie ein kleines Kind. Heute standen die von Trauer und Schmerz ausgehöhlten Hüllen ihrer selbst neben dem offenen Grab.
Ja, bei Gott, die Kommissarin gäbe etwas darum, irgendeinen Schuldigen für diesen grausamen, sinnlosen Tod ihrer kleinen Schwester zur Rechenschaft ziehen zu können.
Endlich war der letzte Kondolierende an ihnen vorbeigegangen. Helga Brigg, behütet untergehakt zwischen Beccas Vater und dem katholischen Stadtpfarrer, ein sympathisch wirkender Mann, ließ sich mit gesenktem Haupt in Richtung Friedhofsparkplatz führen.
Becca stand für Sekunden alleine mit Aage am offenen Grab.
Das war`s dann also. Das war alles. Mehr bleibt nicht.
Sie wartete auf die Tränen, die nicht kommen wollten.
Wo bist du jetzt, Taja?
Wie tröstlich musste der Gedanke sein, dachte sie, dass ein gütig liebender Gott sich ihrer angenommen hatte. Es gab Augenblicke, da beneidete Becca Brigg die Mutter um ihren festen Glauben.
Dies war so ein Moment.
Für einen Bruchteil von Sekunden berührte der neben ihr stehende Aage ihre Hand und sah auf sie herunter. Als ihre Blicke sich trafen, wirkten seine wässrig hellblauen Augen, die von weißblonden Brauen umrahmt waren, wie zwei über die Ufer tretende Seen. Eine unendliche Traurigkeit und Hilflosigkeit lag darin.
Sie schickten einen letzten stummen Gruß zu dem tiefen Loch in der Erde, dann liefen sie bedächtig hinter den Anderen her. Die Feuchtigkeit des Hochnebels tropfte aus Beccas dunklen, kurzen Haaren auf den schwarzen, aufgestellten Mantelkragen.
Eine kleine Schar Trauergäste war zum Leichenschmaus in das an der Überlinger Seepromenade gelegene traditionsreiche Gasthaus zum Felchen geladen. Während so manche touristisch geprägte Gastronomie am Seeufer in den Wintermonaten geschlossen blieb, war das Felchen auch in der kalten Jahreszeit ein geselliger Treffpunkt für Alteingesessene. Erst gestern hatten in diesen Räumlichkeiten die badisch-alemannischen Narren den Aschermittwoch bei einem sauren Hering mit Bratkartoffeln oder Schnecken in Kräuterbutter, ausklingen lassen. Ein paar wenige bunte Luftschlangen hingen immer noch verloren in der Gaststube herum. Stille Zeugen des närrischen Treibens der vergangenen Woche.
„Oh Becca, mein Schatz. Wie furchtbar, dass wir das miterleben müssen.“ Tante Hedwig krallte sich in den Oberarm der Kommissarin. Für ihre einundneunzig Jahre hatte die ältere Schwester von Erich Brigg erstaunlich viel Kraft in den Fingern. Ihre kleinen, immer ein wenig schelmisch wirkenden runden Augen, schauten Becca dabei mitfühlend durch die dicken Brillengläser an. „Dein Onkel Karl hat auch so schrecklich leiden müssen, bevor er starb. Gott hab ihn selig. Du meine Güte, ist das jetzt schon elf Jahre her?“ Tante Hedwig schüttelte ungläubig die schlohweißen Locken. „Wie geht es dir denn? Hast du wieder einen Freund? Du bist nun seit zwei Jahren allein!“, fuhr sie in unterschwellig vorwurfsvollem Ton fort. „Seitdem dieser spanische Casanova glücklicherweise abgehauen ist. Der hat sowieso nicht zu dir gepasst, wenn du mich fragst. Es gibt so viele nette junge Männer hier im Land. Du solltest wirklich bald mal heiraten Becca, weißt du? Andere Frauen in deinem Alter haben schon erwachsene Kinder. Deine Gotte Margot hat früher immer gesagt, je älter die Frucht, desto süßer das Ergebnis.“
Ein Schwall gut gemeinter Lebensweisheiten aus dem Mund der ebenfalls kinderlosen Tante Hedwig ergoss sich in Beccas Ohr. Die Kommissarin bemühte sich redlich, höflich und aufmerksam zu erscheinen, obwohl sie weiterhin komplett neben sich stand. Überfallartig sehnte sich Becca danach, die Haustür ihrer Wohnung in Wittenhofen im Deggenhausertal hinter sich zu schließen. Die Vorstellung, auf ihr heimeliges Ecksofa zu fallen und ein, oder am besten gleich zwei Gläser dunkelroten Rioja Reserva zu trinken, hatte etwas unwiderstehlich Verlockendes. Kein weiterer Austausch höflicher Floskeln, kein Sich-zusammenreißen-Müssen, kein mühseliger Smalltalk.
Aage würde für einige Tage im Gästezimmer bei ihren Eltern in Überlingen schlafen. Es gab immer noch ein paar formale Dinge nach Tajas Tod zu regeln, und die weite Rückfahrt an die Ostsee erforderte eine stabile Konstitution, über die der Schwager im Moment nicht verfügte. Becca war erleichtert, dass sie durch diesen Umstand von der Pflicht, sich intensiver um die trauernden Eltern zu kümmern, einstweilen enthoben war.
Morgen Früh würde sie ins Präsidium fahren. Zehn Tage Schichtdienst lagen vor ihr. Es war ihr allerdings nicht klar, wie sie das bewältigen sollte. Aber zu Hause sitzen und sich dem Schmerz überlassen, das war das Letzte, was momentan in Frage kam. Dennoch, aktuell fühlte sich die Kommissarin wie von einer Dampfwalze überfahren.
Der Kaffee im Felchen schmeckte eigentümlich nach Pappe und der Kuchen nach überhaupt nichts. Das lebendige Stimmengewirr der Trauergesellschaft hörte sich wie aus einer anderen Welt an. Aage starrte bleich auf seinen Teller. Das Stück Käsekuchen darauf hatte er nicht angerührt. Seine Schwiegermutter, Helga Brigg saß direkt neben dem Schwiegersohn und umklammerte seit geraumer Zeit die Kuchengabel, ohne diese zu benutzen.
Lediglich Erich Brigg, der Überlinger Polizeiobermeister a.D., ertrug die Geselligkeit mit disziplinierter Haltung. Er hielt dabei eine halbvolle Flasche Bodenseeobstler und zwei gut gefüllte Schnapsgläser in der Hand.
Die Villa
Freitag, der 28.02.20
Der schrille Ton des Weckers holte Becca Brigg nach einer quälend unruhigen Nacht um sieben Uhr morgens aus dem Schlaf. Ihr nackter, eiskalt gewordener Fuß ragte zwischen der dicken Bettdecke hervor, den sie unter die kuschelwarme Zudecke zurückzog. Sie hatte sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Jetzt fühlte es sich an, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Was nicht ganz stimmte und lediglich ihrem subjektiven Eindruck entsprach.
Für einen flüchtigen Moment versuchte die Kommissarin ihr soeben erwachendes Bewusstsein in den gnädigen Zustand des erinnerungslosen Schlafs zurückzudrängen. Denn mit dem Aufwachen würde sie brutal, noch bevor sie in der Lage war, ihre Augen zu öffnen, die unbarmherzige Realität einholen.
Taja ist tot.
Letztendlich gelang es Becca nicht, den Augenblick des Vergessens, den ihr der Schlaf gegönnt hatte, hinauszuzögern. Ruckartig, um vor dem einsetzenden Gedankenkarussell zu fliehen, schwang sie die Beine aus dem Bett. Es war kalt im Raum und erinnerte daran, dass der Winter noch immer in vollem Gange war. Lautstark maunzte Gato Macho vor der geschlossenen Zimmertür. Er hatte mit seinem feinsinnigen Gehör Beccas Bewegungen wahrgenommen. Das ausgekühlte Schlafzimmer hinter sich lassend, tappte die Kommissarin barfüßig in den von der Zentralheizung erwärmten Flur.
„Hey, Macho!“ Zart strich sie über das seidenschwarze Rückenfell, an dessen Ende sich ein elegant langer Schwanz steil nach oben aufrichtete. „Wie war deine Nacht? Hattest du Jagdglück?“
Gato Macho, aus dem Spanischen übersetzt schlicht und einfach Kater bedeutend, wurde augenblicklich seinem Namen gerecht. Er untermalte laut maunzend in Machomanier seinen absoluten Anspruch auf ein reichhaltiges Frühstück. Der Miniaturpanther verlieh seiner Stimme dabei eine Dringlichkeit, als sei er nah des Verhungerns.
Becca griff ergeben in ihrer Küche zu einem Schüsselchen und öffnete eine Dose Katzenfutter. Gato Macho, der zwischenzeitlich auf die Küchenzeile gesprungen war, krallte aufgeregt nach der Hand, die dabei war, seinen Napf zu füllen. Aus dem Blickwinkel einer Katze vollzog sich dieser Prozess definitiv deutlich zu langsam.
Das pechschwarze Tier mit den grünleuchtenden Augen teilte sich seit zwei Jahren die Wohnung mit seinem persönlichen Dosenöffner. Genau genommen, seitdem Miguel, Beccas letzter, ernsthafter Beziehungsversuch, nach einem der unzähligen temperamentvollen Wortgefechte heimwärts Richtung Mallorca gezogen war. Der Spanier ließ dabei, sang und klanglos, seine dreckige Wäsche sowie den Kater in Beccas Wohnung zurück.
Die deutsch-spanische Beziehung war in einem Jahresurlaub der Kommissarin entstanden. Ursprüngliches Ziel der Reise war es gewesen, die Mandelblüte im frühlingshaften Mallorca einmal erleben zu dürfen. Doch der heißblütige, charmante Mallorquiner mit den schimmernden schwarzen Locken hatte Becca-Querida in einer Bar bei Tapas und Rotwein im Sturm erobert und die blühende Flora mit ihren Mandelbäumen wurde somit schnell zur Nebensache. Schon nach wenigen Wochen verlagerte Miguel seinen Lebensmittelpunkt ins Süddeutsche und zog in Beccas Wohnung ein. Die Gastronomien am Bodensee hießen eine versierte Fachkraft nur zu gerne willkommen. Zwei Jahre wirbelte der Mallorquiner ihr Leben mit unberechenbarer Spontanität sowie enormer Lebenslust durcheinander und fegte wie ein Hurrikan durch die ruhigen Gefilde im Deggenhausertal. Nachdem er alles auf den Kopf gestellt hatte, verließ er sie von heute auf morgen. Eigentlich hätte die Kommissarin glücklich sein sollen, ihn los zu sein, dennoch nagte der Schmerz über den abrupten Verlust lange in ihr fort. Auch wenn sie sich das selbst nicht gerne eingestand.
Die winzige Küche der Hauptkommissarin in der 3-Zimmer-Erdgeschosswohnung war schmucklos und funktionell eingerichtet. Auf den ersten Blick wurde dem Betrachter klar, dass dieser Raum lediglich dazu benutzt wurde, um notwendige Mahlzeiten bereitzustellen. Hier frönte sichtlich kein kochfreudiger Gourmet seiner Leidenschaft. In der Spüle türmte sich ein Stapel schmutziges Geschirr. Die halbvolle Flasche Rioja und das gebrauchte Glas vom Vorabend standen daneben.
Ich sollte mal wieder gründlich durchputzen, überkam es die Kommissarin auf dem Weg ins warme Badezimmer. Doch nach Dienstende fühlte sie sich meistens zu ausgelaugt und freie Tage, wenn es sie denn gab, erschienen viel zu kostbar, um sie mit Lappen und Staubsauger zu verbringen.
Becca verließ ihre Wohnung an diesem kühlen Februarmorgen nicht, ohne Gato Macho, der sie wie üblich nach draußen begleitete, einen angenehmen Tag zu wünschen. Der Mini-Macho verfügte über eine eigene Haustür in Form einer Katzenklappe, der seinem Freiheitsdrang ultimative Unabhängigkeit verlieh. Dennoch genoss er es in vollen Zügen, Becca zu seinem persönlichen Türöffner zu degradieren. Eine typische Katze eben.
Der silberfarbene Volvo der Kommissarin parkte auf einem der zwei geschotterten Stellplätze vorm Haus, das in dritter Reihe, geschützt vom Durchgangsstraßenlärm, in den Achtzigern erbaut worden war. Aktuell konnte sie frei wählen, welchen der beiden Parkplätze sie benutzen wollte, denn die Wohnung über ihr stand, schon seitdem sie hier vor fünf Jahren eingezogen war, leer. Die Landflucht machte sich inzwischen auch in Wittenhofen bemerkbar. Wo in attraktiven Uferstädten wie Überlingen oder Konstanz Wohnraum händeringend benötigt wurde, war das Angebot an erschwinglichen Räumlichkeiten im Bodensee-Hinterland um einiges üppiger. Die Immobilienpreise in Ufernähe indes waren durch die immense Nachfrage, aber vor allem auch durch massenhaft, meist leerstehende Zweitwohnsitz Ferienwohnungen, komplett durch die Decke geschossen.
Wittenhofen, eine knapp viereinhalbtausend Seelen starke Gemeinde im Deggenhausertal verfügte über eine Grundschule, einen Kindergarten sowie mehrere Kirchen. Eine Tankstelle, die Post und auch eine Bäckerei lagen fußläufig von Beccas Wohnung entfernt. Selbst ein gut sortierter Discounter sowie eine Apotheke befanden sich direkt am Ort.
Was wollte man mehr?
Bei dem ortsansässigen Friseursalon mit dem originellen Namen Haarspaltereien gehörte Becca inzwischen zur Stammkundschaft. Es fühlte sich heimelig an, die dörflichen Strukturen ganz nebenbei zu nutzen und dadurch lose Sozialkontakte zu pflegen. Irgendeinen flüchtigen Bekannten beziehungsweise weitläufigen Nachbarn traf man immer an, mit dem sich ein paar Worte wechseln ließen. Und es ersparte Becca zudem ungewollte, allzu enge Bekanntschaften, die dann früher oder später in gegenseitige Verpflichtungen, wie zum Beispiel Geburtstagseinladungen, mündeten.
Diese Art der Freundschaft war ihr von jeher ein Gräuel.
Ihr nagelneues Auto mit modernem Hybridantrieb hatte sich die Kommissarin kürzlich angeschafft und im Gegenzug auf einen weiteren teuren Urlaub verzichtet. Es war ihr nicht schwergefallen. Die Erinnerungen an Miguel und die daraus resultierende Erkenntnis, welchen Fehlgriff man in losgelöster Urlaubsstimmung begehen konnte, hallten im letzten Jahr intensiv in ihr nach.
Als Becca Brigg auf dem Weg ins Präsidium das Ortsschild von Wittenhofen hinter sich ließ, passierte sie, wie schon hunderte Male vorher, ein im Acker am Straßenrand stehendes mannshohes Holzkreuz. Schlicht grün lackiert, lag die Aufgabe dieses einfach gezimmerten Mahnmals darin, dem Verbrauchergewissen, Respekt in puncto Agrarprodukte einzufordern. Gleichzeitig sollte es die Politik wachrütteln. Zumindest zielte die Protestaktion zahlreicher deutscher Landwirte mit dem sinnigen Namen Aktion Grüne Kreuze, die sich Ende des Jahres 2019 wie ein Lauffeuer über den gesamten Bodenseekreis verbreitete, darauf ab. Acker um Acker schossen damals diese grünlackierten Kreuze am Straßenrand an den Feldrändern der protestierenden Agrarbetriebe empor. Die Landwirte und Agrarmanager litten zunehmend, wie sie sagten, unter dem Spagat zwischen steigenden Umweltschutzauflagen, Kostendruck und Gewinneinbußen. Der stumme Protest, der selbstredend nicht nur Verständnis verursachte, zog sich schon lange hin und hielt bis zum heutigen Tag an.
Jetzt aber erinnerte Becca dieses grüne Kreuz, an dem sie bereits hundertfach ohne darüber nachzudenken vorbeigefahren war an Taja, die alleine in der kalten, dunklen Erde lag. Bis zum Ortsschild von Ravensburg zählte sie elf weitere Kreuze an den Ackerrainen und Wiesenrändern. Elf Mahnmale für Taja. Elfmal ein Kloß im Hals und aufsteigende Tränen wegblinzeln. Die Trauer brach sich Bahn und es schien Becca, als lasteten Tonnen von Gestein auf ihr und raubten ihr jegliche Energie.
Verdammt, verdammt, verdammt!
Dort, wo die Gartenstraße in die zweispurige B32 einmündete, die sich entlang der mittelalterlichen Stadtmauer von Ravensburg wandt, fädelte sich die Hauptkommissarin schwungvoll in die Abbiegespur ein. Die Ampel signalisierte Rot. Beccas wartender Blick wanderte wie von selbst zum grünen Turm empor, der sich rechter Hand imposant durch die Windschutzscheibe präsentierte.
Die zur historischen Stadtmauer Ravensburg gehörende ehemalige Verteidigungsanlage, trug teilweise noch immer die original grün lackierten Dachziegel aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Wenige Meter daneben verstärkte mit beeindruckender Präsenz das Frauentor sowie der Turm der Liebfrauenkirche das mittelalterliche Spektakel. Die beiden Bauwerke existierten seit dem dreizehnten beziehungsweise vierzehnten Jahrhundert und waren in entsprechenden Geschichtsaufzeichnungen erwähnt. Ein Fakt, auf den die Stadt und ihre etwa fünfzigtausend Bewohner, mit Fug und Recht mit einem gewissen Stolz blickten.
Becca Brigg, von dem imposanten historischen Anblick abgelenkt, zuckte zusammen, als das monotone, tickende Geräusch des Blinkers von ungeduldigem Hupen hinter ihr unterbrochen wurde. Der Hauptkommissarin war schlichtweg entgangen, dass die Ampel zwischenzeitlich auf Grün umgesprungen war, und nun drückte sie zügig das Gaspedal durch. Der Wagen mit seinen dreihundertfünfzig PS schoss in der Abbiegespur um die Ecke, direkt in die Anfänge der Gartenstraße.
Bruchteile von Sekunden später schaffte es Becca zu ihrem eigenen Entsetzen im letzten Augenblick und mit Hilfe einer filmreifen Vollbremsung einen Fußgänger, der ebenfalls an der Fußgängerampel Grün hatte, nicht über den Haufen zu fahren.
Der Mann, gleichfalls zu Tode erschrocken, stützte sich mit einer Hand abwehrend auf ihrer Motorhaube ab, als der Volvo abrupt zum Stehen kam. Es wirkte absurd, wie eine machtvolle Demonstration, als ob er notfalls über die nötige Kraft verfügen würde, ihr Fahrzeug mit bloßen Händen zu stoppen. Nur wenige Zentimeter Luft trennten Beccas Stoßstange von den Schienbeinen des Mannes. Sie hätte ihn um ein Haar erwischt. Der schätzungsweise Vierzigjährige starrte vornübergebeugt durch die Windschutzscheibe direkt in Beccas Gesicht. Wilde Dreadlocks türmten sich um sein Antlitz, das durch den Schreck kreidebleich geworden war. Der Mund, von einem struppigen dunklen Vollbart umrahmt, war leicht geöffnet. Sein schockiert wütender Blick brannte förmlich ein Loch durch das sie trennende Glas. Am auffälligsten war jedoch, dass der Typ eine schwarze Augenklappe trug. Es wirkte unheimlich, wie er sie so einäugig anstarrte. Die Kommissarin, die sekundenlang paralysiert vor Entsetzen stumm zurück starrte, fühlte sich unwillkürlich an den Piraten Jack Sparrow aus der Filmreihe Fluch der Karibik erinnert.
Die Zeit schien für einen Augenblick still zu stehen.
Dann war der Schreckensmoment so schnell vorbei, wie er entstanden war. Der Mann hieb verärgert mit der Faust aufs Metall der Motorhaube, zog seine Hand zurück und lief weiter, als wäre nichts geschehen.
Der Wagen direkt hinter der Kommissarin, der ebenfalls scharf hatte bremsen müssen, hupte erneut. Als Becca in den Rückspiegel blickte, sah sie, dass der Wagenlenker mit dem Zeigefinger an seine Schläfe tippte und dabei entnervt den Kopf schüttelte. Idiot! Meinte der etwa, mir hat das eben Spaß gemacht? Teils verärgert und immer noch aufgewühlt, gab sie erneut Gas und fuhr die Gartenstraße in Richtung Präsidium entlang.
Einige Zeit später würde sich die Hauptkommissarin an den Mann mit der Augenklappe zurückerinnern, so als wäre er ein böser Geist. Ein unheilvolles Omen.
Der Parkplatz des Präsidiums war bei ihrer Ankunft halb gefüllt und Becca steuerte den eigens für sie reservierten Stellplatz an. Kriminalhauptkommissarin sein, war gelegentlich von Vorteil. Der übliche Einsatzwagen-Fuhrpark säumte die asphaltierte Fläche. Das dreistöckige, hell verputzte Gebäude mit den kleinen Gauben auf dem Dach, gab optisch nicht viel her und erinnerte an einen Siebzigerjahrebau. Die Kommissarin stieg aus ihrem Wagen, lief Richtung Eingang und stieß die alte, dunkelbraune Holztür auf, der sich im inneren Vorraum eine Panzerglastür anschloss.
Becca blickte hoch in die Ecke mit der Eingangskamera. Im Kollegenkreis wurde diese inzwischen, in Anlehnung an das bekannte TV-Format, scherzhaft Big Brother genannt. Zeitgleich berührte ihr linker Zeigefinger einen eingelassenen Sensor in der Gebäudemauer. Der Fingerprint-Retinascanner öffnete ihr den Zugang zu ihrem Arbeitsplatz. Einmal Augenblinzeln mit der KI und die schwere Panzerglastür schob sich wie von Geisterhand lautlos auf. Gewöhnliche Besucher des Präsidiums mussten sich hingegen völlig altmodisch über eine Sprechanlage beim Pförtner anmelden. Wobei es in negativem Sinne für sich selbst sprach, dass es überhaupt notwendig erschien, die Hüter von Recht und Ordnung in einem festungsähnlichen Gebäude unterzubringen.
Eines Tages wird mir am Präsidiumseingang ein Hologramm smart entgegen lächeln und einen angenehmen Arbeitstag wünschen, ging es Becca durch den Kopf. Eine befremdliche Vorstellung. Doch noch saß direkt hinter der Panzerglastür ein reales Wesen aus Fleisch und Blut. Der vierundsechzig Lenze zählende Pförtner, Walter Mayer, dokumentierte akribisch jedes Kommen und Gehen im Präsidium.
Ganz abwegig waren die Hightech-Visionen der Kommissarin bezüglich des Hologramms indes nicht. Das Land Baden-Württemberg plante, Ende des Jahres 2020 einen Architektenwettbewerb für einen Präsidiumsneubau in Ravensburg auszuloben. Über dreiunddreissig Millionen Euro würde das künftige Bauprojekt dem Ländle wert sein. Immerhin eine Anerkennung für den gesamten Polizeiapparat, der sich schließlich tagtäglich, teils unter Einsatz des eigenen Lebens, um die Sicherheit von über sechshunderttausend Menschen bemühte.
Becca hoffte dabei insgeheim auf ein hochmodernes Gebäude. Sie konnte im Geiste bereits einen futuristisch anmutenden, spiegelverglasten Turm sich in die Höhe schrauben sehen. Ein schillerndes Zukunftsversprechen im ansonsten auffällig mittelalterlich geprägten Stadtbild, das an das Frankfurter Bankenviertel erinnern könnte. Eine absolut faszinierende Vorstellung, wie sie fand. Die Kommissarin setzte ihre Hoffnungen auf innovative Architekten, Ideen wie Passivhausbauweise, Dach- oder Vertikalbegrünung, Photovoltaik und vor allem eine intelligente Klimaanlage. Denn durch die fortschreitende Klimaveränderung waren letztlich immer heißere Hochsommer zu erwarten. Für Uniformträger ein blanker Horror.
Dass die Kommissarin überhaupt im Geiste diese Art von Luftschlössern baute, kam nicht von ungefähr. Denn Kriminalhauptkommissarin Becca Brigg hatte sich seit einigen Jahren als eine durchsetzungsfreudige Führungskraft in ihren jeweiligen Berufsstationen etabliert. Ihr langfristiges berufliches Ziel war nichts Geringeres, als eines Tages den Sessel der Polizeipräsidentin einzunehmen. Immerhin hatte sie an der Polizeihochschule ihren Master „Public Administ- Police Management“ absolviert, um ihren Zielen näher zu kommen. Und da würde ihr die Leitung eines hochmodernen Präsidiums selbstverständlich in die Hände spielen. Ihr beruflicher Erfolg würde sich in einem Hightech-Gebäude widerspiegeln.
Keine schlechte Vorstellung, wie sie fand.
Kurz kam der Kommissarin die Beinah-Unfall-Episode von vorhin in den Sinn. Hätte sie dem Typen mit den Dreadlocks auch nur ein Haar gekrümmt oder wäre der hinterherfahrende Wagen durch die Vollbremsung in sie hinein gerauscht, wäre der Traum ihres anvisierten Karriereziels vermutlich unweigerlich geplatzt. Niemand kletterte im Polizeidienst so weit nach oben, wenn Leichen im Keller lagen, zumindest wenn es sich dabei um Leichen handelte, die sich nicht vertuschen ließen. Hauptkommissarin Becca Brigg durften künftig keine größeren Patzer unterlaufen, wollte sie ihre Ziele erreichen. Sich nichts zu Schulden kommen lassen, lautete die absolute Direktive. Unter keinen Umständen.
„Guede Morge, Frau Brigg.“
Becca nickte Walter Mayer, dem Pförtner mit dem ausgeprägt bodenseealemannischen Dialekt, flüchtig zu und murmelte ihr Erwiderndes, guten Morgen Herr Mayer, kaum hörbar, nach unten blickend, dem Fußboden zu. Einem Gespräch eilig ausweichend huschte sie in den Aufzug.
Heute war ihr absolut nicht nach einem Schwatz über Klatsch und Tratsch mit dem immer bestens informierten Mayer. Der auskunftsfreudige Pförtner hatte in seinen jungen Jahren einige Dienstjahre unter Beccas Vater in Überlingen absolviert. So war seine Redseligkeit der Kommissarin gegenüber besonders ausgeprägt. Nicht zu ihrem Nachteil. Die Ermittlerin war prinzipiell gerne darüber informiert, was sich um sie herum ereignete. Manch Wissen über die Kollegen und was sich im Präsidium abspielte, konnte bei der eigenen Karriere von Vorteil sein.Im Fahrstuhl stehend dachte Becca an ihren Dienststellenwechsel am Anfang des Jahres zurück. Die Landkreise Ravensburg, Sigmaringen sowie der Bodenseekreis wurden durch eine strukturelle Polizeireform vom dauerbelasteten, aus allen Nähten platzenden Polizeipräsidium in Konstanz losgelöst, das Einsatzgebiet somit gesplittet.
Becca hatte sich nur mit Widerwillen von ihrem Führungsposten in Konstanz getrennt. Hier war ein bescheidener unverbindlicher Freundeskreis im Laufe der letzten zehn Dienstjahre gewachsen. Äußerst vertraut erschien die After-Work-Kneipe Allefanz ums Eck, in der so manches Glas Rotwein mit Kollegen den vergangenen Arbeitstag vergessen ließ. Der Anfahrtsweg von ihrer Wohnung im Deggenhausertal bis ins Präsidium Konstanz dauerte damals in der Regel über eine Stunde. Davon waren allein zwanzig Minuten Autofähre quer über den Bodensee von Konstanz-Staad nach Meersburg inbegriffen. Zwanzig Minuten, in denen man in aller Seelenruhe in sämtliche Himmelsrichtungen über den weitläufigen See blicken konnte.
Je nach Tageszeit und Wetter boten die unterschiedlichsten Naturphänomene grandiose Schauspiele. Ein Hochgenuss! Glühende Sonnenuntergänge im Westen, die hinter der hügeligen Halbinsel des Bodanrück stattfanden, wirkten in ihrer Grandiosität oftmals einer Kitschpostkarte entsprungen. Bei klarem Himmel, in Föhnwetterlage, erschienen am Südrand des Sees die imposanten, schneebedeckten Berggipfel der Alpen zum Greifen nah. Während der Nacht indes verzauberten die Lichter der seenahen Städte rundherum das Ufer, um sich im dunklen Wasser schimmernd widerzuspiegeln. Und letztlich, bei zunehmenden Windstärken, wetteiferten die leuchtend weißen Schaumkronen des dann dunkelgrünen Sees wie wild mit den orangefarbenen, zuckenden Blinklichtern der Sturmwarnungen am Ufer.
Ja, die Kommissarin vermisste die täglichen Fahrten über den See schmerzlich. Ihr heutiger Anfahrtsweg vom Deggenhausertal ins Präsidium Ravensburg nahm lediglich einen Bruchteil der Zeit in Anspruch. Der Umstand dieser Zeitersparnis war ein Grund zur Freude und zudem war die Innenausstattung der Präsidiumsräume in Ravensburg um Welten besser. Höhenverstellbare Schreibtische, ergonomische Bürostühle und eine nagelneue IT-Infrastruktur. Es gab viele Vorteile. Und dennoch, die Fahrt mit der Autofähre über den See barg ihren ganz eigenen Reiz und stellte in den Konstanzer Dienstjahren eine überaus willkommene Routine dar, die meist ein minutenlanges Urlaubsfeeling vermittelte.
Wer Becca indes überhaupt nicht fehlte, war der ehemalige, Kollege KHK Rolf Steiner. Über sechs Jahre waren sie gezwungen, als doppelte Führungsspitze der Konstanzer Mordkommission eine Ermittlungseinheit zu bilden. Jahre, die der gebürtige Schweizer nutzte, um der Kommissarin den Berufsalltag so schwer wie möglich zu gestalten. Zumindest war das Beccas eigene Interpretation der Dinge. Die im Rang ebenbürtigen Hauptkommissare befanden sich in einer permanenten zwischenmenschlichen Konfliktsituation. Wollte Becca mit der Verhaftung eines Verdächtigen strategisch warten, drängte Steiner garantiert auf einen sofortigen Zugriff. Und umgekehrt. Drückte die Kommissarin gegenüber einem kleinstkriminellen Ersttäter ein Auge zu, handelte der Kollege streng nach Lehrbuch. Wiederholt fühlte sich Becca von Rolf Steiner bei den gemeinsamen Vorgesetzten angeschwärzt.
Persönlich hielt die Kommissarin den Kollegen Steiner für einen karrieregeilen Egoisten, der jede erdenkliche Situation zu seinen Gunsten nutzte. KHK Steiner war einer der Hauptgründe sich aktiv für den Wechsel nach Ravensburg zu bewerben. Mit Genugtuung bekam Becca noch mit, dass ihre Nachfolgerin im Konstanzer Team eine sechzigjährige Matrone mit Haaren auf den Zähnen war.
Wobei mein neuer Partner hier in Ravensburg wahrlich nichts Besseres vermuten lässt, schoss es Becca durch den Kopf, als sich die Aufzugtür jetzt öffnete.
Vom Regen in die Traufe.
Als KHK Brigg die Tür zu dem Großraumbüro im zweiten Stock öffnete, war dieses bereits vollständig besetzt. Der Geräuschpegel verklang abrupt, als die drei Kollegen im Hauptraum Beccas Eintreffen wahrnahmen. Jeder hier wusste, dass die Chefin gestern ihre Schwester beerdigt hatte.
Becca fixierte mit ihrem Blick den pflegeleichten Linoleumboden und rauschte wortlos, mit nur einem knappen Nicken, an den Kollegen vorbei. Beileidsbekundungen wären jetzt das Letzte gewesen, das sie hören wollte. Zielstrebig steuerte sie ihren Schreibtisch an, der abgeschirmt hinter einer deckenhohen Wand aus dunklem Rauchglas lag. Ein Sonderstatus, wenn auch ohne abgeschlossene Tür, mit versetzt vorgelagertem Sichtschutz. Der modernen Denkweise einer offenen Führungskultur wurde auf dieser Art Rechnung getragen und der Raumteiler bot den Führungskräften auf diese Weise die Intimität eines separaten Büroraums.
Sofern man dabei von Beccas neuem Partner, Kriminalhauptkommissar Jan Herz, absah, der sich mit ihr den etwa sechszehn Quadratmeter großen Raum teilte. Der Ermittlungsstützpunkt der Kripo 1 mit seiner doppelten Führungsspitze war mit zwei Schreibtischen samt Computer, einem wandfüllenden Aktenschrank sowie dem obligatorischen, überdimensionalen Whiteboard möbliert.
Der Kollege Herz, ein Exfeldjäger der Bundeswehr, der nach seinem Ausscheiden beim Militär eine zweijährige Zusatzausbildung in den Kriminalpolizeidienst absolviert hatte, saß bei ihrem Eintreten an seinem Arbeitsplatz. Viel mehr war Becca von dem Werdegang des Kollegen nicht bekannt. Von ihm persönlich noch weniger. Nur sein auffälliges Äußeres sowie das gewöhnungsbedürftige Verhalten waren für niemanden zu übersehen. Ihr Verhältnis war gelinde gesagt distanziert und die Gerüchteküche im Präsidium brodelte diesbezüglich heftig.
Beccas Schreibtisch schloss sich direkt an das Sprossenfenster mit Sicht auf den Hof an, so dass ihr Arbeitsplatz einiges an Tageslicht bot. Es war ein gefundenes Fressen für sie, dass KHK Herz als absoluter Neuzugang im Bodenseepolizeidienst, an ihrem ersten gemeinsamen Tag einige Stunden mit dem Ausfüllen von Formularen in der Personalverwaltung beschäftigt gewesen war. So hatte Becca die Nase vorn bei der Auswahl des Schreibtischs und hatte den Platz an der Sonne für ihre, aus Konstanz mitgebrachten Topfpflanzen, ergattert.
„Bin am Bericht von gestern. Die Akte Weitkramer liegt im Mailfach“, kommentierte KHK Herz emotionslos Beccas Eintreten aus seiner dunkleren Raumecke heraus. Dabei starrte er, ohne die Kollegin auch nur einmal anzusehen, stur auf seinen Computermonitor. Der Tonfall wirkte dabei militärisch, wie im Telegrammstil. Kein freundliches Wort zu viel.
Becca war heute ausnahmsweise einmal dankbar für die absonderliche Art ihres neuen Partners. Jeglicher Ausdruck von Mitgefühl würde sie aktuell emotional überfordern. Immerhin, soweit kannte sie den Kollegen bereits, konnte sie sich bei KHK Herz völlig sicher sein, dass er das Thema Taja nicht anschneiden würde. Sein Kommunikationsbedürfnis ging gegen null und war generell auf das allernotwendigste beschränkt. Becca nahm auf ihrem Bürostuhl Platz und fütterte den Computer mit dem geforderten Passwort. Die Kommissarin begrüßte dabei die dargebotene Gelegenheit, sich schweigend in den Fall Weitkramer zu vergraben. Der aus kriminalistischer Sicht unspektakuläre Raubüberfall mit sage und schreibe dreiundachtzig Euro und einundsechzig Cent Beute aus einer Friedrichshafener Bäckereifiliale konnte zügig aufgeklärt werden. Der Fall wurde unter der Rubrik Beschaffungskriminalität geführt. Ein jugendlicher Ersttäter hatte bei der Festnahme die Taschen voller Ecstasypillen und Cannabis. Außer der, mit einer Schreckschusspistole bedrohten Bäckereifachverkäuferin, die nachhaltig mit einer daraus resultierenden Traumatisierung zu kämpfen hatte, war niemand körperlich zu Schaden gekommen.
Die restlichen Ermittlungen gestalteten sich als reine Routinearbeit. Der entsprechende Bericht dazu lief Becca flüssig aus den Fingern. Arbeitsalltag.
Business as usual.
Genau das, was sie jetzt brauchte.
Ihr Smartphone durchbrach die üblichen Bürogeräusche und verkündete mit einem leisen Doppelploppen den Eingang einer Kurznachricht. Eine willkommene Verschnaufpause.
Aage: Bin draußen bei Taja. Will den Grabstein später aussuchen. Kommst du mit???
Becca: Nein. Sitze im Präsidium :-(
Aage: Schade. Ich hätte dich gern dabeigehabt. Ruhigen Dienst! :-)
Die Kommissarin wandte den Blick vom Display ab und sah zum Fenster. Sechs Topfpflanzen belagerten die granitsteinerne Fensterbank. Eine rotgelbe Orchideenblüte leuchtete ihr fröhlich, wie zum Trotz, mit einem lustigen Blütengesicht entgegen. Das danebenstehende Einblatt drängte mit sattem Grün dagegen. Eine Blüte wollte sich dort aber nach wie vor nicht zeigen.
Ich sollte die erst einmal befeuchten, bevor ich mit dem Bericht weiter mache. Wer weiß, ob ich später dazu komme.
Abgelenkt wie sie war, kam Becca plötzlich der augenklappentragende Mann mit den Dreadlocks erneut in den Sinn. Weshalb läuft man mit einer schwarzen Augenklappe in der Gegend herum? Fehlt dem Mann ein Auge oder war er lediglich vorübergehend gehandicapt? Ist er gerade von seinem Augenarzt gekommen? Mit Sicherheit war sein Gesichtsfeld durch die Klappe behindert gewesen. Seine Chancen, ihr Auto wahrzunehmen, waren eingeschränkt. Doppeltes Glück, dass sie ihn nicht angefahren hatte. Die Kommissarin fragte sich im Stillen, wieso das Tragen einer Augenklappe unwillkürlich mit Piraten assoziiert wurde.