5,99 €
Ich denke, also bin ich.
Eines Tages werden rätselhafte Signale aus den Tiefen des Alls aufgefangen. Ein Erkundungsschiff wird losgeschickt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Man hofft auf eine friedliche Begegnung mit den Außerirdischen, ist aber auch für andere Eventualitäten gerüstet. Doch dann stehen die Astronauten plötzlich einem Wesen gegenüber, so fremdartig, dass es mit menschlichen Maßstäben nicht zu fassen ist ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 612
Veröffentlichungsjahr: 2015
Das Buch
Eines Nachts werden die Menschen auf der Erde von einem riesigen Feuerwerk überrascht, das den Himmel erleuchtet. Ist der Planet in einen Meteoritenstrom geraten? Oder ist es ein Bombardement durch Außerirdische? Die Indizien deuten auf Letzteres hin: Man hat Signale aufgefangen, die aus der Oort’schen Wolke stammen, einer Sphäre von Himmelskörpern, die jenseits der Pluto-Bahn die Sonne umkreisen. Ein in der Nähe des Neptun operierendes Raumschiff, die Theseus, erhält Befehl, die Quelle der Signale zu erkunden und nach Möglichkeit Kontakt aufzunehmen. Die Theseus ist bemannt von reichlich merkwürdigen Individuen: multiple Persönlichkeiten, Epileptiker und ein waschechter, mit gentechnischen Mitteln erzeugter Vampir. Sie sind keine »normalen« Menschen, aber genau das befähigt sie, dem absolut Fremdartigen gegenüberzutreten. Und was sie erwartet, ist tatsächlich mehr als fremdartig: Das außerirdische Wesen nennt sich Rorschach und besteht aus Einheiten, die selbst kein eigenes Bewusstsein haben, aber in der Lage sind, das menschliche Bewusstsein zu manipulieren. Mit erschreckenden Folgen, wie sich bald herausstellt …
Nominiert für den Hugo Gernsback Award als bester Roman des Jahres – mit diesem Buch eröffnet Peter Watts der Science Fiction eine neue Dimension.
»In Blindflug erforscht Peter Watts die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit – und er macht das so spannend, dass man den Roman nicht aus der Hand legen kann!«
PUBLISHER’S WEEKLY
Der Autor
Peter Watts arbeitete lange Jahre als Unterwasserbiologe, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Seine bisher erschienenen Science-Fiction-Romane wurden von Publikum und Kritik einhellig gefeiert. Watts lebt in Toronto, Kanada. Mehr zu Autor und Werk finden Sie unter: www.rifters.com
FÜR LISA Wer nicht leidet, lebt nicht.
Das fasziniert mich an diesem Dasein am meisten: die einzigartige Notwendigkeit, sich das vorzustellen, was in Wirklichkeit real ist.
– Philip Gourevitch
Du stirbst wie ein Hund, ohne jeden Grund.
– Ernest Hemingway
Versuch, den Kontakt zur Vergangenheit zu halten. Versuch, mit ihr klarzukommen. Sie ist nicht real.
Sie ist nur ein Traum.
– Ted Bundy
Angefangen – nein, angefangen hat es nicht hier draußen. Nicht mit den Scramblern oder Rorschach, nicht mit Big Ben oder Theseus oder den Vampiren. Die meisten Leute würden sagen, es begann mit den Irrlichtern, aber das stimmt nicht. Damit hat alles aufgehört.
Für mich begann es mit Robert Paglino.
Im Alter von acht Jahren war er mein bester und einziger Freund. Wir waren beide Außenseiter und Leidensgenossen, die ein ähnliches Missgeschick zusammengeschmiedet hatte. Meines war entwicklungsbedingt, seines genetischer Natur – ein unkontrollierter Genotypus, der ihm eine Veranlagung zur Kurzsichtigkeit, zu Akne und (wie sich später herausstellen sollte) eine besondere Empfänglichkeit für Drogen bescherte. Seine Eltern hatten ihn nie optimieren lassen. Die wenigen Fossile aus dem 20. Jahrhundert, die noch an Gott glaubten, vertraten auch die Ansicht, dass man Ihm nicht ins Handwerk pfuschen sollte. Obwohl man uns beide also hätte reparieren können, wurde das nur bei einem von uns tatsächlich getan.
Ich kam auf den Spielplatz und sah, dass Pag von einem halben Dutzend Kinder umringt war. Die Wenigen, die das Glück hatten, ganz vorn zu stehen, schlugen ihm ins Gesicht, während sich die anderen damit begnügen mussten, ihn als Mischling oder Blindschleiche zu beschimpfen, bis sie selbst an der Reihe waren. Ich sah, wie er beinahe zögerlich die Arme hob, um die schlimmsten Schläge abzuwehren. Ich konnte seine Gedankengänge fast besser nachvollziehen als meine eigenen. Er befürchtete, seine Angreifer könnten glauben, dass er die Hände hob, um zurückzuschlagen, dass er sich ihnen widersetzen wollte, und ihm dann noch mehr wehtun. Schon damals, im zarten Alter von acht Jahren und nach dem Verlust einer Gehirnhälfte, entwickelte ich mich zu einem ausgezeichneten Beobachter. Aber ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Ich hatte Pag in letzter Zeit nicht mehr so oft gesehen und war mir ziemlich sicher, dass er mir aus dem Weg ging. Doch wenn der beste Freund in Schwierigkeiten ist, dann hilft man ihm, nicht wahr? Selbst wenn die Chancen schlecht stehen – und welcher Achtjährige würde sich schon mit sechs älteren Kindern anlegen, um einem Sandkastenkumpel zu helfen? Man holt wenigstens Verstärkung. Ruft einen Wachmann herbei. Tut irgendetwas!
Ich dagegen stand einfach nur da und empfand nicht einmal das Bedürfnis, ihm zu helfen.
Das war vollkommen absurd. Selbst wenn er nicht mein bester Freund gewesen wäre, hätte ich zumindest mit ihm fühlen müssen. Ich hatte weniger unter Übergriffen zu leiden als Pag; meine Anfälle hielten die anderen Kinder auf Abstand und jagten ihnen Angst ein, obwohl ich in diesen Augenblicken völlig hilflos war. Doch auch mir waren die Spötteleien und Beschimpfungen vertraut, genauso wie der Fuß, der einem unerwartet ein Bein stellt, damit man stolpert. Ich konnte das durchaus nachempfinden.
Jedenfalls hatte ich es früher einmal gekonnt.
Dieser Teil von mir war jedoch zusammen mit den schadhaften Gehirnverbindungen herausgeschnitten worden. Ich arbeitete noch an den Algorithmen, um ihn wiederzuerlangen, lernte aus der Beobachtung. Die Mitglieder eines Rudels stürzen sich stets auf die Schwächsten in ihrer Mitte. Instinktiv weiß das jedes Kind. Vielleicht sollte ich den Dingen einfach ihren Lauf lassen, der Natur nicht dazwischenfunken. Allerdings hatten auch Pags Eltern diesen Standpunkt vertreten, und was war dabei herausgekommen? Ein Sohn, der sich im Dreck krümmte, während ihm ein Haufen genetisch optimierter Supergören in die Rippen trat.
Am Ende siegte die Propaganda, wo das Mitgefühl versagte. Damals beobachtete ich eher, als dass ich nachdachte, erinnerte mich eher, anstatt logische Schlüsse zu ziehen – und ich erinnerte mich an Tausende mitreißender Geschichten, deren Helden sich für die Schwächeren einsetzten.
Also hob ich einen Stein von der Größe meiner Faust auf und schlug damit zwei von Pags Angreifern gegen den Hinterkopf, bevor irgendjemand überhaupt meine Anwesenheit bemerkte. Ein Dritter, der sich umdrehte, um die neue Bedrohung in Augenschein zu nehmen, bekam einen Schlag ins Gesicht ab, der ihm mit einem deutlich hörbaren Knirschen die Wangenknochen zerschmetterte. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, warum ich bei diesem Geräusch keine Genugtuung empfand, warum es mir nicht mehr bedeutete, außer dass ich mir um einen Gegner weniger Gedanken machen musste.
Sobald sie Blut sahen, ergriffen die Übrigen die Flucht. Einer der Mutigeren schwor Rache und schrie »Scheiß Zombie!« über die Schulter, bevor er um die Ecke verschwand.
Es sollte drei Jahrzehnte dauern, bis ich die Ironie dieser Bemerkung verstand.
Zwei der Gegner lagen zuckend zu meinen Füßen. Ich trat einem der Dinger gegen den Kopf, bis es aufhörte, sich zu bewegen, und wandte mich dann dem anderen zu. Etwas packte mich am Arm, und ich schlug danach, ohne nachzudenken, ohne hinzuschauen, bis Pag aufschrie und in Deckung ging.
»Oh«, sagte ich. »Tut mir leid.«
Eins der Dinger lag bewegungslos am Boden. Das andere stöhnte, hielt sich den Kopf und krümmte sich.
»O Mist«, keuchte Pag. Blut floss ihm aus der Nase und tropfte auf sein Shirt, ohne dass er darauf geachtet hätte. Seine Wange begann sich blau und gelb zu verfärben. »O Mist o Mist o Mist …«
Ich überlegte, was ich sagen sollte. »Hat es dich schlimm erwischt?«
»O Mist, du – ich meine, du hast noch nie …« Er wischte sich den Mund ab. Sein Handrücken war blutverschmiert. »O Mann, sitzen wir in der Tinte.«
»Die haben angefangen.«
»Ja, aber du – ich meine, schau sie dir an!«
Das stöhnende Ding kroch auf allen vieren davon. Ich fragte mich, wie schnell es ihm gelingen würde, Verstärkung zu holen. Vielleicht sollte ich es besser gleich töten?
»So was hast du vorher nie getan«, sagte Pag. Vor der Operation, meinte er.
In diesem Moment empfand ich tatsächlich etwas – schwach und dumpf, aber unverkennbar. Ich war wütend. »Die haben angefangen …!«
Mit weit aufgerissenen Augen wich Pag vor mir zurück. »Was machst du denn da? Leg das weg!«
Ich hatte die Fäuste erhoben. Ohne mir dessen bewusst zu sein. Ich öffnete sie, was eine Weile dauerte. Lange Zeit musste ich konzentriert auf meine Hände schauen.
Der Stein fiel zu Boden, glitschig und glänzend von Blut.
»Ich wollte dir helfen.« Ich begriff nicht, warum er das nicht kapierte.
»Du, du bist nicht mehr, wie du früher warst«, sagte Pag aus sicherer Entfernung. »Du bist nicht einmal mehr Siri.«
»Natürlich bin ich das. Red keinen Scheiß.«
»Sie haben dir das Hirn rausgeschnitten!«
»Nur die Hälfte. Wegen der Epi…«
»Schon klar, wegen der Epilepsie! Glaubst du, ich wüsste das nicht? Aber das war die Hälfte, in der du gesteckt hast – oder zumindest ein Teil von dir …« Er rang mit den Worten, mit den Vorstellungen, die ihnen zugrunde lagen. »Und jetzt bist du anders. Als hätten deine Mutter und dein Vater dich ermordet …«
»Meine Mutter und mein Vater«, sagte ich plötzlich ganz ruhig, »haben mir das Leben gerettet. Ich wäre gestorben.«
»Ich glaube, du bist tatsächlich gestorben«, sagte mein bester und einziger Freund. »Ich glaube, Siri ist gestorben. Sie haben ihn rausgekratzt und weggeworfen, und jetzt bist du ein ganz anderer Junge, nachgewachsen aus dem, was noch übrig war. Du bist nicht mehr derselbe. Seit damals bist du nicht mehr derselbe.«
Ich weiß immer noch nicht, ob Pag wirklich eine Ahnung hatte, wovon er da redete. Vielleicht hatte seine Mutter auch einfach den Stecker an dem Spiel gezogen, das er die letzten achtzehn Stunden gespielt hatte, und ihn an die frische Luft geschickt. Und nachdem er die ganze Zeit im Spiel gegen die Körperfresser gekämpft hatte, sah er sie nun überall. Vielleicht.
Aber in gewisser Weise hatte er recht. Ich erinnerte mich daran, dass Helen sich beklagt hatte, wie schwierig es sei, sich umzustellen. Als hättest du eine ganz neue Persönlichkeit, sagte sie. Und warum auch nicht? Nicht umsonst nannte man es eine totale Hemisphärenresektion: Die Hälfte des Gehirns wurde auf den Müll geworfen mitsamt dem ganzen Krill von gestern, was die verbliebene Hälfte zwang, die doppelte Leistung zu erbringen. Kaum vorstellbar, wie viele neue Verbindungen die eine einsame Gehirnhälfte knüpfen musste, um das alles wiedergutzumachen. Offenbar hat es funktioniert. Das Gehirn ist ein äußerst flexibler Körperteil; es hat einige Zeit gedauert, aber es hat sich angepasst. Ich habe mich angepasst. Wenn man allerdings überlegt, was im Zuge der Restaurierung alles gequetscht, verformt und umgestaltet worden sein musste! Man konnte durchaus behaupten, dass nun ein anderer Mensch in meinem Körper hauste.
Irgendwann tauchten natürlich die Erwachsenen auf. Medikamente wurden verabreicht, der Notarzt gerufen. Eltern waren empört, und ein diplomatisches Scharmützel begann. Es ist jedoch schwierig, bei den Nachbarn um Mitgefühl für sein verletztes Kind zu werben, wenn die Überwachungskameras des Spielplatzes den kleinen Sonnenschein – und fünf seiner Kumpel – aus drei verschiedenen Blickwinkeln dabei zeigen, wie er einem behinderten Jungen in die Rippen tritt. Meine Mutter jedenfalls spulte die alte Leier über Problemkinder und abwesende Väter herunter – mein Vater war wieder mal in einer anderen Hemisphäre im Einsatz –, aber die Wogen glätteten sich bald. Pag und ich blieben sogar Freunde, nach einer kurzen Funkstille, die uns beiden in Erinnerung gerufen hatte, was zwei Außenseiter auf dem Schulhof erwartete, wenn sie nicht zusammenhielten.
So überlebte ich also dieses und noch eine Million andere Kindheitserlebnisse. Ich wurde erwachsen und schlug mich einigermaßen durch. Lernte, mich anzupassen. Ich beobachtete und speicherte, leitete daraus Algorithmen ab und imitierte das jeweils angemessene Verhalten. Nur wenig davon kam … von Herzen, wie man so sagt. Wie jeder andere hatte ich Freunde und Feinde. Ich suchte sie aus, indem ich Checklisten von Verhaltensweisen und Situationen durchging, die ich in Jahren der Beobachtung erstellt hatte.
Möglicherweise entwickelte ich mich zu einem distanzierten Menschen, aber immerhin war ich objektiv, und das habe ich Robert Paglino zu verdanken. Seine scharfsinnige Bemerkung hat all das in Gang gebracht. Durch sie bin ich zum Synthesisten geworden und zum Zeugen der katastrophalen Begegnung mit den Scramblern, was mir andererseits jedoch das Schicksal ersparte, das der Erde zuteil wurde. Oder vielleicht wäre das auch besser gewesen, das hängt vom Blickwinkel des jeweiligen Betrachters ab. Der Blickwinkel ist entscheidend – das begreife ich jetzt, da ich blind in einem Sarg gefangen dem Rand des Sonnensystems entgegenstürze und mit mir selbst rede. Ich verstehe es zum ersten Mal, seit mich ein blutüberströmter Freund nach einer Prügelei auf einem der Schlachtfelder meiner Kindheit davon überzeugt hat, meinen eigenen Blickwinkel aufzugeben.
Vielleicht hatte er unrecht. Oder ich. Aber diese Distanz – dieses ständige Gefühl, unter Seinesgleichen fremd zu sein – ist nicht unbedingt schlecht.
Sie erwies sich als besonders hilfreich, als die wahren Fremden von weither kamen und der Erde einen Besuch abstatteten.
Blood makes noise.
– Suzanne Vega
Stell dir vor, du bist Siri Keeton. Du erwachst unter unerträglichen Schmerzen und holst nach einem rekordverdächtigen, hundertvierzig Tage währenden Atemstillstand zum ersten Mal wieder Luft. Du spürst, wie sich dein Blut – dickflüssig von Dobutamin und Leuenkephalin – seinen Weg durch Arterien bahnt, die nach Monaten im Standby schon ganz eingetrocknet sind. In schmerzhaften Schüben bläht sich dein Körper wieder auf: Blutgefäße weiten sich, Fleisch löst sich von Fleisch, und bei dem plötzlichen ungewohnten Druck hörst du deine Rippen knacken. Von der mangelnden Bewegung sind deine Gelenke ganz eingerostet. Du bist ein Knochenmann, erstarrt in einem widernatürlichen rigor vitae.
Du würdest schreien, hättest du den Atem dazu.
Dir fällt ein, dass dies für Vampire ein gewohnter Vorgang war. Für sie war es normal, ihre ureigenste Form der Ressourcenerhaltung. Und wäre ihnen ihre absurde Abneigung gegen rechte Winkel nicht schon in der Frühzeit der Zivilisation zum Verhängnis geworden, hätten sie deiner Spezies etwas über Selbstbeherrschung beibringen können. Vielleicht können sie es immer noch. Schließlich gibt es sie nun wieder – durch den Voodoozauber der Paläogenetik aus dem Grabe auferstanden und zusammengeflickt aus Genschrott und fossilem Knochenmark, das man mit dem Blut von Soziopathen und hochspezialisierten Autisten getränkt hat. Einer von ihnen hat sogar den Oberbefehl über diese Mission. Eine Handvoll seiner Gene leben in deinem eigenen Körper fort, damit auch du, hier am Rand des interstellaren Raums, von den Toten auferstehen kannst. Niemand lässt den Jupiter hinter sich, ohne ein Stück weit zum Vampir zu werden.
Ein klein wenig lässt der Schmerz jetzt nach. Du fährst die Inlays hoch und überprüfst deine Körperwerte. Es wird noch einige Minuten dauern, ehe dein Körper wieder uneingeschränkt auf motorische Signale reagiert; Stunden, bis die Schmerzen ganz verschwunden sind. Schmerzen sind eine unvermeidliche Nebenwirkung. Das kommt davon, wenn man die Eigenschaften eines Vampirs in das menschliche Erbgut einfügt. Ein einziges Mal hast du um ein Schmerzmittel gebeten, aber Nervenblocker jeder Art behindern die metabolische Reaktivierung. Schluck’s runter, Soldat!
Du fragst dich, ob Chelsea sich am Ende auch so gefühlt hat. Aber das ruft einen ganz anderen Schmerz wach, also schiebst du den Gedanken beiseite und konzentrierst dich stattdessen auf das Leben, das in deine Gliedmaßen zurückkehrt. Du leidest schweigend und suchst in den Protokollen nach aktuellen Telemetriedaten.
Und denkst: Das kann doch nicht stimmen.
Denn wenn es stimmt, befindest du dich im falschen Teil des Universums. Du bist nicht im Kuipergürtel, wo du hingehörst – sondern hoch über der Ekliptik und tief im Innern der Oort’schen Wolke, dem Reich der langperiodischen Kometen, die nur alle Million Jahre mal bei der Sonne vorbeischauen. Du befindest dich im interstellaren Raum, was bedeutet (du rufst die Systemuhr auf), dass du eintausendachthundert Tage lang untot gewesen bist.
Du hast beinahe fünf Jahre verschlafen.
Der Deckel deines Sargs gleitet auf. Im Schott gegenüber spiegelt sich dein ausgezehrter Körper, ein vertrockneter Lungenfisch, der auf Regen wartet. An deinen Gliedern hängen Beutel voll isotonischer Salzlösung wie angeschwollene Antiparasiten, das Gegenteil von Blutegeln. Du erinnerst dich noch, wie sich die Nadeln in deine Haut gebohrt haben, kurz bevor du bewusstlos wurdest, damals, als deine Adern noch nicht den trockenen, verfilzten Fasern von Dörrfleisch glichen.
Von der Kapsel zu deiner Rechten starrt Szpindels Spiegelbild zu dir herüber. Sein Gesicht ist ebenso blutleer und abgemagert wie deines. Als er seine Verbindungen reaktiviert – sensorische Schnittstellen, die so allumfassend sind, dass deine eigenen Standard-Inlays dagegen nur wie ein Schattenspiel wirken –, zucken seine weit aufgerissenen Augen tief in ihren Höhlen.
Du hörst Husten und das Knacken von Gliedern und erhaschst von den anderen, die sich am Rande deines Blickfeldes regen, einige gespiegelte Bewegungen.
»Wassis …« Deine Stimme ist kaum mehr als ein raues Flüstern. »… passsiert …?«
Szpindel bewegt seinen Kiefer. Knochen knacken hörbar.
»… verarscht«, zischt er.
Du bist den Fremden noch nicht einmal begegnet, und schon sind sie dir um Lichtjahre voraus.
Und so kehrten wir mühsam von den Toten zurück: fünf Teilzeit-Kadaver, nackt, ausgezehrt, und selbst in der Schwerelosigkeit kaum fähig, uns zu bewegen. Wie Nachtfalter, die zu früh aus ihren Kokons gerissen wurden, immer noch halb Larve sind, krochen wir aus unseren Särgen. Wir waren allein, abseits unseres Kurses und vollkommen hilflos, und es kostete Mühe, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, dass man unser Leben niemals aufs Spiel gesetzt hätte, wenn wir nicht dringend gebraucht würden.
»Morgen, Kommissar.« Isaac Szpindel griff mit zitternder, tauber Hand nach den Feedbackhandschuhen am Ende seiner Kapsel. Hinter ihm lag Susan James in Embryonalhaltung und murmelte vor sich hin. Nur Amanda Bates, die bereits fertig angezogen war und mit knackenden Knochen eine Reihe isometrischer Übungen machte, war anscheinend schon in der Lage, sich zu bewegen. Hin und wieder versuchte sie, einen Gummiball gegen das Schott zu werfen; doch nicht einmal sie war schon so weit, ihn auch wieder aufzufangen.
Durch die Reise waren wir auf unser Wesentliches zusammengeschmolzen. James’ runde Wangen und Hüften; Szpindels hohe Stirn und seine plumpe, schlaksige Gestalt; sogar der aufgerüstete Carboplatinklotz, der Bates als Körper diente – alle waren sie auf die gleiche vertrocknete Ansammlung aus Haut und Knochen reduziert. Selbst unsere Haare wirkten durch die Reise merkwürdig ausgeblichen, obwohl das eigentlich unmöglich war. Wahrscheinlich war es nur die Blässe unserer Haut, die durch sie hindurchschimmerte. Und dennoch. Vor seinem Tod waren James’ Haare schmutzig blond gewesen und Szpindels beinahe so dunkel, dass man sie als schwarz bezeichnen konnte, doch das Zeug, das jetzt ihre Kopfhaut umschwebte, hatte in meinen Augen denselben stumpfen Braunton wie Seetang. Bates’ Schädel war kahlrasiert, aber auch ihre Augenbrauen waren nicht mehr so rostbraun, wie ich sie in Erinnerung hatte.
Schon bald würden wir wieder ganz die Alten sein. Dafür war nur noch etwas Wasser nötig. Im Augenblick jedoch schien sich der alte Spruch zu bestätigen: Wenn man nicht so genau hinschaut, sehen alle Untoten gleich aus.
Tat man es aber doch, sah man über die äußere Erscheinung hinweg und beobachtete ihre Bewegungen, konzentrierte sich statt auf den Körper auf ihre Topologie, dann konnte man sie sehr gut auseinanderhalten. Jedes Gesichtszucken war ein Datenpunkt, jede Gesprächspause sagte mehr aus als die Worte, die gewechselt wurden. Ich sah, wie James’ Persönlichkeiten innerhalb eines Lidschlags zersplitterten und sich wieder zusammenfügten. Szpindels unausgesprochenes Misstrauen gegenüber Amanda Bates schrie förmlich aus jedem Winkel seines Lächelns. Jedes Zucken des Phänotyps sprach Bände für denjenigen, der die Sprache verstand.
»Woiss …«, krächzte James, hustete und wies mit einem spindeldürren Arm auf Sarastis leeren Sarg am Ende der Reihe.
Szpindels Lippen verzerrten sich zu einer Grimasse. »Er ist wohl in der Fab, was? Und bringt das Schiff dazu, irgendwelche Erde herzustellen, auf der er sich ausstrecken kann.«
»Wahrscheinlich redet er mit dem Käpt’n.« Bates’ Atem war lauter als ihre Worte, ein trockenes Rasseln in einer Luftröhre, die sich erst wieder ans Atmen gewöhnen musste.
James erwiderte: »Kann er doch auch hier tun.«
»Er könnte auch hier aufs Klo gehen«, krächzte Szpindel. »Bei manchen Dingen ist man eben lieber alleine, was?«
Und manche Dinge behielt man besser für sich. Nur wenige Normalsterbliche ertrugen es, einem Vampir in die Augen zu blicken – und höflich wie er war, vermied Sarasti genau deshalb den Blickkontakt. Seine Topologie besaß jedoch noch andere Oberflächen, die für Säugetiere typisch und ebenso durchschaubar waren. Wenn er sich zurückgezogen hatte, dann war vielleicht ich der Grund. Vielleicht hatte er etwas zu verbergen.
Schließlich hütete auch Theseus das eine oder andere Geheimnis.
Auf dem Flug hatte sie uns um gute fünfzehn AEs unserem Ziel nähergebracht, bevor sie irgendetwas aufgeschreckt und von ihrem Kurs abgebracht hatte. Wie eine verängstigte Katze war sie nach Norden ausgewichen und hatte Geschwindigkeit aufgenommen: Mit wilden drei ge raste sie jenseits der Ekliptik los, tausenddreihundert Tonnen Bewegung, die sich gegen Newtons erstes Gesetz stemmten. Sie leerte ihre Penn-Tanks, ließ ihre Substratmasse ausströmen und verschleuderte in nur wenigen Stunden den Treibstoff für hundertvierzig Tage. Dann driftete sie lange ohne Antrieb durch die endlosen Weiten und stellte jahrelang genaueste Berechnungen an – die Schubkraft jedes Antiprotons wurde gegen den Widerstand aufgerechnet, den sein Heraussieben aus der Leere verursachen würde. Teleportation ist keine Magie: Der Ikarusstrom konnte uns nämlich nicht die eigentliche Antimaterie zur Verfügung stellen, die er erzeugte, sondern nur ihre Quantenspezifikationen. Theseus musste deshalb das Rohmaterial selbst aus dem Raum herausfiltern, Ion für Ion. Lange, dunkle Jahre hindurch bewegte sie sich allein mittels der Trägheit vorwärts und hortete jedes verschlungene Atom. Dann eine Drehung; ionisierende Laserstrahlen nahmen den Raum vor dem Schiff unter Beschuss; ein Ramscoop wurde ausgefahren und leitete die Bremsung ein. Das Gewicht von Abertrillionen von Protonen verlangsamte das Schiff, füllte seine Eingeweide auf und ließ uns ausschweben. Theseus hatte bis zum Moment unserer Wiedererweckung rücksichtslos Treibstoff verbrannt.
Es war nicht weiter schwierig, diese Schritte nachzuvollziehen; unser Kurs war im ConSensus für jedermann einsehbar. Warum das Schiff jedoch diesen Kurs eingeschlagen hatte, war eine andere Frage. Zweifellos würden wir bei unserer ersten Lagebesprechung alles erfahren. Wir waren bei Weitem nicht das erste Schiff, das unter dem Deckmantel geheimer Befehle flog, und wenn es für uns einen triftigen Grund gegeben hätte, Bescheid zu wissen, wären wir längst in Kenntnis gesetzt worden. Dennoch fragte ich mich, wer die Comm-Protokolle abgeschaltet hatte. Die Einsatzleitung vielleicht. Oder Sarasti. Womöglich sogar Theseus selbst. Nur zu leicht vergaß man die Quanten-KI im Herzen unseres Schiffes. Sie hielt sich taktvoll im Hintergrund, nährte uns und trug uns durch den Raum, beherrschte unser ganzes Leben wie ein zurückhaltender Gott; aber wie Gott antwortete auch sie nicht, wenn man sie anrief.
Sarasti war der offizielle Vermittler. Wenn das Schiff sprach, dann zu ihm – und Sarasti nannte es Käpt’n.
Wie wir alle.
Er hatte uns vier Stunden Zeit gegeben, um aufzuwachen. Ich brauchte allein mehr als drei Stunden, um aus meiner Gruft zu steigen. Aber dann funktionierten anscheinend die meisten synaptischen Verknüpfungen in meinem Gehirn wieder, obwohl mein Körper – der immer noch wie ein durstiger Schwamm Flüssigkeit aufsaugte – weiterhin bei jeder Bewegung schmerzte. Ich tauschte leere Elektrolytbeutel gegen frische aus und ging nach achtern.
Noch fünfzehn Minuten, bis die Rotation einsetzen würde. Fünfzig bis zur ersten Besprechung nach der Wiedererweckung. Gerade genug Zeit für alle, die beim Schlaf die Schwerkraft vorzogen, ihre Habseligkeiten in die Trommel zu schleppen und die ihnen zustehenden 4,4 Quadratmeter Bodenfläche abzustecken.
Aus der Schwerkraft – beziehungsweise einer durch Zentripetalkraft erzeugten Nachbildung davon – machte ich mir nicht viel. Ich stellte mein Zelt in der Schwerelosigkeit möglichst nahe am Heck auf, dort wo es sich steuerbords an die Vorderwand der Shuttleröhre schmiegte. Wie ein Abszess wölbte sich das Zelt an Theseus’ Wirbelsäule, eine kleine klimatisierte Atmosphärenblase im dunklen gähnenden Vakuum unter dem Schiffspanzer. Ich hatte nur wenig dabei; es nahm gerade einmal dreißig Sekunden in Anspruch, mein Hab und Gut an der Wand zu befestigen, und weitere dreißig, die Klimaanlage des Zelts einzustellen.
Danach brach ich zu einem Spaziergang auf. Nach fünf Jahren tat mir die Bewegung gut.
Das Heck war mir am nächsten, also ging ich von dort los, wo die Abschirmung die Nutzlast vom Antrieb trennte. Achtern, in der Mitte des Schotts, ragte eine einzelne verriegelte Luke aus der Wand. Dahinter schlängelte sich ein Wartungstunnel durch Maschinerie, die von menschlichen Händen besser unberührt blieb. Der breite, supraleitende Torus des Ramscoop-Rings; der Antennenfächer, der sich gerade zu einer unzerstörbaren Seifenblase aufgefaltet hatte, groß genug, um eine ganze Stadt zu bedecken, wandte sich der Sonne zu, um das schwache Quantenfunkeln des Ikarus-Antimateriestroms aufzufangen. Hinter ihm befanden sich noch mehr Abschirmungen und dahinter der Telemateriereaktor, der aus reinem Wasserstoff und destillierter Information ein Feuer erzeugte, das dreihundertmal heißer brannte als die Sonne. Natürlich kannte ich die Zauberformel – Antimaterie wurde gespalten und zerlegt, die Seriennummern von Quanten teleportiert –, aber wie wir innerhalb von so kurzer Zeit einen solchen Entwicklungssprung hatten machen können, grenzte für mich immer noch an Hexerei. Die meisten Menschen hätten sicher ähnlich empfunden.
Außer Sarasti vielleicht.
Um mich herum war dieselbe Magie am Werk, wenn auch unter kühleren Bedingungen und zu weniger anspruchsvollen Zwecken: Um das Schott herum befand sich eine Vielzahl von Schächten und Spendern. In einige dieser Öffnungen hätte kaum meine Faust hineingepasst, während ein oder zwei andere mich im Ganzen hätten verschlucken können. Theseus’ Fabrikationsanlage konnte alles anfertigen, vom Besteck bis hin zu Armaturentafeln. Mit einem ausreichend großen Materievorrat hätte sie sogar eine zweite Theseus bauen können, wenngleich nur in Einzelteilen und über einen langen Zeitraum hinweg. Manch einer fragte sich, ob sie nicht auch eine neue Mannschaft hätte herstellen können, obwohl man uns versichert hatte, dass dies unmöglich sei. Nicht einmal diese Maschinen besaßen die nötige Präzision, um mehrere Billionen Synapsen in einen menschlichen Schädel einzufügen. Jedenfalls noch nicht.
Ich glaubte es. Man hätte uns niemals im Ganzen hierhertransportiert, wenn es eine kostengünstigere Alternative gegeben hätte.
Ich wandte mich nach vorn. Wenn ich mich mit dem Hinterkopf an die verriegelte Luke lehnte, hatte ich fast freie Sicht bis zu Theseus’ Bug, einem winzigen, schwarzen Punkt in dreißig Metern Entfernung. Es wirkte wie eine große Zielscheibe in grauweißen Farbtönen: konzentrische Kreise, Luken, die sich in gerader Linie hintereinander in der Mitte der Schotts befanden. In lässiger Missachtung der Sicherheitsbestimmungen früherer Generationen standen sie allesamt offen. Wir konnten sie aber auch geschlossen halten, wenn uns dies ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Viel mehr würde es allerdings nicht bewirken, denn unsere Überlebenschancen erhöhten sich dadurch, empirisch gesehen, nicht im Geringsten. Bei Schwierigkeiten würden sich diese Luken schließen – Millisekunden bevor die menschlichen Sinne überhaupt wahrgenommen hatten, dass ein Alarm ausgelöst worden war. Sie waren nicht einmal computergesteuert. Theseus’ Körperteile besaßen ihre eigenen Reflexe.
Ich stieß mich von der Heckpanzerung ab – zuckte zusammen, als meine eingerosteten Sehnen plötzlich gezerrt und gestreckt wurden –, schwebte vorwärts und ließ die Fabrikationsanlage hinter mir. Die Luken, die an beiden Seiten des Gangs zu den Shuttles Scylla und Charybdis führten, behinderten für einen Moment mein Fortkommen. Dahinter verbreiterte sich das Rückgrat des Schiffes zu einem gewölbten, verlängerbaren Zylinder von zwei Metern Durchmesser und – zumindest in diesem Augenblick – etwa fünfzehn Metern Länge. Zwei einander gegenüberliegende Leitern erstreckten sich über seine gesamte Länge; Bullaugen, groß wie Gullydeckel, ragten in unregelmäßigen Abständen zu beiden Seiten aus der Schottwand. Die meisten von ihnen führten lediglich in den Frachtraum. Einige dienten als Allzweck-Luftschleusen, falls jemand einen Spaziergang unter dem Rückenpanzer des Schiffes unternehmen wollte. Eines führte zu meinem Zelt. Durch ein anderes, vier Meter weiter in Richtung Bug, gelangte man zu Bates’ Unterkunft.
Aus einem dritten, kurz vor dem vorderen Schott, kletterte gerade Jukka Sarasti wie eine große weiße Spinne.
Wäre er ein Mensch gewesen, hätte ich augenblicklich gewusst, wen ich da vor mir hatte. Seine gesamte Topologie schien förmlich nach Mörder zu riechen. Die Zahl seiner Opfer hätte ich nicht einmal erraten können, denn er zeigte nicht die geringsten Anzeichen von Reue. Selbst wenn er hundert Menschen umbrächte, würde dies auf Sarastis Oberflächen einen kaum größeren Fleck hinterlassen als ein erschlagenes Insekt; jegliches Schuldgefühl perlte von diesem Geschöpf ab wie Wasser von Wachs.
Aber Sarasti war kein Mensch. Sarasti gehörte einer gänzlich anderen Spezies an, und all die mörderischen Brechungen, die ich an ihm wahrnahm, deuteten lediglich darauf hin, dass er ein Raubtier war. Die Neigung dazu war ihm angeboren. Ob er ihr jemals nachgegeben hatte, blieb ein Geheimnis zwischen ihm und der Einsatzleitung.
Vielleicht haben sie dich ja mit Nachsicht behandelt, sagte ich im Geiste zu ihm. Wie ein Risiko, das man in Kauf nimmt. Schließlich bist du wichtig für die Mission. Möglicherweise bist du mit ihnen einen Handel eingegangen. Du bist so unglaublich schlau, du weißt, dass wir euch bestimmt nicht zurückgeholt hätten, wenn wir euch nicht brauchen würden. Seit dem Tag, als sie den Bottich geöffnet haben, war dir klar, dass du sie in der Hand hast.
Sind das deine Bedingungen, Jukka? Du rettest die Welt, und diejenigen, die deine Leine in der Hand halten, schauen dafür in die andere Richtung?
Als Kind hatte ich Geschichten über Raubtiere im Dschungel gelesen, deren Blick ihre Beute erstarren ließ. Doch erst seit ich Jukka Sarasti begegnet war, wusste ich, was das für ein Gefühl ist. Im Moment sah er mich allerdings nicht an. Er war damit beschäftigt, sein Zelt aufzustellen, doch selbst wenn er mir in die Augen geblickt hätte, wäre außer dem dunklen Visor, der seine gesamte Augenpartie verdeckte und den er aus Rücksicht auf die menschliche Empfindlichkeit trug, wenig zu sehen gewesen. Er blickte nicht auf, als ich mich an einer Sprosse in seiner Nähe festhielt und mich an ihm vorbeischob. Ich hätte schwören können, dass sein Atem nach rohem Fleisch roch.
Hinein in die Trommel (rein technisch gesehen waren es mehrere; der BioMed-Ring am Heck drehte sich in einer separaten Halterung). Ich schwebte mitten durch einen Zylinder von etwa sechzehn Metern Durchmesser. An seiner Achse verliefen Theseus’ Nervenbahnen, die bloß liegenden Nervengeflechte und Rohrleitungen drängten sich zu beiden Seiten der Leitern. Dahinter ragten Szpindels und James’ soeben errichteten Zelte aus Nischen hervor, die sich an entgegengesetzten Enden der Welt befanden. Szpindel selbst schwebte in einiger Entfernung hinter mir, immer noch nackt, abgesehen von den Handschuhen, und an der Art, wie sich seine Finger bewegten, konnte ich ablesen, dass seine Lieblingsfarbe Grün war. Er verankerte sich an einer der drei Treppen der Trommel, die ins Nichts führten: steile, schmale Stufen, die vom Deck aus fünf Meter senkrecht in die Höhe ragten und im Nichts endeten.
Die nächste Luke befand sich genau in der Mitte der Vorderwand der Trommel; Rohre und Kabel verschwanden von allen Seiten in dem Schott. Ich streckte die Hand nach einer Sprosse in Griffweite aus, um abzubremsen, biss erneut vor Schmerzen die Zähne zusammen und schwebte hindurch.
Eine T-Verzweigung. Das Rückgrat des Schiffes erstreckte sich weiter geradeaus; ein kleineres Divertikel ging davon ab und führte zu einer EVA-Nische und der vorderen Luftschleuse. Ich behielt die Richtung bei und kam wieder in der Gruft an, die kaum zwei Meter im Durchmesser maß und spiegelhell erleuchtet war. Zu meiner Linken gähnten leere Kapseln, während zu meiner Rechten geschlossene dicht beieinander standen. Wir waren so unersetzlich, dass man uns sogar Ersatz mitgegeben hatte. Ahnungslos schliefen sie weiter. Drei von ihnen hatte ich während der Ausbildung kennengelernt. Hoffentlich würden wir uns so bald nicht wiedersehen.
An der Steuerbordseite befanden sich allerdings nur vier Kapseln. Für Sarasti gab es keinen Ersatz.
Eine weitere Luke, dieses Mal kleiner. Ich quetschte mich hindurch und gelangte zur Brücke. Drinnen herrschte Dämmerlicht, auf dunklen Glasoberflächen leuchteten sich geräuschlos verändernde Mosaiken aus Icons und alphanumerischen Zeichen auf. Es war eher ein Cockpit als eine Brücke und noch dazu ziemlich klein. Ich war zwischen zwei Beschleunigungsliegen in den Raum geschwebt, jede von einer hufeisenförmigen Ansammlung von Steuerelementen und Anzeigen umgeben. Eigentlich rechnete niemand damit, dass wir diesen Raum jemals benutzen mussten. Theseus war bestens in der Lage, sich selbst zu steuern, und falls nicht, konnten wir das Steuer auch von unseren Inlays aus bedienen. Und wenn selbst das nicht funktionierte, war die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass wir ohnehin längst tot waren. Dennoch, dieser astronomisch geringen Wahrscheinlichkeit zum Trotz, war dies die Steuerzentrale, mit deren Hilfe ein oder zwei unerschrockene Überlebende bei einem kompletten Systemausfall das Schiff nach Hause fliegen konnten.
Im Fußraum zwischen den beiden Liegen hatten die Ingenieure noch eine letzte Luke untergebracht, einen letzten Durchgang, der zum gewölbten Aussichtsfenster in Theseus’ Bug führte. Ich zog die Schultern hoch (Sehnen knackten und ächzten) und schob mich hindurch –
– in die Dunkelheit. Eine muschelartige Abschirmung bedeckte die Außenseite der Kuppel wie ein Paar fest geschlossene Augenlider. Auf einem Touchpad links von mir leuchtete sanft ein einzelnes Icon auf; schwaches Streulicht folgte mir vom Rückgrat des Schiffes und tastete mit trüben Fingern über die konkave Decke. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, löste sich die Kuppel in verschiedene Abstufungen von Blau und Grau auf. Ein Windzug abgestandener Luft bewegte die Gurtbänder, die vom Schott hinter mir herabhingen, und trug den Geruch von Öl und Maschinen herüber. Gurtschnallen schlugen wie armselige Glockenspiele leise in der Brise aneinander.
Ich streckte die Hand aus und berührte das Kristallglas – die innere von zwei übereinanderliegenden Schichten, durch deren Zwischenraum warme Luft gepumpt wurde, um die Kälte abzuwehren. Das gelang jedoch nur eingeschränkt. Meine Fingerspitzen wurden augenblicklich eiskalt.
Dort draußen befand sich der Weltraum.
Möglicherweise hatte Theseus auf dem Weg zu unserem ursprünglichen Reiseziel etwas gesehen, das ihr solche Angst eingejagt hatte, dass sie das Sonnensystem verlassen hatte. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie nicht vor etwas floh, sondern auf etwas zuflog, etwas, das sie erst entdeckt hatte, nachdem wir bereits gestorben waren und den Himmel ein für alle Mal hinter uns gelassen hatten. In diesem Fall …
Ich streckte die Hand aus und berührte das Touchpad. Fast erwartete ich, dass nichts geschehen würde; Theseus’ Fenster ließen sich genauso leicht abschalten wie ihre Comm-Protokolle. Doch die Kuppel vor mir öffnete sich augenblicklich, zunächst nur einen Spalt breit, dann sichelförmig und schließlich, als die Abschirmung nahtlos in die Hülle zurückglitt, zu einem weit aufgerissenen, lidlosen Blick. Unwillkürlich krallten sich meine Finger um die Gurte. Der leere Raum erstreckte sich plötzlich und unerbittlich in alle Richtungen, und abgesehen von einer Metallscheibe, die kaum vier Meter Durchmesser besaß, gab es nichts, an dem man sich festhalten konnte.
Überall Sterne. So viele Sterne, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie der Himmel sie alle aufnehmen und dennoch so schwarz sein konnte. Sterne und –
– sonst nichts.
Was hast du erwartet?, schalt ich mich. Ein außerirdisches Mutterschiff auf der Steuerbordseite vor dem Bug?
Nun ja, warum eigentlich nicht? Schließlich gab es einen Grund, warum wir uns hier draußen befanden.
Zumindest galt das für die anderen. Sie waren für diese Mission wichtig, ganz gleich, wohin es uns verschlug. Meine eigene Situation sah ein wenig anders aus. Mein Nutzen nahm ab, je weiter wir die Erde hinter uns ließen.
Und wir befanden uns über ein halbes Lichtjahr von der Heimat entfernt.
Wenn es dunkel genug ist, kann man die Sterne sehen.
– Ralph Waldo Emerson
Wo befand ich mich, als die Lichter herabfielen?
Ich trat gerade durch die Tore des Himmels und trauerte um einen Vater, der – zumindest seiner Meinung nach – immer noch am Leben war.
Es waren kaum zwei Monate vergangen, seit Helen unter der Haube verschwunden war. Nach unserer Rechnung jedenfalls. Aus ihrer Sicht kann es ein Tag oder ein ganzes Jahrzehnt gewesen sein; die virtuell Allmächtigen steuerten auch ihr eigenes Zeitempfinden.
Sie würde nicht zurückkehren. Sie ließ sich höchstens noch dazu herab, ihren Mann unter Bedingungen zu empfangen, die einem Schlag ins Gesicht gleichkamen. Er beklagte sich nicht. Er besuchte sie so oft, wie sie es ihm erlaubte: zweimal pro Woche, dann nur noch einmal. Schließlich alle zwei Wochen. Ihre Ehe zerfiel mit dem exponentiellen Determinismus eines radioaktiven Isotops, und immer noch ging er zu ihr und unterwarf sich ihren Bedingungen.
An dem Tag, als die Lichter vom Himmel gefallen waren, hatte ich ihn zu meiner Mutter begleitet. Es war ein besonderer Anlass, das letzte Mal, dass wir sie in ihrer körperlichen Gestalt sehen würden. Zwei Monate lang hatte ihr Körper in diesem Zustand auf der Station gelegen, zusammen mit fünfhundert anderen neuen Anwärtern, während die Familienangehörigen sie noch einmal besuchen konnten. Das Interface war natürlich nicht realer, als es später sein würde; ihr Körper selbst konnte nicht mit uns sprechen. Aber wenigstens war er dort, die Haut warm, die Laken glatt und sauber. Helens untere Gesichtshälfte war unterhalb der Haube sichtbar, wenngleich Augen und Ohren verhüllt waren. Wir konnten sie berühren. Mein Vater tat das oft. Vielleicht spürte irgendein Teil von ihr es immer noch.
Aber irgendwann musste jemand den Sarg schließen und die sterblichen Überreste beseitigen. Der Platz wurde für Neuzugänge gebraucht; und dies war der letzte Tag, an dem ich meine Mutter sehen würde. Jim nahm noch einmal ihre Hand. In ihrer Welt konnte man sie auch weiterhin besuchen, zu ihren Bedingungen, doch später am Tag würde ihr Körper in einem Lagerraum verstaut werden, der viel zu effizient vollgestapelt wurde, als dass noch Platz für Besucher aus Fleisch und Blut gewesen wäre. Man hatte uns versichert, dass der Körper unversehrt bliebe – die Muskeln wurden mithilfe von elektrischen Reizen trainiert, der Körper bewegt und ernährt. Er konnte jederzeit seinen Dienst wieder aufnehmen, sollte es im Himmel zu einem unvorhergesehenen und katastrophalen Systemzusammenbruch kommen. Alles ließ sich wieder rückgängig machen, sagte man uns. Und dennoch – es gab so viele, die in den Himmel aufgestiegen waren, und nicht einmal die tiefsten Katakomben boten unendlich viel Platz. Man hörte, dass die Körper zergliedert wurden, dass nach einer Weile entbehrliche Körperteile, irgendeinem Algorithmus der optimalen Platzausnutzung folgend, abgetrennt wurden. Vielleicht wäre von Helen in einem Jahr um dieselbe Zeit nur noch der Rumpf übrig und ein Jahr später ein Kopf ohne Körper. Womöglich würden sie ihren Körper auf das Gehirn reduzieren, noch bevor wir das Gebäude verlassen hatten, in Erwartung des letzten technologischen Durchbruchs, der die Ankunft des Großen Digitalen Uploads verhieß.
Wie gesagt, das waren nur Gerüchte. Ich persönlich kannte niemanden, der wieder zurückgekehrt wäre, nachdem er einmal in den Himmel aufgestiegen war, und warum sollte das auch jemand tun wollen? Wäre er nicht hinabgestoßen worden, hätte nicht einmal Luzifer den Himmel freiwillig verlassen.
Vater wusste vielleicht Näheres – er wusste mehr als die meisten Menschen, über Dinge, von denen die Allgemeinheit nicht einmal etwas ahnte –, aber er war nie sonderlich gesprächig gewesen. Was immer er wusste, er war offenbar zu dem Schluss gekommen, dass es an Helens Entscheidung nichts ändern würde, ihr davon zu erzählen. Das genügte ihm.
Wir setzten die Hauben auf, die als Eintrittskarten für die Unvernetzten dienten, und trafen meine Mutter in dem spartanisch eingerichteten Besucherzimmer, das sie für diese Anlässe geschaffen hatte. Der Raum besaß keine Fenster, durch die man einen Blick auf die Welt hätte werfen können, die sie bewohnte. Es gab keinerlei Hinweis darauf, wie die utopische Umgebung aussehen mochte, die sie für sich eingerichtet hatte. Sie hatte nicht einmal einen der vorprogrammierten Besucherräume gewählt, die unter der Maßgabe entworfen worden waren, die Dissonanzen zwischen den Besuchern möglichst gering zu halten. Wir befanden uns im Innern einer schmucklosen beigen Kugel von etwa fünf Metern Durchmesser. Außer ihr befand sich nichts darin.
Vielleicht ist das doch gar nicht so weit von ihrer Vorstellung von Utopia entfernt, dachte ich.
Mein Vater lächelte. »Helen.«
»Jim.« Sie war zwanzig Jahre jünger als das Ding auf dem Bett, und dennoch jagte mir ihr Anblick einen Schauer über den Rücken. »Siri! Schön, dass du gekommen bist!«
Sie sprach mich stets mit meinem Vornamen an. Ich kann mich nicht entsinnen, dass sie mich jemals Sohn genannt hätte.
»Bist du immer noch glücklich hier?«, fragte mein Vater.
»Vollkommen. Ich wünschte, ihr könntet euch uns anschließen.«
Jim lächelte. »Jemand muss die Maschinerie am Laufen halten.«
»Ihr wisst ja, dass das kein endgültiger Abschied ist«, sagte sie. »Ihr könnt mich besuchen, wann immer ihr wollt.«
»Nur, wenn du etwas gegen diese Szenerie hier tust.« Ein Scherz und zugleich eine Lüge; Jim wäre ihrem Ruf gefolgt, selbst wenn er dafür mit nackten Füßen über Glas hätte laufen müssen.
»Und Chelsea ebenfalls«, fuhr Helen fort. »Es wäre so nett, sie nach all der Zeit endlich einmal kennenzulernen.«
»Chelsea ist fort, Helen«, sagte ich.
»Ja, aber ich weiß, dass ihr noch in Verbindung steht. Sie hat dir doch so viel bedeutet. Nur weil ihr nicht mehr zusammen seid, heißt das nicht …«
»Du weißt doch, dass sie …«
Ein erschreckender Gedanke ließ mich mitten im Satz innehalten: Konnte es sein, dass ich ihnen tatsächlich nichts davon erzählt hatte?
»Mein Sohn«, sagte Jim ruhig. »Würdest du uns bitte einen Moment allein lassen?«
Von mir aus konnten sie eine verdammte Ewigkeit für sich haben. Ich nahm die Haube ab und befand mich wieder auf der Station, blickte von der Leiche auf dem Bett zu meinem blinden, reglosen Vater auf der Liege hinüber, der leere Koseworte in den Datenstrom säuselte. Sollten sie sich doch gegenseitig etwas vorspielen und ihre sogenannte Beziehung beenden, wenn es ihnen gefiel. Vielleicht gelang es ihnen wenigstens ein einziges Mal, ehrlich zu sein, in dieser jenseitigen Welt, in der alles nur Schein war. Vielleicht.
Ich verspürte jedenfalls nicht den Wunsch, dabei zu sein.
Aber natürlich musste auch ich noch einmal hineingehen, um mich offiziell zu verabschieden. Ein letztes Mal übernahm ich meine Rolle im familiären Kammerspiel und gab die üblichen Halbwahrheiten von mir. Wir stellten gemeinsam fest, dass sich gewiss nicht viel ändern würde, und niemand wich so weit vom Drehbuch ab, um die anderen deswegen der Lüge zu bezichtigen. Schließlich verabschiedeten wir uns von meiner Mutter – sorgsam darauf bedacht, bis zum nächsten Mal zu sagen und nicht Lebwohl.
Ich schaffte es sogar, meinen Würgreflex zu unterdrücken und sie zu umarmen.
Als wir aus der Dunkelheit wieder auftauchten, hielt Jim seinen Inhalator in der Hand. Wider besseres Wissen hoffte ich, dass er ihn auf unserem Weg durch die Eingangshalle in den Müllbehälter werfen würde. Doch er setzte ihn an den Mund und verabreichte sich eine weitere Dosis Vasopressin, damit er niemals in Versuchung geführt wurde.
Treue aus der Spraydose. »Das brauchst du jetzt nicht mehr«, sagte ich.
»Wahrscheinlich nicht«, stimmte er mir zu.
»Es funktioniert sowieso nicht. Du kannst dich nicht auf jemanden einstimmen, der gar nicht anwesend ist, egal wie viele Hormone du inhalierst. Das ist einfach …«
Jim sagte nichts. Wir gingen unter den Sensoren der Wachtposten vorbei, die nach Realisten Ausschau hielten, die das Gebäude zu infiltrieren versuchten.
»Sie ist fort«, platzte ich heraus. »Es ist ihr egal, ob du jemand anderen findest. Sie würde dich höchstens dazu beglückwünschen.« Dann könnte sie sich wenigstens einreden, ihr wärt quitt.
»Sie ist meine Frau«, sagte er.
»Das hat heute nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher einmal. Schon lange nicht mehr.«
Er musste lächeln. »Es ist mein Leben, Sohn. Ich bin damit zufrieden.«
»Vater …«
»Ich gebe ihr nicht die Schuld«, sagte er. »Und du solltest es auch nicht tun.«
Das sagte er so leicht. Und verzieh ihr sogar die Schmerzen, die sie ihm all die Jahre hindurch zugefügt hatte. Diese fröhliche Fassade konnte kaum die endlosen, bitteren Klagen wieder wettmachen, die mein Vater sein Leben lang hatte erdulden müssen. Glaubst du, es ist einfach, wenn du monatelang verschwindest? Wenn ich mich ständig fragen muss, mit wem du zusammen bist und was du gerade tust oder ob du überhaupt noch am Leben bist? Denkst du, es ist einfach, ein solches Kind allein großzuziehen?
Sie hatte ihm für alles die Schuld gegeben, aber er ertrug es mit Fassung, denn er wusste, dass es nicht stimmte. Er wusste, dass er nur ein Vorwand war. Sie verließ uns nicht, weil er ständig unterwegs war oder ihr untreu gewesen wäre. Ihr Fortgehen hatte nicht das Geringste mit ihm zu tun. Es lag an mir. Helen hatte die Welt verlassen, weil sie den Anblick jenes Dings nicht mehr ertragen konnte, das an die Stelle ihres Sohnes getreten war.
Ich hätte das Thema weiter verfolgen können – noch einmal versuchen können, meinen Vater von der Wahrheit zu überzeugen –, doch in diesem Moment hatten wir die Tore des Himmels hinter uns gelassen und waren auf die Straßen der Hölle hinausgetreten. Überall um uns herum standen Fußgänger, starrten mit offenem Mund in den Himmel hinauf und murmelten verwundert vor sich hin. Ich folgte ihren Blicken zu einem Streifen Dämmerlicht zwischen den Türmen und schnappte nach Luft …
Die Sterne fielen herab.
Der Tierkreis hatte sich in ein gleichmäßiges Gitter aus hellen Punkten mit leuchtenden Schweifen verwandelt. Es sah aus, als wäre die ganze Erde in einem großen, sich zusammenziehenden Netz gefangen, dessen Maschengeflecht aus Elmsfeuer bestand. Es war wunderschön und zugleich furchterregend.
Ich wandte den Blick ab, um meine Weitsicht neu zu kalibrieren und dieser eigensinnigen Halluzination Gelegenheit zu geben, sich still und heimlich aus dem Staub zu machen, bevor ich meinen empirisch geschärften Blick erneut auf sie richtete. In diesem Moment bemerkte ich eine Vampirin, die sich unter den Menschen bewegte wie der sprichwörtliche Wolf im Schafspelz. Auf der Straße sah man nur selten Vampire. Ich hatte noch nie einen zu Gesicht bekommen.
Sie war gerade auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus einem Gebäude getreten, einen ganzen Kopf größer als die Menschen um sie herum, ihre Augen waren strahlend gelb und leuchteten katzenartig in der Dunkelheit. Dann wurde ihr bewusst, dass etwas nicht stimmte, sie blickte sich um, sah zum Himmel hinauf … und ging weiter, ohne der Viehherde um sich herum und dem himmlischen Zeichen, das die Menschen in ihrer Bewegung hatte erstarren lassen, weiter Beachtung zu schenken. Ohne zu bemerken, dass die Welt soeben aus dem Gleichgewicht geraten war.
Es war 10:35 Uhr mittlere Greenwich-Zeit, am 13. Februar 2082.
Sie schlossen sich um die Welt wie eine Faust, allesamt schwarz wie das Innere eines Ereignishorizonts, bis auf die letzten Augenblicke, als sie alle zugleich verglühten. Im Sterben stießen sie einen Schrei aus. Sämtliche Funkgeräte bis hinauf in die geostationäre Umlaufbahn stöhnten auf, alle Infrarotteleskope erblindeten kurzzeitig. Noch Wochen später war der Himmel voller Asche und mesosphärischer Wolken hoch über dem Jetstream, die sich bei jedem Sonnenaufgang leuchtend rostrot verfärbten. Offenbar hatten die Objekte größtenteils aus Eisen bestanden. Niemand konnte sich je einen Reim darauf machen.
Vielleicht zum ersten Mal im Lauf der Geschichte wusste die Welt, was geschehen war, bevor man es ihr mitteilte: Wer den Himmel gesehen hatte, war im Bilde. Die Herrscher über das Nachrichtenwesen, deren Aufgabe es normalerweise war, die Realität zu filtern, mussten sich diesmal damit begnügen, sie lediglich zu benennen. Sie brauchten etwa neunzig Minuten, um sich auf den Begriff Irrlichter zu einigen. Eine halbe Stunde später tauchten die ersten Fourier-Transformationen in der Noosphäre auf; wenig überraschend hatten die Irrlichter mit ihrem letzten Atemzug nicht nur einen Haufen Statik ausgespuckt. In dem Aufschrei waren Muster verborgen gewesen, irgendeine rätselhafte Botschaft, die sich allen irdischen Entschlüsselungsversuchen widersetzte. Die Experten hielten an einer strikt empirischen Vorgehensweise fest und weigerten sich, Mutmaßungen zu äußern. Sie bestätigten lediglich, dass die Irrlichter etwas von sich gegeben hatten. Allerdings wussten sie nicht, was es bedeutete.
Der Rest der Welt hingegen schon. Wie sonst ließ sich ein gleichmäßig über die gesamte Erde verteiltes Netz aus 65 536 Sonden erklären, dem kaum ein Meter Planetenoberfläche entging? Offensichtlich hatten die Irrlichter ein Foto von uns geschossen. Und hatten die ganze Welt mit heruntergelassenen Hosen erwischt, in einem aus Tausenden von Einzelbildern zusammengesetzten Panoramaschnappschuss. Man hatte uns ausgekundschaftet – ob als Auftakt zu einer feierlichen Begrüßung oder einer unmittelbar bevorstehenden Invasion, wusste niemand zu sagen.
Mein Vater hätte vielleicht jemanden gekannt, der Genaueres gewusst hätte. Doch zu diesem Zeitpunkt war er schon längst verschwunden, wie stets in Krisenzeiten, die die gesamte Hemisphäre betrafen. Was immer er wissen mochte, er überließ es mir, mir meine eigenen Gedanken zu machen, so wie jeder andere auch.
An Mutmaßungen mangelte es wahrlich nicht. In der Noosphäre wimmelte es nur so von Szenarios, die von utopisch bis apokalyptisch reichten: Die Irrlichter hätten todbringende Krankheitskeime über die gesamten Jetstreams verteilt. Die Irrlichter seien auf einer Safari-Tour gewesen. Die Ikarusanlage werde umgerüstet, um eine Vernichtungswaffe gegen die Außerirdischen zu bauen. Die Ikarusanlage sei bereits zerstört. Uns blieben noch Jahrzehnte, um auf den Vorstoß zu reagieren, da alles, was aus einem anderen Sonnensystem stammte, zwangsläufig derselben Lichtgeschwindigkeitsgrenze unterworfen sei wie wir. Wir hätten nur noch wenige Tage zu leben, da organische Kriegsschiffe bereits den Asteroidengürtel durchquert hätten und die Erde innerhalb einer Woche in Schutt und Asche legen würden.
Wie alle anderen, lauschte auch ich den sensationslüsternen Spekulationen und den Gerüchten. Ich besuchte die Tratschräume und sog die Meinungen anderer Leute in mich auf. Das war an sich nichts Neues, schließlich war ich mein ganzes Leben lang selbst so etwas wie ein außerirdischer Verhaltensforscher gewesen, der die Welt um sich herum beobachtete und aus seinen Erkenntnissen Muster und Protokolle ableitete, um die Regeln zu erlernen, mit deren Hilfe er die menschliche Gesellschaft infiltrieren konnte. Bis dahin hatte das immer gut funktioniert. Irgendwie war bei mir durch das Auftauchen von echten Außerirdischen jedoch etwas aus dem Lot geraten. Beobachtung allein genügte nicht mehr. Als hätte das Auftauchen dieser Aliens mich, ob ich nun wollte oder nicht, wieder zu einem Teil des Stammes gemacht. Die bisherige Distanz zwischen mir und der Welt erschien mir plötzlich erzwungen und ein wenig lächerlich.
Dennoch konnte ich beim besten Willen nicht herausfinden, wie sie sich überwinden ließe.
Chelsea hat immer behauptet, die Telepräsenz würde die zwischenmenschlichen Beziehungen ihrer Menschlichkeit berauben. »Angeblich gibt es da keinen Unterschied«, sagte sie mir einmal. »Es ist so, als hättest du deine Familie um dich – du kannst sie sehen, berühren und riechen. Aber das stimmt nicht. Das sind nur Schatten an einer Höhlenwand. Ich meine, klar, die Schatten sind dreidimensional und in Farbe und mit taktiler Force-Feedback-Interaktivität ausgestattet. Sie sind gut genug, um das Gehirn des zivilisierten Menschen zu täuschen. Aber tief in deinem Innern weißt du, dass es keine echten Menschen sind, selbst wenn du keine Ahnung hast, woher du das weißt. Sie fühlen sich einfach nicht echt an. Weißt du, was ich meine?«
Ich wusste es nicht. Damals hatte ich nicht den blassesten Schimmer, wovon sie da redete. Aber nun hatten wir uns alle wieder in Höhlenmenschen verwandelt, die sich unter irgendeinem Felsvorsprung aneinanderdrängten, während Blitze über den Himmel zuckten und riesige, unförmige Ungeheuer, die in dem grellen Aufleuchten immer nur einen Moment lang zu sehen waren, in der Dunkelheit um uns herum heulten und polterten. Die Einsamkeit bot keinen Trost. Interaktive Schatten waren kein Ersatz. Man brauchte einen echten Menschen an seiner Seite, jemanden, an dem man sich festhalten konnte, jemanden, mit dem man nicht nur den gleichen Luftraum teilte, sondern auch die gleichen Ängste, Hoffnungen und Zweifel.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, Freunde zu haben, die nicht verschwanden, sobald ich die Verbindung kappte. Aber Chelsea war fort und Pag ebenso. Die wenigen anderen, die ich hätte anrufen können – Bekannte und ehemalige Klienten, bei denen meine Imitation einer persönlichen Beziehung besonders überzeugend gewesen war –, schienen mir die Mühe nicht wert. Der Körper aus Fleisch und Blut stand in einer besonderen Beziehung zur Realität – er war notwendig, aber er reichte nicht aus.
ENDE DER LESEPROBE
Titel der amerikanischen Originalausgabe
BLINDSIGHT
Deutsche Übersetzung von Sara Riffel
Deutsche Erstausgabe 2/2008 Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 2006 by Peter Watts Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH http://www.heyne.deUmschlagbild: Franz Vohwinkel Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
eISBN 978-3-641-17250-3
www.randomhouse.de