Echopraxia - Peter Watts - E-Book

Echopraxia E-Book

Peter Watts

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Beschreibung

Jenseits der Evolution

An der Schwelle des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts hat sich die Menschheit völlig verwandelt. Wissenschaft und Glaube durchdringen einander, genetisch optimierte Menschen können ihr Bewusstsein abschalten, und Evolution ist zum Alltagsprodukt geworden. In dieser Welt ist Daniel Bruks ein lebendes Fossil: ein Biologe, der der Menschheit den Rücken gekehrt hat. Doch dann wird er auf einem Raumschiff ins Zentrum unseres Sonnensystems geschickt – wo auf ihn eine Entdeckung wartet, die den Lauf des Universums ändern wird …

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 625

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Das Buch

Wir schreiben das zweiundzwanzigste Jahrhundert, und auf der Erde ist nichts mehr wie zuvor. Es ist eine Welt, in der die Toten Grußbotschaften aus dem Jenseits schicken können; in der Gläubige naturwissenschaftliche Durchbrüche erringen, indem sie in religiöse Ekstase geraten; in der genetisch modifizierte Untote in Krisensituationen eingesetzt werden; kurz gesagt: Es ist eine Welt, in der es »normale« Menschen eigentlich nicht mehr gibt. Bis auf einen: Daniel Brüks – ein Biologe, der sich strikt an veraltete analoge Forschungsmethoden hält, während die neuzeitliche Biologie nur mehr ein Baukasten für Bioterroristen ist. Brüks führt ein zurückgezogenes Leben in der Wüstengegend von Oregon – bis zu dem Tag, an dem er sich in einem Raumschiff wiederfindet, das ins Zentrum des Sonnensystems fliegen soll. Zusammen mit seiner Crew, die aus höchst unterschiedlichen und einander nicht immer wohlgesonnenen Eigenbrötlern besteht, ist Brüks unterwegs zu einer Begegnung mit einer nichtmenschlichen Entität: den »Engeln der Asteroiden«. Eine Begegnung, die zum bedeutendsten Moment der menschlichen Evolution werden soll …

Der Autor

Peter Watts wurde 1958 in Kanada geboren und studierte Naturwissenschaften und Zoologie an der University of Guelph, Ontario, und der University of British Columbia, Vancouver. Er arbeitete für die Film- und Game-Industrie und verfasste zahlreiche Science-Fiction-Romane. Mit seinem Roman Blindflug, der in derselben Zukunftswelt wie Echopraxia spielt, war er für den Hugo Award nominiert. Peter Watts ist mit der kanadischen Schriftstellerin Caitlin Sweet verheiratet.

Mehr über Peter Watts und seine Romane erfahren Sie auf:

PETER WATTS

ECHOPRAXIA

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen OriginalausgabeECHOPRAXIADeutsche Übersetzung von Birgit Herden

Bei der Übersetzung von Echopraxia wurde bei zwei kurzen Lyrik-Zitaten auf neuere Übersetzungen zurückgegriffen:

Das Zweite Kommen, in William Butler Yeats: Die Gedichte, Luchterhand 2005, S. 212, dt. von Mirko Bonné: »Alles zerfällt.«

Gesang meiner selbst, in Walt Whitman: Grasblätter, Carl Hanser Verlag 2009, S. 121: »Ich bin groß, ich enthalte Vielheiten.«

Deutsche Erstausgabe 08/2015

Redaktion: Karin Will

Copyright © 2014 by Peter Watts

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-15753-1

www.diezukunft.de

Dem BAZILLUS gewidmet,der mir das Leben gerettet hat

INHALT

VORSPIEL

PRIMITIV

PARASIT

BEUTE

RAUBTIER

PROPHET

POSTSKRIPTUM

DANKSAGUNG

VERWEISE UND ANMERKUNGEN

FREILICH: INDEM MAN DEN ABERGLAUBEN AUSROTTET, ROTTET MAN KEINESWEGS AUCH DIE RELIGIONSAUSÜBUNG AUS.

– CICERO

SICH AUF DEN HIMMEL ZU FIXIEREN HEISST DIE HÖLLE ERSCHAFFEN.

– TOM ROBBINS

Wir haben diesen Hügel erklommen. Mit jedem Schritt konnten wir weiter sehen, also blieben wir nicht stehen, und nun sind wir ganz oben. Seit ein paar Jahrhunderten ist die Wissenschaft schon dort. Jetzt blicken wir hinaus auf die Ebene und entdecken diesen anderen Volksstamm, der über den Wolken tanzt, sogar noch weiter oben als wir selbst. Es mag eine Illusion sein, eine Sinnestäuschung. Vielleicht sind die anderen aber auch einen höheren Gipfel emporgestiegen, den wir nicht sehen können, weil er von Wolken verdeckt wird. Wir machen uns also auf, um Gewissheit zu erlangen – aber jeder Schritt führt uns nach unten. In welcher Richtung auch immer wir es versuchen, wir können die Anhöhe nicht verlassen, ohne unseren Aussichtspunkt einzubüßen. Also kehren wir um und steigen wieder bergauf. Wir sind auf einem lokalen Maximum gefangen.

Doch was, wenn es da draußen, weit entfernt von der Ebene, wirklich einen höheren Gipfel gibt? Dort können wir nur hinkommen, wenn wir in den sauren Apfel beißen, unseren Hügel hinuntersteigen und uns am Flussbett entlangschleppen, bis der Pfad wieder ansteigt. Und erst dann wird klar: He, dieser Berg reicht so viel höher als die kleine Erhebung, auf der wir zuvor waren, und von hier oben können wir so viel weiter sehen.

Aber um dorthin zu gelangen, muss man das Rüstzeug zurücklassen, das einen überhaupt erst so weit gebracht hat. Man muss jenen ersten Schritt tun, der ins Tal führt.

– Dr. Lianna Lutterodt: »Glaube und die Landschaft des Fortschritts«, Konversationen, 2091

VORSPIEL

ES IST NAHEZU UNMÖGLICH, AUS DER NATUR EIN MORALGESETZ HERZULEITEN. DIE NATUR KENNT KEINE PRINZIPIEN. SIE LIEFERT UNS KEINERLEI GRUND ZUR ANNAHME, DAS MENSCHLICHE LEBEN WÜRDE BESONDEREN RESPEKT VERDIENEN. DIE NATUR MACHT IN IHRER GLEICHGÜLTIGKEIT KEINEN UNTERSCHIED ZWISCHEN GUT UND BÖSE.

– ANATOLE FRANCE

EIN WEISSER RAUM, unbefleckt von Schatten und bar jeder Topografie. Ganz wichtig: keine rechten Winkel. Keine Ecken, kein zudringliches Mobiliar, keine direkten Strahler. Keine Geometrie von Licht und Schatten, die aus irgendeinem Blickwinkel das Zeichen des Kreuzes heraufbeschwören könnte. Die Wände – genauer gesagt die Wand – eine einzige geschwungene Oberfläche, von sanfter Biolumineszenz erhellt; eine sphäroide Hohlkammer, die sich nur unten, in einem widerwilligen Zugeständnis an die Konventionen der Zweibeiner, zu einer Ebene verflachte. Es war eine überdimensionierte Gebärmutter von drei Metern Durchmesser, bis hinunter zu dem wimmernden Etwas, das sich am Boden krümmte.

Eine Gebärmutter, bei der sich alles Blut draußen befand.

Ihr Name war Sachita Bhar, und sie sah das Blut selbst mit geschlossenen Augen. Die Kameras waren inzwischen so tot wie alles andere, doch die Bilder jener ersten Augenblicke ließen sich nicht mehr auslöschen: der Eingangsbereich, die Histo-Labore, und um Himmels willen, sogar die Besenkammer, ein winziger, schäbiger Raum auf dem dritten Stock, in den Gregor geflüchtet war. Sachie hatte nicht mitbekommen, wie Gregor entdeckt worden war. Hektisch hatte sie die Kanäle gewechselt, hatte fieberhaft nach Leben gesucht, aber nur die zerfleischten Toten gefunden. Als sie zu der Übertragung aus der Kammer kam, waren die Monster bereits weitergezogen.

Gregor, der in sein bescheuertes zahmes Frettchen verliebt gewesen war. Am Morgen war sie ihm im Lift begegnet. Sie erinnerte sich noch an sein gestreiftes T-Shirt. Andernfalls hätte sie auch niemals erkannt, um wen es sich bei dem blutigen Etwas in der Kammer handelte.

Überhaupt hatte sie nur einen Bruchteil des Gemetzels mitbekommen, bevor die Kameras ausgefallen waren: Freunde, Kollegen und Rivalen ohne Unterschied erbarmungslos gemordet, die ausgeweideten Überreste über Laborbänke, Arbeitsplätze und Toiletten verstreut. Aber trotz der vielen Kanäle, die sie über die Implantate in ihrem Kopf empfing, trotz der allgegenwärtigen Überwachungskameras, in die sie sich einklinken konnte, hatte Sachita zu keinem Augenblick auch nur eine der Kreaturen zu sehen bekommen, die das alles angerichtet hatten. Allenfalls war da ein Schatten gewesen, den einer der Jäger von einem blinden Fleck der Kamera aus geworfen hatte. Wie unsichtbar hatten sie ihr Werk vollbracht, ohne auch nur einander zu sehen.

Sie hatten die Kreaturen immer getrennt voneinander gehalten, schon zu ihrem eigenen Schutz: Steckt man zwei Vampire in einen Raum, gehen sie einander augenblicklich an die Kehle, wie es ihnen ihr fest verdrahtetes Territorialverhalten diktiert. Und doch hatten sie irgendwie kooperiert. Wenigstens ein halbes Dutzend von ihnen, eingesperrt, abgeschottet, hatte urplötzlich in vollkommener Übereinstimmung agiert, und das, ohne einander je begegnet zu sein. Selbst auf dem Höhepunkt des Blutbads, in den letzten Augenblicken vor dem Ausfall der Kameras, waren sie unsichtbar geblieben. Das ganze Massaker hatte sich am Rand von Sachies Wahrnehmung ereignet.

Wie haben sie das nur fertiggebracht? Wie haben sie die Winkel überlebt?

Sachitas Lage entbehrte nicht einer gewissen Ironie; sie hatte sich in einer Zuflucht für Monster versteckt, einem der wenigen Orte in dem ganzen beschissenen Gebäude, wo die Ungeheuer die Augen öffnen konnten, ohne die Todesstrafe zu riskieren. Rechte Winkel waren hier absolut tabu. In diesem Raum hatte man ihre Achillesferse getestet, die neurologische Leine optimiert. Überall sonst drohte von allen Seiten die Geometrie der Zivilisation: Tischplatten, Fensterrahmen, ein Konvolut aus Gerätschaften und Architektur, das aus dem richtigen Blickwinkel jeden Vampir in Krämpfe versetzen würde. Ohne die anti-euklidischen Medikamente gegen die Kruzifixstörung würden …

… sollten …

… die Monster da draußen keine Stunde überleben. Nur hier, in dem weißen Mutterleib, in den die arme, dumme Sachita Bhar geflohen war, als die Lichter erloschen, durften sie es wagen, die Augen zu öffnen.

Und eines der Monster befand sich nun mit ihr im Raum.

Sehen konnte sie es nicht. Sie kniff die Augen fest zu, wie um die Schlächterei auszusperren, die sich ihr ins Hirn eingebrannt hatte. Kein Geräusch war zu hören, bis auf ihr eigenes, lang gezogenes Wimmern. Doch irgendetwas verschluckte ein wenig von dem Licht, das auf ihr Gesicht fiel. Die rot flimmernde Düsternis hinter ihren Augenlidern verdunkelte sich kaum merklich, und sie wusste es.

»Hallo«, sagte das Monster.

Sie öffnete die Augen. Es war eines der weiblichen: Valerie, so hatten sie sie genannt, nach einer Abteilungsleiterin, die voriges Jahr in Rente gegangen war. Valerie, die Vampirin.

Valeries reflektierende Augen verschoben das Licht ins Rote, orangefarbene Sterne in einem noch von der Jagd erhitzten Gesicht. Regungslos wie die Statue eines Insekts ragte sie über Sachie auf; nicht einmal ihr Atem war wahrnehmbar. Wenige Augenblicke vor ihrem Tod begann ein unbeschäftigtes Unterprogramm in Sachies Verstand, die morphometrischen Eigenheiten der Kreatur aufzulisten. Unmenschlich lange Gliedmaße, die Proportionen darauf ausgelegt, Körperwärme rasch abzuleiten und den Motor eines heiß laufenden Stoffwechsels zu kühlen. Ein etwas vorspringender Unterkiefer, so wolfsähnlich, wie es bei einer Hominiden nur möglich war – um all die Zähne unterzubringen. Ein alberner türkisfarbener Kittel aus mit Messtechnik verwobenem, intelligentem Papier – anscheinend hatte Valerie heute physiologische Tests absolvieren sollen. Das Gesicht gerötet, alle Schleusen geöffnet, die Gefäße von heißem Blut durchströmt – ein Raubtier im Jagdmodus. Und die Augen, diese grauenerregenden leuchtenden Nadelspitzen …

Endlich fiel der Groschen: verengte Pupillen.

Sie ist nicht auf Anti-Eus …

Rasch zog Sachie ihr Kreuz heraus, jenen Todesschalter für die äußerste Verzweiflung, einen Talisman, den alle Mitarbeiter zusammen mit ihrem Ausweis am ersten Tag erhielten – empirisch erprobt und in Extremsituationen bewährt, nach dem jahrhundertelangen Niedergang als religiöser Fetisch von der Wissenschaft rehabilitiert. Mit dem Mut der Todgeweihten streckte Sachie dem Ungeheuer das Kruzifix entgegen und drückte auf den Federmechanismus. Aus den Enden des Kreuzes schossen die Verlängerungen heraus, und ihr kleines Hosentaschen-Totem war plötzlich einen Meter lang.

Dreißig Grad des Gesichtsfelds, Sachie. Vierzig vielleicht, für die ganz Harten. Pass auf, dass du es senkrecht zur Blickachse ausrichtest, es funktioniert nur, wenn die Winkel annähernd neunzig Grad betragen. Aber sobald dein kleines Spielzeug hier genug vom Gesichtsfeld abdeckt, wird ihr visueller Cortex gegrillt wie im Kreuzfeuer …

So hatte es Greg ihr erklärt.

Valerie neigte den Kopf und betrachtete eingehend das Kreuz. Jede Sekunde, so wusste Sachie, musste die Albtraumkreatur nun zusammenbrechen und mit kurzgeschlossenen Synapsen als zuckende, krampfende Masse enden. Mit Sicherheit. Das war keine Frage des Glaubens, sondern einfach eine neurologische Tatsache.

Das Monster beugte sich weiter vor. Es zitterte nicht einmal. Sachita Bhar machte sich in die Hose.

»Bitte«, wimmerte sie. Die Vampirin gab keinen Laut von sich.

Es brach aus ihr heraus: »Es tut mir so leid, aber bitte glaub mir, ich habe nie wirklich zu denen gehört, ich war nur eine Hilfswissenschaftlerin, ich mach das nur für meinen Abschluss, mehr nicht, ich weiß, dass es falsch ist, ich weiß, es ist wie … beinahe wie Sklaverei, das weiß ich, und es ist ein beschissenes System, es war wirklich beschissen, was wir mit dir gemacht haben, aber ich war es nicht, nicht wirklich, verstehst du? Ich hab überhaupt nichts selbst entschieden, ich bin erst später dazugekommen, ich hab eigentlich kaum was gemacht, es war doch nur für meinen Abschluss. Und ich … ich kann verstehen, wie du dich fühlen musst, ich verstehe, dass du uns hasst, das würde ich wahrscheinlich auch tun, aber bitte, ach bitte … ich bin doch nur eine Studentin …«

Als sie nach einer Weile noch immer am Leben war, wagte sie, wieder aufzusehen. Valerie starrte links an ihr vorbei auf einen Punkt, der tausend Lichtjahre entfernt war. Sie wirkte geistesabwesend. Diesen Eindruck hatte man allerdings häufiger bei diesen Wesen, die ein Dutzend Gedankengänge gleichzeitig verfolgen und ein Dutzend Realitäten zugleich wahrnehmen konnten, jede einzelne so real wie die eine Wirklichkeit, die das menschliche Hirn in Beschlag nahm.

Valerie neigte den Kopf, so als lauschte sie einer leisen Musik. Sie lächelte beinahe.

»Bitte …«, flüsterte Sachie.

»Nicht böse«, sagte Valerie. »Will keine Rache. Du bist nicht wichtig.«

»Du willst keine … aber …« Leichen. Blut. Ein ganzes Gebäude voller Toter. Ein Gebäude voller Monster, die diese Toten zurückließen. »Aber was willst du dann? Du kannst alles haben, bitte, ich werde …«

»Will, dass du dir etwas vorstellst: Christus am Kreuz.«

Und als die Worte heraus waren, ließ sich das Bild natürlich nicht mehr bannen. Unmöglich, sich den Heiland nicht vorzustellen. Einige wenige Augenblicke blieben Sachita Bhar noch, sich über die spastischen Zuckungen in ihren Gliedern zu wundern, über die krampfartigen Verrenkungen ihres Unterkiefers, über das Gefühl, als ob tausend blutheiße Nadelstiche auf der Rückseite ihres Schädels explodierten. Sie versuchte, die Augen zu schließen, doch es spielt keine Rolle, welche Art Licht auf die Netzhaut fällt – das ist es nicht, was Sehen ausmacht. Der Geist erzeugt seine eigenen Bilder, viel weiter stromaufwärts, und sie lassen sich nicht aussperren.

»Ja.« Gedankenverloren schnalzte Valerie mit der Zunge. »Ich lerne.«

Sachie gelang es zu sprechen. Es war das Schwierigste, was sie in ihrem Leben je getan hatte, aber sie wusste, das war nur angemessen; schließlich war es auch dasLetzte, was sie je tun würde. Mit äußerster Willensanstrengung kratzte sie ihre letzten Reserven zusammen, alle ihr noch verbliebenen Synapsen, die nicht zur Selbstzerstörung abkommandiert worden waren, und sprach. Denn nichts sonst war mehr von Bedeutung, und sie wollte es wirklich wissen:

»Was … geler…«

Ihre Stimme versagte. Doch bevor Sachita Bhars Gehirn durchbrannte, brachte es mitten in dem zunehmenden Rauschen noch einen letzten Gedanken, eine letzte Erkenntnis zustande: »So fühlt sich die Kruzifix-Störung an. Das ist es, was wir mit ihnen machen. Das ist …«

»Judo«, zischte Valerie leise.

PRIMITIV

Alle Wissenschaft ist im Grunde nur Korrelation. Egal wie eindrucksvoll man die eine Variable mit Hilfe einer anderen beschreibt, alle Gleichungen basieren letztlich auf einer Blackbox. (Beweise beruhen immer auf Annahmen, für die es keinen Beweis gibt, wie schon Sankt Herbert so treffend bemerkte.) Wissenschaft und Glaube unterscheiden sich daher nur in ihrem Vermögen, Dinge vorhersagen zu können – nicht mehr und nicht weniger. Die Wissenschaft ermöglicht bessere Vorhersagen als spirituelle Erkenntnisse, jedenfalls soweit es um weltliche Belange geht. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben sich nicht durchgesetzt, weil sie wahr sind, sondern schlicht und einfach, weil sie funktionieren.

In dieser in sich konsistenten Landschaft stellt der Bikamerale Orden eine ganz außerordentliche Anomalie dar. Mit seiner eindeutig glaubensbasierten Methodik dringt er in metaphysische Bereiche vor, die sich einer empirischen Analyse entziehen – und liefert dennoch zuverlässig Ergebnisse, die bessere Vorhersagen ermöglichen als die konventionelle Wissenschaft. (Wie das möglich ist, darüber weiß man so gut wie nichts; es existieren allenfalls Hinweise auf eine Art Neuverdrahtung des Temporallappens, mit der die Ordensangehörigen ihre Verbindung zum Göttlichen verstärken.)

Darin einen Sieg der traditionellen Religion zu sehen wäre eine gefährlich naive Sichtweise, denn darum handelt es sich keineswegs. Vielmehr erleben wir den Triumph einer radikalen Sekte, die seit kaum einem halben Jahrhundert existiert und in dieser Zeit die Mauer zwischen Wissenschaft und Glauben niedergerissen hat.

Als die Kirche die Gesetzmäßigkeiten der physischen Welt anerkannte, führte das zu dem historischen Waffenstillstand, durch den Glaube und Verstand bis heute koexistieren konnten. Dass für Menschen auf der ganzen Welt nun wieder der Glaube die Oberhand gewinnt, mögen manche ermutigend finden, doch geht es dabei nicht um unseren Glauben. Auch der neue Glaube nimmt ja die Menschen bei der Hand und führt die verlorenen Schafe fort vom seelenlosen Empirismus der profanen Wissenschaft; doch die Tage, in denen die Schafe in die liebenden Arme unseres Erlösers finden, sind gezählt.

– Der innere Feind: Die Bedrohung der institutionellen Religion durch die Bikameralen im 21. Jahrhundert

(Interner Bericht der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften an den Heiligen Stuhl, 2093)

ALLE TIERE STEHEN UNTER EINEM STRIKTEN SELEKTIONSDRUCK, GERADE SO DUMM ZU BLEIBEN, WIE ES NOCH DEM ÜBERLEBEN DIENLICH IST.

– PETE RICHERSON UND ROBERT BOYD

MITTEN IN DER OREGON-WÜSTE schlug Daniel Brüks, närrisch wie ein Prophet, die Augen auf, um die übliche Litanei der Todesurteile durchzugehen.

Es war eine ruhige Nacht gewesen. Ein halbes Dutzend Fallen auf der Ostseite waren offline – der verdammte Verstärker musste mal wieder ausgefallen sein. Nummer 18 aber hatte eine Strumpfbandnatter gefangen. In Nummer 13 pickte ein Beifußhuhn aufgeregt auf der Kameralinse herum. Bei Nummer 4 funktionierte die Bildübertragung nicht, doch der Masse und den Temperaturwerten nach zu urteilen kroch darin vermutlich ein junger Scleroperus herum. Die 23 hatte einen Hasen erwischt.

Brüks hasste es, Hasen zu töten. Sie stanken abscheulich, wenn man sie aufschnitt – und heutzutage kam man darum kaum noch herum.

Seufzend zeichnete er mit dem Zeigefinger einen Halbkreis in die Luft. Die Bilder auf der Zeltinnenseite erloschen, an ihrer Stelle flackerten Schlagzeilen auf. Die Themen waren entsprechend seinen letzten Interessen ausgewählt: Pakistans weiter bestehendes Zombie-Problem; der erste Jahrestag des Erlöser-Zwischenfalls; ein kurzer, trauriger Nachruf auf das letzte natürliche Korallenriff.

Nichts von Rho.

Eine weitere Geste, und auf dem Stoff erschien eine leicht verschwommene taktische Anzeige – das Prineville-Reservat als Wärmebild, wie es die öffentlich zugänglichen Satellitenbilder zeigten. Genau in der Mitte befand sich ein diffuser gelber Fleck: Hier duckte sich sein Zelt am Boden, ein weicher, warmer Kern in einer kalten, harten Schale. Weit und breit keine vergleichbaren Wärmequellen. Mit einem zufriedenen Nicken betrachtete Brüks die Anzeige – nach wie vor ließ ihn die Welt in Frieden.

Als er aus seinem Zelt kroch, glitt ein kleines Geschöpf, unsichtbar in der grauen Morgenwelt, über das lose Geröll. Der Atem hing sichtbar in der Luft, unter seinen Stiefeln knirschte der Frost; für kurze Zeit noch war die staubige Wüste mit glitzerndem Raureif überpudert. An einer der kümmerlichen Lärchen, die dem Lager Schutz boten, lehnte sein Crossrad, die Marshmallowreifen weich und schlaff.

Brüks nahm Becher und Filter von ihren behelfsmäßigen Haken und trat hinaus ins Freie. Er stieg eine kurze Geröllhalde hinunter, bis hin zu einem kleinen, trüben Rinnsal, das sich hier durch die Wüste wand. Binnen eines Monats würde es vertrocknet sein, aber noch genügte das Wasser, um den Durst eines großen Säugetiers zu stillen.

Jenseits des Tales wand sich schwach sichtbar der Spielzeug-Tornado der Bikameralen vor dem grauen Osthimmel; darüber waren noch Sterne zu sehen, unbeirrt in ihrer eisigen Kälte und bar jeder tieferen Bedeutung. Nichts als Entropie heute Nacht dort droben, und die gleichen Fantasiegebilde, die Menschen schon in die Natur hineinfabulierten, seit sie die himmlischen Weiten bestaunten.

Vor vierzehn Jahren war es noch eine andere Wüste gewesen. Eine andere Nacht. Aber sie hatte sich genauso angefühlt, bis zu jenem Moment, als er zum Himmel aufgeblickt hatte – und für ein paar erschütternde Augenblicke war der Himmel zu einem anderen geworden. Zu einem Himmel, in dem es keine Zufälligkeit mehr gab, wo die Sterne in präziser Formation aufloderten, in vollkommenen Quadraten positioniert, so verzweifelt die menschliche Fantasie auch nach etwas anderem suchte. Der 13. Februar 2082. Die Nacht des Ersten Kontakts: 62.000 Objekte unbekannter Herkunft hatten die Welt in einem gigantischen Gitter umzingelt, und ihre gellenden Schreie hatte man auf allen Radiofrequenzen hören können, während sie verbrannten. Die Erinnerung war noch so lebendig wie am ersten Tag: Brüks hatte sich gefühlt, als wäre er Zeuge eines himmlischen Staatsstreichs; als wäre ein kapriziöser Gott entthront worden und die Ordnung wiederhergestellt.

Nur wenige Sekunden hatte die Revolution angedauert. Die so präzisen Bremsspuren waren in der oberen Atmosphäre verglüht und hatten damit wieder die Bühne für die uralten Konstellationen geräumt. Doch das Unheil war geschehen. Nie wieder würde der Himmel so aussehen wie zuvor.

Zumindest hatte er das damals geglaubt. Alle hatten das geglaubt. Die Bedrohung brachte mit einem Schlag die ganze verfluchte Spezies zusammen, auch wenn außer der menschlichen Überheblichkeit eigentlich gar nichts bedroht worden war. Die kleinkarierten Streitigkeiten waren vergessen – man hatte keine Kosten gescheut und mit gebündelten Ressourcen das verdammt noch mal beste Schiff gebaut, zu dem das 21. Jahrhundert imstande war. Auch die Crew war allerneuste Technik gewesen, die besten Leute, die man nur entbehren konnte. Schließlich hatte man das Schiff auf einem halb geratenen Kurs auf die Reise geschickt, mit an Bord ein Sprachführer, der den Satz Bring mich zu deinem Anführer in tausend Sprachen beherrschte.

Schon mehr als ein Jahrzehnt hielt die Welt nun den Atem an und wartete auf die Wiederkehr. Doch es gab keine Zugabe, keinen zweiten Akt. Für eine Spezies, die sich an augenblickliche Triebbefriedigung gewöhnt hat, sind vierzehn Jahre eine lange Zeit. Ohnehin hatte sich Brüks nie großen Illusionen hingegeben, was den Edelmut der menschlichen Rasse anging. Dennoch war er überrascht, wie schnell der Himmel wieder wie eh und je aussah und die Titelseiten sich erneut mit zänkischem Kleinkram füllten. Menschen waren wie Frösche, so schien ihm: Nahm man etwas aus ihrem Blickfeld, war es sofort vergessen.

Inzwischen musste die Theseus längst Pluto passiert haben. Falls die Crew auf etwas gestoßen war, so hatte Brüks zumindest nichts davon gehört. Er für seinen Teil war es leid zu warten, sei es auf Monster oder Heilsbringer, er hatte diesen Schwebezustand satt. Er war es leid zu töten, und er war es leid, innerlich zu sterben.

Vierzehn Jahre.

Wenn die Welt sich nur beeilen und endlich untergehen würde.

Den Morgen verbrachte er so, wie er es während der vergangenen zwei Monate immer gehalten hatte: Er ging die Fallen ab und stocherte in dem herum, was er darin vorfand, in der schwachen Hoffnung, ein noch unverfälschtes Stück Natur zu finden.

Bei Sonnenaufgang zog sich der Himmel bereits zu, noch bevor sein Fahrrad sich anständig aufgeladen hatte; er ließ es zurück und lief den Transekt zu Fuß. Es war beinahe schon Mittag, als er zu dem Hasen kam und feststellen musste, dass ihm jemand zuvorgekommen war. Ein anderer Jäger hatte die Falle geleert und noch nicht einmal den Anstand besessen, ein paar Blutspritzer für eine Analyse zurückzulassen.

Immerhin schlängelte sich in Nummer 18 noch die Strumpfbandnatter: ein Männchen, von dieser neuen, braun gemusterten Sorte, die auf dem Boden kaum auszumachen war. Sie wand sich in Brüks’ Griff, umklammerte seinen Unterarm wie ein geschuppter Tentakel und rieb ihm mit der Duftdrüse ihren Gestank auf die Haut. Ohne allzu große Hoffnung entnahm Brüks ein paar Mikroliter Blut und steckte die Probe in den Barcoder an seinem Gürtel. Dann nahm er ein paar gierige Züge aus seiner Feldflasche, während das Gerät seinen Zauber wirkte.

Von der Mittagshitze angefacht, war der Tornado des Klosters auf der anderen Seite der Wüste auf das Dreifache seiner frühmorgendlichen Größe angewachsen. Aus dieser Entfernung sah man nicht mehr als einen braunen Faden, ein harmlos wirkendes Rauchfähnchen. Wer allerdings dem Trichter zu nahe käme, würde über das halbe Tal verteilt werden. Erst letztes Jahr hatte so eine rachsüchtige ugandische Theokratie ein TransAt-Shuttle von Dartmouth gehackt und in ein Wirbelkraftwerk in einem von Johannesburgs Außenbezirken geschickt. Viel mehr als ein paar Metallbolzen und Zähne waren auf der anderen Seite nicht herausgekommen.

Mit einem traurigen Fiepen gab der Barcoder auf: zu viele genetische Artefakte, um etwas Brauchbares auslesen zu können. Brüks seufzte enttäuscht, war aber keineswegs überrascht. Das kleine Gerät konnte im kleinsten Kotspritzer jeden Darmparasiten dingfest machen oder anhand eines Gewebefitzelchens jeden beliebigen Wirtsorganismus identifizieren – solange das Gewebe nicht kontaminiert war, was heutzutage kaum noch vorkam. Immer waren die Proben mit irgendwelchem Zeug verunreinigt, das da eigentlich nicht hineingehörte. Virale DNA, konstruiert für einen höheren Zweck, aber zu unspezifisch, um ihrer Aufgabe treu zu bleiben. Spezielle Marker-Gene, die Tiere im Dunkeln bei Kontakt mit einem bestimmten Umweltgift aufleuchten ließen – meist ein Gift, an dem die EPA schon vor fünfzig Jahren das Interesse verloren hatte. Sogar DNA-Computer, maßgeschneidert für besondere Aufgaben, die nun durch die natürlichen Genome streunten und ihre schmutzige Trampelspur auf dem vormals unberührten Untergrund hinterließen. Die Hälfte der Technik dieses Planeten schien mittlerweile genetisch codiert und abgespeichert zu werden. Wenn man zum Beispiel einen Lungenwurm sequenzieren wollte, musste man damit rechnen, anstelle eines Proteincodes die technischen Daten für das Abwassersystem von Denver zu erhalten.

Aber das war schon okay. Brüks war ein alter Mann, und er hatte schon Feldforschung betrieben, als Menschen die Dinge vor ihren Augen noch benennen konnten, indem sie sie ansahen.Sieh dir das Kinnschild an. Zähl die Strahlenflossen, die Haken am Scolex. Benutz verdammt noch mal deine Augen. Wenn du dann Mist baust, kannst du dir wenigstens nur selbst die Schuld geben, nicht irgendeiner strohdummen Maschine, die nicht zwischen Cytochromoxidase und einem Sonett von Shakespeare unterscheiden kann. Und wenn die Viecher, die du identifizieren willst, zufällig in anderen Viechern leben, dann tötest du den Wirt und schlitzt ihn einfach der Länge nach auf. Auch darin war Brüks gut, wenn er sich mit diesem Teil auch nie wirklich hatte anfreunden können.

»Schhhh … tut mir leid«, raunte er nun seiner jüngsten Beute zu, »es wird nicht wehtun, das verspreche ich dir.« Mit diesen Worten ließ er die Schlange in den Tötungssack fallen. Allmählich wurde es ihm zur Gewohnheit, seinen Opfern, die kein Wort verstanden, tröstliche Lügen zuzuflüstern. Es wurde Zeit, dass er erwachsen wurde. Hatte in all den Jahrmilliarden, in denen das Leben auf diesem Planeten nun schon seine Kreise drehte, je irgendein Räuber seine Beute zu trösten versucht? War je ein »natürlicher« Tod so rasch und schmerzlos gewesen wie die Tode, die Dan Brüks um eines größeren Ziels willen austeilte? Und doch ertrug er nur mit Mühe die kleinen, zappelnden, sich windenden Silhouetten in dem durchscheinend weißen Plastiksack oder das leise Getrappel und Gezische, wenn die schlichten Gehirne ihre plötzlich so schrecklich tauben Körper zu sinnloser Flucht antrieben.

Wenigstens war ihr Tod nicht sinnlos, sondern diente einem höheren Zweck, der über Krankheit oder den Magen eines Beutejägers hinausging. Durch dieses spezielle Forschungsprojekt, dessen erster und einziger Wissenschaftler er war, sollten genau die Populationen, von denen er Proben sammelte, mit den Mitteln der Biologie gerettet werden. Dieses Sterben kam echtem Altruismus so nahe, wie es in Darwins Universum nur möglich war.

Was für ein ausgemachter Blödsinn, widersprach eine leise Stimme, die sich in solchen Momenten anscheinend immer einmischte. In Wahrheit geht es dir doch nur um ein paar Veröffentlichungen mehr, die du aus dem Projekt herauspressen willst, bevor man dir den Geldhahn zudreht. Selbst wenn du jede einzelne Abweichung in sämtlichen Gattungen festnageln würdest, selbst wenn du den Artenschwund bis auf Molekülebene quantifizieren könntest, würde das keinen Unterschied machen.

Es interessiert einfach niemanden. Das Einzige, wogegen du kämpfst, ist die Realität.

Die Stimme war über die Jahre zu seinem steten Begleiter geworden. Er ließ sie zetern. Mag ja sein, erwiderte er, als die Tirade abebbte. Aber wir sind nun mal ein verdammter Biologe. Und so bereitwillig er in allen anderen Punkten auch seine Schuld eingestand – über diese eine Tatsache konnte Dan Brüks keine Scham empfinden.

Als er zum Lager zurückkam, hatte das Ding aufgehört, eine Schlange zu sein. Die schlaffen, leblosen Überreste breitete er auf dem Sezierbrett aus. Vier Sekunden mit dem Scaser, dann war alles von der Kehle bis zur Kloake ausgenommen. Zwanzig weitere, und Verdauungstrakt, Luftröhre und Lunge schwammen fein säuberlich getrennt in Glasschalen. Die meisten Parasiten würde er im Darm finden; Brüks belud das Mikroskop und machte sich an die Arbeit.

Zwanzig Minuten später – die ganze Bagage aus Nematoden und Bandwürmern war erst zur Hälfte katalogisiert – explodierte etwas in der Ferne.

Jedenfalls hörte es sich so an: wie ein leises, gedämpftes Wwwwuuuumpfeiner weit entfernten Militäroperation. Brüks riss sich von seiner Arbeit los und starrte durch die dürren, knorrigen Bäume hinaus in die Wüste.

Nichts. Nichts. Ni…

Moment mal …

Das Kloster. Er griff nach seiner Schutzbrille am Crossrad und zoomte heran. Als Erstes sprang ihm der Tornado ins Auge …

… ganz schön heftig, das Ding, dafür, dass es schon so spät ist …

… aber dann fiel ihm rechts davon etwas auf: Direkt über dem Kloster kräuselte sich eine braune Rauchwolke und löste sich in dem schwächer werdenden Licht auf.

An dem Gebäude war kein Schaden zu erkennen, jedenfalls nicht an den Außenmauern, die er von hier aus sehen konnte.

Was treiben die nur da drüben?

Offiziell ging es dort um Physik, um Kosmologie. Irgendein Hochenergiezeug. Doch dem Vernehmen nach war alles rein theoretisch – der Bikamerale Orden führte keine wirklichen Experimente durch, soweit Brüks wusste. Na ja, wer tat das heute schon noch? Immer waren es Maschinen, die den Himmel absuchten, Fragen stellten und die entsprechenden Versuche entwarfen. Der Welt des Fleisches blieb offenbar nur die Nabelschau: in der Wüste zu sitzen und über den Antworten zu brüten, die einem die Maschinen vorsetzten. Wobei die meisten Menschen den Begriff Analyse vorzogen.

Ein Schwarmbewusstsein, das in Zungen sprach – so machten es angeblich die Bikameralen. Mit einer Art Bioradio in ihren Köpfen, einem vereinten Corpus callosum und mit durch Mikrotubuli tanzenden Elektronen, irgend so ein Quantenverschränkungsding. Rein organisch, um das Verbot von Körper-Körper-Schnittstellen zu umgehen. Wenn die wollten, konnten sie eine Art Hahn aufdrehen und eins werden. In dieser Geistverschmelzung erlebten sie dann die Entrückung und wälzten sich unter wildem Geheule sabbernd auf dem Boden herum, derweil sich ihre Akolythen Notizen machten – und am Ende kam dabei irgendwie eine Neufassung des Amplituhedrons heraus.

Angeblich gab es für den ganzen Hokuspokus eine rationale Erklärung. Die Subroutinen für den Musterabgleich in der linken Hirnhälfte waren anscheinend über das Erkennen hinaus verstärkt, die fehleranfällige Wetware, durch die man Gesichter in Wolken oder den Zorn Gottes in Gewitterstürmen sah, optimiert. Durch diese Feinjustierung, haarscharf an der Grenze zwischen Erkenntnis und Pareidolie, ließen sich offenbar fundamentale Erkenntnisse gewinnen, wobei nur die Bikameralen die Muster von den Halluzinationen unterscheiden konnten. So hieß es jedenfalls. Für Brüks klang das alles wie ausgemachter Blödsinn.

Immerhin ließ sich gegen die Nobelpreise schwerlich etwas einwenden.

Vielleicht gab es ja da drüben doch eine Art Teilchenbeschleuniger. Irgendetwas mussten sie mit der vielen Energie schließlich anstellen – niemand brauchte ein Wirbelkraftwerk von industriellen Ausmaßen, um Küchengeräte zu betreiben.

Hinter sich hörte er Instrumente klirren, und Brüks fuhr herum.

Sein Scaser lag im Dreck. Die ausgenommene Schlange lag mit dem geöffneten Bauch nach oben auf dem Arbeitstisch und sah ihn an. Die gespaltene Zunge schoss vor und zurück.

Nerven, sagte sich Brüks.

Der Kadaver zitterte, als ob er durch den langen Schnitt in den Bauch ausgekühlt wäre. Entlang der Wunde kräuselte sich das Gewebe, eine langsame peristaltische Welle lief durch den ganzen Körper.

Eine galvanische Reaktion der Haut, mehr nicht.

Der Kopf der Schlange schnellte in die Höhe. Glasige Augen blickten nach rechts und links, ohne ein Blinzeln. Die schwarz-rote Zunge schmeckte nach der Luft.

Das Tier kroch aus dem Gefäß heraus.

Was eine mühsame Angelegenheit war. Immer wieder versuchte die Schlange herumzurollen und auf dem Bauch weiterzukriechen – nur dass sie keinen Bauch mehr hatte. Schuppen und Muskeln waren auf der Unterseite sämtlich durchtrennt. Zwar gelang ihr immer wieder eine halbe Drehung, was aber zu nichts führte, und so kämpfte sich die Schlange auf dem Rücken liegend weiter – die Augen aufgerissen, züngelnd, ausgeweidet.

Schließlich erreichte sie die Tischkante, bäumte sich kurz auf und suchte nach einem Halt, fiel dann hinunter in den Staub. Brüks’ Stiefel schoss vor und zermalmte den Kopf auf dem felsigen Boden, bis nichts mehr übrig war als ein schmieriger Klumpen. Der Rest wand sich immer noch im Dreck, unter dem sinnlosen Trommelwirbel der Nerven setzten die Muskeln ihren Tanz fort. Aber wenigstens war nichts mehr übrig, das – bitte, bitte, Gott – fühlen konnte.

Reptilien waren zähe Kreaturen. Mehr als einmal hatte Brüks Klapperschlangen Stunden vom nächsten Fahrzeug entfernt auf der Straße gefunden, das Rückgrat zerquetscht, die Kiefer zerschmettert, der ganze Kopf eigentlich nur noch blutiger Matsch – und trotzdem hatten sie sich noch bewegt, waren auf den nächsten Graben zugekrochen. Der Tötungssack sollte einen derart ausgedehnten Todeskampf eigentlich verhindern. Er machte sich den Stoffwechsel der Tiere zunutze, Lunge und Kapillaren transportierten das Gift zu jeder einzelnen Zelle in jedem Gewebe, der Tod kam rasch und schmerzlos, und vor allem vollständig. Damit so ein Vieh nicht eine Stunde nachdem man seine Innereien ausgekratzt hatte, wieder aufwachte, einen ansah und auch noch zu fliehen versuchte.

Klar gab es heutzutage Zombies. Vampire sowieso. Aber die Untoten des 21. Jahrhunderts waren durchweg menschlich. Es gab für niemanden einen Grund, eine Zombie-Schlange zu erschaffen. Bei dieser Sache hier musste es sich um eine weitere Kontamination handeln, irgendeine fehlgeleitete, gentechnische Schlamperei. Vielleicht waren die Rezeptoren in den Muskelspindeln blockiert, und das hatte eine Kaskade motorischer Signale ausgelöst. Etwas in der Art musste es sein.

Aber trotzdem.

Er hatte wirklich gehofft, er würde mit den Gespenstern hier draußen besser zurechtkommen.

Zum einen gab es in der Wüste gar nicht so viele Gespenster. Und außerdem hatte er es hier mit Tieren zu tun. Manchmal wünschte er, auch nur halb so viel für die Tausende von Menschen empfinden zu können, die er auf dem Gewissen hatte.

Auch diese Doppelmoral ließ sich natürlich durch biologische Prinzipien erklären. Der Bauch war nun mal kein Langstreckensensor, Schuldgefühle nahmen exponentiell mit der Entfernung ab. So viele nebulöse Zwischenschritte trennten Daniel Brüks’ Taten von ihren Folgen, dass Gewissensfragen zur puren Theorie gerieten. Außerdem hatte er wahrlich nicht allein gehandelt – die Schuld verteilte sich über das ganze Team. Und zumindest ihre Absichten waren über jeden Zweifel erhaben gewesen.

Niemand hatte ihnen Vorwürfe gemacht, jedenfalls nicht direkt, nicht zu Beginn. Man verurteilt nicht den ahnungslosen Hammer, mit dem jemandes Schädel eingeschlagen wurde. Brüks’ Arbeit war durch andere missbraucht worden, und diese Leute mit ihren bösen Absichten trugen die Schuld, nicht er. Aber jene Täter waren nie gefasst und bestraft worden, und immer dringlicher war das Bedürfnis nach einem Schlussstrich geworden. Von Wie konnten sie nur bis Wie konntest du das zulassen war es nur ein kleiner Schritt.

Niemand hatte Anklage erhoben. Nicht einmal für einen Rausschmiss hatte es gereicht. Aber irgendwann fühlte er sich auf dem Campus einfach nicht mehr willkommen.

Die Natur dagegen! In der Natur war er immer willkommen, sie fällte kein Urteil, kümmerte sich nicht um Richtig oder Falsch, Schuld oder Unschuld. Ihr ging es einzig darum, was funktionierte und was nicht. Mit egalitärer Gleichgültigkeit nahm sie jedes Wesen auf. Man musste nur nach ihren Regeln spielen und durfte keine Gnade erwarten, wenn die Dinge nicht so liefen wie geplant.

Also hatte sich Dan Brüks ein Sabbatjahr genommen, Anträge geschrieben und war ins Feld aufgebrochen. Die Drohnen zur Probenentnahme hatte er genau wie die künstlichen Insekten daheim gelassen, keine autonome Technik eingepackt, bei der er sich nur noch die Nase kratzen musste, weil menschliche Arbeit überflüssig geworden war. Manchen hatte er ihre Erleichterung angesehen, andere hatten bei seinem Auszug in den Himmel gestarrt. Auch sie hatte er zurückgelassen. Seine Kollegen würden ihm vergeben oder auch nicht. Die Außerirdischen würden zurückkehren oder auch nicht. Niemals aber würde die Natur ihn zurückweisen. Und selbst in einer Welt, in der gerade die allerletzten Reste des natürlichen Lebensraums verschwanden, gab es nie einen Mangel an Wüsten. Seit über hundert Jahren wuchsen sie nun schon wie ein langsames Krebsgeschwür.

Daniel Brüks ging in die Wüste, und die Wüste hieß ihn willkommen, und er würde alles töten, was er nur finden konnte.

Als er die Augen aufschlug, blickte er auf panisch blinkende rote Lämpchen. Ein Drittel des Netzwerks war ausgefallen, während er geschlafen hatte. Vor seinen Augen gaben drei weitere Fallen den Geist auf, ganz plötzlich war ein Verstärker offline. Kurz darauf fiepten 22 Fallen kläglich – eine rasch näher kommende Wärmespur, groß wie ein Mensch – und verschwanden dann von der Karte.

Mit einem Schlag war Brüks hellwach und ging die Signale durch. Von West nach Ost wurde das Netzwerk dunkel, jeder Knoten war ein Schritt, eine Spur schwarzer, zerrissener Fußstapfen zog sich durch das Tal.

Und kam direkt auf ihn zu.

Er rief das Satelliten-Wärmebild auf. Wie eine dünne Vene zeichneten sich die Überreste der alten 380 am nördlichen Bildrand ab, die schale Restwärme der gestrigen Sonnenstrahlen sickerte noch aus dem rissigen Asphalt. Flüchtige Wärmeschwaden und mikroklimatische Hotspots, die seit dem Einbruch der Nacht langsam abkühlten, flimmerten an der Grenze zum Wahrnehmbaren. Ansonsten gab es nichts als den gelben Heiligenschein seines Zeltes, genau in der Mitte.

Nummer 21 meldete eine plötzliche Erwärmung und verschwand.

Entlang der Linien mit den Fallen gab es hin und wieder Kameras. Brüks hatte nie viel Verwendung dafür gehabt, doch sie waren Teil des Gesamtpakets gewesen. Eine saß auf einem Verstärker, der zufällig in Sichtweite von Nummer 19 platziert war. Er rief den Feed auf: StarlAmp, der Sternenlichtverstärker, malte die nächtliche Wüste in Blau- und Weißtönen, eine surrealistische Mondlandschaft voller Kontraste. Brüks suchte das Bild ab …

… und hätte beinahe die flüchtige Bewegung übersehen: rechts von der Mitte, verschwommen, kaum wahrnehmbar. Die Kamera war tot, noch bevor Nummer 19 überhaupt eine Erwärmung registrierte.

Der Verstärker fiel aus. Ein Dutzend weiterer Feeds erlosch im selben Augenblick. Er starrte auf die letzte eingefrorene Aufnahme, seine Gedärme krampften sich zusammen, und das Blut gefror ihm in den Adern.

Schneller als ein Mensch, aber so viel weniger. Und im Inneren nur ein kleines bisschen kälter.

Die Feldsensoren waren natürlich nicht empfindlich genug, um diesen Unterschied zu registrieren, dafür müsste man in den Kopf hineinschauen. Irgendwann würde man die Abweichung finden, ein Zehntel Grad vielleicht. Im Hippocampus gäbe es nur Dunkelheit. Grabesstille im präfrontalen Cortex. Dann würden einem vielleicht die neuen Nervenbahnen auffallen, die wachstumsbeschleunigten neuronalen Netzwerke, die das Mittelhirn mit dem Motorcortex verbinden, Hochgeschwindigkeitsleitungen, die den anterioren cibularen Gyrus umgehen. Und man würde auf die zusätzlichenGanglien stoßen, wie Tumore mit der Sehbahn verwachsen, auf rastloser Suche nach verräterischen Mustern im Strom der Nervenimpulse, nach den neuronalen Entsprechungen von Suchen und Zerstören.

Viel leichter könnte man den Unterschied mit dem bloßen Auge erkennen: Sah man dem Ding ins Gesicht, dann war da nichts, was den Blick erwiderte. Natürlich wäre man längst tot, wenn man so weit gekommen war. Es würde einem keine Zeit zum Betteln lassen. Es würde das Flehen nicht einmal verstehen. Es würde einen einfach töten, falls sein Auftrag so lautete, effizienter als jedes Wesen mit Bewusstsein, denn da war nichts mehr übrig, was es daran gehindert hätte: keine Zweifel, kein Zögern, noch nicht einmal das simple, Glukose fressende Bewusstsein seiner selbst. Das Ding war auf das Dasein eines Reptils reduziert, dabei unbeirrbar und entschlossen.

Und inzwischen keine zehn Kilometer mehr entfernt.

Etwas in Daniel Brüks spaltete sich auf. Die eine Hälfte hielt sich krampfhaft die Ohren zu und wollte das alles nicht wahrhaben – scheiße noch mal wieso sollte jemand das muss ein Fehler sein –, aber die andere Hälfte erinnerte sich an die menschliche Vorliebe für Sündenböcke, an die Tausende, die indirekt durch den dummen alten Feigling Brüks gestorben waren, vielen Dank auch, an die nicht allzu geringe Wahrscheinlichkeit, dass wenigstens eines dieser Opfer Angehörige mit genügend finanziellen Mitteln hinterlassen hatte, um einen militärtauglichen Zombie auf ihn anzusetzen.

Wie konnten sie nur.

Wie konntest du das nur zulassen …

Das Crossrad zischte unter ihm, als die Reifen Luft holten. Für einen Augenblick brachte ihn das Ladekabel aus dem Gleichgewicht, dann riss er sich los. Er raste auf eine Lücke zwischen den Bäumen zu, dahinter eine Geröllhalde hinunter, geriet ins Schleudern. Unten angekommen, drehte sich die Wüste um ihn, in dem Schlick fand er keinen Halt. Beinahe wäre schon der kleine Strom sein Ende geworden. Er riss das Rad herum, kämpfte verzweifelt darum, es unter Kontrolle zu bekommen, und wie durch ein Wunder hielten ihn die herrlichen Marshmallowreifen aufrecht. In Höchstgeschwindigkeit fuhr er ostwärts über den rissigen Talboden.

Ein Salbeistrauch peitschte ihm über die Haut. Er verfluchte die eigene Blindheit; kein Student, der etwas auf sich hielt, ging heutzutage ohne Klapperschlangen-Rezeptoren ins Feld. Aber Brüks war ein alter Mann, ein nachtblinder Simplex. Noch nicht einmal die Stirnlampe wagte er einzuschalten. So brauste er durch die Nacht, brach durch versteinerte Sträucher, rumpelte über unerwartete Felsen. Mit einer Hand tastete er in den Satteltaschen nach der Schutzbrille und rammte sie sich ins Gesicht. Grün und körnig sprang ihm das Bild der Wüste ins Auge.

0247, meldete ihm die Brille vom Rand des Blickfelds. Noch drei Stunden bis Sonnenaufgang. Er versuchte, sein Netzwerk anzupingen, aber falls davon noch etwas übrig war, war es außer Reichweite. Er fragte sich, ob der Zombie inzwischen das Lager erreicht hatte und wie knapp er ihn verfehlt hatte.

Spielt keine Rolle, du Scheißmonster, du kriegst mich nicht. Nicht zu Fuß, noch nicht mal als Untoter. Gehab dich wohl.

Dann überprüfte er die Ladeanzeige, und wieder rutschte ihm das Herz in die Hose.

Ein bewölkter Himmel. Eine alte Batterie, das Haltbarkeitsdatum schon um ein Jahr überschritten. Eine Ladedecke, die seit einem Monat nicht mehr gereinigt worden war.

Zehn Kilometer würde das Crossrad noch schaffen. Allerhöchstens fünfzehn.

Er ging in die Bremsen und riss das Rad herum; Dreck spritzte hoch. Hinter ihm zog sich unübersehbar eine Spur der Verwüstung durch die Landschaft – zerknickte Pflanzen, brüchige, sonnengedörrte Lehmplatten vom Grund des ehemaligen Sees, die er bei seiner Fahrt aufgeworfen hatte. Er lief zwar weg, aber verstecken konnte er sich nicht. So lange er in dieser Talebene blieb, würden sie ihn finden.

Wer überhaupt?

Er wechselte von StarlAmp zu Infrarot und zoomte heran.

Das da.

Ein winziger Funke flackerte vor dem weit entfernten Abhang, wo sich sein Lager befinden musste.

Allerdings war er weniger weit weg. Und er kam rasch näher. Weiß Gott, das Ding konnte rennen.

Brüks riss sein Rad wieder herum und kickte es in Fahrt. Beinahe hätte er dabei den zweiten Funken übersehen, der kurz in seinem Gesichtsfeld aufblitzte, so schwach war dieser.

Den dritten dagegen sah er nur allzu deutlich. Und den vierten. Zu weit entfernt, um eine Form zu erkennen, aber die Temperatur entsprach der von Menschen. Und alle kamen sie näher.

Fünf, sechs, sieben …

Scheiße.

Sie hatten sich entlang des Tals verteilt, soweit er es erkennen konnte.

Was hab ich getan, was hab ich nur getan, es war ein Unfall, wissen die das denn nicht? Herrgott, ich war es doch eigentlich gar nicht, ich hab niemanden umgebracht, ich hab nur … die Tür offen gelassen …

Zehn Kilometer. Dann würden sie über ihn herfallen wie ausgehungerte Wölfe.

Das Crossrad machte einen Satz nach vorn. Brüks wählte den Notruf: nichts. Der ConSensus war durchaus aktiv, aber taub gegenüber seinen Hilferufen; aus irgendeinem Grund konnte Brüks surfen, aber nichts senden. Auf den Satellitenwärmebildern waren seine Verfolger immer noch nicht zu sehen – was die Himmelsaugen betraf, war er hier unten ganz allein mit dem Mikrowetter und dem Kloster.

Das Kloster.

Dort war man sicher online. Man würde ihm helfen können. Zumindest lebten die Bikameralen hinter Mauern. Alles war besser, als nackt durch die Wüste zu rennen.

Er hielt auf den Tornado zu. In der Sichtverstärkung sah dieser aus wie ein grünes Monster, in weiter Ferne an den Boden gefesselt, und wie immer war sein leises Röhren zu hören. Durch die Brille konnte er auch das Kloster gut erkennen, wie es sich in die Schatten des riesigen Kraftwerks duckte. Vor einem Wirrwarr aus Terrassen und Treppenaufgängen brannten zahllose stecknadelgroße Sterne, so grell, dass es beinahe in den Augen schmerzte.

Drei Uhr in der Früh, und jedes Fenster hell erleuchtet.

Inzwischen dröhnte der Strudel schon wie ein ganzer Ozean, mit jeder Umdrehung der Räder wurde er lauter. Er klebte auch nicht länger am Horizont. In StarlAmp geriet er zur Feuersäule, groß genug, das Himmelsgewölbe zu stützen oder niederzureißen. Brüks legte den Kopf in den Nacken: Obwohl noch einen Kilometer entfernt, schien der Trichter über ihm zu hängen. Jeden Augenblick würde er sich losreißen, abheben und auf den Boden hinunterdonnern – da oder dort oder scheiße, genau hier – und wie der Finger eines zürnenden Gottes die Welt entzweireißen.

Brüks blieb weiter auf Kurs, auch wenn das Monster vor ihm unmöglich aus Luft und Wolken bestehen, unmöglich aus etwas so … so Weichem gemacht sein konnte. Es war ein gänzlich anderes Phänomen, etwas Wahnsinniges, ein dem Alten Testament entsprungener Ereignishorizont, der da die Gesetze der Physik auslöschte. Das Ding fing den Schein des Klosters ein, verschlang dieses Licht und schredderte es mit allem anderen, was ihm in die Quere kam. Eine dünne, flehende Stimme in Daniel Brüks bettelte darum umzukehren, unmöglich konnten doch die Kreaturen auf seinen Fersen schlimmer sein als dies hier, denn was immer ihn verfolgte, hatte nur Menschengröße. Vor ihm jedoch brüllte buchstäblich der Zorn Gottes.

Doch das zaghafte Stimmchen erhob sich erneut und stellte eine Frage, die Brüks nun nicht mehr losließ: Warum läuft dieses Ding überhaupt auf Hochtouren?

Das hätte nicht so sein dürfen. Wirbelkraftwerke standen niemals ganz still, wurden aber in der abkühlenden Nachtluft schwächer, diffuser, bis hin zum Leerlauf, bis die aufgehende Sonne ihnen wieder einheizte. Einen Trichter dieser Größe und zu dieser späten Stunde derart heiß laufen zu lassen, verbrauchte fast mehr Energie, als man herausbekam. Die Kühlaggregate mussten bereits überkochen … und inzwischen war Brüks nahe genug, um in dem ohrenbetäubenden Dröhnen noch ein anderes Geräusch zu hören, das kontrapunktische Kreischen großer Metallflügel, die sich über die zugelassene Belastung hinaus bogen …

Das Licht im Kloster erlosch.

Seine Brille brauchte einen Moment, um die Verstärkung wieder anzugleichen; aber in diesem Augenblick der reinen, erhellenden Finsternis erkannte Daniel Brüks endlich, welch ein Narr er war. Jetzt endlich sah er die stecknadelgroßen Wärmespuren vor ihm, die genau wie diejenigen hinter ihm näher rückten. Er sah einen Gegner, der mächtig genug war, um die Überwachungssatelliten im geostationären Orbit zu hacken, es aber aus irgendeinem Grund nicht fertigbrachte, sein uraltes Telonics-Netzwerk auszuschalten. Er sah eine vollautomatische Kriegsmaschine, unbarmherzig wie ein Haifisch, schnell wie ein Supraleiter, die sich aber schon Kilometer vor ihrem Eintreffen selbst verriet, obwohl sie doch mit Leichtigkeit alle Fallen umgehen und Brüks im Schlaf hätte töten können.

Er sah sich selbst aus der Vogelperspektive, wie er über ein fremdes Spielbrett stolperte, in einem Netz zappelte, das sich rasch zusammenzog, allerdings gar nicht für ihn ausgelegt worden war.

Die wissen nicht mal, dass ich hier bin. Die sind hinter den Bikameralen her.

Abrupt hielt er an. Fünfzig Meter vor ihm hob sich das niedrige Kloster dunkel vor den Sternen ab. Alle Fenster mit einem Mal verriegelt, alle Zugänge mit einem Schlag finster, schien es ein Teil der Landschaft zu sein – eine Felsformation, die aus tieferen Gesteinsschichten aufgestiegen war und die Oberfläche durchbrochen hatte. Dahinter, kaum hundert Meter entfernt, bäumte sich der Tornado auf wie ein wirbelnder Riss in der Raumzeit. Sein zorniges Gebrüll erfüllte die Welt.

Von allen Seiten kamen die kleinen Flammen in der Dunkelheit nun näher.

0313, erinnerte ihn seine Brille. Vor weniger als einer Stunde hatte er noch geschlafen. Längst nicht genug Zeit, um sich mit dem bevorstehenden Tod abzufinden.

Sie sind in Gefahr, teilte ihm plötzlich die Brille mit.

Brüks blinzelte. Beharrlich leuchtete die Botschaft in kleinen roten Buchstaben am Rand seines Gesichtsfelds, dort, wo die Uhrzeit hätte stehen müssen.

Machen Sie schon. Die Tür ist offen.

Er spähte in die Dunkelheit jenseits der Befehlszeile, suchte die Klosterfassade ab. Da, auf Bodenhöhe, links neben einer breiten Treppe, die zum Haupteingang hinaufführte. Eine Öffnung, gerade groß genug für einen Menschen. Dort brannte etwas mit Körpertemperatur. Das Etwas hatte Arme und Beine. Es winkte.

ENDE DER LESEPROBE