Bloß nicht mit einem Duke verlobt - Jenni Fletcher - E-Book

Bloß nicht mit einem Duke verlobt E-Book

Jenni Fletcher

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Beschreibung

Ein Duke bringt Ärger, zwei Dukes eine Katastrophe

Caroline Foyle hat es satt, Debütantin zu sein. Nach ihrem skandalösen Ausreißversuch, der beinahe in einer Katastrophe geendet hätte, möchte sie für eine sehr lange Zeit keinen Ballsaal mehr betreten und keine Verehrer mehr empfangen. Doch auch wenn Caro nirgends lieber wäre als auf dem Land, fernab von den scharfen Augen und der lebhaften Fantasie der Londoner Gesellschaft, kann sie die Stadt jetzt unmöglich verlassen. Das würde nur noch mehr unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Also willigt sie ein, bis zum Ende der Saison zu bleiben – wie schwer kann es sein, für ein paar Wochen einer Verlobung aus dem Weg zu gehen? Doch als ein gut aussehender, arroganter Duke und sein äußerst charmanter Halbbruder in das Haus nebenan einziehen, stehen die Chancen nicht schlecht, dass die Liebe sich doch noch heimtückisch bei ihr einschleicht ...
Amüsant, erfrischend feministisch und doch wunderbar romantisch: Jenni Fletchers süße Regency-Liebeskomödie mit einer sehr modernen Protagonistin ist der perfekte Lesestoff für alle Fans von Outlander und Bridgerton.

Die Earl-und-Duke-Reihe:

Wer braucht schon einen Earl zum Glück? (Band 1)

Bloß nicht mit einem Duke verlobt (Band 2)

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Seitenzahl: 426

Veröffentlichungsjahr: 2024

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JENNI FLETCHER

BLOSS NICHT MIT EINEM

DUKE VERLOBT

Aus dem Englischen

von Bettina Obrecht

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Erstmals als cbt Taschenbuch November 2024

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© Jenni Fletcher 2023

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Two Dukes and a Debutante« bei Penguin Books, London,

in der Verlagsgruppe Penguin Random House UK.

Aus dem Englischen von Bettina Obrecht

Lektorat: Julia Przeplaska

Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg,

basierend auf einer Vorlage von Lee Avison / Trevillion Images

kk · Herstellung: DiMo

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-32508-4V001

www.cbj-verlag.de

Für Mickey B. & Mimi

Bedenke wohl, wie du dein Herz verschenkst!

Jane Austen, Northanger Abbey

Prolog

APRIL1816

REDCLIFFEHALL, CLEVELAND

Jeder, der Caro – Caroline Foyle – als junges Mädchen kennenlernte, erkannte eines sofort: Sie war zu Höherem bestimmt. Natürlich nicht wirklich sie selbst als Person (sie war ja schließlich nur ein Mädchen), aber sie würde auf jeden Fall die Gefährtin eines einflussreichen Ehegatten werden. Ihre Gutmütigkeit, ihre vielseitige Begabung, ihre Gefälligkeit, vor allem natürlich ihre außergewöhnliche Schönheit ließen erwarten, dass sie eine glänzende, vielleicht sogar eine grandiose Partie machen würde. Die Tatsache, dass sie offenbar kaum von klaren eigenen Meinungen oder gar von irgendwelchen persönlichen Interessen belastet war, sprach ebenfalls dafür. In anderen Worten: Kurz vor Beginn der Londoner Ballsaison war Caro eine Debütantin wie aus dem Bilderbuch.

So sicher waren sich alle in ihrem Glauben an Caros leuchtende Zukunft, dass ihr selbst niemals die geringsten Zweifel gekommen wären. Vielmehr freute sie sich jetzt schon auf jenen Tag, an dem sich das Schicksal, für das man sie erzogen hatte, vollziehen würde, an dem sie ihre Pflicht gegenüber ihrer Familie erfüllen würde, an dem alle voller Stolz auf sie blicken würden: den Tag ihrer Hochzeit. Hoffentlich würde es trotz allem eine Liebesheirat sein – im Grunde war sie ja ein romantisches Mädchen. Nicht ein einziges Mal kam ihr der Gedanke, dass Pflicht und Liebe sich womöglich in die Quere kommen konnten oder dass ihre Ahnungslosigkeit sie zur leichten Beute eines Schürzenjägers und Schurken aus den Reihen der feinen Gesellschaft machten. Sie war noch jung und unschuldig genug, zu glauben, dass trotz aller Hindernisse, die das Leben ihr möglicherweise in den Weg stellte, am Ende alles gut ausgehen würde.

Voller Zuversicht und Vorfreude auf die glücklichen Zeiten, die ihr bevorstanden, sauste Caro also am achten April frühmorgens die Treppen ihres Elternhauses hinunter. Sie war bereit, den ersten Tag ihres restlichen Lebens in Angriff zu nehmen. Der Tag, auf den sie sich praktisch die gesamten achtzehn vorausgehenden Jahre vorbereitet hatte.

»Ich kann es gar nicht glauben – endlich ist es so weit!« Sie riss die Arme hoch, als sie endlich die Eingangshalle erreicht hatte, und drehte eine Pirouette. Dafür handelte sie sich einen vorwurfsvollen Blick ihrer Mutter ein, die in einer Ecke saß, die Füße auf einen Schemel gelegt, mit leidvoller Miene.

»Junge Damen drehen keine Pirouetten, Caro.«

»Tut mir leid, Mutter, aber ich bin so aufgeregt!«

»Junge Damen sollten niemals ihre Aufregung zeigen.«

»Schon gar nicht um so eine Tageszeit.« Ihre Cousine Essie kam sehr viel langsamer die Treppe herunter. »Ich verstehe nicht, warum wir schon so früh aufbrechen müssen. Praktisch mitten in der Nacht.«

»Es ist sechs Uhr.«

»Eben.«

»Aber die Sonne geht schon bald auf.« Carol warf sich ein knöchellanges Wollcape über die Schultern und ließ ihre langen bernsteinblonden Zöpfe unter einer blauen Samtmütze verschwinden. »Ich bin sowieso viel zu aufgeregt, um noch eine Minute länger zu schlafen.«

»Oje, du hast ja Debütantinnenfieber.« Ein garstig klingendes Schnappgeräusch erklang, als Essie ein Paar Handschuhe überzog.

»Wo wir doch nach London fahren, zur Ballsaison! Wir werden in die Gesellschaft eingeführt! Ich könnte platzen, so sehr freue ich mich!«

»Und ich könnte heute einfach im Bett bleiben.«

»Selbstverständlich freut ihr euch.« Caros Mutter schniefte tragisch. »Ein ganzer Sommer voller Feste und Picknicks liegt vor euch. Ihr werdet vollkommen neu eingekleidet und trefft lauter wichtige Persönlichkeiten.« Sie schniefte noch lauter. »Andere haben nicht so viel Glück.«

»Das mit deinen Knöcheln tut mir leid, Mama.« Caro ließ pflichtschuldigst den Kopf hängen. »Es war so ein unglücklicher Sturz.«

»Das war es. Ich bin mir sicher, dass jemand den Koffer woanders hingerückt hat, als ich gerade nicht hinsah.«

»Aber wenigstens hast du keinen bleibenden Schaden erlitten, und der Arzt meint, du kannst später in der Saison nachkommen«, fuhr Caro fort. »Und zumindest haben wir noch Granny, die uns in London unter ihre Fittiche nimmt.«

»Vergiss jedenfalls nicht, mir zu schreiben und mir alles zu erzählen. Das ist natürlich nicht dasselbe, als wäre man persönlich anwesend, aber es ist besser als nichts – und achte auf jeden Fall darauf, dass dabei die neuesten Klatschgeschichten nicht zu kurz kommen.«

»Ich werde mein Bestes geben, Mutter.«

»Ladys, Ihre Kutsche wartet!« Gerade trat Caros Vater durch die Eingangstür. Er trug bereits seinen Reisemantel und den Castorhut und war abfahrbereit. »Seid ihr so weit?«

»Aber ja.« Caro nickte begeistert.

»Dann auf nach London.«

Sie quietschte und küsste ihre Mutter auf die Wangen. »Wir sehen uns in ein paar Wochen, Mama!«

»Ich hoffe, eher früher als später. Nun, selbstverständlich muss ich dich nicht bitten, dich gut zu benehmen, Caro, aber was dich betrifft …« Sie richtete ihren Blick anklagend auf Essie.

»›Stets ein vollkommen damenhaftes Verhalten zeigen, den Mund halten und die Familie nicht blamieren‹, ich weiß.« Essie verdrehte die Augen, dann küsste sie Caros Mutter auf die Wangen. »Du hast mir das oft genug eingetrichtert, Tante Emmeline.«

»Dann pass auf, dass du es nicht vergisst.«

»Ich kann nichts versprechen.«

»Ist bei dir alles in Ordnung?«, flüsterte Caro ihrer Cousine zu, als die beiden Mädchen die Freitreppe vor der Eingangshalle hinuntergingen. Der Himmel war immer noch dunkelblau wie Lapislazuli, aber gerade spähte im Osten die Sonne über den Horizont und reckte ihre orangefarbenen Fühler über das Parkgelände. »Ist dir in diesem Mantel warm genug? Ich könnte noch mal ins Haus laufen und dir einen Umhang holen.«

»Nein, und jetzt hör auf, so nett zu mir zu sein«, fauchte Essie. »Das ist ja, als würde ständig ein miauendes Kätzchen vor einem stehen!«

»Das nehme ich jetzt einfach als Kompliment.« Caro kletterte in die Kutsche. »Wäre es dir lieber, ich wäre gemein?«

»Du weißt doch gar nicht, wie das geht.« Essie warf sich neben sie auf den Ledersitz und ignorierte dabei in voller Absicht zehn Jahre Benimmunterricht. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass du dich freust. Ich bin einfach nervös wegen dieser anderen Sache, die für diese Ballsaison geplant ist.«

»Aber dein Verlobter hat bei seinem Besuch so einen netten Eindruck gemacht. Vielleicht solltest du ihm eine Chance geben?«

»Ganz bestimmt nicht! Ich habe nicht die Absicht, überhaupt jemanden zu heiraten und schon gar keinen Earl, nur weil mein Vater das für eine gute Idee hält. Ich lasse mir irgendetwas einfallen, um diese elende Verlobung aufzulösen.«

»Das glaube ich dir sofort. Wenn du dir etwas fest vorgenommen hast, setzt du es immer durch.« Caro stupste sie mit dem Ellbogen in die Seite. »Und dann bist du frei und eroberst die Welt der Theaterbühnen im Sturm.«

»Genau … und darauf freue ich mich dann!« Essie stupste ihre Cousine zurück. »Und was erwartest du dir von der Ballsaison? Und jetzt sag nicht einfach einen Ehemann.«

»Aber das stimmt doch! Ich bin nicht wie du. Ich bin weder radikal noch ehrgeizig.«

»Das vielleicht nicht, aber du wolltest doch immer reisen.«

»Als ich noch klein war.«

»Und du hast auch geschrieben.«

»Alberne Geschichten, reiner Zeitvertreib.«

»Sie waren nicht albern, sie waren gut. Du wolltest die nächste Ann Radcliffe oder Maria Edgewort werden. Du könntest es immer noch schaffen, wenn du es versuchst.«

»Ich muss mich jetzt um wichtigere Dinge kümmern. Ich bin vollkommen zufrieden damit, das zu tun, was meine Eltern von mir erwarten.«

»Zufrieden vielleicht schon, aber erfüllt es dich auch? Du bist viel talentierter, als du denkst, Caro. Und genau deswegen ist es unverantwortlich, wenn du deine ganzen Begabungen auf so etwas Langweiliges wie die Suche nach einem Ehemann verschwendest.«

»Ich habe die Regeln nicht gemacht.«

»Aber du könntest sie brechen! Oder es wenigstens versuchen!«

»Ich will die Regeln aber gar nicht brechen, und ja, es wird mich erfüllen. Auf ein Leben als Ehefrau wurden wir vorbereitet. Genau dafür haben wir so viele Unterrichtsstunden in Benimm und Konversation und Cembalo und Klavier und Sticken und Hauswirtschaft und Découpage und Malerei und Tanz absolviert, auch wenn ich die Einzige von uns beiden gewesen sein mag, die aufgepasst hat.« Sie seufzte. »Ich möchte einen Ehemann, ein Haus auf dem Land und vier – nein fünf! – Kinder.«

»Fünf?« Essie schauderte.

»Und außerdem einen Reitstall und einen Hund. Und ein paar Kätzchen.«

»Ich wünschte, ich könnte dir meinen Earl abtreten. Dann wären wir beide glücklich.« Essie schloss die Augen und gähnte äußerst undamenhaft. »Genau genommen – warum solltest du so bescheiden sein? Ich wette, du wirst zur Unvergleichlichen der Saison gewählt und eroberst die Herzen aller Männer. Es würde mich nicht überraschen, wenn du einen Duke an Land ziehen würdest. Stell dir das vor, deine Mutter wäre ja vollkommen aus dem Häuschen!«

»Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Meine Mitgift beträgt nicht einmal ein Viertel von deiner.«

»Aber du bist zehnmal hübscher und talentierter und anständiger.« Essie legte ihren Kopf auf Caros Schulter. »Außerdem gibst du ein hervorragendes Kissen ab. Ich glaube nicht, dass es dir die geringsten Schwierigkeiten bereiten wird, dir einen Duke einzufangen.«

»Na gut, dann mache ich das ja vielleicht.« Caro legte ihre Wange auf Essies Kopf und lächelte, als ihr Vater sich auf den gegenüberliegenden Sitz niederließ. Nur allzu gern wollte sie einen intelligenten, netten und am besten auch noch gut aussehenden Ehemann finden, der ihren Eltern zusagte, aber ja – vielleicht hielt das Schicksal tatsächlich einen Duke für sie bereit.

Jedenfalls begann heute das beste Jahr ihres Lebens, da war sie sich ganz sicher.

I

Die Ballsaison

Donner grollte, Blitze durchzuckten die Luft und Jezebel galoppierte am Rand der Klippe entlang. Ihre leuchtend roten Locken wehten hinter ihr her. Sie versuchte, dem Unwetter davonzureiten.

Die dicken Festungsmauern von Burg Rabenstein ragten vor ihr auf, eingehüllt in Nebelschleier, die sich um sie herumwanden wie hungrige Schlangen auf der Suche nach Beute. Aber Jezebel weigerte sich, den abscheulichen Baron Silvestre um irgendetwas zu bitten, auch nicht um Schutz vor dem Unwetter. Dieser Mann war äußerst berüchtigt. Sein Haus aufzusuchen, bedeutete Skandal und Ruin, daran vorüberzureiten dagegen, würde unweigerlich ins Verderben führen.

Sie ruckte an den Zügeln, wollte soeben in Richtung Inland abbiegen, als ein gegabelter Blitz den Baum vor ihr traf und ihn mittendurch spaltete, sodass sich ihr Pferd vor Schreck aufbäumte. Sie hatte kaum Zeit, einen Entsetzensschrei auszustoßen, schon stürzte sie kopfüber in den gähnenden Abgrund.

O wehe ihr! O welch verhängnisvoller Tag!

Die außergewöhnlichen Abenteuer der Jezebel Joyce, einer Lady in Gefahr

Kapitel 1

JUNI1816

LONDON

(NOCHEINMONATBISZUMENDEDERLONDONERBALLSAISON)

Es war der grauenerregendste Schrei, den jemals ein Mensch gehört hatte. Ein schriller, lang gezogener Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, so lang gezogen, dass jeder Hund in der Umgebung des Cavendish Square zu heulen begann und ein Diener in der Küche im unteren Stockwerk eine Schüssel frisch aufgeschlagene Eier fallen ließ. Die Köchin gab daraufhin etwas sehr Unanständiges von sich und das Küchenmädchen brach in Tränen aus.

Drei Stockwerke höher saß diejenige, an die sich der besagte Schrei gerichtet hatte, am Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer und wartete ab, bis der hysterische Anfall ihrer Mutter abklang. Als sie Schritte im Flur gehört hatte, war sie geistesgegenwärtig genug gewesen, sich vorbeugend zwei Bänder in die Ohren zu stopfen, und diese Strategie erwies sich nun als verblüffend wirksam.

»Was hast du mit deinen Haaren angestellt?« Endlich bekam ihre Mutter genügend Luft, um diese Frage zu stellen.

»Guten Morgen, Mama.« Vorsichtig entfernte Caro die Bänder aus ihren Ohren. »Mir war nach einer Veränderung.«

»Du hattest bereits eine Veränderung. Schlimm genug, dass du die Haare so kurz geschnitten hast, aber rosa?«

»Rosa«, bestätigte sie. Weiter konnte sie nichts erklären, denn die Wahrheit hätte wahrscheinlich eine neue Schreiattacke ausgelöst. Zum Glück platzten zwei Hausmädchen in den Raum, die jeweils einen Schürhaken schwangen und dadurch eine willkommene Ablenkung boten.

»Es gibt keinen Grund zur Besorgnis.« Caro hielt beschwichtigend eine Hand hoch. »Meine Mutter hat einen kleinen Schock erlitten, das ist alles.«

»Ja, Miss.« Die Mädchen senkten gleichzeitig ihre Waffen und wechselten enttäuschte und ratlose Blicke, dann wichen sie zurück und verließen den Raum.

»Aber danke, dass ihr mir zu Hilfe gekommen seid! Das ist wirklich beruhigend!«, rief Caro ihnen nach, dann schüttelte sie vorwurfsvoll den Kopf. »Mama, du solltest dich wirklich etwas mäßigen. Großmutters Dienstboten sind mit deinen Ausbrüchen nicht so vertraut wie wir.«

»Nun sind sie es.« Caros Bruder Felix schlenderte in den Raum, eine Tasse dampfenden Kaffee in der Hand.

Ihre Mutter wirbelte zu ihm herum. »Caro hat sich die Haare gefärbt!«

»Ja, tatsächlich.« Er betrachtete seine Schwester verwundert und wischte sich die eigenen sandfarbenen Ponyfransen aus der Stirn. »Rosa?«

»Ja. Eigentlich sollten sie rot werden, aber ich habe die Mischung offenbar nicht lang genug einwirken lassen.«

»Wie hast du das gemacht?«

»Ich habe das Rezept in einem Prospekt gefunden. Es ist eine Mischung aus Lauge, Kurkuma, Safran, Johanniskraut, Zitrone und ein paar anderen Zutaten, die mir jetzt nicht einfallen.« Sie setzte sich gerader hin. »Wie findest du es?«

»Erstaunlicherweise gefällt es mir ziemlich gut. Du siehst wie eine Kirschblüte aus.«

»Sie ist eine Debütantin, keine Pflanze! Welche Debütantin hat bitte schön rosa Haare?«, explodierte ihre Mutter, dann deutete sie anklagend mit dem Finger auf Caro. »Du hast das gemacht, um mich zu ärgern, nicht wahr? Nur weil ich in London bleiben will und du nach Hause fahren möchtest. Es ist dir ganz egal, dass ich meine einzige Tochter nicht als Unvergleichliche der Saison erlebt habe. Alles habe ich verpasst.«

»Du warst rechtzeitig zu Essies Hochzeit mit dem Earl in London.«

»Das war ja nur eine einzige Feier.«

Caro warf ihrem Bruder einen kurzen schuldbewussten Blick zu. Ja, es war jammerschade, dass sich ihre Mutter einen Tag vor Caros und Essies Abreise nach London beide Knöchel verstaucht und dadurch die ersten sechs Wochen der Ballsaison verpasst hatte. Es wäre nett gewesen, den Sommer gemeinsam zu genießen, zumindest wenn man von den hysterischen Anfällen ihrer Mutter absehen konnte. Und wäre sie selbst nicht vor zwei Wochen in die Kutsche eines gewissen Gentleman eingestiegen, dann hätte noch immer die Möglichkeit dazu bestanden. Leider ließ sich die Uhr nicht zurückdrehen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, die sich allerdings als bodenlos schlecht erwiesen hatte, und innerhalb weniger Stunden hatte sich ihr gesamter Lebensweg verändert.

Sie wollte nicht mehr die Unvergleichliche der Ballsaison sein. Sie wollte für eine ganz lange Zeit keinen Ballsaal mehr von innen sehen, und vor allem wollte sie mit einer Sache nichts mehr zu tun haben: dem Londoner Heiratsmarkt! Ihre Hoffnungen, ihre Träume lagen in Trümmern, und was ihr Herz betraf – es war nicht einfach nur gebrochen. Man hatte es ihr herausgerissen, war darauf herumgetrampelt, hatte es herumgekickt und es zu guter Letzt wieder in sie hineingestopft, vermutlich an der falschen Stelle. Sie wollte nur eins: nach Hause, und zwar so bald wie möglich, um ihre Gedanken zu ordnen und dann zu überlegen, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte.

Nichts davon konnte sie ihrer Mutter erklären.

Glücklicherweise verhielt sich das bei ihrer Großmutter anders und deswegen würden sie am folgenden Tag abreisen.

»Ich möchte dich nicht ärgern, Mama, wirklich nicht. London ist einfach nicht ganz das, was ich mir erwartet habe.«

»Bist du immer noch nicht gesund?«

»Doooch.« Sie zögerte und brachte es nicht über sich, ihre Mutter, die sie sorgenvoll ansah, zu belügen. »Das ist es nicht.«

»Aber warum …«

»Was zum Kuckuck hat dieser Krawall zu bedeuten?«, dröhnte die furchterregende Stimme der ehrwürdigen Witwe Lady Makepeace, Honoria Craven, von der Tür her. »Ich weiß ja nicht, wie du dich in Cleveland benimmst, aber das hier ist ein zivilisiertes Haus!«

»Guten Morgen, Granny.« Caro tippte sich vielsagend gegen den Kopf. »Es war mein Fehler. Ich habe Mama einen kleinen Schock versetzt.«

»Ist das so?« Die Großmutter musterte ihre Haare, ohne auch nur zu blinzeln. »Nun gut, das erklärt die Sache, aber Mildred hat dieser Aufruhr gar nicht gutgetan. Sie kann Lärm vor dem Frühstück überhaupt nicht vertragen. Das arme Schätzchen ist ein reines Nervenbündel.«

Caro neigte den Kopf, um einen Blick auf den kleinen grauen Mops zu erhaschen, der wie ein Baby in den Armen ihrer Großmutter lag. Nie hatte ein Tier so glückselig und entspannt ausgesehen.

»Es ist nicht nur wegen der Haare«, jammerte ihre Mutter. »Es ist dieser ganze Gedanke, dass wir aus London abreisen sollen. Es ist so ungerecht. Ich bin gerade erst angekommen. Es bleibt doch auch so schon kaum mehr Zeit.«

»Du hast absolut recht, meine Liebe.«

»Was?« Caro sah erschrocken auf.

»Ich hatte genau denselben Gedanken. Es ist vollkommen albern, jetzt schon abzureisen, wo die Ballsaison doch noch vier Wochen dauert. Du musst bleiben und ich möchte kein Wort mehr über dieses Thema verlieren.«

»Aber …«

»Kein einziges Wort.« Die Augen der Witwe blitzten. »Nun, Emmeline, ich habe festgestellt, dass eine Tasse heiße Schokolade gegen jede Art von Aufregung Wunder wirken kann. Warum gehst du nicht nach unten und frühstückst? Die ganze Schreierei muss dir die Kehle ausgetrocknet haben.«

»Ja … Schokolade.« Caros Mutter humpelte in Richtung Tür und schniefte dabei in ein weißes Spitzentaschentuch.

»Felix«, fuhr die Witwe unerbittlich fort und richtete ihren Blick jetzt auf Caros Bruder, »möchtest du deine Mutter nicht begleiten? Treppenstufen können gefährlich sein und nichts können wir jetzt weniger gebrauchen als ein weiteres Unglück im Zusammenhang mit Fußknöcheln.«

»Nein.« Felix verschränkte herausfordernd die Arme. »Du willst mich loswerden, und ich gehe nirgendwohin, bevor ich nicht weiß, warum. Hier liegt etwas im Argen. Das ist mir klar, seit ich hier angekommen bin.«

»Wie aufmerksam von dir. Falls ich jemals ein männliches Wesen um seine Meinung fragen muss, bist du der Erste, an den ich mich wende. Aber jetzt gehst du erst mal, sonst kann ich nicht dafür garantieren, was Mildred tun wird.«

»Aber …« Felix’ Entschlossenheit wankte bereits. Er senkte die Brauen und folgte seiner Mutter. »Aber das ist noch nicht das letzte Wort.«

»Genau, mein Lieber. Vergiss nicht, die Tür hinter dir zu schließen.«

»Granny!« Mit der Energie einer eng zusammengewundenen Feder sprang Caro in dem Moment vom Bett, in dem ihr Bruder den Raum verlassen hatte. »Wir waren uns doch einig, dass es für mich am besten ist, aus London abzureisen.«

»Waren wir.« Die Witwe kitzelte den Mops am Bauch. »Allerdings habe ich es mir anders überlegt.«

»Warum?«

»Weil man keine Probleme löst, indem man vor ihnen davonläuft.«

Caro erstarrte. »Ich laufe nicht weg!«, sagte sie gekränkt. »Ich muss von hier weg. Das ist ein Unterschied.«

»Ich bezichtige dich nicht der Feigheit, meine Liebe. Alles in allem finde ich, du hast in den vergangenen Wochen erhebliche Stärke bewiesen. Wenn du allerdings gerne deine Ruhe hättest, dann rate ich davon ab, dich vier Tage lang mit deiner Mutter in eine enge Kutsche zu quetschen, vor allem, wenn gerade ihre Pläne durchkreuzt wurden. Bis Peterborough werden Tränen fließen und danach wirst du dir Meile für Meile Vorwürfe anhören müssen.«

»Das habe ich einkalkuliert. So dringend möchte ich von hier weg.«

»Oh, na gut. Ich wollte es dir nicht sagen, aber wenn es sein muss …« Ihre Großmutter richtete ihren Blick zur Decke. »Die Wahrheit sieht folgendermaßen aus: Mir ist ein Gerücht zu Ohren gekommen, das mich sehr beunruhigt.«

Caros Magen verkrampfte sich. »Über mich?«

»Ich fürchte ja. Wir haben es zwar geschafft, deine kurze Flucht mit diesem Frauenhelden Mr Jagger geheim zu halten, aber die feine Gesellschaft hat scharfe Augen und eine sehr lebhafte Fantasie. Die Tatsache, dass du angeblich genau zu dem Zeitpunkt krank geworden bist, an dem er abreiste, betrachtet man als zu großen Zufall, als dass es nicht verdächtig wäre. Übereinstimmend wird behauptet, dass ihr beide euch bei einer Feier gestritten habt. Da sollten wir nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen. Wenn du jetzt aus London wegläufst, fürchte ich, dass diese Geschichte weiter ausgeschmückt wird. Wenn wir nicht aufpassen, kommt sie am Ende womöglich der Wahrheit nahe.«

»Aber es ist doch nichts passiert!« Caro spürte, wie sie vor Scham errötete. »Als mir klar wurde, dass er nicht die Absicht hatte, mich zu heiraten, habe ich seine Annäherungsversuche abgewehrt.«

»Sei doch nicht naiv, meine Liebe. Das Letzte, was Klatschgeschichten benötigen, sind Beweise, und wenn die Leute beschließen, dass du dich aufs Land zurückgezogen hast, um ein gewisses, sagen wir, interessantes Ereignis abzuwarten, dann sind deine Chancen, jemals eine anständige Partie zu machen, gleich null. Wenn du jetzt abreist, wirst du vielleicht niemals zurückkehren können.«

»Sie werden mich also auf der Grundlage von Gerüchten und Mutmaßungen verurteilen? Das ist nicht fair.«

»So ist die feine Gesellschaft. Hinterhältige Schlappschwänze und Lästermäuler, allesamt.«

»Aber … aber …« Caro ballte die Hände zu Fäusten. »Aaargh! Na gut, wenn es so ist, dann muss ich wohl damit leben. Es kümmert mich auch gar nicht mehr, ob ich jemals einen Mann finde.«

»Aber das kann sich wieder ändern, und es besteht immer die Gefahr, dass Jagger nach England zurückkehrt und redet.«

»Das wird er nicht tun. Du hast gedroht, ihn zu ruinieren, wenn er jemals wieder einen Fuß nach London setzt.«

»Ich habe ihm gedroht, der Earl of Denholm hat ihm gedroht, Essie hat weit mehr getan, als ihm nur zu drohen, aber eine Sicherheitsgarantie ist das nicht.«

»Ich lasse es darauf ankommen.«

Ihre Großmutter sah sie einen Moment lang eindringlich an. »Du vielleicht schon, aber was ist mit dem Rest deiner Familie? Ist es fair, von ihnen dasselbe zu erwarten? Ich rede nicht von mir selbst, aber denk an deine Eltern. Wenn du deinen guten Ruf einbüßen würdest, wären sie am Boden zerstört.« Sie berührte sanft Caros Wange. »Ich wünschte, es wäre nicht so, aber die Wahrheit ist, du musst heiraten, und je eher, desto besser. Du wirst erst vor einem Skandal geschützt sein, wenn du das tust. Es dürfte nicht so schwierig sein. Du hast jede Menge Verehrer, selbst wenn man die abzieht, die du bereits abgewiesen hast. Wie viele sind das bis jetzt?«

»Drei. Der Marquess of Bazley, Mr Dormer und Mr Nightingale, aber ich bin eben in keinen von ihnen verliebt.«

»Vielleicht warst du zu sehr von Mr Jagger fasziniert, um sie wirklich in Betracht zu ziehen – jedenfalls die letzten zwei. Der Marquess of Bazley ist ja älter als ich.« Die Witwe schnalzte mit der Zunge. »Ich will damit nicht sagen, dass du einen Mann heiraten sollst, den du nicht magst, sondern nur, dass du deine Möglichkeiten ernsthaft in Erwägung ziehen solltest. Ich möchte nicht, dass du dir später Vorwürfe machst.«

»Dafür ist es zu spät.«

»Wir alle haben in unserer Jugend einmal Dummheiten gemacht.«

»Ach ja? Bist du vielleicht schon mal mit einem berüchtigten Schürzenjäger durchgebrannt und warst dann überrascht, als er dich sitzen ließ?«

»Ich habe viele dumme Sachen mit Schürzenjägern gemacht. Ich hatte nur nie das Pech, mich in einen von ihnen zu verlieben.«

»Bitte, Granny.« Caro ließ sich auf ihr Bett sinken. »Ich habe dir erzählt, wie das mit Sylvester war. Ich habe dir erzählt, wie er mich behandelt und was er gesagt hat. Ich kann nicht so weitermachen, als wäre nichts geschehen, als wäre ich noch dieselbe wie zuvor.«

»Daher die neue Frisur, ja?« Die Witwe setzte sich neben sie und hielt Mildred auf ihren Knien fest. »Ich weiß, dass du verletzt bist, aber du wirst dich davon erholen. Auch wenn es dir jetzt nicht so vorkommt, bist du stärker, als du denkst.«

»Ich weiß nicht, was ich bin. Und deswegen möchte ich nach Hause. Ein Leben lang habe ich mich darauf vorbereitet, in dieser Ballsaison einen passenden Ehemann zu finden, und jetzt ist alles kaputt. Ich habe alle enttäuscht, mich selbst eingeschlossen. Ich weiß selbst nicht mehr, wer ich bin.«

»Ach, mein Schatz«, die Witwe tätschelte ihren Arm. »Na gut, dann vergessen wir das mit der Hochzeit erst einmal. Ich bitte dich nur, noch ein bisschen in London zu bleiben, bis die feine Gesellschaft jemand anders findet, über den sie tratschen kann. Das wird nicht lange dauern, versprochen. Wir müssen nicht jeden Ball besuchen, nur ein paar ausgewählte Veranstaltungen, um deine Mutter bei Laune und die Klatschbasen im Zaum zu halten.«

»Habe ich eine Wahl?«

»Ja. Wenn du darauf bestehst, abzureisen, dann unterstütze ich dich, aber bitte denk über das nach, was ich dir gesagt habe. Du hast Schreckliches durchgemacht, aber jetzt ist nicht der Moment, in dem du schwerwiegende Entscheidungen treffen solltest. Außer was deine Haarfarbe angeht. Ich gebe Felix recht, sie steht dir gut.«

»Danke schön.« Caro seufzte schwer. »Also gut, ich denke darüber nach.«

»Gut.« Die Witwe stemmte sich auf die Füße. »Aufregende Gespräche sollte man nie vor dem Frühstück führen. Es schlägt auf den Appetit.«

Eine halbe Stunde später stieg Caro die Freitreppe vor dem großen, aus grauem Stein errichteten Stadthaus ihrer Großmutter hinunter und wandte sich in Richtung Hyde Park. Es war noch früh am Morgen, auf den Straßen war nichts los, aber ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass Caro sowohl einen Diener als auch eine Zofe mitnahm, wohl für den Fall, dass Räuberbanden urplötzlich Mayfair erobert hätten, und das war ein absolut unsinniger Gedanke. Jeder anständige Straßenräuber wusste, dass die Mitglieder der feinen Gesellschaft selten vor der Mittagsstunde aus dem Bett kamen. Immerhin konnte sie während des Spaziergangs ihren Gedanken freien Lauf lassen. So viel hatte sich verändert, seit sie vor gerade einmal sechs Wochen zum ersten Mal das Tor zum Park durchschritten hatte! Die lang erwartete Ballsaison hatte so gut angefangen. Sie war damals voller Hoffnung gewesen, hatte jede Sekunde jedes einzelnen Balls, jeder Gartenparty und jedes Konzerts genossen. Und dann hatte sie Sylvester Jagger kennengelernt.

Er war das hundertprozentige Gegenteil von dem, was ihre Familie von ihrem zukünftigen Ehemann erwartete: ein Schürzenjäger, ein Charmeur, bis über die Ohren verschuldet und mit einem schlechten Ruf, der in London seinesgleichen suchte. Doch all dies in der Theorie zu wissen und sich dann in der Praxis gegen seinen Charme zur Wehr zu setzen – das waren, wie sich herausstellte, zwei völlig verschiedene Dinge. Ein paar ihr ins Ohr geflüsterte süße Worte, und alles, was man sie über tugendsames, damenhaftes Verhalten gelehrt hatte, war wie weggeblasen. Ganz zu schweigen von Pflicht und Bestimmung. Sylvesters Eindringlichkeit hatte sie einfach mitgerissen – wenn er sie ansah, als gäbe es außer ihr niemanden auf der Welt, schwirrten Glühwürmchen in ihrem Bauch. (Essie nannte sie Schmetterlinge, aber die von Caro waren eindeutig heißer. Sylvester hatte in ihrem Körper an Stellen, die bis dahin eine vollkommen gleichmäßige Temperatur gehalten hatten, solche Gefühle ausgelöst.)

Sie war so dumm gewesen, zu glauben, dass das, was zwischen ihnen war, ihn verändern würde, dass sie ihn ändern konnte, aber sämtliche romantischen Trugbilder waren im engen Gästezimmer eines Gasthauses auf halber Strecke nach Gretna Green zerplatzt. Wenn Essie und Aidan ihr nicht zu Hilfe gekommen wären und sie nach London zurückgeschmuggelt hätten, wäre sie für immer entehrt gewesen. Das Geheimnis ihrer Flucht mit Jagger teilten im Moment nur diese beiden, ihre Großmutter und einige zuverlässige Hausangestellte. Sie konnte nur hoffen, dass es so bleiben würde.

Ein Eichhörnchen huschte über den Weg, und sie sah zu, wie es einen Baum hochkletterte. Ihr Kopf und ihr Herz schmerzten bei der Erinnerung an Sylvester. Als sie durchgebrannt war, hatte ihre Großmutter das Gerücht in die Welt gesetzt, sie sei erkrankt. Nach ihrer Rückkehr hatte sie eine ganze Weile geglaubt, das sei wirklich der Fall – sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und versucht, mit der Demütigung und ihrem durch Sylvesters Verrat gebrochenen Herzen zurechtzukommen. Sie konnte nicht schlafen, weil die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag sie immer wieder einholten: wie er nach ihr gegrapscht hatte, wie sie ihn abgewehrt hatte; all die widerlichen Dinge, die er ausgesprochen hatte, bevor er sie verließ, Beleidigungen, die sich in ihre Seele eingebrannt hatten.

Noch nie im Leben hatte sie sich so erniedrigt gefühlt. Ihr Stimmungspegel befand sich etwa auf der Höhe ihrer Fußsohlen. An manchen Tagen hatte sie gedacht, sie würde nie mehr aufhören zu weinen.

Das Einzige, was ihr geholfen hatte, war das Schreiben. Ein merkwürdiger Impuls hatte sie dazu gedrängt, Feder und Pergament zur Hand zu nehmen, und als sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Die Worte hatten sie beruhigt, hatten ihr die Möglichkeit geboten, jene Gefühle zu formulieren, die sie nicht einmal Essie und ihrer Großmutter gegenüber äußern konnte. Dies war die Geburtsstunde von Jezebel Joyce, einer selbstbewussten Heldin mit leuchtend roten Haaren, die sich von keinem Mann der Welt ausnutzen ließ.

Vielleicht hatte ihre Großmutter ja recht, und alles würde hundertmal schlimmer, wenn sie aus London abreiste, aber beim Gedanken, dass sie hierbleiben musste, fühlte sich Caro wie in einem Netz verstrickt, das sich langsam, aber unerbittlich enger zuzog. Sie musste einfach weg. Sie wollte ihre Eltern nicht enttäuschen, ihrer Familie nicht schaden, aber es interessierte sie momentan einfach nicht mehr, ob sie einen Ehemann finden würde oder nicht. Wie sollte sie jemals wieder einem Mann vertrauen? Sylvester hatte ihr gezeigt, welches Bild Männer von ihr hatten: ein hübsches, dummes Mädchen, das sich leicht täuschen, ausnutzen und dann einfach wegwerfen ließ. Vielleicht würde sie all das in ein, zwei Jahren wieder anders sehen, aber in diesem Fall – und wenn die feine Gesellschaft sie zufälligerweise doch nicht verstoßen hatte –, würde sie sichergehen, dass sie ihre Entscheidung nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Kopf traf. Sie würde jemanden wählen, der vernünftig war und nicht flatterhaft. Vor allem aber jemanden, der nicht über ein einziges Fünkchen Charme verfügte.

Außerdem war das, was sie empfand, kein reiner Liebeskummer. Nein, sie war auch wütend, und zwar nicht nur auf Sylvester, sondern auch auf diese Gesellschaft, die sie dazu erzogen hatte, so hoffnungslos unschuldig und weltfremd zu sein, dass er dermaßen leichtes Spiel mit ihr gehabt hatte. Und wenn die Wahrheit durchsickerte, dann würde sie diejenige sein, die dafür verurteilt wurde! Weil sie nämlich zugelassen hatte, dass man sie täuschte!

Nun, sie hatte ihre Lektion auf die harte Tour gelernt, aber wenigstens waren ihre Absichten vollkommen ehrenhaft gewesen. Sie hatte Sylvester geliebt – jedenfalls den Mann, für den sie ihn gehalten hatte –, und sie weigerte sich, jetzt die Schuld allein auf sich zu nehmen. Mit ihrem angestauten Zorn fühlte sie sich wie ein Vulkan … oberflächlich ganz ruhig, aber tief unten brodelte es.

Sie hielt an, bückte sich nach einem Stein und schleuderte ihn, so weit sie konnte, in den Fluss. Ihre Großmutter hatte ein paar sehr gute Argumente angeführt, aber das Risiko, das ihre Abreise mit sich brachte, musste sie einfach eingehen. Es reichte nicht aus, sich den größten Teil ihrer Haare abzuschneiden und den Rest rosa zu färben. Wenn sie blieb, bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie einfach explodieren und dadurch noch viel tiefer in Ungnade fallen würde. Entweder das oder die ständigen Kommentare ihrer Mutter zum Thema Ehe würden sie vollkommen in den Wahnsinn treiben.

Zum ersten Mal in ihrem Leben musste sie stark sein, resolut und zielstrebig, ganz egal, ob das selbstsüchtig klang oder nicht. Auf keinen, aber auf gar keinen Fall würde sie sich noch in dieser Ballsaison einen Ehemann suchen!

Mehr als eine Stunde später kehrte Caro endlich in das vornehme Viertel um den Cavendish Square zurück. Allerdings hatte sich dieses in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit so verändert, dass sie einige Sekunden lang befürchtete, sie wäre irgendwo falsch abgebogen. Die friedliche Morgenstimmung war dahin und nun herrschte eine hektische Betriebsamkeit rund um das Nachbarhaus ihrer Großmutter. Die Läden dieses benachbarten Stadthauses waren aufgerissen und gaben den Blick auf eine wahre Armee von Zimmermädchen frei, die in den Räumen herumrannten, eilig Schutzdecken herunterrissen und die Möbel polierten. Gleichzeitig trafen nacheinander mehrere Kutschen ein, die eine schier endlose Menge von Koffern und Taschen anlieferten.

Gerade erklomm Caro die Vortreppe am Haus ihrer Großmutter, als eine letzte Kutsche auf dem Platz vorfuhr. Sie war größer und prächtiger als die anderen, mit Goldlack verziert und von einem halben Dutzend Vorreitern umringt, als fürchteten auch ihre Insassen irgendwelche Räuberbanden. Fast im selben Moment stürzte ein Diener aus dem Haus, öffnete den Wagenschlag und verbeugte sich unterwürfig. Eine Dame mittleren Alters in Begleitung zweier junger Gentlemen, einer blond, einer dunkelhaarig, trat herunter aufs Pflaster. Leider erhaschte Caro nur einen flüchtigen Blick auf die Gesichter, dann verstellte einer der Vorreiter ihr die Sicht.

»Sieht so aus, als hätten wir neue Nachbarn«, sagte Caro zu Quill, dem unfassbar gut aussehenden, kupferhaarigen Adonis von einem großmütterlichen Butler, als sie die Diele betrat.

»So ist es, Miss.« Quills Gesichtsausdruck wirkte etwas gequält. »Das hat für einige Aufregung gesorgt.«

»Warum? Wer ist …?«

»Caro!« Ihre Mutter kam die Treppe heruntergesaust, noch bevor sie die Frage beenden konnte. »Du wirst nicht glauben, was gerade passiert.«

»Hat es etwas mit den Neuankömmlingen zu tun?« Sie löste die Bänder ihrer Haube. »Die habe ich gerade gesehen.«

»Dann sind sie da!« Ihre Mutter umklammerte das Treppengeländer, als hätte ihr jemand die Beine unter dem Leib weggezogen. Ihre Augen glänzten fiebrig. »Sieht er sehr gut aus?«

»Welcher? Da waren zwei Gentlemen.«

»Nur einer ist von Interesse! Der Duke of Campion. Unser neuer, unverheirateter Nachbar!«

Caro machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Ihr war klar, dass jede Hoffnung auf eine vorzeitige Abreise aus London aus der offenen Tür hinter ihr entwichen war.

Die Versuchung, sich umzuwenden und ihr zu folgen, war schier unwiderstehlich.

»Hilfe!«, kreischte Jezebel. Ihre Reitstiefel suchten verzweifelt nach Halt am steilen Rand der Klippe. Doch o weh, es führte zu nichts! Da war kein rettender Vorsprung und ihre ertaubenden Finger verloren bereits den Halt am nassen Fels. Eisiger Regen peitschte gegen ihre Wangen und glühende Furcht versengte ihre Lungen, denn unter ihr gähnte der schier endlose Abgrund – zerklüftete Felsen, die wie hungrige Fangzähne nur darauf warteten, sie in Stücke zu reißen.

»Nehmt meine Hand, verflucht noch mal!«

Eine tiefe Stimme durchdrang den Nebel ihrer Verzweiflung. Ein Schrei der Überraschung entrang sich ihren Lippen, als sie aufblickte und ein diabolisch gut aussehendes Gesicht erspähte, umrahmt von schneeweißem Haar und einem wie aus Granit gemeißelten Unterkiefer. Da war auch eine ausgestreckte Hand, doch es schauderte sie davor, diese zu ergreifen.

Der Baron!

Ehe Jezebel sich wehren konnte, beugte er sich herab und packte ihre Handgelenke. Dann zog er sie nach oben in seine Arme.

»Nein!« Alles in ihr erbebte, als ein Blitz den schurkenhaften Glanz in seinen smaragdgrünen Augen und dahinter die Türmchen und Zinnen seiner Burg in der Ferne sichtbar machte. Sie beschloss, beidem eisern zu widerstehen. Er mochte ja ein berüchtigter Verführer sein, sie jedoch war eine tugendhafte Jungfer und würde alles daran setzen, dies zu bleiben.

Von ihren Gefühlen übermannt, fiel sie in Ohnmacht.

Die außergewöhnlichen Abenteuer der Jezebel Joyce, einer Lady in Gefahr

Kapitel 2

Nicht einmal zehn Sekunden nachdem Caro endlich eingewilligt hatte, in London zu bleiben, schlug ihre Mutter schon eine Einkaufstour vor. Allerdings stimmte Caro sofort zu, denn dieser Ausflug bot ihr die Gelegenheit, ihrem Bruder zu entfliehen.

Seit ihrer Rückkehr vom Hyde Park hatten Felix’ Blicke ihr eine eindeutige Botschaft vermittelt: Wir müssen reden. Doch sie hatte das bis jetzt einfach geflissentlich ignoriert. Er war kaum ein Jahr älter als sie, und sie hatten sich immer sehr nahegestanden, dennoch gab es Dinge, die ein Mädchen nicht mit seinem großen Bruder besprechen konnte – zum Beispiel, dass sie mit einem Schürzenjäger durchgebrannt war, der versucht hatte, sie zu verführen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war gerechter Zorn und ein Bruder, der damit drohte, ihre Ehre zu rächen. Ja, eigentlich war es eine Erleichterung, dem Haus zu entfliehen – jedenfalls bis zu dem Moment, in dem Felix in die Kutsche stieg und sich auf der gegenüberliegenden Bank niederließ, unter dem Vorwand, er wolle Modetipps abgeben und die Schachteln tragen.

Schließlich konfrontierte Felix sie in einer Ecke des Schuhgeschäfts. »Ich weiß, dass etwas nicht stimmt«, sagte er. »Du hast dich so auf die Ballsaison gefreut. Nie und nimmer würdest du früher abreisen wollen, wenn nicht irgendetwas Schlimmeres passiert wäre.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.« Caro griff nach einem Paar weißer Seidenpumps, die mit rosa Bändern verziert waren – die Farbe passte genau zu ihrer neuen Frisur. »Was hältst du von diesen hier? Zu übertrieben?«

»Ja. Und ich weiß, dass Großmutter eingeweiht ist, worum auch immer es sich handelt. Essie wahrscheinlich ebenfalls.«

»Felix.« Sie fixierte ihn mit einem strengen Blick. »Du verdirbst mir die Freude an diesen Schuhen.«

»Du hast schon genügend Schuhe.«

»Und du hast nicht die geringste Vorstellung davon, wie das weibliche Gehirn funktioniert.«

»Das weiß ich.« Er fuchtelte verzweifelt mit den Händen. »Aber ich dachte, du wärst nach London gekommen, um dir einen Ehemann zu suchen. Granny sagt, du hast schon drei Anträge abgelehnt.«

»Weil keiner der Gentlemen passend war.« Sie stellte die Pumps ab und wandte ihre Aufmerksamkeit stattdessen braunen Lederstiefeletten zu. Alle drei Anträge waren innerhalb von zwölf Stunden, am Tag von Essies Hochzeit, gekommen, als hätte die romantische Stimmung dieses Tages die Bewerber irgendwie angestachelt. Zwei davon hatte sie leichten Herzens abgewiesen, aber der dritte, der von Francis Dormer, einem der engsten Freunde des Earl of Denholm, kam, hatte ihr doch wehgetan. Sie mochte Mr Dormer sehr, allerdings nur als Freund.

»Ich habe gehört, einer davon war ein Marquess.«

»Ein zweiundsiebzigjähriger Marquess.«

»Igitt.« Felix verzog das Gesicht. »Alles klar. Sieh mal, ich frage ja nur, weil ich dich gernhabe, auch wenn ich mir wie der größte Narr vorkomme, wenn ich das sage – vor allem an so einem Ort.«

Caro lächelte. Es rührte sie, dass ihr Bruder sich um sie sorgte. Einen sentimentalen Moment lang war sie beinahe versucht, ihm die Wahrheit zu sagen, aber dann kam sie doch zu dem Schluss, dass ihr anderes Geheimnis reichen musste. Zumindest würde es ihn ablenken.

»Ja, es gibt etwas.« Sie rückte näher an ihn heran und senkte die Stimme. »Aber du musst versprechen, dass du es keiner Menschenseele verrätst.«

»Versprochen.«

»Ich habe ein Buch geschrieben.«

»Was? Ein richtiges Buch?«

Sie runzelte die Stirn und bedachte ihn mit dem vernichtenden Blick, den er absolut verdiente.

»Entschuldigung.« Er senkte das Kinn auf die Brust. »Es ist nur – du hast dich doch bis jetzt nie fürs Schreiben interessiert. Ich dachte, du liest nicht einmal gern.«

»Ich lese sehr, sehr gern. Du hast mich nur nie dabei gesehen, weil Mama etwas gegen Romane hat.«

»Das stimmt. Wenn sie auf die Idee käme, dass du darüber hinaus auch noch geschrieben hast, nun …«

»Ja, sie würde mal wieder laut schreien – aber mir macht es Spaß.«

»Seit wann?«

»Eigentlich schon lang, aber anfangs hatte ich noch Bedenken, dass es sich für eine Lady nicht geziemt.« Sie tat so, als betrachtete sie die Schnürsenkel der Stiefeletten. »Es ist schwer zu erklären, aber eines Morgens bin ich mit einer Geschichte im Kopf aufgewacht, und plötzlich konnte ich an nichts anderes mehr denken. Und seither ist es so, dass ich schreiben muss. Wenn ich es nicht tue, fühle ich mich irgendwie verkehrt, neben der Spur.« Sie runzelte die Stirn, denn mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich die Wahrheit sagte. Sie schrieb nicht mehr nur, um ihre Gefühle gegenüber Sylvester zu verarbeiten. Jetzt tat sie es um der Sache selbst willen.

»Und worum geht es in deinem Buch?«

»Hm?« Blinzelnd kehrte sie in die Gegenwart zurück. »Ach, es ist eine Schauergeschichte über eine junge Frau, die in die Klauen eines bösen Barons gerät.« Ihre Augen blitzten, als es um die Mundwinkel ihres Bruders belustigt zuckte. »Wage es bloß nicht, jetzt zu lachen!«

»Tue ich nicht. Darf ich es lesen?«

»Nicht, wenn du dich darüber lustig machst.«

»Das werde ich nicht. Versprochen.«

Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. Noch nie hatte sie in Erwägung gezogen, jemandem ihre Texte zu zeigen. Die Vorstellung, der Welt ihr Innerstes zu offenbaren, versetzte sie in leichte Panik, aber vielleicht war es ja auch gut, das zu tun? Vielleicht war das Schreiben ihr neuer Lebensinhalt? Neuerdings gab es viele Frauen, die Bücher schrieben – das ließ sich jedenfalls aus der Zahl der anonym veröffentlichten Werke schließen. Warum sollte sie nicht zu ihnen gehören?

Und in diesem Fall musste irgendjemand ihr erster Leser sein. Woher sollte sie sonst wissen, ob ihre Geschichte gut war? Jetzt, wo Essie nicht greifbar war, lag es nahe, Felix darum zu bitten. Die Meinung ihrer Großmutter konnte ja gelegentlich etwas zu unverblümt sein.

»In Ordnung.« Sie nickte. »Du kannst es lesen, wenn es fertig ist, aber du musst dann freundlich reagieren.«

»Werde ich.«

»Aber trotzdem gnadenlos ehrlich.«

»Absolut.«

»Auf eine nette Art.«

»Ich werde die brutale Nettigkeit in Person sein.« Er rieb sich die Hände. »Wie lang wird es denn dauern? Ich fahre morgen zurück nach Oxford.«

»Morgen schon? Ich dachte, du fährst erst am Freitag?«

»Vater möchte schon eher losfahren. Er sagt, wenn Mama jetzt doch den Rest der Ballsaison hier verbringt, möchte er nach Hause, bevor sie ihn zu irgendeinem Ball schleift. Er wird mich übrigens in Oxford absetzen.«

»Nun, bis morgen bin ich nicht fertig. Dann musst du warten, bis wir im August beide wieder zu Hause sind.«

»Ich freue mich darauf.« Felix grinste, dann wurde seine Miene wieder nüchtern. »Und du bist dir ganz sicher, dass sonst alles in Ordnung ist?«

»Sonst ist alles bestens«, log Caro und beschloss, die Pumps mit den rosa Bändern zu kaufen. »Aber es ist nett, einen Bruder zu haben, der sich Gedanken um mein Wohlbefinden macht.«

Wenn es eine Sache gab, für die es sich lohnte, in London zu bleiben, sinnierte Caro, nachdem sie einen ganzen Tag im Gefolge ihrer Mutter jeden Schneider-, Putzmacher- und Handschuhladen der Stadt durchstöbert hatte, dann waren es Desserts. Was Kuchen, Torten und Weingelees betraf, war die Köchin ihrer Großmutter, Mrs Butterley, ein wahrhaftiges Genie. Das Trifle an diesem Abend war ein Meisterstück, ein der Schwerkraft spottender Turm aus Biskuit, Vanillecreme, Sahne und Gelee, gekrönt von einem Häufchen köstlich aussehender Erdbeeren und einer blumenförmigen Zuckerskulptur. Sie war viel zu schön, um sie aufzuessen – eine Ansicht, die unglücklicherweise auch Caros Mutter vertrat, die ihr verbot, auch nur einen Löffel voll davon zu verspeisen.

»Papa!« Hilfe suchend wandte sie sich an ihren Vater.

»Wage es nicht, Partei für sie zu ergreifen.« Ihre Mutter wandte sich in dieselbe Richtung, ihre Miene war entschlossen. »Die Ballsaison dauert nur noch einen Monat und sie muss sich von ihrer schönsten Seite zeigen.«

»Caro könnte sich von ihrer halbschönsten Seite zeigen und wäre immer noch das hübscheste Mädchen in jedem Ballsaal.« Ihr Vater lächelte liebevoll.

»Ballsäle interessieren mich überhaupt nicht mehr.« Ihre Mutter bedeutete einem der Diener, Caros Besteck abzuräumen. »Ich interessiere mich für das Haus nebenan. Wenn Essie einen Earl heiraten kann, wer sagt dann, dass unsere Tochter keinen Duke abbekommt?«

»Ich sage das.« Caro funkelte Felix an, der sich gerade eine riesige Schüssel vollschaufelte. »Ich kann das sagen, vor allem, wenn man mir verbietet, den Nachtisch zu essen.«

»Du wirst mir noch dankbar sein«, erwiderte ihre Mutter von oben herab. »Man sagt, ihr Hauptwohnsitz befinde sich in Norfolk, er hat vierzigtausend Pfund im Jahr und noch ein Dutzend weitere Liegenschaften.«

»Man klingt aber sehr gut informiert.« Die Witwe schnappte sich die Zuckerblume von der Spitze des Trifleturms und brach sie in zwei Hälften.

»Ich habe mich mit einigen alten Freundinnen unterhalten, als wir einkaufen waren. Natürlich haben alle vor Neid Gift und Galle gespuckt.«

»Warum?«

»Weil wir einen Duke als Nachbarn haben.«

»Mir leuchtet nicht ein, welchen Vorteil uns das beschert, wo wir ihm noch nicht einmal vorgestellt worden sind. Das Haus stand jahrelang leer.«

»Aber du hast doch sicherlich die Mutter des Dukes kennengelernt, die derzeitige Duchess? Selbst wenn es zwanzig Jahre her ist – eine Bekanntschaft ist immer noch eine Bekanntschaft.«

»Ehrlich gesagt kann ich mich nicht erinnern. Ich glaube nicht«, sagte die Witwe. »Vor ihrer Hochzeit war sie Lady Alicia Harding, aber sie hat wohl einige Jahre vor dir debütiert. Zu jener Zeit haben dein Vater und ich überwiegend auf dem Land gewohnt.«

»Oh. Ach, ich lasse mir etwas einfallen.«

»Mama, bitte, kann ich wenigstens ein winziges bisschen …?«

»Nein, kannst du nicht.« Ihre Mutter schob mit lautem Scharren ihren Stuhl nach hinten. »Es ist wohl an der Zeit, dass wir Ladys uns in den Salon begeben.«

»Vielleicht sollte Caro noch einmal in ihr Zimmer gehen und ihren Ärmel flicken?« Die Witwe erhob sich eher langsam. »Da ist so ein kleiner Riss an der Schulter.«

»Wirklich?« Caro verrenkte den Hals beim Versuch, gleichzeitig nach unten und in Richtung ihrer Großmutter zu sehen.

»Ja, in der Tat.« Die Witwe begegnete ihrem Blick und nickte verstohlen in Richtung Dessert. »Du wirst nicht lang brauchen. In zehn Minuten solltest du es schaffen.«

Caro rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer und wartete dort auf den Diener, der ihr eine Schüssel des verbotenen Nachtischs brachte. Dann trat sie hinaus auf den engen Balkon mit Blick in den Garten. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont versunken, und der Himmel schimmerte jetzt, wo der Abend allmählich in die Nacht überging, in einer Übergangsfarbe zwischen Blau und Schwarz, und in der noch warmen, vom betörenden Duft von Geißblatt und Rosenblüten erfüllten Luft lag ein Chor von Vogelstimmen; Zaunkönige, Grasmücken und Amseln konkurrierten um Caros Aufmerksamkeit. Es war wunderschön, wie ein Freiluftkonzert, das ganz allein für sie gegeben wurde. Hätte sie doch einfach hier im Haus ihrer Großmutter bleiben können und sich nicht woanders hinbegeben müssen, dann hätte die Vorstellung, hier in London zu bleiben, einiges an Schrecken verloren.

Gerade hob sie zum dritten Mal den Löffel voller Vanillecreme und Gelee an den Mund, als sie hörte, wie sich mit einem leisen Klicken rechts neben ihr eine Tür öffnete. Eine zwei Meter hohe Wand trennte das Haus ihrer Großmutter von der Villa nebenan, aber die beiden Gebäude lagen nur einen Steinwurf voneinander entfernt, sodass sie ungehindert einen Blick auf den benachbarten Balkon werfen konnte. Genau auf ihrer Höhe stand jetzt ein Mann.

Sie wich zurück in den Schatten, unwillig, sich in ihrer stillen Betrachtung stören zu lassen, und sah zu, wie der Mann erst das eine, dann das andere Bein übers Balkongeländer schwang, dann nach den Efeuranken griff, die über die Rückseite des Hauses wucherten, und sich langsam daran herunterließ. In der herabsinkenden Dunkelheit sah sie ihn nur als Schatten, aber sie erahnte dunkles, krauses Haar, eine schlanke Gestalt und sehr selbstsichere, sportliche Bewegungen. Diese Selbstsicherheit war allerdings vollkommen fehl am Platz, falls er vorhatte, auf derselben Strecke weiter hinunterzuklettern. Wenn er seinen Kurs änderte und den dicht vor dem Haus stehenden Apfelbaum nutzte, um sich auf den Boden zu schwingen, musste er niemals erfahren, dass sie da stand und ihm zusah, falls er dagegen auf die Idee kam, die Mauer zu benutzen … nun, dann würde ihr Gewissen sie vermutlich dazu zwingen, etwas zu unternehmen.

Er streckte einen Fuß in Richtung Mauer aus.

Ihr Gewissen zwang sie.

»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun.«

Der Mann fluchte laut und riss den Fuß hoch, als sei er gerade auf eine Schlange getreten. Dabei wendete er suchend den Kopf hin und her.

»Hier drüben!« Caro trat aus dem Schatten und wedelte mit ihrem Löffel in der Luft, dann nahm sie wieder einen Löffel voll Trifle. »Ein schöner Abend, nicht wahr?«

»In der Tat.« Er hatte sich schon von seinem Schreck erholt und packte den Efeu etwas fester. »Was genau sollte ich denn nicht tun?«

»Ihren Fuß auf die Mauer setzen. Sie ist baufällig.«

»Ach ja?« Er sah nach unten. »Sie sieht recht stabil aus.«

»Nur weil das Geißblatt sie aufrecht hält. Ich habe gehört, wie meine Großmutter mit dem Gärtner darüber geredet hat. Sie können es gerne versuchen, aber sagen Sie dann nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«

»Oh. In diesem Fall weiß ich Ihre Warnung zu schätzen, aber ließe es sich einrichten, dass Sie das nächste Mal erst einmal diskret hüsteln? Nur damit ich Peinlichkeiten vermeiden kann – zum Beispiel mir vor Schreck das Genick zu brechen?«

»Sie müssen ja nicht gleich übertreiben.« Sie verdrehte die Augen, obwohl er das in der Dunkelheit nicht sehen konnte. »Aus dieser Höhe brechen Sie sich höchstens ein Bein.«

»Sie mögen mich für exzentrisch halten, aber mir gefallen meine Beine in der Tat ganz genau so, wie sie sind.« Er griff nach einer anderen Efeuranke und schwang sich näher. Sein Tonfall war selbstsicher. »Das hier ist übrigens nicht das, wonach es aussieht.«

»Das hängt doch wohl davon ab, wonach es aussieht, oder?«

»Richtig. Was meinen Sie denn, wonach es aussieht?«

»So, als würden Sie sich vor einem wütenden Ehemann in Sicherheit bringen?«

»Großer Gott.« Er wirkte belustigt. »Was bringt man Debütantinnen denn heutzutage bei?«

»Nichts Nützliches. Sie könnten natürlich auch ein Einbrecher sein.«

»Bin ich nicht.« Er hielt eine Hand hoch. »Sehen sie – kein Sack mit entwendeten Wertgegenständen.«

»Sie könnten sich Schmuck in die Taschen gestopft haben. Oder Sie haben die Kleidung gestohlen, die Sie gerade tragen.« Sie betrachtete ihn abschätzend. Angesichts der Tatsache, dass der schwarze Mantel perfekt um seine breiten Schultern fiel, war das zugegebenermaßen unwahrscheinlich.

»Wenn Sie mich für einen Einbrecher halten, müssten Sie dann nicht um Hilfe rufen?«

»Vermutlich. Andererseits könnten Sie auch unser neuer Nachbar sein und einfach eine ungewöhnliche Art haben, Ihr Haus zu verlassen.«

»Aha! Dann ist das hier genau das, wonach es aussieht.«

»Wie enttäuschend. Kann ein Duke nicht einfach sein Treppenhaus benutzen wie ein normaler Mensch?«

»O doch, kann er auf jeden Fall, aber ich bin ja kein Duke. Jedenfalls nicht derjenige, von dem Sie reden.«

»Dann sind Sie also ein anderer Duke?«

»Sozusagen.« Kurz sah sie weiße Zähne in der Dunkelheit aufblitzen. »Marmaduke Holloway, der Bruder des Dukes, zu Ihren Diensten, Miss …?«

»Moment!« Unfähig, ihre Neugier zu zügeln, legte sie die Arme auf ihr Balkongeländer. »Also ist Ihr Bruder der Duke und Ihr Name ist ebenfalls Duke?«

»Ich fürchte ja. Unser Vater war der Ansicht, wir sollten beide den Titel tragen.«

»Das war ja eine sehr demokratische Entscheidung.«

»Nun, sie entsprang eher seinem schrägen Sinn für Humor, fürchte ich. Nach zwanzig Jahren ist der Scherz ein bisschen abgenutzt. Ich würde Ihnen die Hand schütteln, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich den Arm so weit ausstrecken kann.«

»Ein kurzes Winken reicht vollkommen aus. Meine Hand ist ohnehin gerade mit etwas Delikatem beschäftigt.«

»Das verstehe ich vollkommen. Ich habe ebenfalls eine große Vorliebe für Desserts.«

»Also, warum benutzen Sie nicht die Treppe?«

»Ehrlich gesagt …« Er sah sich um, als fürchtete er, er werde belauscht. »Ich gehe zu einem Boxkampf und möchte nicht, dass meine Stiefmutter das erfährt. Sie lehnt Faustkämpfe ab.«

»Sie wollen sagen, Sie schleichen sich aus dem Haus, um nicht ausgescholten zu werden?«



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