Wer braucht schon einen Earl zum Glück? - Jenni Fletcher - E-Book

Wer braucht schon einen Earl zum Glück? E-Book

Jenni Fletcher

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Beschreibung

Wie eine Folge von Bridgerton: Süße Regency-Romcom mit einer Heldin zum Verlieben

Von Geburt an steht fest, wen Essie heiraten wird: Aidan, den Earl of Denholm, den begehrtesten Junggesellen der Londoner Gesellschaft – den sie bisher nur einmal gesehen hat. Es gibt nur ein Problem: Essie will mehr vom Leben, als nur zu heiraten. Bald findet sie heraus, dass Aidan nur die Schulden seines Vaters begleichen will. Also schließen sie einen Pakt: Essie hilft ihm, eine gute Partie zu finden, und unterdessen spielen sie das perfekte Paar. Doch bald vermischen sich Schein und Sein, und der arrogante Earl scheint doch nicht so unattraktiv …
Amüsant, erfrischend feministisch und doch wunderbar romantisch: Jenni Fletchers süße Regency-Liebeskomödie mit einer sehr modernen Protagonistin ist der perfekte Lesestoff für alle Fans von Outlander und Bridgerton.

Die Earl-und-Duke-Reihe:

Wer braucht schon einen Earl zum Glück?? (Band 1)

Bloß nicht mit einem Duke verlobt (Band 2)

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Seitenzahl: 413

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JENNI FLETCHER

WER BRAUCHT SCHON EINEN

EARL ZUM GLÜCK?

Aus dem Englischen

von Bettina Obrecht

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Erstmals als cbt Taschenbuch Juli 2023

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© Jenni Fletcher 2021

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »How to Lose an Earl in Ten Weeks« bei Penguin Books, London, in der Verlagsgruppe Penguin Random House UK

Aus dem Englischen von Bettina Obrecht

Umschlaggestaltung: Marie Graßhoffunter Verwendung einer Illustration von Marie Graßhoff und AdobeStock/lumerb

Lektorat: Julia Przeplaska

kk · Herstellung: UK

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-29803-6V002

www.cbj-verlag.de

Liebste Cousine,

wenn Du diesen Brief liest, dann bedeutet das, dass mein Plan aufgegangen ist. Du ahnst sicher schon, wohin ich verschwunden bin und mit wem.

Bitte glaube mir, dass ich mir diese Entscheidung nicht leicht gemacht habe. Ich hoffe, dass gerade Du mich verstehst. Ich wünschte, ich hätte Zeit, Dir ausführlicher zu schreiben, aber die Kutsche wartet und ich muss los. Ich bitte Dich, denk nicht schlecht über mich, aber falls Du es doch tust, dann vergiss nie: Ich bleibe für immer Deine Dich liebende Cousine C

15. Mai 1816

PLANA: ANSTÄNDIGFRAGEN

Liebes Tagebuch,

heute war ein schlechter Tag. Der Earl von sowieso und seine Frau waren zu Besuch und haben ihren grässlichen Sohn mitgebracht. Er ist der widerlichste, abscheulichste Junge auf der ganzen Welt. Ich wollte im Wald spielen, aber er bestand auf Federball, also habe ich gesagt, er sei kein Gentleman, und er hat gesagt, ich sei keine Lady, weil Ladys fügsam sein müssen. Fügsam! Er hat mich so an Vater erinnert – am liebsten hätte ich ihn mit meinem Federballschläger gehauen. Und dann hat er auch noch das letzte Stück Mohnkuchen aufgegessen. Ich hasse ihn, ich hasse ihn! Zum Glück ist er jetzt wieder weg und hoffentlich werde ich ihn nie mehr wiedersehen. Wenigstens kann ich meinen Geburtstag morgen genießen.

Übrigens ist mir wieder ein Zahn ausgefallen. Jetzt sind es schon acht.

Essie Craven an sich selbst, 28. Februar 1806

Kapitel 1

1. MÄRZ 1816

NOCHZWÖLFWOCHENBISZURHOCHZEITVONMISSESSIECRAVENUNDDEMEARLOFDENHOLM

Wenn die ehrenwerte Essie Craven einmal einen Entschluss gefasst hatte, dann wich sie keinen Millimeter mehr davon ab.

Essie war, in den Worten ihrer Tante Emmeline, das dickköpfigste, aufsässigste, ja das hemmungsloseste Mädchen in ganz England. Unglücklicherweise geriet sie gerade durch diese Eigenschaften immer wieder in Schwierigkeiten. Wenn weitreichende Entscheidungen anstanden, zwang sie sich deswegen, geduldig zu sein und alles erst einmal gut zu durchdenken.

An Geburtstagen allerdings war mitunter schlagartig alles klar. Manchmal musste man nur ein Jahr älter werden und zehn Stunden lang tief schlafen und plötzlich ergab die Welt wieder einen Sinn. Und so geschah es, dass Essie am Morgen ihres achtzehnten Geburtstags unmittelbar nach dem Aufwachen eine spontane, folgenschwere Entscheidung traf: Niemals würde sie ihren Verlobten heiraten.

Jetzt, wo diese Frage geklärt war, wenn auch vorerst nur in ihrem eigenen Kopf, musste sie sich eingestehen, dass die Saat ihrer Rebellion weit früher gesät worden war – und zwar ebenfalls an einem Geburtstagsmorgen, an dem man ihr ganzes zukünftiges Leben vor ihren entsetzten Augen ausgebreitet hatte wie einen Schlachtplan. Hätte ihr Vater Napoleon in einem Kampf Mann gegen Mann besiegt, dann hätte er nicht stolzer aussehen können als in jenem Augenblick, in dem er Essie verkündete, dass sie den zukünftigen Earl of Denholm heiraten würde. Also ausgerechnet den widerlichsten Menschen, dem man sie hätte versprechen können.

Und als sie sich Hilfe suchend an ihre Mutter wandte … Essie war erst acht Jahre alt, aber diesen Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter kannte sie. Die Mutter hatte sich nicht durchsetzen können. Essies Mutter war von der ganzen Sache derartig überrumpelt, dass sie nicht einmal Widerstand leistete, als sie sich eine Woche später im Regen eine leichte Erkältung einfing. Sie gab Essie eines Abends einen Gutenachtkuss, zog sich in ihr Schlafgemach zurück und starb einfach.

Essie, mutterlos und verwirrt, hatte den Gedanken an ihre zukünftige Ehe damals schon beinahe genauso tief verabscheut wie jetzt. Doch erst an diesem Morgen, an dem sich wieder eine Zahl änderte, kristallisierte sich aus ihrem Groll und ihrer Empörung ein fester Entschluss heraus. Sie würde ihr neunzehntes Lebensjahr genauso beschließen, wie sie es begonnen hatte: als Miss Essie Craven, nicht als »Madam«, nicht als »Lady«, nicht als »Countess«. Sie würde eine Möglichkeit finden, den Plan ihres Vaters zu durchkreuzen – schließlich war alles, was ihn daran interessierte, sein eigener gesellschaftlicher Aufstieg. Wie genau sie das bewerkstelligen sollte, ohne von ihrem Vater verstoßen, enterbt oder schlichtweg auf die Straße gesetzt zu werden, war eine andere, etwas kompliziertere Frage, aber Durchsetzungsvermögen war keine Charakterstärke, an der es Essie mangelte. Da fehlte es schon eher an allen anderen Tugenden.

»Und wozu bist du so fest entschlossen?« Ihre Cousine Caro schälte sich im Nachbarbett aus ihrer Decke wie ein Schmetterling, der aus einer vanillegelben Puppe schlüpft. »Du hast schon wieder laut gedacht.«

»Tut mir leid. Es ist nichts … nur mein Geburtstag.«

»Das ist nicht nichts. Herzlichen Glückwunsch!« Caro stemmte sich auf die Ellbogen, noch etwas verschlafen, aber genauso strahlend schön wie immer. »Ich weiß, du freust dich nicht so richtig auf diesen Tag heute, aber bestimmt wird er gar nicht so übel.«

»Ich wünschte, die Zeit wäre heute um Mitternacht einfach stehen geblieben.« Essie funkelte wütend die Zimmerdecke an. »Dann würden wir alle beide gemeinsam für immer siebzehn Jahre alt bleiben.«

»Aber dann wäre in zwei Wochen nicht mein achtzehnter Geburtstag und ich würde weder in die Gesellschaft eingeführt werden noch eine Ballsaison erleben. Das fände ich unfair, wo du doch schon mit einem Earl verlobt bist.«

»Ein Earl, um den ich keinen Moment lang gebeten habe, eine Verlobung, der ich nicht zugestimmt habe, und eine Zukunft, die mich nicht interessiert.« Essies Augenbrauen zogen sich zu einem dicken, dunklen Strich zusammen. »Und er will noch heute Abend anreisen, sagt Tante Emmeline. Er hätte mir ja ein paar Tage Zeit geben können, mich an den Gedanken zu gewöhnen.«

»Du hattest jetzt zehn Jahre Zeit, dich daran zu gewöhnen, Essie. Und ich finde es romantisch – als könnte er es gar nicht mehr erwarten, dich zu sehen.«

»Na ja, es geht ihm wohl eher darum, mich gründlich zu überprüfen. Und dazu bringt er auch noch seine Mutter mit. Daran ist überhaupt nichts romantisch.«

»Na komm, ihr heiratet schließlich nicht gleich heute. Es ist erst einmal nur ein Treffen.«

»Es ist ein Witz! Niemand interessiert sich dafür, ob wir einander überhaupt leiden können oder nicht. Es geht einzig und allein darum, dass alle so tun können, als wäre unsere Verlobung mehr als nur eine geschäftliche Vereinbarung.« Angewidert warf Essie ihre Bettdecke zurück. »Wenn du mich fragst, es ist vorsintflutlich, zwei Menschen schon als Kinder miteinander zu verloben, ohne sich im Geringsten darum zu scheren, wie sie das wohl finden werden, wenn sie erwachsen sind. Und warum?« Sie lachte verächtlich. »Nur weil mein Vater von dem Gedanken besessen ist, aus seiner Tochter eine Countess zu machen.«

»Mmm.«

»Schläfst du schon wieder?«

»Ja.«

»Caro!«

»Tut mir leid. Es ist nur – ich habe deine Schimpftirade jetzt schon so oft gehört und verstehe immer noch nicht im Geringsten, wo dein Problem liegt. Er ist jung, er ist reich und er ist ein Earl! Mama hat gehört, dass er außerdem noch gut aussieht. Weißt du, die meisten Mädchen würden sich zerreißen, um an deiner Stelle sein zu dürfen. Ich selbst übrigens auch.«

»Und genau aus diesem Grund solltest du ihn auch an meiner Stelle heiraten.« Essie sprang aus dem Bett, marschierte ans Fenster und zerrte die Vorhänge zur Seite. Der Himmel da draußen war blassgrau mit zarten rosaroten Girlanden durchzogen, doch am Horizont baute sich eine Wand aus bauschigen weißen Wolken auf. Momentan noch ganz nett, aber offenbar brachte der Earl schlechtes Wetter mit. Wie hätte es auch anders sein können. »Ich bin sowieso sicher, dass du ihm besser gefällst. Du bist viel hübscher als ich. Das finden alle.« Sie erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe, ihre kastanienbraunen Locken, ihre breite Stirn und ihre zu großen braunen Augen, und ließ den Vorhang wieder fallen. »Wahrscheinlich wird er sich wünschen, du wärst seine Verlobte, wenn er dich sieht. Mein Aussehen ist ja gerade mal erträglich.« Sie trat mit den bloßen Zehen nach der Kante eines Fransenteppichs. »Sagt deine Mutter jedenfalls.«

»Was?« Caro setzte sich empört im Bett auf. »Wann hat sie das gesagt?«

»Vorgestern Abend, zu deinem Vater. Ich habe ihr Gespräch in der Bibliothek belauscht. Na, jetzt sieh mich nicht so an! Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mich unter dem Tisch zu verstecken. Ich wollte mir nicht schon wieder eine Standpauke zum Thema Lesen anhören. Sie hat schon damit gedroht, die Tür abzuschließen, wenn sie mich noch einmal in der Bibliothek ertappt.«

»O nein!«, seufzte Caro verständnisvoll. »Das tut mir leid.«

»Das ist nicht deine Schuld.« Essie huschte zurück durch den Raum, kletterte auf das Fußende des Bettes, in dem ihre Cousine saß, und ergriff ihre Hände. »Aber schwöre mir, dass du niemals so wirst wie deine Mutter. Ich glaube, ich ertrage es nicht, wenn zwei Leute auf Schritt und Tritt auf mir herumhacken.«

»Ich werde nicht so. Versprochen. Und außerdem finde ich dich sehr hübsch.«

»Nicht so hübsch wie du.« Essie ließ den langen Zopf, der über die Schulter ihrer Cousine hing, durch die Finger gleiten. Er war goldblond mit einem bernsteinfarbenen Schimmer, wie der Sonnenschein. »Du würdest eine viel bessere Countess abgeben, als ich es je sein könnte. Du bist schön und elegant und sprichst Französisch und kannst Harfe spielen und Bilder malen und siehst nicht einmal beim Sticken im Entferntesten gelangweilt aus.«

»Darum geht es nicht. Du bist die Erbin und du bist mit ihm verlobt.« Caro hob die Schultern. »Ich weiß, das willst du nicht hören, aber du solltest vielleicht versuchen, es zu akzeptieren.«

»Anne Boleyn hätte das auch nicht akzeptiert.«

»O nein, wieder diese Anne Boleyn!« Caro ließ sich nach hinten fallen, schnappte sich ihr Kissen und hielt es sich über die Ohren. »Du interessierst dich ja nur für Bücher über die schlechtesten Frauen der Geschichte!«

»Weil sie am interessantesten sind! Sie zeigen, was Frauen erreichen können, wenn sie nur entschlossen genug sind. Außerdem war Anne Boleyn keine schlechte Frau. Sie hatte nur einen schlechten Ehemann.«

»Man hat sie enthauptet!«

»So etwas kann eben passieren, wenn man den falschen Mann heiratet.«

»Ich glaube kaum, dass der Earl of Denholm dich enthaupten wird.«

»Keine Ahnung, wozu er fähig ist! Ich weiß jedenfalls gar nichts über ihn – nur dass er ein Earl ist.«

»Du weißt, dass er zwei Jahre älter ist als du.«

»Also gut, das weiß ich.«

»Und dass er den Titel vor einem Jahr geerbt hat. Außerdem weißt du doch sogar, wie er aussieht! Ihr habt euch doch schon einmal getroffen!«

»Einmal, als wir Kinder waren. Und da hat er sich genau wie King Henry VIII. benommen, der mit den sechs Frauen. Er war eingebildet und hochnäsig und hat sich aufgeführt, als würde ihm die ganze Welt gehören.« Bei der Erinnerung zog sie eine Grimasse. »Es wird dir noch leidtun, wenn er mir erst einmal die grässlichsten Dinge antut.«

»Gut. Wenn er dich enthaupten lässt, gebe ich in der Times eine Anzeige auf, in der ich zugebe, dass du recht hattest.«

»Vergiss meinen Nachruf nicht. Glücklicherweise habe ich nicht die geringste Absicht, mir den Kopf abhacken zu lassen.«

»Essie?« Es war Caro anzusehen, dass ein kurzer Schreck sie durchfuhr. »Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Was hast du vor?«

»Ich weiß es noch nicht genau, aber du wirst es als Erste erfahren.« Essie lächelte schelmisch. »Also, ich kann es nicht fassen. Ich habe schon seit zehn Minuten Geburtstag und du hast mir noch kein Geschenk gegeben.«

»Es liegt direkt vor dir, auf deinem Nachttisch. Das wäre dir schon aufgefallen, wenn du dich nicht so mit deinem Gejammer aufgehalten hättest.«

»Emma!« Essie quiekte vor Begeisterung, als sie den Musselinstoff aufgerissen hatte, der ihr Geschenk einhüllte. Sie presste das Buch an sich. »Wie bist du an das neueste Buch von Jane Austen herangekommen?«

»Mit jeder Menge Tricks und Bestechung, also um Himmels willen, lass nicht zu, dass Mama es entdeckt. Du weißt doch, dass sie keine Romane in diesem Haus duldet, außer denjenigen, die sie selbst heimlich liest. Versteck es bei deinen anderen Büchern unter dem Bett.« Caro war anzusehen, wie ungeheuer stolz sie auf sich war. »Und weil Jane Austen keine Theaterstücke schreibt, habe ich dir außerdem eine neue Ausgabe von Shakespeares Viel Lärm um nichts besorgt. Deine alte Ausgabe löst sich gerade in Wohlgefallen auf.«

»Ach, du bist die liebste, beste Cousine auf der ganzen Welt.«

»Ich weiß. Und für den Fall, dass das nicht ausreicht, habe ich noch ein weiteres Geschenk für dich. Ich habe gehört, wie Mama zu ihrer Kammerzofe gesagt hat, sie soll gleich anfangen, dich fein zu machen, wenn du aufgewacht bist.«

»Aber der Earl kommt doch erst heute Nachmittag.« Essie rümpfte die Nase. »Und inwiefern ist das ein Geschenk?«

»Das Geschenk besteht in der Vorwarnung, findest du nicht? Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch, aus dem Haus zu kommen, bevor eine der beiden dich in die Finger bekommt. Wenn du dich schon über hundert Bürstenstriche aufregst, dann warte mal ab, was heute für dich auf dem Plan steht: Du wirst geschrubbt und poliert und eingequetscht …«

»Eingequetscht?«

»Korsett.«

»Iiiih! Vielen Dank!« Essie sprang aus dem Bett, zerrte sich das Nachthemd über den Kopf, schlüpfte in eine frische Bluse und einen sauberen Reitanzug.

»Keine Strümpfe?« Caro machte ein etwas entsetztes Gesicht.

»Keine Zeit.« Auf dem Weg zur Tür schnappte sich Essie ein Paar Stiefel und eine Reitjacke und blieb einen Moment lang stehen, um ihrer Cousine eine Kusshand zuzuwerfen. »Ich bin rechtzeitig zum Frühstück zurück.«

»Nein, bist du bestimmt nicht, aber ich werde Mama erzählen, dass du zu nervös bist, um Appetit zu haben. Das hält sie vielleicht noch einen Moment auf.« Caro winkte Essie zu und vergrub sich dann wieder unter ihrer Bettdecke. »Ich wünsche dir einen schönen Geburtstag!«

Essie konnte gerade noch rechtzeitig fliehen – nur wenige Sekunden später rauschte Amelie, die Zofe ihrer Tante, um die Ecke. Essie erhaschte einen Blick auf ihre Rockzipfel und duckte sich schnell in eine Mauernische, verbarg sich dort hinter der Marmorstatue eines dürftig bekleideten jungen Mädchens, das aus unerfindlichen Gründen eine Hirschkuh im Arm hielt. Wenige Augenblicke später raste sie die Haupttreppe hinunter, an zwei überrascht dreinblickenden Zimmermädchen vorbei, und schlüpfte aus der Vordertür. Sie steuerte auf den Reitstall zu, wo ihre graue Stute Boudica sie schon gesattelt und gezäumt erwartete – Thomas, der Stallmeister, kannte sie offenbar hundertmal besser als ihre Tante. Fünf Minuten später tobte sie den Hügel hinter Redcliffe Hall hinauf, als wären ihr alle Höllenhunde auf den Fersen – und jeder einzelne von ihnen wies eine erstaunliche Ähnlichkeit mit ihrer Tante auf.

Erst in sicherer Entfernung hielt sie an und seufzte erleichtert, während sie ihren Blick über die grünen und gelbbraunen Hügel der Landschaft von Cleveland schweifen ließ, über die Burgruine, die ihr Onkel aus einer Laune heraus im vergangenen Sommer erworben hatte, bis zum Meer, das als blaues Band in der Ferne zu erkennen war.

Sie liebte diese Landschaft, ihre Offenheit und den weiten Himmel. Sie liebte sogar das Herrenhaus selbst mit seiner klassizistischen Fassade und den perfekt symmetrischen Fenstern, auch wenn es ihrer allzu kritischen Tante und ihrem erstaunlich friedliebenden Onkel gehörte. Es war ihr Zuhause – zumindest seit neun Jahren, seit dem Zeitpunkt also, an dem ihre Mutter dahingewelkt war und ihr verwitweter Vater Alfred Craven, der ehrenwerte Lord Makepeace, zu dem Schluss kam, er habe weder Zeit noch Lust, sich mit etwas so Mühseligem wie der Erziehung einer Tochter abzugeben. Nachdem der passende Schwiegersohn gefunden war, hatte er entschieden, es sei das Beste für alle, vor allem für ihn selbst, wenn das Mädchen bis zum Tag ihrer Hochzeit im Haushalt seiner Schwester mit ihrer Cousine Caroline und ihrem Cousin Felix aufwuchs.

Als sie noch klein war, hatte Essie sich allergrößte Mühe gegeben, diese Entscheidung als eine rührende Geste väterlicher Opferbereitschaft zu interpretieren. Leider war diese Auslegung wenig überzeugend, denn ihr Vater hatte bei ihrer Abreise nicht die kleinste Spur von Trauer an den Tag gelegt – genau wie anlässlich der Beerdigung ihrer Mutter zwei Wochen zuvor. Stattdessen hatte er ihr einige strenge Anweisungen mit auf den Weg gegeben: Bescheiden solle sie sein, pflichtbewusst, tugendhaft und – was war noch das vierte Wort gewesen? Ach ja: zurückhaltend. Anschließend hatte er sie offenbar vollkommen vergessen. Nicht ein einziges Mal in den folgenden Jahren hatte er es für nötig befunden, sie zu besuchen oder auch nur den Vorschlag zu machen, sie könne zu ihm fahren. Nach so langer Zeit konnte sie sich kaum noch daran erinnern, wie er überhaupt aussah, und der Versuch, sein Bild vor ihrem inneren Auge heraufzubeschwören, verdüsterte ihre Stimmung nur noch weiter.

Sie wandte ihr Gesicht dem Himmel zu und versuchte, den Wolken irgendeine Gestalt zuzuordnen, um sich abzulenken. Manchmal übermannte sie ganz unvermittelt dieses Gefühl tiefster Trauer; dann schlug ihr Herz wie wild, und gleichzeitig fühlte sich ihre Haut heiß an, eng, als würde Essie jeden Moment aus ihrem Körper platzen. Manchmal war es auch anders: Dann spürte sie, wie sich die Trauer ganz allmählich aufbaute, sie anfüllte wie ein tiefer, dunkler See in ihrer Brust, der seine Umfassung zu sprengen und sie zu verschlingen drohte, wenn es ihr nicht gelang, ihren Gedanken rechtzeitig eine andere Richtung zu geben.

Ein Turmfalke schoss über den Himmel und sie beobachtete seinen Flug voller Neid. Wäre sie doch bloß so frei wie er! Frei, weit hinaufzufliegen, zu segeln, herabzuschießen, sogar zu fallen. Vor allem aber frei, ihren eigenen Weg zu gehen. Da draußen wartete die große Welt – eine Welt jenseits von Cleveland oder ihrem Elternhaus in Norfolk, sogar jenseits von Hampshire, wo der Earl of Denholm Ländereien besaß, und sie wollte sich diese Welt ansehen. Sie wollte nicht in genau dem Moment, in dem die Schultür hinter ihr ins Schloss fiel, gleich wieder eingesperrt werden.

Nein, sie war einfach nicht zur Countess geboren. Ihr Vater hatte diese Tatsache nicht erkannt, der Earl würde es bald feststellen. Ganz egal, wie viele Unterrichtsstunden in Benimm und Etikette sie absolviert hatte – an allem, was als damenhaft galt, war sie einfach nicht interessiert. Nichts wünschte sie sich mehr, als auf der Bühne zu stehen. Es war ihr innigster Wunsch, seit sie am Tag nach der Beerdigung ihrer Mutter auf deren Nachttisch Shakespeares Gesamtwerk entdeckt hatte. Erstaunt hatte sie das Buch in die Hand genommen, und mit jeder Seite, die sie umblätterte, wuchs ihre Verwunderung. Nie hätte sie damit gerechnet, dass ihre Mutter so ein Buch besaß. Essie konnte sich gar nicht daran erinnern, dass ihre Mutter jemals ein Buch aufgeschlagen hatte – und nun lag dieser Band auf ihrem Nachttisch, wie eine Botschaft an ihre Tochter.

Im Laufe der Jahre verschlang Essie Shakespeares Werke immer wieder und in Caro und Felix fand sie begeisterte Mitstreiter. Im ersten Sommer nach ihrer Ankunft auf Redcliffe hatten sie die erste Aufführung auf die Beine gestellt: eine stark gekürzte Bearbeitung von Hamlet, in der Essie die Titelrolle spielte. Carol übernahm die Rolle der Ophelia und Felix spielte alle anderen Rollen. Im Laufe der Jahre wurden die Aufführungen immer aufwendiger und bezogen schließlich auch einige von Felix’ Schulfreunden ein, die den Sommer bei ihnen verbrachten. Im ortsansässigen Adel fanden sie ein begeistertes Publikum. Auf der Bühne konnte Essie ihren Groll und ihre Furcht vor der Zukunft einfach hinter sich lassen. Sie konnte sich in eine ganz andere Person verwandeln, in jemanden, der frei war und keine vollkommene Fehlbesetzung.

Allerdings galt Schauspielerei – wie die meisten anderen Berufe auch – für Damen als höchst unschicklich, und ihr war durchaus bewusst, dass ihr Vater niemals sein Einverständnis geben würde. Wenn sie sich nur vornahm, ihn zu fragen, kamen ihr gleich wieder Begriffe wie »verstoßen« und »enterben« in den Sinn. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, ihre Ausbildung ohne sein Wissen anzufangen! … Vielleicht könnte sie eine berühmte Schauspielerin werden, die nächste Sarah Siddon oder Elizabeth Inchbald. Ihr Cousin Felix hatte ihr von diesen Frauen erzählt, die ein so viel interessanteres und spannenderes Leben führten als sie selbst. Essie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie es anfangen sollte, aber dass eine Lösung nicht offensichtlich war, hieß ja noch lange nicht, dass es keine gab. Ach, würde sie bloß die Antwort finden, könnte sie nur ausreichend Geld ansparen, um sich über Wasser zu halten, bis ihr Vater davon erfuhr! Dann würde sie frei sein! Es würde jede Menge Skandale und Opfer mit sich bringen, sie würde auf vieles verzichten müssen, aber wenigstens würde sie dann ein Leben führen, das ihr entsprach, idealerweise ohne einen einzigen Earl in Sichtweite.

Doch bevor sie ihre Träume in die Tat umsetzen konnte, musste sie zunächst ihren Verlobten loswerden.

Und außerdem: Falls sie überhaupt jemals heiraten sollte, dann wollte sie es aus Liebe tun – und sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, jemals ein solches Gefühl für diesen eingebildeten schwarzhaarigen Jungen mit den viel zu blauen Augen zu entwickeln, den sie ein einziges Mal in ihrer Kindheit getroffen hatte – ein Zusammentreffen, das katastrophal geendet hatte. Er hatte sie »undamenhaft« genannt, und sie hatte mit einer Beschimpfung erwidert, die bei ihrer Tante, hätte sie das Wort gehört, sofort eine Ohnmacht ausgelöst hätte. Der Junge dagegen hatte nur gelacht und das hatte Essie noch wütender gemacht.

Als sie nun hinaus auf das ferne Wasser der Nordsee starrte, glaubte sie, sein Gelächter wieder zu hören. Es quälte sie, aber gleichzeitig bestärkte es sie verblüffenderweise in ihrer Entschlossenheit. Zum Glück hatte die frische Luft ihre Gedanken so weit geklärt, dass ihr eine Idee gekommen war. Eine ganz einfache, genau genommen. Der Earl of Denholm war unterwegs, um sie kennenzulernen, vermutlich, um sie erneut auszulachen. Wenn sie die Verlobung lösen wollte, musste sie vielleicht nur ein freundliches Gesicht aufsetzen, so tun, als wäre ihr nicht schon sein bloßer Anblick zuwider, und ganz anständig fragen.

Sie würde das ihren Plan A nennen. A für anständig.

Kapitel 2

Die Zeit, sinnierte Essie, verging ganz anders, wenn sie auf Boudica ausritt. Die Stunden flogen manchmal vorüber, als seien es Minuten, und sie konnte alles andere vergessen, einschließlich der Tatsache, dass ihr Magen knurrte wie ein ausgehungerter Wolf und dass ihre Ohren und ihre Nase sich in der eisigen Frühlingsluft schon ganz taub anfühlten. Und so kam ihr der Gedanke, dass sie vermutlich zu lange fort gewesen war, erst in dem Moment, als sie Thomas auf sich zureiten sah, als seien sämtliche Höllenhunde hinter ihm her.

»Verzeihung, Miss.« Der Stallmeister keuchte so heftig, als er sie erreichte, dass man hätte glauben können, er sei auf eigenen Beinen galoppiert. »Ihre Tante hat mich nach Euch geschickt.«

»Ach, wie ärgerlich. Ich wollte doch wirklich zum Frühstück zurück sein.« Ihr Herz sank ihr fast bis hinab in die frostigen Zehen. »Ist sie auf dem Kriegspfad?«

»Nicht mehr als sonst auch, aber es geht nicht nur darum. Es ist auch wegen des Earls. Sie sagt, er würde in einer Stunde eintreffen.«

»Was? Aber es ist doch noch Vormittag!« Essie wendete ihr Pferd, dann stutzte sie, runzelte die Stirn. »Ist es doch noch, oder?«

»Ja, knapp, aber er hat einen seiner Männer mit einer Nachricht vorausgeschickt. Sie kommen früher an als erwartet.«

»Mist!« Sie trieb Boudica mit den Zügelenden an und galoppierte den Abhang hinunter. Gerade setzte Schneefall ein, winzige Flocken, die um sie herum trudelten und tanzten wie winzige Ballerinen. Als sie die Stallungen erreichten, hatte sich das sanfte Geriesel in einen mittleren Schneesturm verwandelt, und sie stieg erleichtert aus dem Sattel, warf Thomas mit einem dankbaren Lächeln die Zügel zu und platzte kurz darauf durch ihre Zimmertür, mit roten Wangen und vollkommen außer Atem.

»Wo warst du?« Tante Emmeline sah so aus, als würde sie jeden Moment einen Schreikrampf bekommen. Ihre goldenen Kringellöckchen tanzten um ihren Kopf wie wütende Schlangen. Mit ihren sechsunddreißig Jahren hatte sie sich so viel von ihrem jugendlichen guten Aussehen bewahrt, dass man sie bei günstigen Lichtverhältnissen für Caros ältere Schwester hätte halten können, nicht für ihre Mutter. Sie waren beide goldblond und blauäugig, hatten die gleiche gertenschlanke Figur, die gleiche Stupsnase und den gleichen beneidenswert makellosen Teint. Nur ihre Münder waren unterschiedlich – und auf keinen Fall konnte man Tante Emmelines ewigen Schmollmund mit Caros warmherzigem Lächeln verwechseln.

»Tut mir leid, Tante.« Essie kämpfte sich aus ihrem Reitanzug und ließ sich auf den Hocker vor ihrem Frisiertisch fallen. »Ich habe ein bisschen frische Luft gebraucht.«

»Damit du deinem künftigen Gatten vollkommen zerrupft entgegentreten kannst?« Ihre Tante holte tief Luft. »Wo sind deine Strümpfe?«

»Ähm …« Essie wechselte einen kurzen Blick mit Caro. »Vergessen …?«

»Sieh dir bloß dieses Vogelnest an. Alles verwirrt und verknotet.« Ihre Tante packte eine Handvoll von Essies Haaren, zerrte daran und hielt sie Amelie hin. »Für ein Bad bleibt keine Zeit mehr, aber tu dein Bestes. Caro, du hältst am Fenster Wache. Und was dich angeht«, sie funkelte Essie im Spiegel wütend an, »dir habe ich ausdrücklich verboten, heute Morgen auszureiten.«

»Wirklich?«

»Ja! Gestern Abend nach dem Essen.«

»Oh. Tut mir leid. Du sprichst einfach so viele Verbote aus, dass ich mir unmöglich alle merken kann.«

»Herr, gib mir Geduld!« Ihre Tante kniff die Augen zusammen, als suchte sie in ihrem Inneren nach Kraft. Entweder das, oder sie versuchte, ihren rasenden Herzschlag wieder in den Griff zu bekommen. »Nur gut, dass dein Vater bereits eine Ehe für dich arrangiert hat. Ich würde verzweifeln, wenn ich einen anderen armen Mann für dich suchen müsste. Du bist leichtsinnig, ungehorsam, dickköpfig und jetzt auch noch frech! Das musst du von der Seite deiner Mutter haben – in meiner Familie gibt es so etwas jedenfalls nicht. Dein Vater wäre völlig entsetzt, wenn er dich hören würde.«

Essie biss die Zähne zusammen und fragte sich, ob ihre Tante ihren Geburtstag wohl vergessen hatte oder ob ihr Essies Gefühle einfach vollkommen egal waren. Sie vermutete ganz stark, dass Letzteres der Fall war. Was ihren Vater anging, war es kaum vorstellbar, dass er ihr ausreichend Aufmerksamkeit schenkte, um überhaupt irgendwelche Gefühle für sie zu entwickeln, aber immerhin – völliges Entsetzen klang noch besser als gar nichts.

»Du verdienst dein glückliches Schicksal überhaupt nicht«, schloss ihre Tante, und dabei zog sie ein so scheinheiliges Gesicht, dass Essie sich nicht zurückhalten konnte.

»Wie sollte das ein glückliches Schicksal sein, wenn ich es überhaupt nicht haben will?«

Ein Anflug von Panik blitzte in den Augen ihrer Tante auf. Sie zischte wütend: »Nun reiß dich zusammen, Mädchen, denk an die Familie und sei ein einziges Mal vernünftig. Mach bloß keinen Unsinn!«

Tante Emmeline war klein, aber sie konnte erstaunlich kräftig zupacken. Essie duckte sich unter dem Griff ihrer Finger, als sie und Caro aus der Eingangshalle geschoben und die Vortreppe hinunterbefördert wurden. Im selben Moment rollte eine schwarze, mit einem goldenen Wappen verzierte Kutsche, gefolgt von einem Gepäckwagen und umringt von einem halben Dutzend Reitern in Livree-Uniformen, die Einfahrt herunter.

Nachdem man sie dreißig Minuten mit großer Entschlossenheit bearbeitet hatte, waren Essies Wangen jetzt zartrosa gefärbt, nicht mehr leuchtend rot, ihre Haare waren zu einem eleganten, von einem ganzen Kästchen voller Nadeln an Ort und Stelle befestigten Knoten hochgesteckt, und das Atmen wurde ihr durch ein festgezurrtes Korsett erheblich erschwert. Sie fühlte sich wie ein Püppchen in ihrem teuren cremefarbenen Seidenkleid mit den aufgestickten rosafarbenen Schmetterlingen. Ihre Tante war der Meinung, dieses Kleid verleihe ihr ein hübsches, sittsames Aussehen – der Begriff »reich« war darin enthalten –, aber den winterlichen Wetterverhältnissen entsprach es leider gar nicht. Nur noch vereinzelte Schneeflocken trudelten vom Himmel, aber die Temperatur war eisig. Jeder echte Schmetterling wäre schon erfroren, bevor er auch nur einmal die Flügel aufgeklappt hätte.

»Ach, seht ihr beide nicht hinreißend aus?« Onkel Charles wartete bereits auf der Treppe, sein übliches heiteres Lächeln im Gesicht. »Und gerade noch rechtzeitig. Hier kommen sie schon.«

»Darf ich mir bitte, bitte, bitte etwas überziehen?« Essie warf einen sehnsüchtigen Blick auf Caros Spitzenschal. Es war nicht viel, aber immer noch besser als ihre bloßen, vermutlich in Kürze blau anlaufenden Arme. »Es ist so ka-kalt!«

»Nein! Eine Lady bewahrt Haltung – bei jeder Temperatur. Er soll erkennen, dass du dir Mühe gibst.« Ein dünner Tantenfinger stieß sie ins Kreuz. »Jetzt steh gerade, Schultern gerade, denk an den Hofknicks und hör auf zu schlottern.« Sie wandte den Blick ab, sah dann aber wieder auf Essie. »Und rede so wenig wie möglich!«

Essie verdrehte die Augen, ließ die Schultern absichtlich hängen und kuschelte sich Wärme suchend an Caro, als die Kutsche vor ihnen zum Stehen kam. Ehrlich gesagt, selbst wenn sie gewollt hätte, wäre ihr das Sprechen mit heftig klappernden Zähnen schwergefallen, aber jetzt musste sie ja nur freundlich lächeln und so tun, als hätte jenes erste Treffen mit dem jungen Earl niemals stattgefunden.

Tante Emmeline redete zuerst. »Lady Denholm, wie schön, Euch zu sehen! Wie war die Reise?« Sie sank in einen tiefen Knicks, als eine sehr würdevoll wirkende Frau mit grau gesträhntem Haar und humorloser Miene die Kutschentreppe herabstieg. Sie sah sich um, und ihr Gesichtsausdruck verriet, dass ihre niedrigen Erwartungen sich gerade erfüllt hatten.

»Lang.« Die Stimme der Countess ließ ahnen, dass die Konversation sie jetzt schon langweilte. »Bitte entschuldigt unsere verfrühte Ankunft. Mir wurde mitgeteilt, dass das Wetter sich wahrscheinlich noch verschlechtern würde, und so habe ich darauf bestanden, früher aufzubrechen als ursprünglich beabsichtigt. Schnee im März. Unerträglich.«

»Oh, ich stimme Euch zu. Ganz scheußlich.«

Der Blick der Countess fiel auf Caro, und ihre dünnen Lippen verzogen sich, als bemühe sie sich zu lächeln. »Du musst meine zukünftige Schwiegertochter sein?«

»Ich?« Caros Wangen brannten und sie wandte sich Hilfe suchend nach ihrer Mutter um.

»Ach nein, das ist meine Tochter. Miss Caroline Foyle.« Tante Emmeline stieß ein verlegenes, plätscherndes Lachen aus. »Das hier ist meine Nichte, Miss Essie Craven.«

Essie sank gehorsam in einen Knicks. Das Lächeln ihres Gegenübers erstarb im selben Moment, als hinter ihr ein junger Mann von einem kastanienbraunen Hengst stieg. Bis jetzt war er vielleicht von der Kutsche verborgen gewesen, doch nun, von ihrer tiefen Position aus, konnte Essie sehen, dass seine Beine in einem Paar hoher schwarzer Stiefel steckten. Sie waren so perfekt poliert, dass es sie nicht überrascht hätte, darin ihr eigenes Spiegelbild zu erkennen. Sie gewährte sich einen kurzen Blick nach oben und stellte fest, dass seine restliche Kleidung ebenso makellos und rein war: eng anliegende, lederfarbene Reithosen, ein knöchellanger Kapuzenmantel, marineblaue Weste und eine Krawatte, die so strahlend weiß leuchtete, dass Essie beinahe geblendet war. Er sah aus, als hätte er sich eben erst umgezogen – nicht so, als sei er gerade durch halb Nordengland geritten. Sie selbst hätte sich wahrscheinlich schon auf dem Weg die Treppe hinunter mehr beschmutzt. Er sah so vornehm aus wie ein Prinz. Henry V. oder Troilus oder Hamlet. Oder vielleicht wie ein Schurke aus einem Theaterstück.

Sie schluckte und hatte das Gefühl, die Temperatur sei schlagartig noch einmal um mehrere Grad gefallen. Ehrlich gesagt war es ganz gut, dass sie gerade auf dem Boden kauerte, denn auch ihre Knie fühlten sich richtig weich an. Das konnte nur einer sein: ihr Verlobter. Ihre Zukunft. Ihr Earl.

Wenn sie das nicht irgendwie verhindern konnte.

»Lord Denholm!« Tante Emmeline trat vor sie und versperrte ihr die Sicht, bevor sie die Möglichkeit gehabt hatte, ihren Blick noch weiter zu heben. »Mein Gatte und ich fühlen uns geehrt, Euch in Redcliffe willkommen heißen zu dürfen.«

»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, wie ich Euch versichern kann.« Seine Stimme war tief und kräftig ohne jede Spur jener Weinerlichkeit des Zehnjährigen.

In plötzlicher Ungeduld beugte sich Essie zur Seite, um einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Dabei wäre sie beinahe umgefallen. Zu ihrem gewaltigen Ärger war er tatsächlich so gut aussehend, wie ihre Tante angekündigt hatte, allerdings auch noch genauso widerlich und arrogant, wie sie ihn in Erinnerung hatte, mit seiner Adlernase und den Wangenknochen, die so scharf hervorstachen, dass man sich die Finger daran aufschneiden konnte. Nur seine Augen waren so grau wie die Schneewolken, die gerade heraufzogen, und nicht blau wie in ihrer Erinnerung. Es schien, als habe sich über die Jahre jede Wärme darin abgekühlt – und davon war damals schon nicht viel vorhanden gewesen.

»Miss Craven.« Er wandte sich ihr abrupt zu, als hätte er ihren forschenden Blick gespürt. Sie zuckte zusammen. »Es ist lange her. Ich nehme an, ich darf Glückwünsche zum Geburtstag aussprechen?«

»Eure Lordschaft.« Sie biss die klappernden Zähne zusammen und knickste noch einmal leicht, als er auf sie zuschritt. Er war schlank gebaut und bewegte sich anmutig, beinahe flüssig. Er erinnerte sie an eine Katze – geschmeidig, elegant, selbstsicher – das war typisch, sie selbst war nämlich eher ein Hundemensch.

»Nennt mich Aidan.« Er griff nach ihrer Hand und berührte mit den Lippen sanft ihre Fingerknöchel. Hatte er sie überhaupt berührt? »Ihr seht …«, seine Brauen zogen sich ein bisschen zusammen, »… so aus, als würdet Ihr frieren.«

»Ach, ist es denn kalt?« Sie konnte es sich nicht verkneifen, ihrer Tante einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Wenn Ihr erlaubt …« Sein grauer Blick verharrte noch einige Sekunden auf ihrem Gesicht, dann nahm er seinen Reitmantel ab und legte ihn über ihre Schultern.

»Oh!« Sie blinzelte und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Natürlich wollte sie seinen Reitmantel überhaupt nicht, im Prinzip jedenfalls nicht, aber sie musste sich eingestehen, dass er wunderbar wärmte. »Danke schön, Mylord … Aidan …, aber mir ist wirklich nicht kalt.«

»Tatsächlich nicht?« Er sah auf einen ihrer Arme. Er war so gut wie blau und mit Gänsehaut überzogen.

»Sollen wir eigentlich den ganzen Tag hier herumstehen und frieren?«, fragte die Countess gereizt. Sie zog sich einen teuer wirkenden, purpurroten und pelzbesetzten Umhang enger um die Schultern. »Oder können wir auf eine Tasse Tee hoffen?«

»Selbstverständlich, Mylady.« Onkel Charles streckte den Arm aus. »Folgt mir hier entlang.«

»Möchtet Ihr auch etwas Tee?« Essie lächelte angestrengt. Hatte der Earl das unhöfliche Benehmen seiner Mutter bemerkt, oder erwartete er ebenso wie sie, hofiert zu werden? Wenn ja, dann würde sie es nicht lange aushalten, sich anständig zu benehmen.

»Es wäre mir eine große Freude.« Er neigte den Kopf, aus seiner Miene war nichts zu lesen. Dann bot er Tante Emmeline seinen Arm an. »Bitte?«

Das Mittagessen schien sich endlos hinzuziehen. Die Countess ließ sich ausführlich über das grässliche nordenglische Wetter aus und den noch grässlicheren Zustand der nordenglischen Straßen. Darauf folgte ein langer, qualvoller Nachmittag im Salon, den die Lady mit der detaillierten Beschreibung ihrer Pläne für die neue Innengestaltung ihres Witwensitzes füllte. In Essie keimte der Verdacht, dass sie nicht die einzige Person in diesem Haushalt war, die sich einen Plan zurechtgelegt hatte.

Die Vormittagsstunde, in der sie gekämmt und frisiert worden war, hatte sie damit zugebracht, sich eine Ansprache im Kopf zurechtzulegen. Sie wollte die allerhöflichste Formulierung finden, mit der sie freundlich bitten konnte. Aber ihr wurde kein Gespräch unter vier Augen mit dem jungen Earl gestattet, wie sie es erhofft hätte. Stattdessen konnte sie gerade einmal oberflächlichste Höflichkeiten mit ihm austauschen und schon stürzte sich ihre Tante auf sie herab wie ein scharfäugiger Habicht auf ein besonders appetitliches Kaninchen. Einmal hatte Tante Emmeline sich in ihr Gespräch hineingedrängt, nur um zu bemerken, wie gut die Weste des Lords zu ihren Vorhängen passte. Bei einer anderen Gelegenheit hatte sie sich in eine fünfminütige Schilderung einer völlig belanglosen Einkaufsfahrt nach Guisborough verstrickt und beim dritten Mal hatte sie den jungen Earl nach seiner Lieblingsfarbe gefragt.

Beim Abendessen sah sich Essie in ihrem Verdacht bestätigt: Ihre Tante versuchte tatsächlich, sie daran zu hindern, aufsässig – oder, noch schlimmer, ehrlich! – zu handeln: Man wies ihr und ihrem Verlobten gegenüberliegende Plätze zu, und Essie saß neben ihrer künftigen Schwiegermutter, welche die Gelegenheit nutzte, sie näher in Augenschein zu nehmen und zu belehren.

»Earl und Countess zu sein, also eine Grafschaft zu führen ist keine leichte Aufgabe.« Die Augen der Countess leuchteten bei diesem Thema vor Begeisterung. »Es erfordert eine starke Partnerschaft, ganz zu schweigen von Pflichtbewusstsein und Hingabe, aber für das richtige Mädchen, eines, das in der Lage ist, Anweisungen Folge zu leisten …« An dieser Stelle unterbrach sie ihre Rede einen Moment lang, als stelle sie infrage, dass diese Beschreibung auf Essie zutraf. »… gibt es keine größere Ehre.«

Essie hätte spontan mindestens ein Dutzend höhere Ehren aufzählen können, aber sie schwieg und schluckte ihre Widerrede hinunter, während sie ihren überwiegend schweigsamen Verlobten musterte. Es fiel ihr zunehmend schwer, ihn freundlich zu behandeln, denn mit seiner unnahbaren, distanzierten Art schien er absichtlich ihren alten Zorn, ihre alte Abneigung wiederzuerwecken. Zu ihrem Ärger war er in den zehn Jahren seit ihrer letzten Begegnung deutlich erwachsener geworden als sie selbst; nun wirkte er so reif, dass sie sich im Vergleich zu ihm unerfreulich jung und ungelenk fühlte. Außerdem war er wieder makellos gekleidet, diesmal in einem schwarzen Abendanzug, wieder mit einer blendend weißen Krawatte. Er trug sie zu einem aufwendigen Knoten gebunden und mit einer saphirgeschmückten Krawattennadel. Eindrucksvoll, das war nicht zu leugnen – seine Kleidung betonte seinen vornehmen Hochmut noch stärker, aber vielleicht wurde solcher Hochmut auch von einem Earl erwartet. Vielleicht konnte er gar nichts dafür und es handelte sich um eine Art angeborene Fassade. Vielleicht war ihm gar nicht bewusst, wie arrogant er sich benahm. Vielleicht sollte Essie es ihm einfach sagen.

Sie hielt den Kopf schief und fragte sich, was passieren würde, wenn sie genau das tun und bei dieser Gelegenheit quer über den Tisch hinweg gleich darum bitten würde, die Verlobung an Ort und Stelle aufzulösen. Entsetzen würde sich in der Miene ihrer Tante ausbreiten, Kränkung oder vielleicht eher Erleichterung in der Miene von Aidans Mutter, höfliche Betroffenheit in den Gesichtern von Caro und ihrem Onkel und … sie hatte nicht die geringste Ahnung, was für ein Gesicht Aidan selbst machen würde.

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als er sie ansah. Sein blasser Blick traf den ihren und ihr blieb ganz unerwartet auf einmal die Luft weg. Einen flüchtigen Augenblick lang glaubte sie, eine Ahnung, dann Belustigung in seinen Augen aufblitzen zu sehen, als hätte er eben ihre Gedanken gelesen. Aber dann fiel ein Vorhang und sie konnte nichts mehr aus seiner Miene lesen.

Ihr blieb nur das deutliche, ärgerliche Gefühl, dass er sie auslachte. Schon wieder.

Kapitel 3

»Es gelingt mir nicht, in seine Nähe zu kommen. Ich habe also gar keine andere Wahl.« Essie stand von ihrer Bettkante auf, wo sie bereits seit einer halben Stunde gesessen hatte. Sie hatte immer und immer wieder überlegt, was sie tun konnte, bis sie das Gefühl hatte, ihr Kopf würde jeden Moment platzen.

»Das kannst du nicht machen!« Caro packte sie am Arm, als sie sich zur Tür wandte. Panik stand ihr in das hübsche, herzförmige Gesicht geschrieben. »Das kannst du wirklich nicht!«

»Ich muss aber. Ich kann nicht weiter so tun, als wäre ich nur süß und lieblich. Es ist die einzige Möglichkeit, unter vier Augen mit ihm zu sprechen.«

»Aber wenn jemand dich dabei erwischt, dass du einen Mann in seinem Schlafzimmer besuchst, bist du ruiniert!«

»Das Risiko muss ich eingehen.«

»Kannst du nicht abwarten und in London mit ihm sprechen? Mama sagt, er wird in der Ballsaison dort sein.«

»So lange kann ich nicht warten.«

»Aber bist du wirklich von ganzem Herzen überzeugt davon, dass du ihn nicht heiraten willst?«

»Absolut. Ich wollte ihn nie heiraten, schon seit dem ersten Moment, in dem man mir diese Entscheidung mitgeteilt hat. Nur hören mein Vater und deine Familie mir einfach nicht zu. Also kann ich nichts anderes tun, als ihn persönlich anzusprechen.«

»Und wenn er Nein sagt?«

»Ich weigere mich, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Aber wenn er es doch tut, dann gibt es noch Plan B.«

»Und der lautet?« Caro klang hoffnungslos.

»Das weiß ich noch nicht, aber ich denke mir einen aus, und dazu noch die Pläne C, D und E, wenn es nötig sein sollte. Das Alphabet hat sechsundzwanzig Buchstaben. Einer von ihnen wird ja wohl klappen.«

Ihre Cousine atmete tief aus, es klang wie ein Schaudern. »Ich bin immer noch der Meinung, dass du einen furchtbaren Fehler machst, aber ich kann dich wohl nicht aufhalten.«

»Danke.« Essie löste die Finger ihrer Cousine von ihrem Handgelenk und drückte sie kurz, dann schlich sie sich hinaus in den dunklen Flur, einen Kerzenleuchter in der Hand. Sie wusste, dass der Earl im Ostflügel untergebracht war. Das bedeutete, dass sie sich an den Schlafzimmern ihrer Tante und ihres Onkels vorbeistehlen musste, aber zum Glück war sie mit den besten Verstecken vertraut. Wie sich herausstellte, benötigte sie diese aber nicht. Über dem Haus lag eine unheimliche Stille. Nur ihre eigenen Schritte waren zu hören, das eine oder andere unglückliche Knarzen einer Bodendiele und das rasende Klopfen ihres Herzens, als sie auf Zehenspitzen durch die Galerie huschte.

Als sie den Ostflügel erreichte, bremste sie ab. Die strafenden Mienen der Vorfahren ihres Onkels auf den Porträts, die in der Galerie hingen, beachtete sie nicht. Schließlich erreichte sie die richtige Tür. Sie führte zum besten, größten Gästezimmer, das man einfallslos als das »Blaue Zimmer« bezeichnete. Dort hatten Caro und sie als Kinder Verstecken gespielt, bis ihre Tante sie erwischt und einen hysterischen Anfall bekommen hatte. Seither hatte sie den Raum nicht mehr betreten.

Bis heute.

Sie schloss die Augen, holte tief Luft, um Kraft zu schöpfen, hob die Hand und erstarrte, denn ihr wurde plötzlich klar, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, was sie als Nächstes tun sollte. Für diesen Moment hatte sie sich nichts zurechtgelegt. Wenn sie anklopfte, würde die Countess um die Ecke vielleicht aufmerksam werden, aber sie konnte auch schwerlich einfach eintreten, ohne sich bemerkbar zu machen.

Oder konnte sie doch?

Schnell blickte sie den Flur auf und ab, dann griff sie nach dem Türknauf und drehte ihn.

Das Zimmer hinter der Tür war erfreulich warm und zum Glück nicht vollkommen dunkel. Auf der Kommode brannten zwei Kerzen, was wohl bedeutete, dass der Earl sich noch nicht zu Bett begeben hatte. Andererseits war keine Spur von ihm zu sehen.

Verdutzt stellte sie ihren eigenen Leuchter ab und starrte tiefer in die Dunkelheit. Das alte Himmelbett war genauso breit und hoch, wie sie es in Erinnerung hatte, mit königsblauen Samtvorhängen, die perfekt zu den Fenstervorhängen passten. Die Chaiselongue stand immer noch in der Ecke, ebenso der breite Mahagonischrank, aus dem Felix einmal gesprungen war, als Essie nach Caro gesucht hatte. Sie betrachtete alles eingehend und ging vorsichtig einige Schritte darauf zu. Nein, sie erwartete nicht wirklich, dass ein hoher Adliger sich in einem Schrank versteckte, aber jetzt, wo ihr der Gedanke gekommen war, konnte sie ihn nicht mehr vollständig verdrängen.

»Kann ich Euch behilflich sein?«

Sie sprang etwa einen halben Meter in die Luft und drehte sich mit einem erstickten Aufschrei um. Ihr Verlobter rekelte sich in einem der ledernen Ohrensessel am Kamin. Die langen Beine hatte er vor sich ausgestreckt und die Füße auf einen Kohleeimer gelegt. Er war noch angezogen, trug aber nur das Nötigste. Die Schuhe hatte er ebenso abgelegt wie sein Jackett, seine Weste und seine Krawatte, sodass er jetzt nur noch in Reithosen und ein weit aufgeknöpftes weißes Hemd gekleidet war, als habe er begonnen, sich auszuziehen, und dann doch keine Lust mehr gehabt, diese Tätigkeit zu Ende zu führen.

»Miss Craven, was für eine unerwartete Ehre.« Er stand nicht auf, zog nur eine Augenbraue hoch, als sei er vollkommen daran gewöhnt, dass sich nachts Frauen in sein Schlafzimmer schlichen. Vielleicht war das ja auch der Fall. »Ich würde Euch fragen, ob Ihr Euch in der Tür geirrt habt, aber da Ihr hier zu Hause seid, erscheint mir das recht unwahrscheinlich.«

»Ich habe mich kein bisschen in der Tür geirrt.« Sie reckte das Kinn und spürte, wie sie errötete, als er ihr Nachthemd und ihre bloßen Füße musterte. Der Raum fühlte sich plötzlich noch wärmer an, als hätte sein Blick eine merkwürdige Auswirkung auf ihre Körpertemperatur.

Noch merkwürdiger jedoch war, dass er sich seit dem Abendessen in einen vollkommen anderen Mann verwandelt hatte – einen Mann mit Brusthaaren und einem Gesichtsausdruck, den man nur als boshaftes Grinsen bezeichnen konnte. Das makellos gekleidete, makellos vornehme, hochmütige Paradebeispiel eines Earls, das sie bislang gesehen hatte, schien eher unfähig, sich zu rekeln oder boshaft zu grinsen. Vor einigen Stunden hatte sie nichts davon bemerkt. Wären diese blassen Augen nicht gewesen, hätte sie vermutet, sie habe tatsächlich das falsche Zimmer betreten. Obwohl sie beim Abendessen genau so einen kurzen Blick von ihm aufgefangen hatte …

Sie räusperte sich, als ihr bewusst wurde, dass er die Augenbraue schon seit einigen Sekunden gehoben hatte und sie ihn einfach nur anstarrte. »Ich muss mit Euch reden. Es ist wichtig.«

»Das klingt spannend.« Er zeigte auf den Sessel gegenüber. »Setzt Euch. Ich vermute, Eure Tante weiß nicht, dass Ihr hier seid? Sie wird sicher der Meinung sein, es sei nicht ganz …« Er wedelte mit der Hand in der Luft, als suche er nach dem richtigen Wort. »… schicklich.«

»Das wäre ihr ganz egal«, knurrte Essie verächtlich und setzte sich. »Diesbezüglich macht sie sich keine Sorgen. Sie würde es nur für sich ausnutzen und uns dazu zwingen, noch schneller zu heiraten als geplant.«

»Tatsächlich? Und was wäre ihr dann nicht egal?«

»Das hier. Dass wir miteinander sprechen. Euch ist doch bestimmt aufgefallen, wie sehr sie seit Eurer Ankunft darauf geachtet hat, dass wir keine einzige Minute miteinander allein sind?«

»Ja. Darüber habe ich mich gewundert.«

»Sie sagt, sie tut das, damit ich nichts Dummes sage, aber es muss nun mal gesagt werden.« Sie glättete ihr Nachthemd mit den Handflächen, setzte sich gerade hin, machte den Mund auf, machte ihn aber wieder zu, als ihr auffiel, dass auf dem Boden neben Aidan einige Kohlestifte und Skizzen herumlagen. Was sie nicht weiter verblüfft hätte, wenn nicht eine der Skizzen genau wie … »Bin ich das?«

»Was?« Aidan runzelte sofort die Stirn. »Ja, ich habe ein bisschen gezeichnet, um mir die Zeit zu vertreiben.« Er griff nach unten und drehte die Zeichnung um. »Was meintet Ihr? Was muss unbedingt gesagt werden?«

»Genau.« Zum zweiten Mal strich sie ihr Hemd glatt. »Ich komme direkt zur Sache. Diese Verlobung ist vollkommen unfair.«

Aidan schwieg lange Zeit. So lange, dass sie schon dachte, er würde überhaupt nichts erwidern. Aber dann schwang er mit einem Mal seine Füße auf den Boden.

»Ich bin ganz Eurer Meinung.«

»Was?« Sie schnappte nach Luft. Das blaue Leuchten in seinen eben noch grauen Augen verwirrte sie.

»Ich bin voll und ganz Eurer Meinung. Ich halte es für eine enorm schlechte Idee. Dafür habe ich es immer gehalten.«

»Wirklich?« Einen kurzen Moment lang war sie gekränkt, bevor ihr einfiel, dass dies eher Grund zur Freude war. »Ach, Ihr wisst gar nicht, wie sehr ich mich freue, dass Ihr das sagt. Was für eine Erleichterung!«

»Ich habe schon befürchtet, Ihr hättet Eure Tante gebeten, in der Nähe zu bleiben, weil Ihr nicht darüber reden wolltet. Dann hätten wir so tun müssen, als wäre das hier eine Art lächerliche Liebesgeschichte.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und lächelte. Sie ertappte sich dabei, wie sie glücklich zurückgrinste. Es war, als sehe sie ihn zum ersten Mal.

Jetzt, wo sie sich einig waren, gefiel er ihr weit besser als noch vor einer Minute. Tatsächlich sah er sogar besser aus. Sein dichtes rabenschwarzes Haar stand widerspenstig in die Höhe und die scharf abgesetzten Flächen seines Gesichts wirkten durch sein Lächeln weicher. Leicht zerzaust stand ihm gut. Merkwürdigerweise schimmerten sogar seine Augen jetzt wieder blau, wie der Mittelpunkt des Ozeans. Nicht dass sie jemals einen Ozean gesehen hätte, aber sie stellte sich vor, dass er so aussah: tief, bodenlos tief, und rein, durchdringend, intensiv blau … Und wie konnte sie hier von einem Mann schwärmen, den sie auf keinen Fall heiraten wollte?

»Ich muss mit Euch reden und wusste keine andere Lösung!« Sie schüttelte den Kopf ein wenig. »Wir passen nicht im Entferntesten zusammen. Erinnert Ihr Euch an den Tag, als wir noch Kinder waren? Ihr wart überheblich und ernst und so sauber! Eure allergrößte Sorge galt Eurer Kleidung und dass Ihr sie beschmutzen könntet.«

»Ihr dagegen wart dickköpfig und rechthaberisch und fest entschlossen, Euch im Schlamm zu wälzen.«

»Ihr habt gesagt, Jungs haben immer recht.«

»Ich hatte recht! Es war zu nass, um im Wald zu spielen.«

»Ich habe Euch gehasst.«

»Das beruhte auf Gegenseitigkeit.«

»Seht Ihr?« Sie lachte erleichtert. »Wir sind die letzten Menschen auf der Welt, die heiraten sollten.«

»Immerhin erkenne ich Euch jetzt wieder!« Er schmunzelte. »Vorhin war ich nicht davon überzeugt, die richtige Person vor mir zu haben.«

»Ich habe versucht, freundlich zu sein. Ich dachte, Ihr würdet mir dann eher zustimmen.«

»Ich stimme Euch hundertprozentig zu.«

»Perfekt!« Sie streckte die Hand aus, um die seine zu schütteln. »Dann können wir die Verlobung ja gleich hier und jetzt auflösen.«

»Ach …« Wieder entstand eine lange Pause. Das Funkeln in seinen Augen erlosch, als er auf ihre Hand hinunterblickte und sich dann in seinem Sessel zurücklehnte.