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Eine Tote auf der Landesgartenschau am Bodensee, ein Flughund und eine finstere Rache. Überlingen - Ravensburg, Juni 2021 Rentner Simon genießt ahnungslos sein Vesper auf der Terrasse, als er hinterrücks erschlagen wird. Kriminalhauptkommissarin Becca Brigg bricht ihren Schottlandurlaub ab und begibt sich mit dem Ravensburger Kripoteam auf die Jagd nach dem Täter. Kurz darauf treibt eine Wasserleiche am Bodenseeufer. Das Team stößt auf ein Netz aus Verdächtigen. Indes holt die Kommissarin ein Fall aus der Vergangenheit bedrohlich ein, und schon bald muss sie an mehreren Fronten kämpfen. Auch Profiler Dave Bernstein erreicht seine persönlichen Grenzen. Die entscheidende Spur führt die Ermittler zur Bregenzer Seebühne, wo sich die schockierende Wahrheit inmitten der spektakulären Kulisse des Bodensees enthüllt. Band 3 der 5-Sinne-Bodenseekrimireihe besticht erneut durch rasante Spannung, gepaart mit tiefen Einblicken in die wunderschöne Region rund um den Bodensee.
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2025
Bodenseekrimi der 5 Sinne
Band 3
Von
Karina Abrolatis
Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt,
und der Sirenen Stimme lauscht,
dem wird zu Hause nimmer die Gattin
und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen;
Denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen.
Odyssee, Homer, 12. Gesang, Vers 40
Simon Kralke griff zielstrebig nach der Klatsche, die neben ihm auf dem Terrassentisch lag und zerquetschte mit einem kräftigen Schlag die Schmeißfliege, die sich just in diesem Moment auf das Wachstischtuch niedergelassen hatte. Angewidert betrachtete er den grünlich schillernden Hinterleib des Tiers, aus dem sich eine gelbe, zähe Masse ergoss. Eines der behaarten angewinkelten Beinchen zuckte, als er das tote Insekt kurzerhand vom Tisch pustete. Dann fuhr er sich mit allen fünf Fingern durch sein ergrautes Haar und gähnte herzhaft.
Der Tag konnte beginnen, stellte er selbstzufrieden, fest.
Herr Kralke hatte die längste Zeit seines Lebens in der Doppelhaushälfte, auf deren Terrasse er momentan saß, verbracht. Wenn die Temperaturen im Frühjahr über die siebzehn Grad kletterten, fand sein Dasein nahezu gänzlich im Garten statt. Ganz so, als würden die festen Wurzeln, die er hier selbst geschlagen hatte, sich im frischen Grün wohler fühlen als drinnen in der Stube. Mit einer molligen Strickjacke bekleidet ließ er sich meist schon gegen 8.00 Uhr morgens das Marmeladenbrot und den Becher Kaffee am Terrassentisch schmecken. Eine schlichte, in die Jahre gekommene Überdachung schützte ihn dabei vor gelegentlichen Regentropfen.
Deisendorf, mit seinen rund 730 Einwohnern in dem Simons Eigenheim stand, gehörte zur Kreisstadt Überlingen am Bodensee. Geschätzte drei Kilometer vom Bodenseeufer entfernt ließ es sich in dem überschaubaren Örtchen gefällig leben. Die Einwohnerzahl hatte sich in den letzten 5 Jahrzehnten nahezu verdreifacht. Die Gemeinde im Landstrich Linzgau, erstmalig im Jahr 927 als Tytzendorf urkundlich erwähnt, bestand heutzutage vorwiegend aus Einfamilienhäusern, zumindest in den Neubauvierteln, die den historischen Dorfkern umrahmten.
Hier war ein Menschenschlag verwurzelt, zu dem auch Simon Kralke zählte, der seit Generationen den Ort seine Heimat nannte und der in Harmonie mit den sogenannten Neigschmeckte, wie man zugereiste Neubürger im badischen Dialekt bezeichnet, lebte.
Meistens zumindest.
Für die Bürger des Dorfes stand ein Kindergarten, ein nicht ständig besetztes Rathaus sowie ein Feuerwehrhaus parat. Ein altes Schulhaus von anno dazumal musste als Dorfgemeinschaftshaus herhalten, doch platzte dies inzwischen aus allen Nähten und war seinen Aufgaben durch die enorme Menge an Zugezogenen schon längst nicht mehr gewachsen. Der Speckgürtel Überlingens galt immerhin als attraktive Siedlungsfläche.
Weitläufige Äcker, Wiesen und Wälder ringsherum, individuelle Hausgärten, einige Nutztiere sowie ein paar wenige Landwirtschaftshöfe vervollständigten das ländliche Paradies. Wenn man Glück hatte oder auch Pech, je nachdem welchen Blickwinkel man einnahm, konnten die Bewohner dieses provinziellen Idylls einen Hahn in den Morgenstunden krähen hören.
Frei von Durchgangsverkehr ansonsten ein Refugium der Stille, plätscherte leise murmelnd der Riedbach mitten durch den Ort. Streng bewacht von einer Nepomukstatur, deren Namensgeber, Johannes von Nepomuk im vierzehnten Jahrhundert von der Karlsbrücke in Prag gewaltsam in die Moldau gestürzt und ertränkt worden war.
Beeindruckendere Horrorgeschichten hatte das friedvolle Deisendorf nicht zu bieten.
Direkt im Anschluss an sein Outdoor-Frühstück sah Herr Kralke üblicherweise im Garten nach dem Rechten. Und zwar gründlich. Das schmutzige Geschirr auf dem Tisch war geduldig, das würde er später hineintragen. Meist waren die Essenreste, bis er dazu kam, dann dermaßen angetrocknet, dass er das gröbste zunächst mit dem Messer abkratzen musste. Die Spatzen freuten sich regelmäßig über die krümelige Beute. Irgendwie schaffte es Simon nicht, sich zu überwinden alles sofort reinzubringen, denn so hatte seine Marga es einst gemacht.
Unwiderstehlich zog es ihn nach dem letzten Schluck Kaffee in die Beete. Die Kartoffeln wollten nach gelbschwarzgestreiften Käfern abgesucht werden und wenn er jemals etwas von seinen zarten Salatpflänzchen ernten wollte, würde er nach Schnecken Ausschau halten müssen. Die schleimigen Weichtiere warf er in hohem Bogen über die Grundstücksgrenze auf die Wiese hinterm Haus. Wohlweislich, dass diese am nächsten Tag zurück gekrochen kamen, sofern die Laufenten von schräg gegenüber sie nicht vorher erwischten.
Die Kartoffelkäfer waren in seiner Wahrnehmung eine ganz andere Hausnummer. Die fressgierigen Biester zertrat er mit dem verächtlichsten Gesichtsausdruck, dessen er fähig war. Denn das Ungeziefer kannte hierzulande keine natürlichen Fressfeinde und erfreute sich daher einer überproportionalen Vermehrung. Ihrer Zerstörungswut bezüglich des grünen Kartoffelkrauts waren kaum Grenzen gesetzt.
Und ohne Kraut, keine Kartoffeln.
Eine komplette Handvoll sammelte er heute ab.
„Mein lieber Tscholi! Eine ordentliche Ausbeute“, lautete Simons gemurmelter, hochzufriedener Kommentar dazu.
Mit dem Schiff Ende des neunzehnten Jahrhunderts aus dem amerikanischen Colorado als blinder Passagier eingewandert, hatte sich das Insekt zügig zur Plage entwickelt. Im Zweiten Weltkrieg züchtete die deutsche Wehrmacht das gefräßige Getier in enormen Mengen und warf sie über der Pfalz bei Speyer aus Fliegern ab, um ihre Eignung als biologische Waffe zu testen. Das sagte, neben der erbärmlichen Bösartigkeit der Nationalsozialisten die eigene hungernde Bevölkerung mitten im Krieg als Versuchskarnickel zu missbrauchen, einiges über die Schädlinge aus.
Ganz egal ob sechsbeinig oder zweibeinig.
Die tägliche Gartenarbeit hielt Simon Kralke körperlich fit und sich zu bücken, funktionierte immer noch ganz passabel. Immerhin hatte er die vierundsiebzig Jahre bereits überschritten. Marga, seine Frau, hatte ihn früh verlassen. Eine Embolie, die niemand kommen sah und die ihn von heute auf Morgen um einen harmonischen Lebensabend zu zweit betrogen hatte.
Irgendwie schaffte er es, weiter zu machen, doch aus dem sozialen Dorfleben hatte sich der Witwer zwischenzeitlich vollständig zurückgezogen. Seine Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr sowie der Musikverein mussten inzwischen ohne ihn auskommen. Simon Kralke blieb lieber für sich, verbittert über den plötzlichen Tod der Ehefrau. Die Hege und Pflege seines Grundstücks eroberte nach und nach den zentralen Platz in seinem Leben, den einst Marga innegehabt hatte.
Es war nicht so, dass ihm seine Abgeschiedenheit geschenkt worden wäre. Nein, er hatte sich diese regelrecht erkämpfen müssen. Zusammenhalt galt im Dorf noch als Selbstverständlichkeit. Man kümmerte sich umeinander, geringstenfalls um den angrenzenden Nachbarn. Dass Simon lieber ohne Gesellschaft blieb, wurde inzwischen nur leidlich respektiert. Wenn jemand trotz der ablehnenden Signale, die er aussandte, zu Besuch kam, hatte er sich bis zur Grenze der Unhöflichkeit wortkarg gegeben.
Und dann spielte das Schicksal ihm in die Hände, als die Coronapandemie um die Ecke bog. Für Simon eine glückliche Fügung, denn durch die zwangsweise monatelange Isolation hatten selbst die besonders Hartnäckigen von ihren gelegentlichen Besuchen abgesehen.
Der Spuk um das Virus war zwischenzeitlich zwar abgeflaut, gänzlich vorüber war es jedoch nicht. In vorigen Winter, vor sechs Monaten, wurde das rasant entwickelte Vakzin gegen das Covid-19-Virus weltweit auf den Markt geschleudert. Die Impfpriorisierung in Deutschland, die erst vor wenigen Tagen aufgehoben wurde, hatte den systemrelevanten Berufsgruppen, wie medizinischem Personal, Polizisten, aber beispielsweise auch Risikopatienten gegolten.
Jetzt war es endlich so weit, dass sich jedermann diesen neuartigen Impfstoff abholen konnte, der in seiner Herstellungsbeschreibung für Laien klang, als hätten die Pharmariesen das Wissen einer deutlich weiterentwickelten Spezies aus dem Weltraum angezapft. Von Messenger-RNA, Nukleotiden, Informationsträgern und intrazellulären Bausteinen war allerorts die Rede. Vielleicht steckte auch der Vulkanier Mr. Spock hinter all dem wissenschaftlich futuristisch Faszinierenden, wer wusste das schon so genau, mutmaßte so mancher hinter vorgehaltener Hand. Ob der Impfstoff tatsächlich der ersehnte Heilsbringer gegen die weltweite Seuche sein würde, stand auf jeden Fall aktuell noch völlig in den Sternen.
Es ging beschaulich auf dem Land zu und es ließ sich trotz des ganzen Ungemachs der Pandemieeinschränkungen dort gut leben. Auf jeden Fall um Welten besser wie in einer Hochhaussiedlung, darin war man sich hier einig.
Simons weißgetünchtes Doppelhaus lag in einer kurzen Sackgasse, die vom Andelshofer Weg etwa 250 Meter von der Landstraße entfernt, abzweigte. Die Silberfischgasse sollte ursprünglich den Anfang für ein Neubaugebiet bilden. Doch dass dieses Areal jemals weiter bebaut würde, daran glaubte hier im Dorf schon lange niemand mehr, denn nach der Errichtung besagter Doppelhaushälfte sowie dem freistehenden Haus einer Tierärztin direkt nebenan, war das Projekt Neue Siedlung Deisendorf zum Stillstand gekommen. Weshalb wusste keiner so recht, doch es wurde gemunkelt, dass das Bauamt seine Genehmigung damals urplötzlich revidiert hatte. Das war nun über 20 Jahre her und inzwischen waren an anderen Stellen der Gemeinde neue Viertel erschlossen worden. Nur hier in der Silberfischgasse war es bei den zwei einzelnen Bauten geblieben.
Im Dorf kannte man sich untereinander und Fremde fielen meist auf. Manchmal sah Simon zur Straße hin einen der Haustierbesitzer bei seiner nächsten Nachbarin, einer Tierärztin, vorfahren. Diese zählten zu den wenigen unbekannten Menschen, die sich im Dorf blicken ließen. Die Praxis hatte werktags bis siebzehn Uhr geöffnet und es herrschte unter der Woche ein reges Kommen und Gehen von Struppi, Lumpi, Bello, Miez oder wie sie alle hießen.
Das störte Simon Kralke jedoch kaum, denn er nannte die hintere Doppelhaushälfte sein Eigen und blickte somit auf die menschenleere rückwärtige Rasenfläche der Tierärztin statt auf deren Schotter-Parkplätze vorm Haus. Im Anschluss an sein Grundstück schloss sich unbebaute Wiese an. Diese blühte im Frühjahr und Sommer mit den für den Bodenseekreis typischen Wiesenblumen auf. Das Blau der Kornblumen mischte sich mit rotem Klatschmohn und die ein oder andere Margerite schaffte es, einen weißen Klecks ins Grün zu zaubern. Wiesenschaumkraut im Blasslilaton durchzog filigran die Gräserhalme. Die nächsten sichtbaren Gebäude hinter Simons Doppelhaushälfte lagen gute zweihundert Meter entfernt.
Manchmal grasten Rinder oder Pferde auf der großzügigen Weide dazwischen und erfreuten sich am üppig sprießenden Rotklee. Simon liebte den Anblick der grasenden Huftiere, die eine stoische Ruhe verbreiteten und ihn kümmerten die Fliegen nicht, die zwangsläufig dadurch zunahmen. So war das eben auf dem Land. Wer sich daran störte, der sollte doch in Stadt ziehen, befand er. Simon hatte immer eine Klatsche am Esstisch parat liegen und wenn es ihm zu bunt wurde, haute er schonmal drauf. Manchmal mitten auf den Eßteller, dass es nur so klirrte. Viel bringen, tat das zugegeben nicht, aber es befriedigte für den Moment.
Der Rentner genoss die Abgeschiedenheit in seinem Garten. Almuth Henke die sich in der Doppelhaushälfte neben ihm in erster Reihe direkt an die Straße anschloss, ließ sich äußerst spärlich in ihrem Gartenstück blicken, das dementsprechend verwildert aussah. Doch wenn, winkte sie wortlos einen Gruß zu ihm herüber, nur um zügig wieder in den eigenen vier Wänden zu verschwinden. Almuth pflegte ein eingefleischtes Singledasein und arbeitete als Kundenbetreuerin in irgendeiner großen Firma, wie Simon wusste. Sie hatte den lieben langen Tag im Homeoffice das Headset auf dem Kopf. Genaugenommen war es gar keine richtige Nachbarschaft, sie wohnten lediglich nebeneinander. Man grüßte sich, mehr aber nicht. Ein Umstand der Simon Kralke sehr Recht war. Marga hatte regelmäßigen Kontakt zu Almuth gepflegt, doch ihm lag nicht daran. Er ließ die anderen in Ruhe und sie im Gegenzug ihn.
Zumindest theoretisch.
Denn mit Daggi Wolf, der Tierärztin auf der anderen Seite seines Hauses, war das keineswegs so simpel. Die Veterinärin galt als eine Seele von Mensch, nicht nur gegenüber ihren Tieren. Sie engagierte sich ehrenamtlich in diversen Vereinen im Dorf, behandelte das ein oder andere Wildtier ohne Bezahlung und hatte für jeden Mitmenschen ein offenes Ohr. Florian, ihren Mann, der als Tierpfleger im zweieinhalb Kilometer entfernten Bodensee-Zoo arbeitete, bekam man dagegen so gut wie nie zu Gesicht. Simon gab nichts auf Tratsch, doch man munkelte im Dorf hinter vorgehaltener Hand, die Veterinärin würde artfremde Lebewesen besser behandeln als den eigenen Mann. Seitdem Simons Frau gestorben war, hatte es sich die energische Mittdreißigerin jedenfalls zur Aufgabe gemacht, nach ihrem Nachbarn zu sehen, wie sie es auszudrücken pflegte.
Da brachte sie mal ein Gläschen Marmelade vom Wochenmarkt aus Überlingen vorbei, hier mal eine Frischhaltedose mit Eintopf, weil bei ihr angeblich einiges übrig war. Manchmal lehnte sie sich einfach über die niedere Ligusterhecke und erkundigte sich, wie es ihm ging. Daggi Wolf ignorierte seine Einsilbigkeit dabei stets völlig und Simon Kralke wünschte sich insgeheim, sie würde das alles sein lassen. Es gerade heraus sagen und sie somit direkt vor den Kopf stoßen, wollte er dann aber eben doch nicht.
Gegen Mittag, wenn auch der letzte Halm Unkraut zwischen den Gemüsepflanzen ausgerissen war, legte sich Simon meist ein wenig aufs Ohr. Je nach Witterung drinnen auf dem Sofa oder im Liegestuhl auf der Terrasse. Anschließend gönnte er sich einen weiteren Pott starken Kaffee und aß trockene Kekse vom Discounter.
Deisendorf verfügte über keinen eigenen Lebensmittelladen mehr. Die Zeiten von Tante-Emma-Läden war unwiderruflich vorbei und der mobile Einkaufswagen, der noch vor Jahren zweimal die Woche das Dorf angefahren hatte, hatte seinen Dienst längst als unrentabel erachtet und eingestellt. Ohne Auto war man hier im Ländlichen übel dran. Die Bustaktung ließ zu wünschen übrig und teurer wurden die öffentlichen Verkehrsmittel ebenfalls von Jahr zu Jahr. Zudem gehörte Simon nicht der Generation an, die im Internet, Lebensmittel bestellten. Wenn er eines Tages nicht mehr fahrtüchtig sein würde, müsste er ins Altersheim übersiedeln. Aber vielleicht würde er Glück haben und der Blitz traf ihn, bevor es so weit war.
Die Vorstellung seiner Marga, in Jenseits zu folgen, barg etwas zutiefst Tröstliches.
Simon Kralke schlürfte den letzten Rest Kaffee aus dem Becher und blickte in die dunklen Krümel, die sich am Tassengrund gesammelt hatten. Er tunkte die Kekse inzwischen gerne mal ein, nur der sich bildende Bodensatz ließ sich miserabel aus der Tasse schütten. Er nahm kurzerhand den Löffel und kratzte die süßen Keksreste aus dem Porzellan. Anschließend erhob er sich, lief in den kleinen Schuppen, der an die Hauswand anlehnte und griff sich seine Hacke.
Beinahe zwei Stunden lockerte der Senior unermüdlich den Erdboden zwischen den Pflanzen auf, scharf bewacht von einem Rotkehlchen, das durch seine Erdreich aufwühlende Arbeit von dem ein oder anderen Leckerbissen profitierte. Er bedauerte, dass sein Gehör nicht mehr in der Lage war die zarten Piepstöne des goldigen Tierchens neben sich wahrzunehmen. Doch allein der Anblick des rötlich hübschen Gefieders entschädigte für das Ungehörte. Ab und an stieß seine Hacke klirrend auf einen Stein, die er akribisch heraus sammelte und am Beetrain auf einen Haufen schichtete.
Endlich müde geworden, lehnte Simon schließlich das Gartengerät an den Stamm eines im Garten stehenden Feigenbaums, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte befriedigt auf sein Arbeitsergebnis. Er konnte es für heute gut sein lassen, dachte er mit sich zufrieden. Es war Zeit, Feierabend zu machen und sich einen ordentlichen Schluck kühles Bier zu gönnen.
Der Rentner zog den ausgeleierten Hosenbund zurecht und schlurfte ins Haus zurück. In der Küche stapelte Simon einen Teller, Besteck, ein einfaches Trinkglas, eine Bierflasche mitsamt Öffner, Leberwurst, Käse, Essiggurken und abgepackte Brotscheiben auf ein Tablett und trug alles hinaus. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich auf dem Gartenstuhlpolster nieder, goss sich das schäumende Bier ein und nahm einen beträchtlichen Schluck. Augenblicklich, angelockt durch den Duft der Speisen, surrten die Fliegen herbei. Simon biss in sein Leberwurstbrot. Er hatte nicht gespart und den Belag etwa einen Zentimeter dick darauf gestrichen.
Das verschmierte, vom Fett glitschige Messer, glitt ihm aus der Hand, knallte klirrend auf den Teller und kullerte unter den Tisch. Kauend bückte er sich und hob es auf. Anschließend griff er nach dem Gurkenglas und stocherte solange mit der Gabel nach den schlüpfrigen Biestern, bis er sich die Größte endlich in den Mund schieben konnte.
Ein wenig Essig tropfte über sein Kinn.
Es schmeckte köstlich.
Nebenan fuhr gerade einer der Tierbesitzer weg. Die wenigen Autos, die nach Feierabend durch den Andelshofer Weg Richtung Dorfmitte fuhren, waren kaum der Rede wert. Das Wort Berufsverkehr war in diesem Fall völlig deplatziert und auch der Traktor, der momentan dröhnend vorbei tuckerte, erreichte Simons Gehör nur vage, denn sein Hörgerät lag, wie so oft, in irgendeiner Schublade herum. Pfiff ja doch meist nur unangenehm, das dämliche Ding.
Hätte Simon Kralke an jenem schicksalhaften Tag sein Hörgerät getragen, wäre er möglicherweise in Lage gewesen, bevor es zu spät war, wahrzunehmen, was in diesem Augenblick in Form eines entfesselten Sturms auf ihn hinab zu toben begann.
Doch so blitzte lediglich wie aus heiterem Himmel, für Bruchteile von Sekunden, der blanke Stahl seiner eigenen Gartenhacke in einem seiner Augenwinkel auf. Dann traf ihn auch schon die Wucht des Schlags und spaltete die erschlaffte Wangenhaut des Vierundsiebzigjährigen in zwei Teile.
Ein entsetztes Mmmhhhmpfff entwich seiner Mundhöhle, aus der ein Stückchen Essiggurke herausfiel und es krachte, als der Kieferknochen brach. Erstaunt stellte Simon noch fest, dass er dies nach innen gerichtete Geräusch selbst ohne Hörgerät wahrzunehmen vermochte, bevor er mitsamt dem Stuhl seitwärts umkippte und zu Boden stürzte. Der Stahl wurde jäh aus seinem Gesicht herausgerissen, nur um mit unverminderter Hefigkeit erneut auf ihn niederzufahren.
Diesmal traf es seine Stirn.
Rasender Schmerz fuhr durch seinen Körper und bohrte sich auf direktem Weg wie ein glühender Nagel in seine Hirnwindungen. Den nächsten Schlag in sein rechtes Auge erreichte seine Sinne glücklicherweise nicht mehr, denn die Ohnmacht senkte sich erlösend über ihn.
Die gewaltige Wut die sich Bahn brach tobte indes hemmungslos weiter, raste wie in einer dramatischen Komposition von Sergej Rachmaninow opulent und leidenschaftlich über Simon Kralkes Leib hinweg, so lange, bis der Eschenstiel der Gartenhacke glitschig war vom hochspritzenden Blut. Und doch verursachte die Gewaltorgie kaum Lärm. Zumindest nicht viel mehr, als wenn die Hacke das ausgetrocknete Erdreich durchfurcht hätte. Stattdessen hatte sie Simons Körper mit Furchen überzogen und gierige Fliegen stürzten sich massenweise auf die unverhoffte Gelegenheit zur Eiablage. Einige der fliegenden Insekten vergnügten sich jedoch lieber mit den Leberwurstresten auf dem Tisch, zufrieden, dass ihnen niemand mehr mit einer Klatsche nach dem Leben trachtete.
Unvermittelt stoppte der Angriff.
Die blindwütige Raserei zog sich weit zurück in den verborgenen Winkel der Seele, aus der sie herausgeschossen war, und hinterließ eine gähnende Leere. Ein Gefühlsvakuum ähnlich eines schwarzen Lochs. Die Gartenhacke wurde akkurat an die Hauswand gelehnt und das Tuckern des sich immer weiter entfernenden Traktors war gedämpft zu hören.
Blut sickerte lautlos durch unzählige Wunden aus dem reglos daliegenden Körper von Simon Kralke, als wäre der Rentner ein Sieb mit hundert Löchern.
Das Wasser des Ness floss auf seinem Weg in die Nordsee in rasendem Tempo unter ihr vorbei. Kreischende Seemöwen balgten sich auf der tosenden Flussoberfläche. Kriminalhauptkommissarin Becca Brigg stand auf der schwankenden Fußgängerbrücke der Infirmary Bridge im schottischen Inverness und blickte den Flusslauf hinauf. Der Wind wühlte sich durch ihr kurz geschnittenes dunkles Haar. Die Luft roch nach würzigem Salzwasser.
Eineinhalb Wochen Seele baumeln lassen lagen bereits hinter ihr und Inverness bildete für die nächsten Tage den Abschluss ihrer Reise. Das wollte sie noch einmal so richtig genießen! Morgen würde sie an den Loch Ness fahren und ein Blick auf das sagenumwobene Ungeheuer werfen oder zumindest auf dessen angebliche Heimat. Wenn man schon einmal hier oben war, dachte sie, dann sollte sie sich das nicht entgehen lassen. Becca blinzelte hinauf in die Wolken, die sich zu abstrakten Gebilden über ihr zusammenballten. Hoffentlich hielt das Wetter. Die siebzehn Grad die das Thermometer anzeigte, fühlten sich für Mitte Juni recht frisch an, doch die reizvolle Umgebung entschädigte reichlich dafür, dass man eine wärmende Jacke tragen musste.
Die Kommissarin war vom Bodenseekreis aus, mit dem Zug ins Schweizerische gereist, um vom Euroairport Basel-Mulhouse gen Edinburgh zu fliegen. In zehntausend Metern Höhe hatte sie sich ein Gläschen Prosecco gegönnt, um das Ereignis gebührend zu feiern. Eine gefühlte Ewigkeit hatte es die ehrgeizige Ermittlerin der Kripo Ravensburg in keinen Auslandsurlaub mehr geschafft. Irgendetwas war immer dazwischen gekommen. Im letzten Jahr hatte sich dann coronabedingt die Urlaubsstimmung im Minusbereich bewegt. Doch nachdem sie als Kriminalbeamtin momentan zu den priorisierten, systemrelevanten Impfgruppen zählte, galt sie seit wenigen Wochen zu dem Teil der Bevölkerung mit dem ausgelobten Prädikat der drei „G“ Getestet-Geimpft-Genesen. Ihrer Reisetauglichkeit war somit nichts mehr im Wege gestanden.
Willig das Klischee bedienend, empfing die schottische Hauptstadt ihre Touristen im trüben Nieselregen. Doch der Schauer verzog sich erstaunlicherweise rasch. Die Ostküste des Landes galt, wie Becca später erfuhr, als weitaus trockener denn ihr Pendant im Westen. Diese Tatsache sollte sich den ganzen Urlaub über bewahrheiten und sie konnte über mangelnden Sonnenschein nicht klagen.
Auf Schusters Rappen gab sich die Kommissarin dem Zauber der ehrwürdigen Großstadt mit seiner beachtlichen Anzahl von mittelalterlichen sowie georgianischen Gebäuden hin. Schmale Durchlässe, sogenannte Closes, zwischen imposanten geschichtsträchtigen Gemäuern wechselten sich mit urigen Kopfsteinpflasterplätzen ab. Gelegentlich begegnete man einem historisch gewandeten Dudelsackspieler, der auf ein paar Münzen hoffte.
Die komplette Umgebung schien voller unterhaltsamen Anekdoten. Ein kleiner gedruckter Reiseführer lotste die Kommissarin zum berühmten Grassmarket, der lange Zeit den Mittelpunkt der Edinburgher Altstadt gebildet hatte. Außer Viehhandel und Marktstände galt der Ort einstmals auch als Stätte der öffentlichen Hinrichtungen für abgeurteilte Verbrecher. Kein Wunder also, dass Becca sich schon aus rein beruflichem Gesichtspunkt davon angezogen fühlte.
Kurios und faszinierend zugleich, fand die Kommissarin im Zusammenhang mit dem Grassmarket, die mündlich überlieferte Begebenheit der Half-hangit-Maggie. Die junge, in Armut aufgewachsene Frau, war im 18. Jahrhundert wegen der Ermordung ihres Babys von der schottischen Obrigkeit rechtskräftig schuldig gesprochen worden. Das Urteil, Tod durch den Strang, wurde auf eben diesem Hinrichtungsplatz des Grassmarkets vollstreckt und der Leichnam der Erhängten anschließend in einer grob gezimmerten Totenkiste abtransportiert. Die vermeintliche Tote erwachte jedoch während des Abtransportes in ihrem hölzernen Sarg unter Klopfen und Stöhnen wieder zum Leben. Der jungen Frau wurde daraufhin ein zweites Mal der Prozess gemacht und dieser kam zu dem Urteil, dass die Bestrafung für ihr Verbrechen nach schottischem Recht bereits vollzogen worden war. Sie war gehängt worden und die Strafe galt somit als abgegolten. Maggie Dickson, wie die Frau mit vollem Namen hieß, lebte danach noch über vierzig Jahre und trug fortan den Spitznamen der halbgehängten-Maggie, der Half-hangit-Maggie. Heute erinnerte ein Stolperstein auf dem gepflasterten Platz des Grassmarkets sowie ein nach ihr genannter Pub an die skurrile Begebenheit.
Ein mehrstündiger Marsch durch die Natur des stadtnahen Holyrood Park auf Athurs Seat hinauf, ein Hügel der sich mehr als zweihundert Meter weit über die Stadt erhob, bot der Kommissarin einen imposanten Ausblick. Ihre Augen wanderten in die Ferne zum Meer und den roten Schwingen der Eisenbahnbrücke über den Firth of Forth, hinüber zum trutzigen Burgensemble des Edinburgh Castle. Am Fuße des Hügels standen sich kontrastreich das futuristische Gebäude des schottischen Parlaments und das altehrwürdige Gemäuer des Palace of Holyrood, der offiziellen Residenz der britischen Königin in Schottland, gegenüber.
Über eine Stunde saß Becca Brigg im feuchten Gras des Hausbergs, beobachtete die Stadt unter sich und die unzähligen schwarzen Rabenvögel auf dem Hügel. Der Wind krallte sich ins Haar und blies alle Erinnerungen an Verbrechen, Tod und Gewalt davon. Tief holte sie Atem, füllte ihre Lungen mit Meerwasser geschwängerter Luft und genoss den Frieden um sich herum.
Die Seele baumeln lassen.
Loslassen.
Wie schmerzlich hatte sie das vermisst.
An den Abenden besuchte Becca einen der unzähligen Pubs, hörte lebensfrohe Livemusik und trank ein Pint Ale oder auch einen echten schottischen Whisky. Die Kommissarin machte als Mittvierzigerin mit ihrer sportlichen Figur immer noch etwas her und so fand sie zügig unterhaltende Gesellschaft. Sie flirtete mal hier, mal dort und wurde einer der Herren zu vorgerückter Stunde zu forsch, wusste sie sich zu helfen.
Die Bewohner Edinburghs waren insgesamt gesehen Fremden gegenüber aufgeschlossene Zeitgenossen. Nur der schottische Slang war bisweilen schwer zu verstehen. Ganz unmöglich wurde eine Verständigung, wenn Gälisch gesprochen wurde. Doch die Einwohner und auch die Beschilderungen waren glücklicherweise zweisprachig versiert.
Die Tage flogen dahin und der gefühlte Abstand zu ihrer Arbeit in der Ravensburger Kripo wurde immer größer. Die Kommissarin bekam endlich einmal so richtig den Kopf frei. Um Gato Macho, ihren daheimgebliebenen pelzigen Mitbewohner, musste sie sich ebenfalls keine Sorgen machen, denn Obermieter und gleichsam Polizeipsychologe Dave Bernstein hatte die Verköstigung des ehemaligen mallorquinischen Katers übernommen, während die Kommissarin auf Reisen war. Sie wusste ihn somit in den allerbesten Händen.
In losgelöster Stimmung bestieg Becca Brigg schließlich den Fernbus in Edinburgh Richtung Norden in den Cairngorms National Park, übernachtete in einem heimelig anmutenden Cottage, um dann die letzte Etappe ins weiter nördlich gelegene Inverness anzutreten.
Die hügeligen Highlands mit seinen moorigen Wiesen, von Heidekraut und gelbblühendem Stechginster überzogen, versprühten ihre ganz eigene Magie. Unzählige Rhododendren Blüten säumten den Weg und zwischendurch tauchten immer wieder kleinere Herden mit zotteligen Highland-Rindern auf. Zudem verfügte Schottland nachweislich über mehr Schafe als Bürger, die, die grünen Täler und Anhöhen bevölkerten. Abends in Inverness angekommen, erfüllt von den Reiseeindrücken, hatte die Kommissarin ihre Unterkunft bezogen und war in erholsamen Schlaf gefallen.
Becca Brigg riss sich von dem Anblick des schäumenden Flusswassers unter der schwankenden Fußgängerbrücke der Infirmary Bridge los und schlenderte Richtung Stadtmitte den Ness-Walk entlang. Eine Tasse Kaffee und ein Scone wären jetzt genau das Richtige. Das weiche krustenlose, typisch schottische Gebäckstück hatte es ihr angetan. Mit und ohne Rahm oder wie sie hier sagten, Clotted Cream, eine absolute Köstlichkeit.
Die Hand bereits auf der Klinke einer dunkelbraunen Café-Holztüre, vibrierte das Smartphone und ließ sie in der Bewegung innehalten. Das Display zeigte, als Becca es aus der Tasche fischte, Mama an.
Für einen Bruchteil von Sekunden durchzuckte sie der Gedanke, das Gespräch einfach zu ignorieren, um sich auf keinen Fall in der Urlaubsstimmung stören zu lassen, doch letztlich triumphierte das Pflichtgefühl über den Impuls. Immerhin hatten ihre Eltern, die in Überlingen am Bodensee lebten, die fünfundsiebzig Jahre überschritten. Seufzend nahm Becca das Telefonat entgegen. Sie hatte sich just daran gewöhnt nicht erreichbar sein zu müssen. Dennoch. Ihre Mutter rief üblicherweise nicht wegen Belanglosigkeiten an.
„Mama was gibt`s“, meinte die Kommissarin zur Begrüßung betont fröhlich. Innerlich war sie jedoch in Hab-Acht-Stellung. Irgendetwas musste geschehen sein. Vielleicht war Tante Hedwig, die zweiundneunzigjährige Schwester ihres Vaters verstorben? Wobei diese, fiel ihr ein, bei ihrer Abreise topfit gewesen war. Doch in diesem fortgeschrittenen Alter konnte sich das bekanntlich schlagartig ändern. Die Bestätigung kam prompt, allerdings völlig anders als gedacht.
„Ich störe dich nur ungern im Urlaub, Rebecca“, die Stimme von Helga Brigg klang mühsam beherrscht, „aber ich muss dir leider mitteilen, dass dein Vater seit letzter Nacht im Krankenhaus ist.“ Ihre Mutter war der einzige Mensch, der sie mit dem ungeliebten Taufnamen ansprach.
„Was ist passiert?“, fragte die Kommissarin gewohnt rational aufs Wesentliche beschränkt.
„Er hatte einen Rückfall.“
Zorn schimmerte in den Worten der Mutter hindurch. Blanke Wut auf die Schwäche des Ehemanns seiner Alkoholsucht nicht widerstehen zu können und sie damit alle unglücklich zu machen. Auch sie hatte ihre Tochter Taja, Beccas jüngere Schwester, im letzten Jahr an diesen verfluchten Krebs verloren und trauerte. Hatte sie sich deshalb in den Alkohol geflüchtet? Nein!
„Wie schlimm ist es?“, fragte Becca.
„Ich weiß nicht genau. Er ist auf der Intensivstation und bis jetzt nicht aufgewacht.“ Helga Brigg seufzte frustriert. „Das hatten wir im letzten Jahr ja schon einmal durchgemacht. Weißt du noch? Er hatte sich hier zu Hause dermaßen betrunken, dass ich ihn nicht mehr wecken konnte. Den Schrecken vergesse ich nie, das kann ich dir sagen. Ich hab echt gedacht, dein Vater ist tot und hat mich alleine gelassen. So kam das ja damals überhaupt raus mit seinem Problem. Jetzt geht der ganze Schlamassel von vorne los. Dabei war er doch schon einige Monate trocken und sein Suchttherapeut hat erst neulich von Fortschritten gesprochen.“
„Hast du mit dem Arzt geredet?“
„Ja, kurz. Aber der war in Eile. Er meinte nur, es wäre eine Alkoholvergiftung. Alles verstanden habe ich ehrlich gesagt nicht. Du weißt ja, wie viel Fachchinesisch diese Mediziner immer von sich geben.“ Eine kurze Pause entstand. „Die werden ihn schon wieder fit kriegen. Vertrauen wir auf unseren Herrgott.“
„Okay, ich übernehme das und rufe da gleich mal an“, meinte Becca Brigg ohne auf die Hoffnungen ihrer tiefgläubigen Mutter einzugehen. Sie selbst hielt es eher mit der Hightech-Medizin als mit Religion, gleich welcher Glaubensrichtung. „Ich melde mich wieder bei dir, wenn ich schlauer bin. Pass auf dich auf Mama. Und hol dir Tante Hedwig zur Gesellschaft, dass du nicht so alleine bist.“
Dann beendete sie das Telefonat und drehte sich bedauernd von der Café-Türe weg. Sie begann Richtung ihres Quartiers in Inverness zu marschieren. Die Scones würden warten müssen. Sie musste mit der Klinik in Überlingen telefonieren und dann Entscheiden, was zu tun war. Hier auf der Straße wollte sie so ein ernstes Gespräch jedoch nicht führen und in ihrer Unterkunft war zudem der Mobilfunk-Empfang um Welten besser.
Nach einem strammen Fußmarsch von etwa zwanzig Minuten, vorbei an verwinkelten Steinhäusern mit schmucken Türmchen und dem weiten Grün des Fraser Parks, kam Hauptkommissarin Becca Brigg in ihrem Bed & Breakfast Hotel an.
Sie schloss die Zimmertüre auf, schälte sich aus ihrer Jacke, streifte die Schuhe ab und ließ sich in einen altmodisch anmutenden Ohrensessel fallen. In dem charmant urig eingerichteten Zimmer schien Zeit keine Rolle zu spielen. Ein Metallbett, eine viktorianisch gemusterte Tapete, bestickte Kissen, verschnörkelte Holzmöbel, Samtvorhänge und ein karierter Teppich, all das vermittelte den Eindruck, als würde demnächst Miss Marple höchst persönlich zum Fünf-Uhr-Tee hereinschauen.
Die Kommissarin hatte auf Lautsprecher geschaltet und lehnte sich mit geschlossenen Augen im Sessel zurück. Das Freizeichen des Telefons tutete durchs Zimmer.Das war es dann wohl mit dem unbeschwerten Urlaubsfeeling, dachte Becca.
Eine viertel Stunde später, nachdem sie sich telefonisch mühsam durch die gesamte Klinik bis zur Intensivstation voran gekämpft hatte, war sie zwar schlauer, aber auch deprimierter. Der Bericht des Arztes klang ernst. Äußerst ernst.
Erich Brigg, der Polizeimeister a.D. aus Überlingen, lag mit seinen achtundsiebzig Jahren im alkoholischen Koma. Er hatte einen Atemstillstand erlitten und ohne den Anschluss an ein Beatmungsgerät wäre er schon nicht mehr im Diesseits. Beccas Vater hatte dermaßen viel getrunken, dass er einen kritischen Wert von 5,4 Promille erreicht hatte. Der Mediziner am Telefon sprach von Stadium vier und konnte aktuell nicht voraussagen, ob Beccas Vater das überleben würde.
Die Kommissarin fuhr daraufhin ohne Zögern ihren Laptop hoch und checkte die Flüge ab Inverness. Der schottische Flughafen war ähnlich überschaubar wie der Bodenseeairport in Friedrichshafen, doch sie hatte Glück und ein Spätnachmittagsflug nach London war noch zu haben. Dann ergatterte sie zu einem horrenden Preis einen Weiterflug von Gatwick nach Zürich. Dort würde sie jedoch festsitzen, wie sie ernüchtert feststellte, denn ein Zug würde um die späte Zeit, in der sie in der Schweiz landen würde, nicht mehr bis zu ihrem Heimatort fahren. Die ländlich geprägte Bodenseeregion war diesbezüglich in den Nachtstunden komplett abgehängt. Manchmal rächte es sich in der Provinz zu leben. Blieb ein Leihwagen oder das Taxi übrig. Das würde ein teurer Spaßwerden. Wie auch immer, es würde sich zu einer halben Weltreise ausdehnen, bis sie daheim ankam, dabei war sie lediglich schlappe sieben Flugstunden von zu Hause entfernt.
Becca betätigte erneut das Smartphone und rief kurzerhand Dave Bernstein an, der in Wittenhofen ihre Wohnung und den Kater hütete. Der Psychologe nahm nach dem zweiten Klingeln ab und meinte belustigt:
„Hat dich das schottische Ungeheuer gebissen? Mit dir hätte ich aktuell nicht gerechnet. “
Es tat gut, seine vertraute Stimme zu hören. „Hi Dave. Nein, ich werde es leider nicht bis an den Loch Ness schaffen. Ich lande heute Nacht in Zürich. Mein Vater ist im Krankenhaus.“
„Mist.“ Daves Tonfall hatte sich augenblicklich dem Ernst der Lage angepasst. „Ich hole dich dort ab. Geb mir durch, mit welcher Maschine du kommst.“
„Danke. Das wäre wirklich toll.“ Das selbstlose Hilfeangebot verursachte, dass sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Es war typisch Dave, dass er nicht unnötig nachbohrte und instinktiv wusste, wie man ihr am Besten beistehen konnte. Dem intelligenten Seelenklempner war auf Anhieb klar, dass es ernst sein musste, wenn Becca ihren Urlaub deshalb abbrach.
Dave Bernstein, studierter Rechtspsychologe, arbeitete im Präsidium Ravensburg sowohl als Profiler wie auch als interner Polizeipsychologe. Ein Umstand, der sie beide zusammengeführt hatte, als Beccas ehemaliger Partner bei der Kripo im Einsatz ermordet wurde.
Ein Teil seines Tagewerkes verbrachte Dave zusätzlich in der forensischen Abteilung der psychiatrischen Klinik in Ravensburg. Der Psychologe war zudem im letzten November durch eine Serie ungewöhnlicher Ereignisse in Beccas Gehöft in Wittenhofen im Deggenhausertal gezogen. Der Einundvierzigjährige bewohnte seither die Räume im zweiten Stock und teilte sich Haustüre und Flur mit der Kommissarin. Beide empfanden diese, aus der Not geborene Lösung, als eine Art Win-win-Situation.
Nachdem Becca dem Profiler ihre Flugnummer sowie die Uhrzeit via Messenger durchgegeben hatte, begann sie ihre Habseligkeiten zu packen. Ein Taxi würde in einer Stunde vorfahren und sie an den Flughafen von Inverness bringen.
Der Check-in in der überschaubaren Flughafenhalle war zügig vonstattengegangen. Der stählerne Vogel hatte soeben die Rollbahn verlassen und hob sanft ab. Die Kommissarin hatte zu ihrer Freude einen Fensterplatz ergattert. Die Dame neben ihr, eine füllige Mittdreißigerin, kaute übertrieben schmatzend auf einem Kaugummi herum. Sie wirkte dabei wie ein Fisch, der auf dem Trockenen nach Luft schnappte. Zudem trug sie Kopfhörer und starrte auf ihren Schoß hinunter. Möglicherweise plagte sie der Druckausgleich oder Flugangst oder beides zugleich.
Becca sah aus dem ovalen Fensterchen des Fliegers auf die wenigen Lichter in der Spätnachmittagsdämmerung unter ihr und murmelte den Hügeln Schottlands ein leises goodbye zu. Vielleicht konnte sie eines Tages wiederkehren und das Versäumte nachholen, dachte sie, bevor sie ihren Laptop aufklappte und den Flugmodus anschaltete. Sie hatte kurz vor dem Start, zusammen mit einem Stapel persönlicher Mails, ein paar Infos zum Thema Alkoholvergiftung Stadium IV im Internet heruntergeladenen. Dr. Google kannte keine Öffnungszeiten und war auch ohne Termin stets auskunftsfreudig. Wenngleich man, das war der Kommissarin bewusst, medizinischen Informationen im World Wide Web generell mit einer gesunden Skepsis gegenüber stehen sollte. Der erste Artikel, dessen Worte sie jetzt überflog, las sich beängstigend. Mehrfach sprangen ihr die Buchstaben Tod ins Auge und da war von Blutwäsche sowie Kreislaufversagen die Rede.
Die Gedanken der Kommissarin wanderten zu dem letzten Mordfall zurück, mit dem es ihr Team vor einem halben Jahr zu tun gehabt hatte. Ein ehemaliger Rechtsanwalt, der alkoholbedingt sein Gehirn nachhaltig dermaßen geschädigt hatte, dass er inzwischen unter einer schweren Form von Demenz, dem sogenannten Korsakow-Syndrom litt, hatte damals eine tragische Rolle gespielt. Wenn ihr eigener Vater so weiter trank und er seine Sucht nicht in den Griff bekam, dachte Becca, würde ihn möglicherweise ein ähnliches Schicksal erwarten.
Ein menschliches Wrack, körperlich wie geistig.
Und sie als Tochter stand dieser Entwicklung völlig hilflos gegenüber. Sie konnte seine Kämpfe gegen das Verlangen nicht für ihn austragen. Niemand war in der Lage, ihm das abzunehmen. Nur er allein besaß die Macht diese verdammte Sucht im Zaum zu halten oder im besten Fall zum Teufel zu jagen. Das Einzige, was sein Umfeld tun konnte, war, für ihn da zu sein und ihn in seinem eigenen Handeln zu unterstützen.
Nicht mehr, nicht weniger.
In tiefer Sorge und reichlich desillusioniert, schloss die Kommissarin die medizinischen Artikel mit einem Klick und wandte sich ihrer privaten elektronischen Post zu. Vielleicht war etwas Erbauliches dabei, das sie von den Sorgen um den Vater ablenken würde.
Sie hatte diesbezüglich Glück und fand unter anderem eine Mail von Ayla Schneider-Demir vor, die sie sogleich überflog. Mal abgesehen von Psychologe Dave Bernstein war die Polizeisekretärin die einzige Nichtpolizistin im Team der Kripo 1 in Ravensburg und sie pflegten seit vielen Jahren freundschaftliche Kontakte. Es war daher nicht ungewöhnlich, eine Nachricht von der türkischstämmigen Freundin vorzufinden.
Der Inhalt war es indes schon.
Das Geschriebene erschien zunächst wie immer. Ayla schimpfte über das Wetter am Bodensee, denn es regnete und war gerade einmal 16 Grad kühl. Und das im Juni! Anschließend klagte die Freundin über Stress im Polizeipräsidium und berichtete von dem neuen Fall, der sie alle auf Trab hielt und der erst aufgetaucht war, als Becca Brigg sich bereits in Schottland befunden hatte. Ein Rentner war schwer verletzt in seinem eigenen Garten in einem Teilort Überlingens aufgefunden worden und rang auf der Intensivstation um sein Leben, berichtete Ayla weiter. Das Kripoteam konnte bislang nicht rekonstruieren, wer den, auf den ersten Blick völlig harmlosen Senior, so übel zugerichtet hatte.
Die Kommissarin schüttelte den Kopf. Einen wehrlosen Rentner krankenhausreif zusammenschlagen, war wahrlich eine widerliche Tat. Na ja, da wusste sie jetzt was nächste Woche, wenn sie ihren Dienst nach dem Urlaub wieder aufnahm, auf sie zukam. Aber vielleicht hatten die Kollegen bis dahin einen Ermittlungserfolg vorzuweisen und das unappetitliche Thema war vom Tisch.
Becca las weiter und plötzlich veränderte sich der Tonfall der Mail. Ayla schrieb, dass sie sich angespannt fühle und dringend Beccas Rat in einer privaten Sache bräuchte. Sie schlug vor, sich nächste Woche in Konstanz, ihrem Wohnort am gegenüberliegenden Ufer des Bodensee zu treffen.
Stirnrunzelnd blickte Becca auf den Laptopbildschirm.
Was war da nun schon wieder los? Und wieso schlug Ayla ein Treffen in Konstanz vor, wo sie sich doch im Präsidium sehen würden?
Sicher, die Freundin war in den letzten Monaten durch einen coronabedingten Ausfall ihrer Geruchssinne beeinträchtig gewesen. Eine unschöne und langwierige Geschichte, die schwer an Aylas Nervenkostüm gerüttelt hatte. Glücklicherweise war aber das therapeutische Geruchstraining erfolgreich zum Abschluss gekommen. Das Thema war seit wenigen Wochen Schnee von gestern. Das konnte es also nicht sein.
Oder doch?
Kamen Rückfälle bei diesen Covidbedingenten Geruchsverlustserkrankungen vor? Nein, eher nicht, beschloss die Kommissarin. Zumindest hatte sie nie dergleichen irgendwo gelesen. Und selbst wenn, Ayla hätte sich klar ausgedrückt, würde es sich um gesundheitliche Belange drehen, da nahm sie sonst auch kein Blatt vor den Mund. Nein, das konnte es nicht sein.
Das Wort privat klang seltsam durch. Wie bei guten Freundinnen üblich hatten sie kaum Geheimnisse voreinander. Was sollte denn bitteschön privat bedeuten?
Ein anderer Gedanke machte sich breit.
War Ayla etwa schwanger? Der Gedankengang hatte etwas für sich, fand Becca. Mit ihren zweiundvierzig Jahren tickte zwar die biologische Uhr lauter, aber noch wäre diese Option theoretisch einige Zeit vorhanden.
Die Kommissarin grinste bei dieser Vorstellung in sich hinein. Lag sie mit ihrer Mutmaßung richtig, hätte die Freundin einen potentiellen Liebhaber tatsächlich äußerst geschickt vor ihr verborgen gehalten. Denn seit ihre Freundschaft andauerte, hatte sie Ayla niemals zusammen mit einem Mann gesehen. Wobei es der Kommissarin nie gelungen war herauszufinden, was hierfür der Grund sein mochte. Da half auch ihr kriminalistischer Spürsinn sowie ihr verbales Nachbohren nichts. Dies war der wohl einzige Punkt ihrer vertrauensvollen Verbindung, an dem Ayla konsequent mauerte und jedweden Einblick verwehrte. Woher ihr Doppelnachname Schneider-Demir stammte, war und blieb ihr Geheimnis. Sie wollte nicht darüber sprechen. Punktum. Die aparte, dunkelhaarige Frau mit dem sanften Rehblick behauptete steif und fest, noch keinem passenden männlichen Wesen begegnet zu sein. Die drängenden Kommentare von Seiten Aylas ausgeprägt kulturtraditioneller türkischstämmiger Großfamilie, die größtenteils ebenfalls in Konstanz ansässig war, fielen diesbezüglich deutlich kritisch aus. Doch Ayla fristete beharrlich ein kinderloses Singledasein. Ihre türkischen Wurzeln waren leger modern in die westliche Konsumgesellschaft integriert und die moderate Muslima besaß seit über dreißig Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit. Tatsächlich hatte die Kommissarin darüber nachgedacht, ob die Freundin womöglich mehr dem eigenen Geschlecht zugeneigt war und vor einem Outing zurück schreckte. Anzeichen dafür ließen sich jedoch all die Jahre nicht erkennen.
Becca grinste erneut und lehnte sich entspannt in das Polster des Fliegers zurück. Ein uneheliches Kind wäre tatsächlich ein Paukenschlag aber letztendlich kein Drama. Ayla würde definitiv eine fantastische Mutter abgeben, da war sich die Kommissarin sicher und auch die türkische Verwandtschaft würde sich bei dem Anblick eines niedlichen Babys wieder einkriegen.
Becca freute sich jetzt schon, auf das Treffen mit der Freundin. Ihre Neugierde war geweckt. Denn lag sie mit ihrer Vermutung einer Schwangerschaft richtig, hätten sie nächste Woche einen Grund zum feiern. Ein solch frohes Ereignis würde auch ihre eigenen Sorgen um den Vater etwas abmildern können. Sie würde der Freundin später beim Zwischenstopp eine entsprechende Antwortmail senden, nahm sie sich vor.
Die Stewardess lief durch die Sitzreihen, sammelte leere Trinkbehältnisse ein und bat darum, die Tische hochzuklappen. Sie befanden sich im Landeanflug auf London-Gatwick. Die Kommissarin klappte den Laptop zu und verstaute ihn unter ihrem Sitz. Bis zum Weiterflug nach Zürich blieb ihr genügend Wartezeit, so dass sie sich im Flughafengebäude ein Abendessen gönnen konnte.
Eine dreiviertel Stunde später saß Becca Brigg in einem der unzähligen Schnellrestaurants vor einem saftigen Burger mit reichlich britischen Chips. Der Mix der Restaurantbesucher war flughafentypisch international. Neben ihr unterhielten sich drei junge Japanerinnen kichernd. Auf der anderen Seite prosteten sich vier englischsprachige Jugendliche grölend zu, die sich offensichtlich in ausgelassener Stimmung auf dem Weg in den Urlaub befanden. Ein Geschäftsmann im Anzug lockerte den Knoten seiner Krawatte, bevor er die Espressotasse an den Mund führte.
Der erste Bissen des Burgers schmeckte definitiv nach mehr, doch leider unterbrach erneut das Telefon die weitere Aussicht auf den kulinarischen Genuss. Kauend angelte Becca das vibrierende Smartphone aus der Jackentasche und es war ihr augenblicklich klar, dass es nichts Gutes bedeutete, als das Display erneut ihre Mutter ankündigte.
Und so war es.
Die Kommissarin hatte sich notdürftig den vom Fleischsaft klebrigen Zeigefinger ins Ohr gesteckt, um den Geräuschpegel des gut besuchten Lokals zu dämpfen und um überhaupt etwas hören zu können. Schluchzend und stockend erreichte die Stimme von Helga Brigg ihr Gehör, die ihrer Tochter unmissverständlich beibrachte, dass ihr Vater verstorben war. Erich Brigg, Polizeiobermeister a.D. aus Überlingen, hatte vor einer dreiviertel Stunde den Kampf um sein Leben auf der Intensivstation verloren.
Ein wenig beruhigt von der Info, dass Tante Hedwig neben ihrer aufgelösten Mutter saß, dauerte das Gespräch nicht einmal eine Minute. Becca gab ihrer Mutter zu verstehen, dass sie bereits auf dem Weg in die Heimat war. Sie würde morgen in aller Frühe in Überlingen eintreffen.
Dann saß Kriminalhauptkommissarin Becca Brigg vor ihrem angebissenen Burger, zog zeitlupenartig den Finger aus dem Ohr und unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Der Appetit war ihr restlos vergangen. Das Stimmengewirr um sie herum nahm sie lediglich gedämpft wahr. Sie war routiniert darin Todesnachrichten professionell zu überbringen, der Empfänger zu sein, war eine völlig andere Sache. Eilig und völlig neben sich stehend, bezahlte Becca die Rechnung. Sie hastete fluchtartig in den nächsten Waschraum. Wie betäubt schloss sie sich auf der Suche nach einem Hauch von Intimität in eine der Toilettenkabinen ein, setzte sich auf den Klodeckel und konnte es, trotz der Tränen die ihr jetzt übers Gesicht strömten, nicht glauben. Ihr Gehirn weigerte sich, das eben gehörte zur Kenntnis zu nehmen.
Letztes Jahr starb meine kleine Schwester und nun Papa?
Wann hatte ihr Vater angefangen, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren, fragte sie sich verzweifelt. Er, der immer für andere dagewesen war. Eine starke Persönlichkeit, ein Fels in der Brandung. Erich Brigg hatte über fünfzig Jahre im Polizeidienst seinen Mann gestanden und so manche Gefahr dabei gemeistert. Und jetzt sollte sein Dasein an schnödem Alkohol zerbrochen sein?
Bilder aus der Kindheit zogen Becca durch den Kopf. Sie und ihre jüngere Schwester Taja auf Papas Schoß. Jeder auf einem Bein sitzend und um seine Gunst buhlend. Kissenschlachten mit ausgelassenem Gelächter im elterlichen Schlafzimmer. Und dann die unendlich vielen beruflichen Gespräche, die sie als Erwachsene mit ihrem Vater geführt hatte, als sie in seine Fußstapfen trat und selber Polizistin wurde. Sein Rat war oft zielführend gewesen und er hatte ihr mehr, als einmal geholfen Stolpersteine auf ihrer Kriminalpolizeilaufbahn zu meistern.
Es konnte nicht sein, dass er nicht mehr da war.
Es konnte einfach nicht sein, dass sie ihn nie mehr wieder würde sprechen können.
Die Airbusmaschine landete pünktlich um 22.45 Uhr in der Schweiz. Becca hatte im Laufe des Fluges ein wenig gedöst. Müde fröstelte sie es, während sie wartend am Kofferband stand. Kriminalhauptkommissarin Brigg hatte sich nach außen hin wieder im Griff, doch fühlte sie sich wie in einem irrealen Film gefangen. Das Gefühl der Unwirklichkeit ließ sie wie betäubt die Dinge tun, die sie tun musste. Sie war die Gangway im Pulk der übrigen Reisenden entlanggelaufen, wuchtete jetzt ihren Koffer vom Band, lief am Zoll vorbei und hielt auf die Ausgangsschiebetür zu. Das surrende Geräusch der Mechanik erreichte ihre Ohren und sie betrat die Ankunftshalle im Züricher Flughafen.
Und da stand er.
Wie so typisch für Dave mit seinem ganz eigenen verlegenen Grinsen im Gesicht, den Autoschlüssel locker in der Hand baumelnd. Eine schneeweiße Jeans, Stoffturnschuhe und ein elegant um die Schultern drapierter Pulli, erinnerte an einen Segler im Hochsommer, der von einem Törn zurückkommt. Bevor der Profiler etwas zur Begrüßung sagen konnte, hatte Becca einem plötzlichen Impuls nachgebend ihren Koffer abgestellt, ihre Arme um ihn gelegt und sich gegen seine Brust gelehnt. Ihre Handlung erfolgte völlig spontan und ohne darüber nachzudenken. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter und ihre Tränen, die nun wie aus einem Wasserhahn heraus flossen, befeuchteten sein Hemd.
Sein überrumpelter Gesichtsausdruck entging ihr.
Zunächst zur Salzsäule erstarrt durch den ungewohnten Körperkontakt, hob Dave Bernstein zögerlich seine Arme, um seine Kollegin tröstend zu halten. In kurzen Worten, leise schluchzend, erzählte Becca vom Tod ihres Vaters. Dann standen der Polizeipsychologe und die Kommissarin in enger Umarmung stumm im Gewirr der Menschen, die trotz der späten Stunde zahlreich an ihnen vorbeihasteten.
Eine Insel der Intimität inmitten geschäftigem Treibens.
Während der nachfolgenden eineinhalb stündigen Autofahrt von Zürich zum Westufer des Bodensee, waren sie vorwiegend schweigend nebeneinandergesessen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Kommissarin hatte sich noch nicht einmal wie sonst üblich über das in ihren Augen unmögliche Vehikel des Polizeipsychologen lustig gemacht. Denn Dave fuhr einen ramponierten Vauxhall im Kleinstwagenformat. Der Lack war buchstäblich stellenweise ab und im Inneren des Fahrzeugs herrschte gelebtes Chaos. Für die PS-verliebte mit einem Faible für schnittige Autos ausgestattete Kommissarin ein absolutes No-Go. Doch heute war ihr nicht nach alltäglichem Geplänkel.