3,99 €
Die Pfahlbauten am Bodensee, ein keltisches Hügelgrab sowie ein Steinkreis in Österreich und mittendrin ein gefährlicher Mörder. Meersburg - Ravensburg - Unteruhldingen, Oktober 2020: Nach einem entspannten Sommer, die Corona-Pandemie nimmt Anlauf in die zweite Welle, wird eine Leiche am Bodensee aufgefunden. Der Mann wurde in den Unteruhldinger Pfahlbauten enthauptet und aufgebahrt. Der Fall scheint rasch gelöst. Doch dann taucht ein lange vermisstes Kind wieder auf und die Ereignisse nehmen eine dramatische Wendung. Hauptkommissarin Becca Brigg und ihr Team, haben in ihrem zweiten spektakulären Fall der 5-Sinne-Bodenseekrimi-Reihe alle Hände voll zu tun. Auch das Privatleben der ehrgeizigen Kommissarin gerät erneut in Schieflage, und Polizeipsychologe Dave Bernstein wird für das gesamte Team zum Fels in der Brandung. Nach "Blinder Tod" schließt Band 2 "Geruchloser Tod" zeitlich sowie thematisch an den Vorgänger an.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2025
Geruchloser Tod
Bodenseekrimi der 5 Sinne – Band 2
© Karina Abrolatis
Für meine Eltern – in Dankbarkeit.
Vom Uferrand steigt der modrige Duft vergammelter Algen
zu den Geruchsrezeptoren meiner Nase empor.
Und doch, genau in diesem Moment
möchte ich nirgends anders sein als hier,
in meiner Heimat am Bodensee.
(Die Autorin, 2023)
Prolog Herbst 2017
Keuchend von der Anstrengung ließ er sich auf die Erde nieder und lehnte sich mit dem Rücken an den eiskalten mannshohen Stein. Trotz der frostigen Temperaturen standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Der Blick des Mannes wanderte zu seiner Last, die er vor sich abgelegt hatte. Die schwarze Polyethylenfolie des Leichensacks war für ihren zierlichen Inhalt eindeutig zu lang. Doch die Anschaffung hatte sich gelohnt: Das wasserdichte, robuste Material und die oben verstärkten Griffe hatten zugelassen, dass er sie über den Boden ziehen konnte, statt sie zu tragen. Sein Rücken würde es ihm danken.
Allmählich beruhigte sich seine Atmung, und er fühlte das nassgeschwitzte T-Shirt unter seiner dicken Winterjacke auf der Haut kleben. Er würde achtgeben müssen, dass er sich keine Erkältung zuzog. Die Augen des Mannes schweiften über die Umgebung. In seinem Rücken, hinter den Steinen, standen ein paar hohe Nadelbäume, die sich im bräunlich gefärbten Herbstkleid präsentierten. Man konnte den Wind in ihnen rauschen hören. Trotz der Dunkelheit zeichneten sich schemenhaft die Berggipfel um ihn herum ab. Der Anblick ihrer Silhouetten war majestätisch und, wie er fand, äußerst stimmig für das, was er hier tat. Vor drei Tagen war Neumond gewesen, und die schmale Sichel des Mondes spendete wenig Licht. Doch der Himmel war wolkenlos und sternenklar heute Nacht. Welch ein Glück. Sie würde eine leichte Reise in die Anderswelt haben.
Endlich erhob er sich, bückte sich nach den Tragegriffen und zog den Sack in die Mitte der umgebenden Steine. Das Gras war feucht, als er sich hinkniete und den doppelseitigen Reißverschluss bedächtig aufzog. Er würde sich Zeit lassen. Sie waren völlig alleine hier oben, und die Zeremonie vertrug keine Hast.
Als er die geöffnete Seite mit einem Ruck zurückschlug, blickte er auf ihren Kopf. Ihr Gesicht war vollständig unter der Frischhaltefolie verborgen, mit der er ihr Haupt umwickelt hatte, um dem Odem des Lebens Einhalt zu gebieten. Er würde sie davon befreien, doch darum würde er sich später kümmern.
Er war nicht brutal vorgegangen, sondern ganz sanft. Beinahe zärtlich. Sie hatte nicht gelitten. Zumindest nicht im Vergleich, wenn er bedachte, was sie davor alles hatte ertragen müssen. Jetzt hatte sie keine Schmerzen mehr. Er hatte ihr dieses Geschenk gemacht, das Letzte, was er für sie tun konnte. Und er hatte so einiges für sie getan. Seine Opfer und seine Geduld waren nicht belohnt worden, wie er bitter feststellen musste.
Er hatte sie unwiderruflich verloren.
Der Mann zog jetzt den schwarzen Sack unter ihr vor. Ihr schmaler Körper war vollkommen unbekleidet. Wie Elfenbein schimmerte die blasse Haut in der Nacht. Er hatte ihren Körper gemocht, und so streichelte er jetzt mit den Fingerspitzen über ihre nackte Brust. Doch der dunkle Hof der Brustwarze würde sich nicht mehr unter seinen Händen aufrichten. Schade, das hatte ihn sehr fasziniert. Bedauernd seufzend riss er sich von dem reizvollen Anblick los, zog ein weißes Nachthemd aus seinem Rucksack und begann, es ihr anzuziehen. Es war nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte, doch was tat man nicht alles.
Er legte ihren Körper akkurat auf den Rücken, die Glieder gleichmäßig angeordnet. Das Gesicht sollte Richtung Tal blicken, in die Weite hinein.
So war es vollkommen.
Behutsam hob er den Kopf an und wickelte bedächtig die Folie ab. Ihre Gesichtshaut, die darunter zum Vorschein kam, war mit tiefen Furchen übersät, die, die einzelnen Folienbahnen hinterlassen hatten. Das würde sich erfahrungsgemäß mit der Zeit geben.
Das knisternde Knäul der Folie verstaute er in seinem Rucksack und kramte zeitgleich nach dem Kamm, den er extra eingepackt hatte. Konzentriert kämmte er das lange Haar der Toten. Dann schlang er die Haarspitzen ein wenig ineinander, streifte ein Gummiband darüber und schob eine schwarze Rabenfeder hinein. Perfekt.
Der Mann erhob sich und blickte hinauf zu den Sternen. Einen Moment verharrte er und wünschte der Toten stumm eine gute Reise über den Todesfluss. Heute war Mabon, die Herbsttagundnachtgleiche. Sie würde zügig auf die andere Seite hinüberkommen. Als er die Augen für einen Moment schloss, konnte er spüren, wie die mystische Energie der Steine ihn durchströmte. Ringförmig umgaben die mächtigen Schatten das ehemalige Paar. Deren uralte Kräfte waren hier oben überall präsent und in dieser Nacht besonders intensiv.
Schließlich wurde es Zeit, dass er aufbrach, denn er würde eineinhalb Stunden mit dem Auto zurück ins Bodensee-Hinterland brauchen. Vor der Morgendämmerung musste er zu Hause sein.
Sein Sohn wartete.
Aussichten Sommer 2020
Das pausbäckige Kind stand am Fenster des vierten Stocks und sah mit zusammengekniffenen Augen gebannt hinunter auf die vorbeifahrenden Autos der zweispurigen Stadtstraße. Die Hitze stieg in schillernden Schlieren aus dem dunklen Asphalt empor, der wie in Erwartung einer Fata Morgana verheißungsvoll in der Sommersonne flimmerte.
Ben stand täglich dort am Fenster. Sommer wie Winter. Es war sein persönliches Schaufenster in die riesige, bunte Welt. Beinahe schien es so, als sähe der Junge fern. Der braune Fensterrahmen mit dem abgeblätterten Lack wirkte, als schmiegte er sich um ein gewaltiges Display.
Der Junge war bereits groß genug, um ohne auf einen Hocker klettern zu müssen über die Fensterbrüstung schauen zu können. Meist verbrachte er seine Zeit damit, die Autos, die unten auf der Straße vorüber sausten, zu zählen. Manchmal fuhren die Autos jedoch dermaßen schnell und zahlreich vorbei, dass das Kind mit dem Zählen gar nicht mehr hinterherkam. Dann musste er immer wieder von vorn anfangen: Eins, swei, drei, acht, ölfs, vier-wanzig, fünfundeinzigst, hundertz …
Aber auch die bunten Farben sowie die verschiedenen Formen der vorbeiflitzenden Karosserien hatten es ihm angetan. Einige Lacke glänzten wie verrückt in der Sonne, andere wiederum erschienen dumpf und unscheinbar. Manche Fahrzeuge waren ganz flach, sodass man dachte, der Fahrer müsste liegen oder zumindest von kleiner Statur sein. Busse indes wirkten irre hoch und viele Menschen fanden Platz darin. Noch viel spannender fand Ben jedoch die Stunden, in denen er sich auf den breiten Parkplatz des gegenüberliegenden mehrstöckigen Gebäudes konzentrierte.
Er wusste, dass er in einer Stadt lebte, die Ravensburg hieß, und dass das Haus gegenüber zur Stadt gehörte. Jetzt in der gleißenden Sonne glänzte dessen mit unzähligen Fenstern übersäte Front wie ein funkelnder Diamant. Eine Menge Fahrzeuge kamen frühmorgens auf den Parkplatz des mächtigen Hauses gefahren, während Bens Vater nach anstrengender Nachtschicht schlafend im Bett lag und es ganz still in der Wohnung war. Dann stiegen viele Menschen aus ihren Autos, füllten den Parkplatz für eine Weile mit Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen, um letztlich schnellen Schrittes im ausladenden Haupteingang zu verschwinden. Sie wurden dabei, so erschien es Ben zumindest immer, von dem großen Gebäude förmlich verschluckt.
Er hatte einmal im Fernsehen einen riesigen Fisch gesehen, dessen Brut bei drohender Gefahr ins weit geöffnete Maul der Mutter schwamm. Diese schloss ihren Mund, sobald alle ihre Kinder geborgen im Inneren waren. In der Mundhöhle eingeschlossen waren die winzigen Babyfische sicher geschützt vor Fressfeinden. War die Gefahr vorbei, begann der Prozess rückwärts abzulaufen und die Fischmutter spuckte die gesamte Brut wieder hinaus ins offene Wasser, als würde sie denken: Alles Okay, geht doch wieder nach draußen spielen! So erging es, glaubte Ben, auch den Menschen auf dem Parkplatz. Das Gebäude nahm sie morgens auf, behütete sie tagsüber in seinem Inneren und spuckte sie letztlich abends peu à peu wieder aus.
Viele von ihnen trugen auf dem Weg hinein Taschen bei sich. Mal waren diese größer, mal handelte es sich um zierliche Damenhandtaschen. Dann, gegen späten Nachmittag, kurz bevor Ben gewöhnlich mit seinem Daddy zu Abend aß, kamen eben diese Menschen mit ihren Taschen wieder in kleinen Grüppchen oder einzeln heraus. Sie fuhren mit ihren Wagen in alle Richtungen davon, um am nächsten Tag wiederzukehren. Und der Kreislauf begann von vorn. Lediglich an den Wochenenden pausierte das alltägliche Spektakel.
Daddy hatte ihm erklärt, dass die Leute in dem Gebäude arbeiteten, auch wenn dem Jungen nicht ganz klar war, was Arbeit eigentlich genau war. Und schließlich sagte Daddy beiläufig, was Ben in absolutes Verzücken versetzte, dass es da drinnen sehr, sehr viele Spielsachen gebe.
Trugen die Menschen in ihren Taschen etwa Spielzeug aus dem großen Haus heraus, fragte sich der Junge, fasziniert von diesem Gedanken, immer wieder. Oft malte das Kind sich im Geiste aus, wie das Spielzeug aussehen mochte.
War es eine Puppe, deren Arme man bewegen konnte und die mit ihren Augen plinkerte? Oder war es vielleicht ein Ball? Welche Farbe mochte er haben?
An seinem vierten Wiegenfest war Ben mit seinem Vater das erste Mal in einem Spielzeugladen gewesen, denn er durfte sich zu seinem Ehrentag etwas wünschen. Sie hatten schon früher Geburtstage gefeiert, hatte Daddy ihm erklärt. Ben konnte sich beim besten Willen nicht an die vorigen Feste erinnern und er besaß auch keine Geschenke von diesen vorangegangenen Geburtstagen.
Dieses Jahr, meinte sein Vater weiter, handele es sich um einen ganz besonderen Tag, denn Mummy würde endlich wieder mit ihnen zusammenleben. Sie hatten also doppelten Grund zum Feiern. Die Familie war glücklich vereint und deshalb gab es für Ben einen Kuchen mit einer Kerze darauf.
Und sogar, was es eben vorher nie gegeben hatte, ein Geschenk!
Es war ein sehr heißer Sommertag, ähnlich wie der heutige, und der Vater war zu Fuß mit dem Sohn zum Spielzeugladen gelaufen. Eine absolute Ausnahme. Ben war, als sie dort ankamen, ganz außer Puste von dem ungewohnt langen Fußmarsch. Normalerweise verbrachte er seine Zeit in seinem Zimmer. Am Fenster.
Der Junge hatte den ganzen Weg über schon staunend die Umgebung betrachtet und als sein Vater dann die Tür zu dem Laden öffnete, sah er es plötzlich: Bunt gefüllte Regale bis unter die Decke! Dicht an dicht, Spielzeug so weit das Auge reichte!
Genauso musste es in dem Gebäude aussehen, das er von seinem Zimmer aus sehen konnte, dachte Ben völlig aus dem Häuschen. Er vergaß, überwältigt von dem Anblick, den Mund vor lauter Stauen zuzumachen.
Ja, fast vergaß er, weiter zu atmen. Und als Daddy dann nach kurzer Zeit meinte, er dürfe sich etwas Kleines aus den Regalen heraussuchen, beeilte sich der aufgeregte Junge, mit dem pummeligen Zeigefinger auf das nächstbeste, nicht zu große Ding zu deuten, das sich rein zufällig in seinem Blickwinkel befand.
Der Vater wartete nicht gern.
Es war ein Glücksgriff gewesen, wie Ben am Abend, inzwischen wieder allein in seinem Zimmer, feststellte. Er hatte sein allererstes Geburtstagsgeschenk vor sich auf dem rotschwarzen Teppich liegen. Der Junge kniete ehrfürchtig davor und begutachtete die quietschorangefarbene Verpackung, auf der das Foto eines himmelblauen Autos prangte. In einem Klarsichthüllenkasten, der sich aus der Pappe herausstülpte, befand sich wahrhaftig das abgebildete Auto. Es war aus Metall gefertigt und sah so echt aus wie die Fahrzeuge auf dem Parkplatz von gegenüber, fand Ben. Nur eben deutlich kleiner. Aber das war gut so. Denn sein Zimmer wäre für ein richtiges Auto ja auch viel zu winzig.
Über drei Wochen sollte es dauern, bis der Junge sich endlich traute, das hellblau lackierte Matchboxauto vorsichtig aus der Klarsichtverpackung zu schälen. Er hatte bis dahin lediglich den puren Anblick seines originalverpackten Schatzes genossen. Er drehte ihn von rechts nach links und fuhr, Motorengebrumm imitierend, mit der rechteckigen Packung über den mit kleinen Karos gemusterten Teppich. Insgeheim fürchtete der Junge, dass das Auto in dem Moment, wo er die Verpackung öffnen würde, wie von Zauberhand verschwände.
Warum er das dachte, blieb sein Geheimnis.
Doch manchmal verschwanden Dinge.
Und auch Menschen verschwanden. Das wusste jeder.
Sehr zu seiner Erleichterung war es jedoch nicht dazu gekommen, dass sein Geburtstagsgeschenk beim Auspacken spurlos verschwand, denn als Ben endlich den Mut fand, es aus der Klarsichthülle zu befreien, hatte er tatsächlich diesen hellblauen Wagen in seiner kleinen Hand. Der Junge strich sachte mit dem Finger die Konturen nach und fühlte das kühle, schwere Metall. Überglücklich untersuchte er erneut seinen Schatz und drehte vorsichtig an dessen schwarzen Reifen. Schließlich setzte Ben den blauen Flitzer auf den Boden, um ihn leicht darüber zu rollen. Mit der Zeit wich er immer geschickter den kleinen Karomustern auf der bedruckten Auslegeware aus und er stellte sich vor, die Karos darauf wären Bäume, Straßen oder andere Hindernisse, die es zu umfahren galt.
Über zwei Jahre waren seither vergangen und immer noch verspürte Ben dieses Glücksgefühl, wenn er mit dem Auto spielte. Es war sein erstes und einziges Spielzeug, denn an seinem fünften Geburtstag war Bens Mutter erneut krank, sodass außer einem Stück gekauften Kuchen nichts Besonderes stattfand. Sie besaßen nicht viel Geld. Am späten Nachmittag, wenn Bens Vater von der Arbeit nach Hause kam, unterbrach das für wenige Stunden die Einsamkeit des Jungen. Dann half er, das Essen zuzubereiten und den Tisch zu decken und der Vater erzählte ihm, was er bei der heutigen Arbeit erlebt hatte. Daddy kam oft verärgert oder zumindest gereizt nach Hause, sodass Ben glaubte, dass es wohl nur sehr wenig wirklich nette Menschen in der Welt da draußen gab.
Während Mummy, wenn sie denn konnte, die Küche aufräumte, kam das Schönste des ganzen Tages: Daddy las ihm etwas aus einem der Bücher im Wohnzimmerregal vor. Meistens handelten die Romane von Menschen, die lange vor ihnen gelebt hatten. Sie lasen öfters aus Daddys Lieblingsbuch, auch wenn Ben vieles nicht verstand, was darin stand. Es handelte von einem Kreis mit riesengroßen Steinen, der seit tausenden von Jahren ein verborgenes Rätsel hütete. Bisher war es jedoch niemandem gelungen, dieses Geheimnis zu entschlüsseln. Der Steinkreis stand in einem anderen Land, wo Menschen lebten, die eine andere Sprache sprachen. Es gab sogar einige große Fotos dieser Steine in dem Buch. Dennoch konnte der Junge nicht so ganz begreifen, was daran so ungewöhnlich war. Das waren doch nur Steine. Er würde das eines Tages verstehen, wenn er erst älter würde, erklärte sein Vater dann immer wieder mantraartig.
Am Wochenende, wenn Bens Vater etwas mehr Zeit für ihn erübrigen konnte, sahen sie ab und zu gemeinsam einen Film an, was Ben insgeheim noch schöner fand als Vorlesen. Manchmal durchforschten sie auch zusammen den Weltatlas. Das war ein sehr großes Buch mit vielen Bildern, in dem man die ganze Erde anschauen konnte. Sein Vater erzählte dann, wie es in diesen Ländern aussah und wer dort lebte. Der Junge wusste manchmal nicht so recht, ob es diese Leute da draußen wirklich alle gab oder ob sie eine freie Erfindung seines Daddys waren. Denn vorstellen konnte er sich diese Masse an Leben, die es da draußen geben sollte, beim besten Willen nicht.
Danach ging es allabendlich ins Badezimmer. Ganz früh hatte er gelernt, dass es wichtig war, sauber zu sein, damit man für andere Menschen nicht schlecht roch. Niemand mochte müffelnde Mitmenschen, hatte Daddy erklärt. Und während Ben nach dem abendlichen Ritual des Zähneputzens in seinen Schlafanzug schlüpfte und Mummy im verschlossenen Erwachsenenzimmer verschwand, machte sich der Vater fertig für die Nachtschicht. Er würde erst frühmorgens wieder nach Hause kommen, um dann todmüde ins Bett zu fallen.
Ben versuchte deshalb, allmorgendlich ganz leise zu sein, um ihn nicht aufzuwecken. So verbrachte er den Vormittag hauptsächlich am Fenster, um die Autos auf dem Parkplatz zu beobachten. Zur Mittagszeit, nach einem gemeinsamen Imbiss, verließ sein Vater dann erneut die Wohnung, um zu seiner zweiten Arbeit zu gehen. Das Leben war teuer und von einem Job allein, hatte Daddy ihm erklärt, konnte keiner mehr Miete, Kleidung und Essen für eine ganze Familie bezahlen. Darum arbeitete sein Vater sehr viel. Eigentlich fast immer.
Im nächsten Jahr würde Ben in die Schule gehen und mit anderen Kindern zusammen lernen, hatte Daddy ihm gesagt. Dann wäre er nicht mehr allein. So richtig freuen konnte sich Ben allerdings darüber nicht. Ja, der Junge fürchtete sich sogar davor. Würden diese Kinder nett sein? Und was, wenn nicht? Doch sein Vater war überzeugt, dass das ganz toll werden würde. Seine Eltern würden ihn gemeinsam dort hinbringen, hatte Daddy versprochen, um ihm die Aussicht auf Schule schmackhafter zu machen. Jeder eine Hand haltend und Ben in der Mitte! Die Vorstellung, zwischen Mummy und Daddy draußen umherzulaufen, war es wert, alle Befürchtungen hinunterzuschlucken, fand der Junge.
Das wäre etwas ganz Besonderes.
Ganz bald wäre es so weit. Daran glaubte er fest.
Bald …
Kopflos Monate später - Montag, der 26. Oktober 2020
»Ich bin nicht meine Schwester, verdammt noch mal!«, brüllte Kriminalhauptkommissarin Becca Brigg zornig im Hinausgehen über ihre Schulter. Die Haustür fiel krachend ins Schloss. Gato Macho, der sie wie üblich nach draußen begleitet hatte, sprang erschrocken mit einem gewaltigen Satz ins nahestehende Gebüsch. Sein ebenholzschwarzer Schwanz verschwand dabei lautlos im dichten Grün.
Wutentbrannt ließ sich die Kommissarin auf den Fahrersitz ihres Wagens fallen, um augenblicklich die Autotür mit den entgleisten Emotionen zu konfrontieren. Diese schloss sich mit einem ordentlichen Wumms, bevor die aufgebrachte Mittvierzigerin Kies aufspritzend vom Hof schoss. Die dreihundertfünfzig PS des silberfarbenen Hybrid-Fahrzeugs machten sich einmal mehr bezahlt, stellte sie dabei befriedigt fest.
Runde fünfzehn Kilometer später, kurz bevor Becca Briggs Wagen aus den ländlichen Gefilden im Deggenhausertal auf die belebte B33 bei Hefigkofen bog, hatte sich der Puls der Ermittlerin allmählich wieder beruhigt. Nur ihre Gedanken kreisten noch wild um den Streit. Mistkerl! Was glaubte der eigentlich, wer er war?
Dem analytischen Verstand der Kommissarin war allerdings bereits seit Wochen mit wachsender Ohnmacht klar, dass sie nicht ganz unschuldig an der Misere war, in der sich das Paar augenblicklich befand. Sie hatten sich vor Monaten alle beide kopflos und völlig überhastet in diese Beziehung gestürzt. Der gemeinsame Verlust von Taja, die daraus resultierende Trauer, aber auch Wut und Einsamkeit hatten sie wie unter Zwang stehend zusammengeführt. Zwei Ertrinkende im gleichen Meer, die sich aneinanderklammerten.
Eine ungesunde Konstellation, wie sich langfristig herausstellte.
Ein kurzer Blick aus ihren dunklen Augen in den Rückspiegel ließ Becca die noch immer vor Zorn zu einer schmalen Linie zusammengepressten Lippen bewusst entspannen.
Lächeln, Becca. Das bringt dich runter. Konzentriere dich auf den Tag, der vor dir liegt. Ihr ebenmäßiges, durchaus ansprechendes Gesicht mit den halblangen dunkelbraunen Haaren erschien im Rückspiegel. Die Nase war vielleicht etwas zu klein geraten und der Wirbel am Scheitel machte eine ordentliche Frisur unmöglich. Klar, es gab schönere Frauen, aber Becca Brigg konnte sich immer noch sehen lassen. Auch die sportliche Figur unterstrich ihre attraktive Erscheinung.
Es würde andere Männer für sie geben.
Als die Kommissarin eine halbe Stunde später in den Innenhof des Ravensburger Polizeipräsidiums einbog, seufzte sie resigniert. Dann fasste sie einen Entschluss, bevor sie den Motor abwürgte: Heute Abend würde das schon viel zu lange hinausgezögerte Gespräch mit Aage endlich stattfinden müssen. Sie würden sich endgültig trennen und den erst kürzlich gemeinsam renovierten Hof, auch wenn sie mächtig Arbeit und Herzblut darin investiert hatten, verkaufen. Mitsamt den beiden liebgewonnenen Pferden fügte sie im Stillen bedauernd hinzu. Dennoch, lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende.
Fertig. Basta!
Hauptkommissarin Becca Brigg straffte energisch die Schultern und ging tief luftholend, aber durchaus entschlossen auf den Haupteingang des Präsidiums zu. Sie würde sich auf die Arbeit konzentrieren. Das half meistens. Das optisch ohnehin nicht gerade attraktive Gebäude der Polizei in Ravensburg wurde, dem Corona-Virus sei Dank, seit diesem Mai durch einen vorgelagerten, eckigen und vor allem hässlich anmutenden Stahlcontainer verschandelt. Reichten vor Ausbruch der Pandemie ein Fingerprintsensor und der dazugehörige Retinascanner am Eingang, um dem Thema Sicherheit hinreichend Genüge zu tun, so kam inzwischen ohne einen tagesaktuellen Coronatest keiner mehr ins Haus hinein. Selbst das sicherheitsinterne Präsidiumsrelikt in Gestalt von Pförtner Walter Mayer war hinter einer Glasscheibe geschützt. Nach mehr oder weniger ungeschützten Diensteinsätzen war ein Containerbesuch mittlerweile ebenso zur Pflicht für die Beamten geworden. Ein ungeliebtes Thema, mit dem sich ein Teil der Belegschaft vernunftsgetreu und ins Schicksal ergebend arrangierte. Ein anderer, kleinerer Anteil des Präsidiumspersonals, zu denen beispielsweise SpuSileiter Uwe Link zählte, brodelte ähnlich einem bald ausbrechenden Vulkan zornig vor sich hin. Die Protesthandlungen der Unzufriedenen erstreckten sich über tägliche Schimpftiraden bis hin zu eingereichten offiziellen Beschwerden beim Innenministerium. Um die Pflicht, jeden Tag einen zertifizierten Anti-Corona-Test über sich ergehen zu lassen, kam jedoch bislang inklusive Reinigungspersonal und Besucher keiner der Polizeiangestellten herum.
Hauptkommissarin Becca Brigg hatte sich angewöhnt, den täglichen Routine-Test erst nach Feierabend im heimeligen Testzelt von Wittenhofen, ihrem Wohnort im Deggenhausertal, durchführen zu lassen. Denn immerhin war es nicht vorgeschrieben, zu welcher Tageszeit der Test zu erfolgen hatte. In dem idyllisch ländlichen Bodenseehinterland entstanden seltener Wartezeiten, im Vergleich zum Container vorm Präsidium. Zudem lud ein Besuch in der Wittenhofener Teststation zu dem einen oder anderen Schwatz mit Nachbarn ein, die man dort zufällig antraf. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Das Testergebnis kam bequem fünfzehn Minuten später via E-Mail, wenn die Kommissarin meist bereits gemütlich auf dem eigenen Sofa saß und aus bauchigen Schwenkern einen dunkelroten After-Work-Rioja genoss.
Im Gegensatz dazu hing man im Präsidium besonders morgens vor Dienstbeginn schon mal bis zu einer halben Stunde mit anderen wartenden Kollegen zusammen herum, bis das Test-Ergebnis endlich geliefert wurde und man den Arbeitsplatz betreten durfte.
Ätzend, auf diese Art, einen Arbeitstag in der Frühe zu beginnen, befand Becca Brigg. Heute musste sie allerdings ausnahmsweise da durch, weil die Gewitterwolken zwischen ihr und Aage sich das ganze Wochenende über heftig entluden und keinen Raum für einen Gang zum Wittenhofener Testzelt gelassen hatten.
Im Container war es mollig warm, wie die Ermittlerin beim Betreten feststellte. Immerhin etwas. Das Thermometer draußen zeigte heute Morgen kalte vier Grad über Null an. Am Eingang des viereckigen Blechmonsters waren drei einfache Stühle aufgestellt, denen sich ein hoher, funktionell wirkender Tresen inklusive Lesegerät und Testutensilien anschloss. Becca Brigg hielt zur Identifikation ihren Dienstausweis unter einen Scanner. Ein Mittdreißiger, der, der Kommissarin bislang unbekannt war, blinzelte sie mit wunderbar hellgrünen Augen über den Rand seines farblich stimmigen Mundschutzes an. Er wedelte fragend mit dem Abstrichstäbchen in der Hand vor ihrem Gesicht herum:
»Nase oder Rachen?«
Die Kommissarin sank ergeben auf einen der Stühle, zog kommentarlos ihre Maske herunter und öffnete weit ihren Mund. Es ist doch immer wieder ein erhebendes Gefühl, diesen leichten Brechreiz zu verspüren, den der raue Watteträger beim Abtasten der oberen weichen Gaumenhaut verursacht, dachte sie sarkastisch.
Der junge Mann fuhrwerkte indes stoisch routiniert in ihrer Mundhöhle herum und zählte dabei gemächlich die Sekunden bis zehn. Anschließend machte es sich die Kommissarin, so gut es eben ging, auf der hinter dem Tresen stehenden Wartebank bequem. Ein ihr unbekannter Kollege aus einer anderen Abteilung wartete zeitgleich auf sein Testergebnis. Er nickte ihr abwesend zu, ohne wirklich Notiz von ihr zu nehmen, um sich dann erneut in die Akte zu vertiefen, die auf seinem Schoß lag.
Becca Brigg fummelte ihr Smartphone aus der Jackentasche und checkte die seit gestern angestauten Mails in ihrem Account. Zwischen der Werbung einer Eventagentur, die zum Kauf einer regionalen Konzertkarte animierte, und dem täglichen Newsletter der Zeitung SeeTageblatt stach der Kommissarin eine Nachricht ihrer Hausbank ins Auge.
Der Kredit für den Hof. Nicht das jetzt auch noch.
Es schien nicht annähernd klar, wie sie bei einer Trennung von Aage mit dem Schuldenberg umgehen sollte, auf dem sie saß. Sie konnten nur hoffen, einen solventen Käufer dafür zu finden. Eilig, um sich von der privaten Misere abzulenken, öffnete die Kommissarin den Newsletter des SeeTageblatts. Die eindringliche Warnung der deutschen Kanzlerin vor wenigen Wochen habe sich leider bestätigt, schrieb die Presse heute. Eine zweite Welle sei jetzt, Ende Oktober, in vollem Gange. Deutschland habe, so wurde kritisch angemerkt, in den vergangenen sorglos gelebten Sommermonaten seinen Vorsprung in der Pandemiebekämpfung im Vergleich zu anderen Ländern gründlich verspielt.
Ein weiterer Artikel im Newsletter beschäftigte sich mit der coronabedingten Verschiebung der Landesgartenschau in Überlingen um ein volles Jahr. Dauerkarten würden auch für 2021 ihre Gültigkeit behalten und der Oberbürgermeister sei zuversichtlich, dass man im darauffolgenden Jahr das Großereignis gebührend begehen könne. Die Pflanzungen seien bis dahin durch die Verzögerung noch prächtiger als ohnehin schon, frohlockte der Politiker, die Not zur Tugend machend. Der damit verbundene finanzielle Verlust für die Stadt ließe sich mit etwas Glück und sonnigem Wetter aufholen, so die weitere Zuversicht des OB.
Die komplette Berichterstattung der Zeitung schien wieder einmal hauptsächlich aus Corona-Nachrichten zu bestehen, stellte die Kommissarin missmutig fest. Ihr war zwar einerseits bewusst, dass diese Pandemie in ihren Folgen ernst zu nehmen war, und zumindest theoretisch stand sie hinter der aktuellen Politiklinie. Leider waren Theorie und Praxis oft nicht kompatibel und so war Becca Brigg zeitweise von unlogisch erscheinenden Regeln, unsinnigen Einzelanweisungen oder des überpräsenten Themas im Allgemeinen schlichtweg genervt.
»Frau Hauptkommissarin?«
Die sympathischen grünen Augen des Testhelfers sahen Becca offen an und unterbrachen ihre Gedankengänge. Der junge Mann drückte der Kommissarin ihre schriftliche Coronatest-Bescheinigung für den Tag inklusive Negativ-Stempel in die Hand.
Endlich konnte sie in den Arbeitstag starten.
Die Ermittlerin betrat direkt vom Container aus das Polizeigebäude und winkte auf dem Weg in den Fahrstuhl Pförtner Mayer zu, an dem sie zwangsweise vorbeimusste und der glücklicherweise in diesem Augenblick hinter seiner Glasscheibe durch ein Telefonat abgelenkt war. Der vierundsechzig Lenze zählende Empfangschef des Präsidiums neigte nämlich zu Klatsch und Tratsch, sodass er mit Vorliebe die an ihm vorübergehenden Mitmenschen in Gespräche verwickelte. Das trotz des Telefonates übliche »Guade Morge, Frau Brigg« des badischen Urgesteins verschluckte die sich schließende Aufzugtür.
Kurz darauf kam Becca im Großraumbüro des ersten Stocks an, in dem seit Januar dieses Jahres das Kriminalkommissariat 1 untergebracht war.
»Hi, Becca«, empfing Polizeisekretärin Ayla Schneider-Demir die Teamchefin. »Du sollst gleich mal bei Dave Bernstein durchläuten. Es klang wichtig.«
»Okay«, antwortete Becca einsilbig und nickte wortlos Polizeikommissar Anwärter Kevin Mittenmann zu, der an seinem Platz die Tastatur malträtierte, bevor sie zügig hinter dem Raumteiler in ihren separaten Büroraum eilte. Sie hatte keine Lust, dass Ayla, mit der sie privat befreundet war, ihre schlechte Stimmung auffiel.
Die Kommissarin hatte eben den Computer hochgefahren und wollte zum Hörer greifen, um Polizeipsychologe Dave Bernstein anzurufen, da erschien auch schon der blonde Schopf von KKA Mittenmann in der Öffnung der Glaswand.
»Es geht gut los für Montagmorgen. Ein Einsatz, Becca. Die Zentrale hat durchgegeben, dass in den Pfahlbauten in Unteruhldingen ein Toter entdeckt wurde. Handelt sich um eine ziemliche Sauerei, meinte der Kollege vor Ort.«
»Mist. Aber hilft ja nix. Dann machen wir beide uns auf den Weg. Wenigstens einen Kaffee hätten sie uns gönnen können«, maulte Becca und schnappte sich die gefütterte Daunenjacke, bevor sie mit Kevin, dem Youngster im Team, Richtung Ausgang eilte. Die zugigen Stege in den Pfahlbauten direkt über dem Wasserspiegel würden sich frostig anfühlen und wer weiß, wie lange sie draußen zu tun haben würden.
Als sie am Arbeitsplatz von Ayla vorbeikamen, hielt Becca kurz inne. »Informiere bitte die Kollegen vor Ort, dass wir in einer Dreiviertelstunde zu ihnen stoßen. Ach, und Ayla – sie sollen nichts anrühren, bis wir da sind, klar?!«
Kevin Mittenmann, der mit dem schwungvollen Elan eines unter Dreißigjährigen und mit sichtlicher Begeisterung den Einsatzwagen zügig über die B33 lenkte, fädelte elegant in die Abbiegespur zur B31 ein. Die Straße zog sich am kompletten Nordufer des Bodensees entlang.
»Stau«, stellte die Kommissarin trocken mit Blick aufs Navi fest. Die B31 zwischen Meersburg und Überlingen erschien als dunkelorangefarbener Strich auf dem Display. Vielleicht hatte es mal wieder gekracht. Geistesgegenwärtig setzte Kevin im letzten Moment den Blinker und bog von der Bundesstraße auf ein Quersträßchen ab.
»Wir nehmen die Serpentinen bei Meersburg und fahren unten am See entlang«, kommentierte er während des spontanen Fahrmanövers den kritischen Blick seiner Vorgesetzten.
Wenige Minuten später fuhren die beiden Ermittler an den teils mittelalterlichen Häuserzeilen von Meersburg entlang. Ihr Wahrzeichen, die Burg Meersburg, türmte sich erhaben in der Stadtsilhouette empor. Die mutmaßlich älteste noch bewohnte Burg Deutschlands lockte mit Zugbrücke, Museum und Ausstellungsräumen jedes Jahr Scharen von Touristen an. Das altehrwürdige Bauwerk bot zudem eine spektakuläre Folterkammer im Burgverlies zur Besichtigung. Einstmals hatte in der Burg Meersburg die bekannte deutsche Dichterin Annette von Droste-Hülshoff bis zu ihrem Tod im Jahr 1848 gewohnt. Deren ehemalige private Räumlichkeiten stellten heutzutage ein weiteres Highlight für Besucher des historischen Gemäuers dar. Die abwechslungsreiche Kulisse des Seeufers war von Oberschwaben kommend immer wieder ein reizvoller Anblick.
Während die beiden Ravensburger Kripobeamten die steilen Serpentinen bei Meersburg hinabfuhren und der Dienstwagen sich in einer der scharfen Kurven bedrohlich zur Seite neigte, gab die Straße einen weitläufigen, beinah majestätischen Blick auf den Bodensee frei. Die abgeschwächte Oktobersonne schimmerte auf die noch von der Nacht stellenweise Nebel umwobenen Wasser. Nur an den Rändern des Sees ließ, gesäumt mit Gebüsch und Schilf, die Morgensonne, deren Blätter leuchten und herbstliches Goldgelb zog sich an den Gestaden entlang. Die Seeoberfläche lag friedlich wie ein dunkelblauer Teppich. Nur die weißen Schwaden des Nebels durchbrachen es hie und da. Es war absolut windstill. Vielleicht wird es am Tatort doch nicht so ungemütlich wie erwartet, dachte Becca erleichtert.
Eine der Autofähren, die regelmäßig zwischen Konstanz und Meersburg hin und her pendelten, legte soeben am Poller des Fährhafens an. Weiße Möwen kreisten schreiend über dem Anleger. Die sich anschließende Landstraße zog sich gesäumt von Villen, hohen Bäumen sowie Weinbau in Hanglage fünf Kilometer direkt am Seeufer entlang bis Unteruhldingen. Nach wenigen Minuten Fahrt stoppte Kevin Mittenmann den Wagen vor dem Haupteingang der Touristenattraktion Pfahlbauten, die, seitdem sie zum UNESCO Weltkulturerbe ernannt worden war, noch mehr an Bedeutung zugenommen hatte.
Es herrschte ein ziemliches Getümmel an Fahrzeugen auf dem geteerten Vorplatz der Pfahlbauten, der sich in unmittelbarer Seeufernähe in Uhldingen befand. Mehrere Polizeieinsatzwagen, ein Rettungsfahrzeug sowie einige wenige private PKWs, darunter ein knallroter Spider, füllten den üblicherweise autofreien Freilichtmuseumseingang. Der Notarztwagen rollte gerade wieder langsam von dannen. Eine Handvoll Schaulustige sowie zwei Journalisten mit Kameras im Anschlag hielten sich wissbegierig vor dem Gebäudeeingang auf. Ein Polizist ließ sich von Becca und Kevin den Dienstausweis zeigen, bevor die beiden Kripobeamten das Museum durch dessen Glasfronttüre betraten.
»Wegner, Polizeidienststelle Meersburg«, nahm sie drinnen ein weiterer Kollege in Empfang, noch bevor sie den Holztresen mit der Aufschrift Willkommen erreicht hatten. In der Halle befanden sich etwa ein Dutzend Menschen.
»Lass mal gut sein«, mischte sich da ein zweiter Uniformierter ein, der sich jetzt an seinem Kollegen vorbeischob und der Kommissarin freundlich zunickte.
»Wenn das mal nicht Erich Briggs Tochter von der Kripo ist, fress’ ich ’nen Besen. Wie geht’s dir, Becca und wie geht es Erich? Ich habe den alten Haudegen einige Zeit nicht mehr gesehen. Die letzten Stammtische hat er leider ausfallen lassen.« Becca kannte Polizeihauptmeister Kurt Wessle schon seit Kindertagen. Er war, bevor es ihn nach Meersburg gezogen hatte, viele Jahre mit Beccas Vater, Erich Brigg, Polizeiobermeister a.D., in der Polizeidienststelle Überlingen tätig gewesen. Die Kommissarin hatte in der zweitgrößten am Nordufer liegenden Stadt im Bodenseekreis eine glückliche, behütete Kindheit verbracht und war beruflich quasi in die Fußstapfen des Vaters getreten, wenngleich mit größeren Ambitionen.
»Schön, dich wiederzusehen, Kurt«, antwortete Becca. »Es ist wohl nicht bis zu dir durchgesickert, aber wir hatten Anfang des Jahres einen Trauerfall in der Familie. Meine jüngere Schwester ist gestorben. Du erinnerst dich bestimmt an Taja, nicht wahr?«
Kurt Wessles Gesichtsausdruck wurde augenblicklich ernst und er legte ihr mitfühlend eine Hand auf den Arm. »Mensch, ich hatte keine Ahnung. Das tut mir wirklich leid, Becca. Ich sehe dieses fröhliche kleine Mädchen mit den blonden Locken noch förmlich vor mir«, meinte der Kollege sichtlich betroffen. »Nun verstehe ich natürlich, warum dein Vater sich beim Stammtisch rargemacht hat.«
Becca nickte bestätigend und schwenkte offensiv zum Grund ihrer Anwesenheit um.
»Was habt ihr denn hier für uns, Kurt?« Insgeheim war die Kommissarin erleichtert, dass Kurt Wessle so einfach abzulenken war. Denn der wahre Grund von Erich Briggs Abwesenheit im Freundeskreis lag tatsächlich ganz woanders, nämlich in seiner Alkoholsucht, die nach dem Tod der Schwester Anfang des Jahres unvermittelt zutage getreten war. Das Selbstbewusstsein des Polizeimeisters a. D. lag seither, einer andauernden Suchttherapie zum Trotz, nachhaltig am Boden. Sozialkontakten wich er schamvoll aus. Es war jedoch aus Beccas Sicht nicht die Aufgabe seiner Tochter, diesen Umstand seinem Bekanntenkreis zu erklären. Insofern vermied sie generell das Thema.
»Du wirst überrascht sein, Becca. So was sieht man bei uns zum Glück nur selten«, entgegnete Hauptmeister Wessle und ging voran. »Es sieht auf jeden Fall nach arbeitsreichen Wochen für dein Team aus. Der Angestellte, der heute Morgen in die Hütte hineinschaute und die Sauerei entdeckte, sitzt ziemlich geschockt da hinten auf dem Stuhl. Der Notarzt hat ihm was zur Beruhigung gegeben.«
Ein schmaler, blasser Mann um die Dreißig, saß zusammengekauert auf einem schlichten Holzstuhl in der Eingangshalle. Er hatte seinen Schädel tief zwischen die Schultern eingezogen. Eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Schildkröte lässt sich nicht leugnen, tanzte es Becca bei diesem Anblick durch den Kopf.
Kurt Wessle fuhr fort. »Der Mann ist glücklicherweise nicht hineingegangen und hat auch nichts angerührt, wie er glaubhaft versichert. Er hat die Holztür geschlossen und uns angerufen. Komm, ich bringe dich und deinen jungen Kollegen bis zur Absperrung. Außer den Medizinern war bisher keiner in dem betreffenden Raum.«
Kevin Mittenmann hatte zwischenzeitlich einen interessierten Blick auf die prähistorischen Exponate in den raumfüllenden Vitrinen geworfen. Nun riss er sich von deren Anblick los und schloss sich Becca beim Hinausgehen an. Gemeinsam durchschritt die kleine Gruppe die Eingangshalle und verließ das Gebäude durch den rückwärtigen Teil.
Als sie durch die Tür ins Freie traten und um die Gebäudeecke bogen, streckten sich etwa fünfzehn originalgetreue Pfahlbauten Hütten imposant vor ihnen über der Seeoberfläche empor. Die aus Holz, Lehm und anderen Naturmaterialien gefertigten Katen ragten auf ihren Pfählen stehend etwa eineinhalb Meter aus dem Wasser heraus. Schmale, natürlich wirkende Holzstege verbanden sie untereinander. Die archäologischen Nachbildungen, deren Originalreste sich auf dem Seegrund befanden, trugen allesamt Strohdächer. Die meisten waren mit hölzernen Firstverzierungen bestückt.
Noch immer waberten einzelne Nebelfelder auf der umgebenden Wasseroberfläche herum und verliehen dem Anblick eine beinah gespenstische Aura. Vereinzelte Strahlen der Oktobermorgensonne durchbrachen das Grau des Hochnebels und trugen durch bewegte Lichtreflexe zu dem mystischen Eindruck bei. Ein Trupp Blässhühner schwamm unbeeindruckt von alledem unter den Stegen herum und hinterließ kleine Bugwellen im von Nahem betrachtet dunkelgrün erscheinenden Seewasser.
»So, von hier aus könnt ihr allein weiter«, meinte Kurt Wessle und hob das rotweiße Flatterband für Kevin und Becca an. »Seht ihr die zwei abseits liegenden Hütten ganz am Rand zum See hin? Die etwas nach hinten versetzte Linke, ist es.«
Die beiden Kripobeamten liefen gemächlich den schmalen, aber beeindruckend langen Holzsteg entlang und sahen sich um. Und obwohl dessen hölzernes Geländer einen einigermaßen stabilen Eindruck machte, fühlte sich der Gang über den See auf diese Weise eigentümlich ungewohnt an. Der Anblick der absichtlich leicht windschief gefertigten Holzkonstruktionen und die Tatsache, dass zwischen manchen Ritzen der Stegbretter das darunterliegende Wasser durchschimmerte, beeinträchtigte unwillkürlich das Sicherheitsgefühl von eingefleischten Landratten.
Sie steuerten auf eine kleine Plattform zu, die vor dem mächtigen, mit halbhohen Holzpalisaden geschützten Dachvorsprung der besagten Hütte lag. Ein schmaler Baumstamm in der Eingangsmitte, der sich bis zum First emporstreckte, trug oben ein ausladendes Hirschgeweih. Die Dachhöhe lag geschätzt bei über sechs Metern. Dicke Strohmatten deckten es ein. Die darunterliegende sichtbare Dachkonstruktion war originalgetreu ungenagelt und lediglich mit robusten Seilen umwickelt. Der Eingang in den Innenraum der Hütte war mit einer schlichten grobgezimmerten Tür verschlossen. Selbst die keilförmige Klinke bestand aus einfachem Holz.
Kevin schob vorsichtig das Türblatt auf und ließ seiner Vorgesetzten den Vortritt. Für einen kurzen Moment blieben beide Ermittler stumm vor der sich ihnen ausbreitenden Szenerie stehen. Der Innenraum der Hütte, in den sie jetzt blickten, maß ungefähr zwanzig Quadratmeter und war zwischen den hölzernen Stützen weiß getüncht. Die Augen der Kripobeamten benötigten jedoch einen Moment, sich an das dunkle Schummerlicht im Innern zu gewöhnen. Fenster gab es nicht, lediglich ein Teil des Giebels, der mit seinem durchbrochenen Weidengeflecht für ein wenig Frischluft sorgte, ließ winzige Lichtpartikel durch die Ritzen herein. Ein Bärenfell lag auf einem kleinen Zwischenboden davor. Der wuchtige Schädel des Raubtiers lugte mit offenem Maul, seine messerscharfen Zähne entblößt, auf das Rauminnere hinunter. Die rückwärtige Tür auf der gegenüberliegenden Seite war verschlossen.
In der Mitte des Raums befand sich zwischen stützenden Holzstämmen ein schlichter Holztisch, dessen wuchtige Tischplatte sicher gute zehn Zentimeter Stärke maß. Auf ihm waren die Umrisse eines menschlichen Körpers zu erkennen. Auch im schummrigen Halbdunkel konnten sie erahnen, dass der Silhouette der Kopf fehlte. Massive dunkle Flecken zeichneten sich im oberen Teil des Tisches und des darunter befindlichen hölzernen Bodens ab.
Blut. Und zwar jede Menge Blut.
Es stank in dem kleinen Hüttchen nach dem typisch metallischen, nassen Geruch, den frisches Blut verströmte. Der Anblick der geköpften Leiche war befremdlich, fast unheimlich, auch wenn, oder gerade weil durch die Dunkelheit des Raumes das volle Ausmaß des Blutbades nur zu erahnen war. Doch ohne eine entsprechende Lichtquelle gab es hier zunächst für sie beide nichts weiter zu tun. Erst einmal musste die SpuSi hier rein.
Becca fasste Kevin am Jackenärmel und zog ihn wortlos mit nach draußen ins Tageslicht. Sie umrundeten die Hütte auf den Stegbrettern und fanden auf deren Rückseite direkt neben der hinteren Türfüllung eine grobgezimmerte Holzplanke, auf der sie sich niederlassen konnten. Der See lag noch immer wie ein Teppich da und breitete sich ausladend vor ihnen aus. Ein friedlicher, beruhigender Anblick.
»Was hast du gesehen?«, fragte Becca den jungen Kriminalkommissar Anwärter an ihrer Seite.
Da das Team der Spurensicherung noch nicht eingetroffen war, was ungewöhnlich genug war, bot sich eine gute Gelegenheit, dem Youngster ein wenig auf den Zahn zu fühlen.
Kevin Mittenmann blickte ein bisschen blass um die Nase auf die Wasseroberfläche und meinte zögerlich: »Nun ja, eine, wie es auf den ersten Blick aussieht, männliche Leiche, der, der Kopf abgetrennt wurde. Und jede Menge Blut.«
Becca nickte. »Und weiter?«
Er blickte konzentriert auf seine Schuhe und rief die in seinem Kopf abgespeicherten Eindrücke ab.
»Der Tote ist nicht nackt, er trägt Kleidung. Auch seine Schuhe. Der Raum ist fensterlos. Abgesehen von dem Tisch und dem Bärenfell auf der Empore ist er ohne Mobiliar oder sonstige Deko.«
»Sonst noch etwas?«, bohrte die Kommissarin gnadenlos nach.
Kevin schüttelte bedächtig den Kopf, während ein schneeweißer Höckerschwan majestätisch mit aufgeplustertem Gefieder unter der hölzernen Plattform hervorschwamm und eilig Richtung offenes Wasser zog. Irgendetwas hatte das Tier offensichtlich erregt.
»Was ist mit seinem Schädel? Konntest du den irgendwo im Raum entdecken?«
Der Youngster schüttelte den Kopf.
»Oder hast du eine Tatwaffe rumliegen sehen?«, fragte Becca.
Kevin blieb stumm.
»Bei einem Tatort ist es grundsätzlich sinnvoll, auch auf die Dinge zu achten, die man nicht sieht. Fakten, die fehlen«, erklärte sie und fügte nach einer kurzen Pause lapidar hinzu: »Licht zum Beispiel, um eine solche Tat auszuführen.«
Die Kommissarin ließ ihren Blick genüsslich von der nahen Uhldinger Schiffsanlegestelle über das Schloss der Insel Mainau bis hin zu den Häusern der kleinen Gemeinde Litzelstetten auf der anderen Seeseite wandern. Das Südufer war dicht bewaldet. Ein Ruderboot bewegte sich im Schneckentempo Richtung Hafen.
»Ich frage mich, wie die Leiche hierherkam«, meinte Kevin plötzlich.
Becca nickte anerkennend. »Eine gute Frage, Kevin, die wir klären müssen. Dass diese Hütte am äußersten Rand der Pfahl-Siedlung liegt, wird möglicherweise dabei eine pragmatische Rolle spielen.«
Vom Ufer her bückte sich nun Forensikerin Dr. Li-Ming Wang unter der Absperrung durch und betrat den hölzernen Steg. Die fast zerbrechlich wirkende zierliche Gestalt der aus China stämmigen Mittvierzigerin wurde durch ihre energischen Schritte Lügen gestraft. Ein geballtes Bündel Energie. Dr. Wangs tiefschwarzes Haar schimmerte im Morgenlicht, als sie jetzt näherkam, und die mandelförmigen Augen blickten aufgeweckt über den Maskenrand.
»Guten Morgen ihr zwei«, begrüßte sie die Kollegen aus Ravensburg wie gewohnt froh gelaunt. »Die SpuSi steht auf der B31 im Stau und braucht noch ein paar Minuten, soll ich ausrichten.«
»Guten Morgen, Li-Ming. Ich habe deinen Spider vorhin auf dem Parkplatz entdeckt und mich bereits gewundert, dass du nirgends zu sehen warst«, entgegnete Becca. Sie schätzte die kompetente Rechtsmedizinerin für ihr ausgeglichenes Wesen sowie die überragende Fachkompetenz.
»Ich habe lediglich einen kurzen Blick auf den Tatort geworfen. Ohne Lichtquelle komme ich da nicht weiter und die liegt bei der SpuSi im Kofferraum«, bemerkte die Medizinerin ungerührt. »Den Status der Leichenstarre und die obligatorische Temperaturmessung mal ausgenommen. Aus diesem Grund sprach ich eben hinterm Gebäude mit dem Kollegen aus dem Notarztwagen, der als erster vor Ort war und die vorläufige Todesbescheinigung ausstellte.«
»Und?«, fragte Becca.
Dr. Wang zuckte mit den Schultern. »Wie erwartet. Dem Kollegen genügte ebenfalls ein Blick auf den fehlenden Kopf des Opfers. Da gab es nichts weiter zu tun. Der Tatzeitpunkt liegt in den frühen Morgenstunden. Ich fahre gleich ins pathologische Institut zurück. Nach der Obduktion wissen wir hoffentlich mehr.«
»Okay, bis dann, und ruf bitte an, wenn du so weit bist«, meinte Becca ein wenig enttäuscht im Aufstehen. »Komm, Kevin, wir gehen mit ins Hauptgebäude und schauen, ob dort einer der Museumsverantwortlichen zu sprechen ist.« Der Holzsteg vibrierte durch die Schritte der vorausgehenden Rechtsmedizinerin. Bevor das Trio den Eingang erreichte, stieß SpuSileiter Uwe Link, bereits in einen weißen Tyvek-Overall gehüllt, schwungvoll die Türflügel auf und polterte los.
»Gibt’s eigentlich je keinen Stau auf der B31? Dieser Verkehr wird doch immer verrückter! Haben die Leut kein zu Hause, oder was? Oder wie wär`s mit Arbeit? Was machen die da alle um diese Uhrzeit auf der Straße?« Die Dreier-Gruppe grinste sich vielsagend an. Manche Dinge änderten sich einfach nicht. Uwe Link war bekannt für seine Diskussionsfreude sowie die Neigung, sich mit Vorliebe über alles und jeden aufzuregen. Zudem gehörte er zu den Kollegen, die seit dem Ausbruch der Coronapandemie in permanent ablehnender Grundspannung verharrten. Schon von daher bestand jederzeit Explosionsgefahr.
Unmittelbar darauf in der Eingangshalle stand ein Mann um die sechzig Jahre in dunkelblauer Strickjacke dezent nervös vor Becca und Kevin und stellte sich als Professor Dr. Dr. Uhl vor. Der graumelierte distinguierte Herr fungierte als Geschäftsführer, wissenschaftlicher Leiter sowie Museumsleiter in einer Person, wie er selbst erläuterte.
»Becca Brigg, Kriminalkommissariat Ravensburg, und mein Kollege KKA Mittenmann«, stellte sich das Polizeiduo vor. »Herr Professor, wie Sie sicher verstehen können, brennen uns angesichts des Leichenfundes in Ihrem Freilichtmuseum einige Fragen unter den Nägeln. Haben Sie uns vorab irgendetwas mitzuteilen, das im Zusammenhang mit dem Mord stehen könnte? Gab es in den letzten Tagen hier irgendwelche Konflikte? Irgendetwas Ungewöhnliches?«
Professor Uhl nestelte an seinem Strickrevers herum und schüttelte den Kopf. Ein dezenter Schweizer Akzent schwang in den fast phlegmatischen Worten mit.
»Nein. Ich bin zutiefst geschockt, wie Sie sicher verstehen können. Pardon, Frau Hauptkommissarin, aber ich habe keinerlei Ahnung, wer der Tote sein könnte und wieso er ausgerechnet bei uns liegt. Gottfridstutz! Es ist einfach unglaublich.« Die Behäbigkeit der vom Professor gesprochenen Sätze wirkte, als ob jemand die Slow-Taste einer Audioaufnahme gedrückt hielte.
»War Ihr Museum denn gestern geöffnet?«
»Nein, natürlich nicht. Das Team hatte in den letzten Wochen wiederholt endlose Diskussionsrunden abgehalten, ob wir den Tourismusbetrieb trotz der zweiten Pandemiewelle aufrechterhalten können. Am fünfzehnten Oktober wurde dann im Gremium beschlossen, die Pforten mit sofortiger Wirkung bis zum nächsten Frühjahr zu schließen. Diese Entscheidung wäre uns durch den verhängten Teillockdown momentan ja ohnehin abgenommen worden.«
»Waren gestern Ihrem Wissen nach dennoch irgendwelche Personen auf dem Gelände?«
»Ja, freilich. Hier ist außer in der Nacht immer jemand. Wie Ihnen sicher bekannt sein dürfte, Frau Hauptkommissarin, sind wir hauptsächlich ein renommiertes archäologisches Forschungsinstitut. Der touristische Aspekt kommt da lediglich noch obendrauf. Nicht umsonst wurden die auf dem Seegrund befindlichen Pfahlbauten 2011 zum UNESCO Weltkulturerbe der Menschheit erklärt«, meinte der Professor mit Stolz in der Stimme.
»Ist Ihnen bekannt, wer gestern das Gelände zuletzt verlassen hat? Oder auch, wer als Letzter in der Hütte war, in der, der Tote aufgefunden wurde?«
Der Direktor schüttelte abermals betrübt den Kopf. »Da müsste ich, wenn es Ihnen pressiert, die Angestellten befragen.«
Becca sah den Professor aufmerksam an und entgegnete: »Danke, aber das übernehmen wir besser selbst. Wir werden sowie so mit jedem Ihrer Mitarbeiter einzeln sprechen müssen. Wäre es Ihnen möglich, später zu einer schriftlichen Aussage ins Präsidium nach Ravensburg zu kommen, Herr Professor?«
»Ja freilich komme ich zur Einvernahme nach Oberschwaben«, antwortete der Geschäftsführer ohne Zögern, den Schweitzer-Ausdruck für ein Verhör benutzend.
Polizeiobermeister Kurt Wessle erschien an Beccas Seite, um mitzuteilen, dass die SpuSi zwischenzeitlich für eine Tatortbegehung bereit sei. Die beiden Ermittler traten daraufhin erneut den hölzernen Weg übers Wasser an. Als sie dann die Holztür am Eingang aufschoben, wurden sie von den grellen Strahlern leistungsstarker LED-Leuchten geblendet. In einer der Zimmerecken kniete Uwe Link wie eine Geistererscheinung in seinem weißen Overall und tastete mit hellen Gummihandschuhen den Bretterboden ab.
Der Körper der Leiche lag ausgestreckt auf dem Tisch vor ihnen. Jetzt im gleißenden Scheinwerferlicht war die vorher mystische Atmosphäre des schummrigen Tatorts in nackte Brutalität umgeschlagen. Hier gab es nichts mehr zu beschönigen. Der tote Mann trug einen dunkelgrauen Strickpullover, der ab dem Brustbein aufwärts in schwärzliche Blutflecken getaucht war. Dunkle Jeansstoffhosen sowie braune Halbschuhe ergänzten das Bild. Hätte der Kopf des Mannes nicht gefehlt, so hätte man durch die entspannte Körperhaltung durchaus annehmen können, dass er lediglich ein Nickerchen hielt. Der blutige Stumpf des Halses sprach jedoch eindeutig eine andere Sprache.
»Er trägt keinen Ehering oder sonstigen Schmuck«, stellte Kevin mit einem Blick auf die seitlich liegenden Hände der Leiche bedauernd fest. Der Youngster bemühte sich, seine Augen möglichst nicht zu oft in Richtung des grausigen Schlachtfeldes am Hals des Toten wandern zu lassen. Beccas Blick tastete sich zunächst Schritt für Schritt durch den gesamten Raum. Die Hütte war, abgesehen von dem herunterblickenden Bärenschädel, völlig schmucklos. Dann begab sie sich ans Kopfende des Tisches. Der blutig rote Stumpf des Halses verströmte einen metallisch süßlichen Geruch, der, je näher man kam, immer aufdringlicher wurde. Die Blutlache darunter auf dem Bretterboden war an den Rändern bereits etwas angetrocknet. Nur dort, wo die Schicht dicker war, glänzte es frisch und erschien schwärzlich dunkel, Erdöl nicht unähnlich.
Einzelne träge Schmeißfliegen mit grünlich schimmernden Leibern tummelten sich darum. Das Gebrumm ihrer Flügel schwirrte durch den Raum. Die Oktobersonne hatte ausgereicht, die Tiere aus ihren Überwinterungsplätzen hervorzulocken. Der Tisch war heute reichlich gedeckt.
»Kannst du die krümelige Struktur hier sehen?«, meinte Uwe zu Becca und deutete auf einen etwa Zwei-Euro-Stück starken, kaum merklich erhabenen Bereich innerhalb der Blutlache.
»Ich würde wetten, dass das hier Sägeknochenmehl von der durchtrennten Wirbelsäule ist. Die weißlichen Knochenpartikel haben sich mit Blut vollgesogen, siehst du?« Der SpuSileiter deutete auf die Zimmerwand, die sich etwa einen Meter vom Kopfende befand und ebenfalls großflächigen Blutflecken aufwies. »Und um Dr. Wang vorzugreifen: Ich behaupte jetzt schon, dass der Mann während der Enthauptung noch gelebt hat. Hier spritzte arterielles Blut in einer mächtigen Fontäne aus dem Rumpf an die Wand. Dem Trocknungsgrad nach zu urteilen, wurde er irgendwann in den Morgenstunden getötet. Der Täter muss förmlich in Blut gebadet haben, um das hier zu bewerkstelligen.«
Kevin hatte sich inzwischen ebenfalls widerwillig über die Blutlache gebeugt. Seine Mimik sprach Bände, die unwillkürlich empfundene Abscheu stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Dennoch meinte er tapfer:
»Ich finde es seltsam, dass sein Körper so entspannt daliegt. Nach einem Kampf sieht das hier jedenfalls nicht aus.«
»Möglicherweise war der Mann bewusstlos. Wünschen wir es ihm«, meinte Becca trocken und warf einen kurzen Blick auf die Smartwatch an ihrem Handgelenk. Es war bereits gegen 11.00 Uhr. »Wir brauchen Taucher. Den abgesägten Kopf elegant im Wasser zu entsorgen, erscheint mir das Naheliegendste. Auch die Tatwaffe könnte sich auf dem Seegrund befinden, zumal hier nirgends etwas herumliegt und auch der Steg uferwärts keine gröberen Blutfanhaftungen erkennen lässt. Kevin und ich fahren zurück nach Ravensburg. Die Museumsangestellten bestellen wir allesamt zu den Verhören ein. Uwe, gib bitte sofort Bescheid, wenn die Fingerabdrücke des Mannes in unserer Datenbank einen Treffer ergeben sollten. Ich wüsste gern zügig, wer das Opfer ist.« Die Kommissarin blickte stirnrunzelnd durch die Türfüllung auf den See hinaus. Das bei klarer Sicht beeindruckende Alpenpanorama auf der anderen Seeseite lag heute hinter einer grauen Hochnebelwand, die den herbstlichen Sonnenstrahlen eisern die Stirn bot. »Wir suchen, so wie es aussieht, eine brutale gestörte Bestie. Hoffen wir, dass es nicht noch weitere Opfer geben wird, bis wir ihn gefunden haben.« Nach einem Moment der Stille fügte sie hinzu: »Wer so was macht, der kann jederzeit erneut ausrasten.«
Ihre Worte hallten wie ein böses Omen über die Seeoberfläche und verloren sich schließlich im Nebel.
»Hi Becca, wie war denn das Wochenende?«, empfing Ayla fröhlich die ankommenden Ermittler im Präsidium Ravensburg und trat damit sogleich unwissentlich ins Fettnäpfchen. Wenn die Kommissarin aktuell eins nicht wollte, dann über das katastrophale Wochenende mit Aage nachzudenken.
Ayla Schneider-Demir, die unentbehrliche Assistentin und einzige Nichtpolizistin des Kripo-Teams, schüttelte ihre gelockten, tiefschwarzen Haare ähnlich einem Model aus. Ein rehbrauner Bambiblick täuschte dabei Sanftheit vor. Becca, die mit Ayla seit Jahren privat verkehrte, war bekannt, dass der Schein trog: Die türkischstämmige Muslima hatte durchaus Haare auf den Zähnen, wenn sie denn wollte.
»Geht so«, antwortete die Kommissarin einsilbig. Das Thema Aage war um ihrer Freundschaft willen zwischen ihnen ausgeklammert, denn Beccas skandalöse Liebe zum eigenen Schwager stieß bei Ayla auf völlige Unverständnis. Taja, die Schwester der Kommissarin, war Ende März an einem Krebsleiden verstorben. Nur fünf Wochen später hatte sich Becca mit Aage, dem immerhin neun Jahre jüngeren Schwager, in eine leidenschaftliche Affäre verstrickt – ein absolutes No-Go für das gesamte soziale Umfeld. Auch Aylas Position war von Beginn an diesbezüglich eindeutig, und da war die Freundin mit ihrer ablehnenden Haltung lange nicht allein, wie Becca sehr wohl bekannt war. Der Gegenwind, der dem aus Sicht der Gesellschaft skandalösen Paar entgegenschlug, war von Anfang an enorm gewesen.
»Und bei dir? Hat die Braut Ja gesagt?«, fuhr Becca mit einer Gegenfrage fort, nur um vom Thema abzulenken.