Blume des Bösen - Gerd-Rainer Prothmann - E-Book

Blume des Bösen E-Book

Gerd-Rainer Prothmann

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Beschreibung

Ein Roman wie ein Road Movie. Temporeich, spannend und bewegend. Hans Ronstaedt, freier Journalist und Amateursaxofonist, verfällt noch vor der Maueröffnung einer amour fou zur äußerst attraktiven kubanisch-chilenischen Sängerin Laura Canela, die er in einem Ostberliner Jazzkeller kennengelernt hat. Seine süchtige Leidenschaft lässt ihn alles aufs Spiel setzen. Ihretwegen kommt er zu spät an die Grenze, wird verhaftet, stundenlang von der Stasi verhört und soll zur Mitarbeit geködert werden. Was er ablehnt. Aber er fährt immer wieder nach Ostberlin. Verliert darüber Frau und Kinder. Nach dem Mauerfall ist Laura plötzlich spurlos verschwunden. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Jahre später überlässt ihm seine geschiedene Frau zwei Briefe von Laura, die sie abgefangen hatte. Die Briefe sind Liebesbeteuerungen und dringende Hilferufe. Abgeschickt aus einer Pension in Buenos Aires. Obwohl die Briefe längst nicht mehr aktuell sind, entschließt er sich sofort, abgesichert durch eine kleine Erbschaft seiner verstorbenen Mutter, in Buenos Aires nach Laura zu suchen. Südamerika wird für ihn zu einem abenteuerlichen und gefährlichen Trip. Auf der Suche nach Laura in Nachtbars, Tangolokalen und im riesigen Erholungsgebiet Tigre-Delta kommt er in Kontakt mit Leuten, die sich als Anwerber für Drogenkuriere entpuppen. Er gerät in Lebensgefahr und flieht nach Chile. Als Tochter einer chilenischen Mutter könnte Laura auch dort sein. Er beginnt eine Suche, die ihn von Santiago de Chile über Viña del Mar, Valparaiso, bis in der Atacama-Wüste mit dem Valle de la Luna und in verlassenen Geisterstädte führen wird. Tatsächlich stößt er zufällig auf Lauras Spuren. Findet sie und kann sich sogar ein paar Mal heimlich mit ihr auf einem Landgut treffen. Aber sie steht unter Druck von kriminellen und brutalen Leuten und muss wieder untertauchen. Verzweifelt versucht Hans Ronstaedt, sie wiederzufinden. Aber diese Versuche bringen ihn in lebensbedrohliche Situationen…

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Buch

Ein Roman wie ein Road Movie. Temporeich und bewegend.

Hans Ronstaedt, freier Journalist und Amateursaxofonist, verfällt noch vor der Maueröffnung einer amour fou zur äußerst attraktiven kubanisch-chilenischen Sängerin Laura Canela, die er in einem Ostberliner Jazzkeller kennengelernt hat.

Seine süchtige Leidenschaft lässt ihn alles aufs Spiel setzen. Ihretwegen kommt er zu spät an die Grenze, wird verhaftet, stundenlang von der Stasi verhört und soll zur Mitarbeit geködert werden. Was er ablehnt. Aber er fährt immer wieder nach Ostberlin, um Laura zu treffen. Verliert darüber Frau und Kinder.

Nach dem Mauerfall ist Laura plötzlich spurlos verschwunden. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Jahre später überlässt ihm seine geschiedene Frau zwei Briefe von Laura, die sie abgefangen hatte. Die Briefe sind Liebesbeteuerungen und dringende Hilferufe. Abgeschickt aus einer Pension in Buenos Aires. Obwohl die Briefe längst nicht mehr aktuell sind, entschließt er sich sofort, abgesichert durch eine kleine Erbschaft seiner verstorbenen Mutter, in Buenos Aires nach Laura zu suchen.

Südamerika wird für Hans Ronstaedt zu einem abenteuerlichen und gefährlichen Trip.

Auf der Suche nach Laura in Nachtbars, Tangolokalen und im riesigen Erholungsgebiet Tigre-Delta kommt er in Kontakt mit Leuten, die sich als Anwerber für Drogenkuriere entpuppen. Er gerät in Lebensgefahr und flieht nach Chile.

Als Tochter einer chilenischen Mutter könnte sie auch dort sein.

Er beginnt eine Suche, die ihn von Santiago de Chile über Viña del Mar, Valparaiso, bis in der Atacamawüste mit dem Valle de la Luna und in verlassenen Geisterstädte führen wird.

Tatsächlich stößt er zufällig auf Lauras Spuren. Findet sie und kann sich sogar ein paar Mal heimlich mit ihr auf einem Landgut treffen. Aber sie ist nicht frei. Sie steht unter Druck von kriminellen und brutalen Leuten und muss wieder untertauchen.

Verzweifelt versucht Hans Ronstaedt, sie wiederzufinden. Aber diese Versuche bringen ihn in lebensbedrohliche Situationen …

Autor

Gerd-Rainer Prothmann, 1943 in Elbing geboren, studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Germanistik. Er war an mehreren Theatern Regisseur und Dramaturg und hat zahlreiche Theaterstücke aus Lateinamerika übersetzt.

Er lebt mit seiner Frau in Hannover.

Gerd-Rainer Prothmann

Blume des Bösen

Roman

Impressum: Copyright: © 2014 Gerd-Rainer Prothmann

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 9783844294552

Kommst du vom Himmel, Schönheit,

oder aus den Tiefen?

Gibst gute Taten und Verbrechen ein.

Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen

Valle de la Luna, Atacamawüste

Sein Körper zitterte wie bei starkem Schüttelfrost.

Die Zähne klapperten so laut, als hackte ihm ein grausamer Specht die Schädeldecke auf.

Als er die Augen aufmachte, sah er über sich einen übernatürlich strahlenden Sternenhimmel.

Er glaubte zu träumen.

Überall um ihn herum glitzerte es in der Dunkelheit.

Aber das unaufhörliche Zittern seines Körpers und der stechende Schmerz in seinem rechten Arm zeigten ihm, dass er nicht träumen konnte.

Der rechte Arm war gebrochen.

Mühsam richtete er sich auf und schleppte sich nach vorne, um nachzuschauen.

Schlagartig stoppte der Schreck den Schüttelfrost.

Er stand direkt vor einem zweihundert Meter tief abfallenden Abgrund.

Jetzt erinnerte er sich auch wieder. Er war ohne zu überlegen dem heranbrausenden Jeep ausgewichen und hinuntergesprungen und in einem tiefer liegenden Absatz gelandet.

Zu seinem Glück war er wie das gesamte Felsmassiv hoch mit Wüstensand bedeckt.

In Richtung Felswand fiel der Absatz etwas ab und bildete eine Kuhle, die man von oben nicht einsehen konnte.

In diese Kuhle war er gerollt, nachdem er auf den Absatz gestürzt war.

Die Kante, über die er hinuntergesprungen war, zeichnete sich etwa 10 Meter über seinem Kopf als breite dunkle Linie ab.

Vorsichtig versuchte er, auf dem wie Treibsand wegrieselnden Untergrund nach oben zu kommen.

Trotz der Kälte war er nach kurzer Zeit schweißgebadet. Wenn er ausgepumpt eine kleine Pause einlegen musste, kroch sie noch beißender in seinen nass geschwitzten Körper.

Schließlich vermied er es, Pausen zu machen. Er konzentrierte sich darauf, langsam aber kontinuierlich in Bewegung zu bleiben.

Nach einer Stunde erreichte er völlig erschöpft den oberen Rand.

Gerade wollte er nach einem Felsen greifen, um sich auf den Weg zu ziehen, da begann der Sand unter seinen Füßen abzusacken und er rutschte mit dem Sand zurück in die Kuhle.

Das Ende des hoffnungsvollen Feuilletonschreibers Hans Ronstaedt, dachte er lakonisch. Frierend mit gebrochenem Arm am Ende der Welt, in der chilenischen Atacamawüste.

Ein neuer Zitteranfall schüttelte seinen Körper.

Er hatte Fieber.

Aber er fühlte sich klar und hellwach. Wie befreit von einem langen selbstvernichtenden Rausch.

Wenn auch zu spät.

Das Valle de la Luna zeigte sich wie zum Hohn schillernd von betörender Schönheit.

Eine hervorragende Kulisse, um seinem verkorksten Leben ein Ende zu machen.

Schlotternd und wegen der Schmerzen immer wieder laut aufschreiend robbte er sich erneut zum Rand des Abgrunds.

Entschlossen starrte er hinunter in das verführerisch funkelnde Tal.

Aber er traute sich nicht.

Schluchzend vor Scham, Schmerz und Ohnmacht ließ er sich in den Sand zurücksinken.

Woher hatte er bloß die Kraft genommen, sich auf das ganze wahnsinnige Abenteuer einzulassen?

*

Ich bin nicht zufrieden mit dir, Genossin, wir müssen uns unbedingt sprechen!«

Sie hasste es. Diesen sachlich überheblichen Ton. Dieses leidenschaftslose Niederbügeln des anderen. Immer unbezweifelbar im Besitz der historischen Wahrheit. Diese Mischung aus Sturheit, Unterwürfigkeitssehnsucht und auftrumpfender Rechthaberei. Aber sie hatte keine Wahl. Sie musste zu diesem Treffen fahren.

Sie stand an der Straßenbahnhaltestelle und fror. Es nieselte. Es war kalt.

Niemand schien die schlanke große Mulattin besonders zu beachten. Sie hatte sich gegen das nasskalte Herbstwetter so eingepackt, dass von ihrem hübschen Gesicht und ihrer makellosen Figur kaum etwas zu sehen war.

Aber sie wusste, wie wenig selbstverständlich sie als Exotin immer noch für die meisten Leute im Land der internationalen Solidarität war. Trotz der Bemühungen von einigen, durch forcierte Lockerheit Weltläufigkeit zu zeigen.

Endlich kam quietschend die Straßenbahn um die Ecke. Laura Canela stieg als letzte ein. Sie setzte sich in der Nähe des Ausstiegs auf die beheizte Lederbank, zog mit dem Hebel die Tür zu und starrte vor sich hin. Wie die anderen Fahrgäste auch.

Sie sprach schon ganz gut deutsch. Aber sie würde dieses Land verlassen, sobald es ging.

Am Rosenthaler Platz stieg sie aus und ging zu dem Haus, in das Horleder sie zitiert hatte. Sie konnte ihn nicht ausstehen. Sie benötigte schon ihre ganze Verstellungsbegabung, um ihn nicht merken zu lassen, wie sehr sie ihn verachtete. Ihr Charme war bei ihm wirkungslos. Er war provozierend uninteressiert an ihrer Attraktivität, der sich sonst kaum jemand entziehen konnte.

Fünfunddreißig war sie jetzt. Eine ungewöhnliche Schönheit mit hellgrünen mandelförmigen Augen und kräftigen Augenbrauen, deren Wirkung durch die milchkaffeebraune Farbe ihrer Haut noch hervorgehoben wurde. Dunkelbraune Locken im Angela-Davis-Look umrahmten ihr Gesicht wie ein Helm. Die vollen Lippen verzog sie gern zu einem leicht ironischen Lächeln und ließ dabei eine Reihe großer weißer Zähne sehen, von denen ein paar aus der Reihe tanzten. Sensibel geschwungene Nasenflügel milderten den leicht plumpen Eindruck ihrer etwas zu runden Nasenspitze.

Sie war groß, eins fünfundachtzig, und hatte einen durchtrainierten, schlanken Körper.

Schon früh hatte sie ihre Wirkung auf Männer ausgenutzt.

Ihre ersten sexuellen Erfahrungen hatte sie mit zwölf. Noch hatte sie mit keinem geschlafen. Sie war aber schon äußerst geschickt mit den Händen und brachte den Jungen bei, sich am Strand ein Loch zu buddeln, um sich statt mit ihr mit der großen Mutter Erde zu vereinigen.

Darauf durfte sich aber keiner etwas einbilden. Größere Gefühle blieben für ihren Vater, Fidel und die Revolution reserviert.

Auch José Reyes nicht. Ihr Gesangslehrer. Der war schon sechsundzwanzig und durfte sie auf ihren Wunsch in der Instrumentenkammer entjungfern. Wenn er hinter ihr stand und ihr Zwerchfell kontrollierte, ob sie auch mit Stütze sang, hatte er stets eine gewaltige Erektion. Und Laura wollte unbedingt von einem richtigen Mann entjungfert werden.

Damals war sie dreizehn.

Aber sie war kein berechnendes Luder. Bei allem, was sie tat, besaß sie eine natürliche Würde.

Mit fünfzehn war sie schon eine kleine Berühmtheit. Wegen ihrer außerordentlichen Musikalität, ihrer Intelligenz und auch wegen ihrer Schönheit. Man sagte ihr damals eine große Karriere als Sängerin voraus.

Der graue Wollschal, den sie sich um den Kopf gebunden hatte, war mittlerweile total durchnässt. Sie nahm ihn ab, wrang ihn aus und behielt ihn in der Hand. Zum Schutz vor Regen hätte sie ihn nicht gebraucht. Wie beim Vogelgefieder perlte der Regen von ihren vollen Locken einfach ab. Sie ging in eine Nebenstraße. Niemand war zu sehen. Als hätte der Regen alle weggespült. Auch bei Sonnenschein hätte sie nicht mehr Leute gesehen. Hier waren die Wohnungen Verstecke. Anders als in Kuba. Dort war alles zu sehen. Dort versteckte man sich höchstens vor der Sonne. Sie vermisste den ständigen Austausch von Blicken. Diese unverhohlene Neugier aufeinander. Die sinnliche aufdringliche Körperlichkeit.

Der Regen war stärker geworden.

Wie in Kuba, wenn die plötzlichen Regengüsse durch die undichten Fenster und Dächer der baufälligsten Häuser schlugen und die Leute ihre wackeligen Möbel notdürftig mit Plastikbahnen abdecken und schnell alle Stecker aus den Steckdosen ziehen mussten, um Kurzschlüsse zu vermeiden.

Damals liebte sie es, wenn abends nach dem Essen das wütende Trommelfeuer der heftigen Regengüsse die lauten Geräusche, Stimmen und Musikfetzen übertönte, die durch die geöffneten Fenster drangen und die Gluthitze Havannas etwas erträglicher machte. Dann kuschelte sie sich an den Vater, der im Schaukelstuhl saß und bettelte um eine Geschichte aus der Revolution.

Das waren ihre Gutenachtgeschichten, zu denen der Regen den prasselnden Rhythmus trommelte.

Der Nieselregen hatte sich zu einem unangenehmen Dauerregen verstärkt. Jetzt war sie doch froh, endlich das Haus gefunden zu haben.

Es sah aus, wie die meisten in Ost-Berlin. Abgebröckelte Fassaden, deren Verfall niemand ernsthaft aufzuhalten versuchte. Die schrundige Haustür war nicht abgeschlossen. Laura stieg die ächzenden Stufen hinauf zu der Mansardenwohnung, die Horleder ihr am Telefon beschrieben hatte.

*

Ein Redaktionskollege hatte Hans Ronstaedt von dem kleinen Jazzkeller in Ost-Berlin erzählt.

Eine ehemalige Hinterhofschlosserei. Ausgetretene Steinstufen. Braune Rost- und Brandspuren vom Schweißen auf dem Fußboden. Dellen von Hammerschlägen. Kreuz und quer stehende Stühle und Tische wie in Probenräumen von Theatern.

In einer Ecke ein riesiger Amboss auf einem groben Eichenklotz. Eines der Relikte, die den Namen »Jazzschmiede« für den Club nahegelegt haben mussten. Die verrußte Feuerstelle diente als Kamin und war im Winter die einzige Heizquelle für den Raum. Leere Bierfässer stützten die mit Baubohlen improvisierte Bühne ab.

Seit einem Monat spielte dort eine zusammengewürfelte Gruppe mit einem südamerikanischen Klarinettisten und vor allem mit Laura Canela, einer kubanische Sängerin. Sie hatte eine eigenwillige Stimme. Schmutzig und rockig und dabei trotzdem fähig zu mühelos geschmeidiger Phrasierung.

Sie bewegte sich auf der winzigen Bühne mit der Grazie einer Königin.

Er schaute nur noch auf sie, nur noch auf das, was sie tat. Er wurde zum regelmäßigen Besucher des Clubs.

Er saß immer möglichst weit vorne und wagte fast nicht mehr zu atmen, als sie eines Abends plötzlich mitten in einem intensiv gesungenen Blues ihre Augen öffnete und scheinbar endlos seinen Blick erwiderte.

Verlegen schaute er sich um, ob der Blick nicht doch jemandem hinter ihm galt. Aber nein. Nur er konnte gemeint sein. Selbstironisch registrierte er, wie sein Blutdruck gefährliche Grenzwerte erreichte.

Hans war kein schöner Mann. Aber er hatte eine ihm zwar bewusste aber nicht erklärliche Attraktivität für Frauen.

Er war fast eins neunzig groß, hatte volles dunkelblondes Haar und eine hohe Stirn. Das Auffälligste an ihm waren die blau-violetten großen Augen, die immer einen leicht traurigen Ausdruck hatten.

Sein Blick suggerierte eine Intensität, die die meisten Frauen wohl veranlasste, einen zweiten Blick zu suchen.

Er war schlank aber kräftig gebaut und ging ganz leicht nach vorn gebeugt. Kein Aufreißer. Im Gegenteil. Die Initiative ging immer von den Frauen aus. Aber er war sensibel genug, das kleinste Zeichen von Interesse zu registrieren und zu nutzen.

Die sich daraus ergebenden Erlebnisse, auf die er sich immer wieder einließ, wurden von ihm nie planvoll gesteuert. Aber wenn er eine der vielen Gelegenheiten nutzte, aus seiner Ehe auszubrechen, entwickelte er ein gehöriges Geschick beim Verschleiern der Seitensprünge. Dann schaffte er es sogar, der Redaktion des Tagesspiegels Kritiken über Aufführungen aufzuschwatzen, die weit genug entfernt stattfanden, damit eine Übernachtung notwendig wurde.

Gerade bei diesen Kritiken gelang ihm ein so sensibles Brio, eine so farbig dichte Schilderung der Theaterfiguren und der schauspielerischen Leistungen, dass nicht einmal der böswilligste Zweifler auf die Idee kam, er könnte nur einen Vorwand gesucht haben.

Diese Sängerin aber machte ihn mit einem Schlag zu einem pubertierenden Jüngling, der zum ersten Mal einer schönen Frau begegnet. Ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Erfahrungen mit Frauen folgte aus den Blicken an diesem Abend nichts. Er war wohl doch nicht gemeint. Aber die nächsten Freitage versäumte er nicht, wieder in den Club zu kommen. So früh, dass er immer ganz vorne sitzen konnte.

*

»Wolln Se hia vielleischt übawintan?«

Hans schreckte zusammen. Er hatte den Volkspolizisten gar nicht bemerkt, der an sein rechtes Wagenfenster geklopft hatte und nun misstrauisch durch die heruntergekurbelte Scheibe ins Wageninnere schaute.

»Nein, nein«, beeilte sich Hans etwas zu beflissen. »Ich warte nur auf jemand!«

»Um vierundzwanzisch Ua müssen Se wido trüben sein!«

»Ich weiß«, versicherte Hans ihm folgsam.

Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit.

Er kam sich albern vor. Aber heute wollte er die Sängerin unbedingt ansprechen. Die letzten drei Wochen hatte er gierig wie ein Süchtiger nach dem nächsten Schuss auf den kommenden Freitag gewartet.

In diesem Augenblick kam sie durch das Tor.

Aber sie war nicht allein. Neben ihr ein elegant gekleideter Mann mit einem breitkrempigen Hut.

Es sah grotesk aus, weil der Mann mindestens einen Kopf kleiner war als sie.

Sie stiegen in einen Alfa Romeo, der ein paar Wagen vor ihm geparkt war.

Hans empfand stechende Eifersucht, obwohl er mit der Frau bisher noch gar nicht gesprochen hatte. Aber der kleine Mann wirkte so energisch und selbstbewusst, dass Hans sofort einen potenziellen Rivalen ihn ihm sah.

Ein paar Mal konnte er seiner Frau einigermaßen glaubhaft von der fantastischen internationalen Band in Ost-Berlin erzählen, wenn er wieder in die »Jazzschmiede« wollte. Aber Hannah hatte ihn schon beim letzten Mal leicht ironisch mit ihren hellen Augen fixiert: »Kommst du mit 43 schon ins Veteranenalter. Mit sentimentaler Sehnsucht nach den musikalischen Anfängen?«

Hans wusste, dass sie trotz des scherzhaften Untertons unbestechlich jede Nuance seiner Reaktion beobachtete.

Es war in diesem Fall noch gar nichts vorgefallen, aber er hatte sich schon ertappt gefühlt. »Die Band ist interessant«, hatte er nur matt geantwortet.

»Oder ist es die Besetzung?«, war punktgenau die nächste Frage gekommen. Ihre instinktsichere Intuition verblüffte Hans immer wieder.

»Die Besetzung auch. Zwei Musiker scheinen aus Südamerika zu kommen«, hatte er schnell begonnen, gegen das Gefühl anzureden, gleich einen roten Kopf zu bekommen.

»Alles Männer?«

»Eine Frau ist auch dabei. Die Sängerin«, hatte er leichthin bemerkt.

»Hm, na dann viel Spaß«, hatte sie das Gespräch beendet und sich in ihre kleine Goldschmiedewerkstatt zurückgezogen.

Als das erste Kind unterwegs war, hatten sie diese Werkstatt eingerichtet, damit sie zu Hause weiterarbeiten konnte.

Am liebsten wäre Hans ihr nachgelaufen und hätte einen gewaltigen Krach angezettelt. Denn schließlich war noch gar nichts passiert.

Aber sie hatte ihm konkret auch nichts vorgeworfen.

Doch nach zwölf Jahren Ehe kannte er genau den gemeinten Untertext ihrer Sätze. So wie sie seine Mienen und Gesten zu entschlüsseln wusste.

Er hasste es, wenn sie etwas andeutete und ihn dann mitten im Gespräch stehen ließ, bevor er richtig antworten konnte.

Diesen Freitag hatte er gar nicht gewagt, von dem Jazzclub zu erzählen.

Er wollte zur Premiere von »Transit Europa« von Volker Braun an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Ost-Berlin.

Er sollte eine Kritik für den »Tagesspiegel« schreiben. Er wusste, dass die Aufführung um kurz nach dreiundzwanzig Uhr zu Ende sein würde.

Als wäre es die letzte Gelegenheit, wollte er die Sängerin heute unbedingt ansprechen. Auch wenn er nur eine halbe Stunde Zeit hatte.

Er beschimpfte sich selber als pubertär, während er den Rücklichtern des davonfahrenden Alfa hinterher schaute.

Überflüssigerweise winkte er den beiden Volkspolizisten in ihrem Wartburg zu, nachdem er gewendet hatte, um zur Grenze zurückzufahren.

*

»Im Wasserihrer Augen

Spiegelt sich das klare Grün.«

Marios Stimme. Entsetzt drehte sie sich um. Es war bei einer ihrer ersten öffentlichen Auftritte in der DDR. Sie wollte gerade zurück zur Bühne und entdeckte unter den Zuhörern den gewaltigen Lockenkopf Mario Lavellis.

Es gab eine Zeit, da hätte das Auftauchen dieses Lockenkopfs bei ihr uneingeschränkt Freude ausgelöst. Dieser Freude war jetzt eine unerklärliche Vorsicht beigemischt.

Nachdem er damals in der Technischen Universität in Santiago de Chile einfach verschwunden war, hatte sie nie wieder von ihm gehört.

Seit zwei Jahren lebte sie nun schon in der DDR. Chile und Mario gehörten für sie zu einer weit entfernten und vergrabenen Vergangenheit. Von einem auf den anderen Tag war er aus ihrem Leben gefallen.

Noch in Chile hatte sie zu zweifeln begonnen, ob der Grund dafür bei ihm nur verletzte Eitelkeit war. Möglicherweise gab es auch politische Gründe. Sie hatte sich eingestehen müssen, dass sie ihn viel weniger kannte, als sie geglaubt hatte.

In der ersten Pause sprach er sie an. Er gab ihr die Hand. Es gefiel ihr, dass er ihr nicht einmal den in Chile üblichen Kuss auf die Wangen gab.

»Was machst du hier?«, fragte sie ihn in einem Tonfall, der ebenso Staunen wie Vorwurf bedeuten könnte.

»Du weißt doch, ich liebe Musik«, antwortete er ihr lächelnd, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass er hier in Ost-Berlin auf einmal vor ihr stand.

»Bist du zu Besuch hier?«

»Nein, ich lebe hier.«

»In Ost-Berlin?«

»In West-Berlin.«

»Seit wann?«

»Seit eineinhalb Jahren.«

Sie fragte sich, wozu Mario nach Deutschland gekommen sein könnte. Als Asylant? Von politischen Aktivitäten für die Linke hatte sie, als sie in Chile mit ihm zusammen war, nichts bemerkt. Eher hätte sie bei ihm Sympathien für die andere Seite vermutet.

»Was machst du in West-Berlin?«

»Ich habe gerade ein Lokal aufgemacht. Mit Livemusik. Du kannst ja mal vorbeischauen.«

Sie blickte ihn etwas mitleidig an. Seine Kenntnis politischer Verhältnisse schien noch genauso unterentwickelt zu sein wie in Chile. Dennoch musste Laura sich eingestehen, sich wirklich über das Wiedersehen mit Mario zu freuen.

»Dann bist du also als Geschäftsmann nach Berlin gekommen?

Nein, erst als Asylbewerber.«

Laura ließ sich nicht anmerken, wie absurd diese Vorstellung für sie war: Mario als politischer Flüchtling.

»Politisches Asyl«, sagte sie mehr als bestätigende Feststellung für sich, nicht als Frage.

»Ja«, antwortete Mario knapp und bestimmt, »ich bin bereits anerkannt und kann an der Technischen Universität weiterstudieren.«

»Und wie schaffst du das mit deinem Lokal?«, wollte Laura wissen.

»Das mache ich zusammen mit meiner italienischen Familie«, erwiderte er verschmitzt, ohne seinen prüfenden Blick von ihr zu wenden.

Auf der Bühne hatte der Bassist begonnen, seinen Bass nachzustimmen. Laura drehte sich um und sah, dass der Rest der Band bereit war, weiterzuspielen.

»So, ich muss weitermachen«, sagte sie, während sie ihm zuwinkend zur Bühne zurückging.

Auch wenn sie sich über sein Auftauchen gefreut hatte, wäre es unsinnig gewesen, nach allem was in der Zwischenzeit passiert war, dort wieder anzuknüpfen, wo beide den Faden damals einfach durchgeschnitten hatten.

Sie wollte das nicht. Obwohl sie nur gute Erinnerungen an die Zeit mit Mario hatte.

*

Ahora bien, si a poco dejas de quererme, dejaré de quererte poco a poco. Si de pronto me olvidas, no me busques, que ya te habié olvidado.

(Nun aber, wenn du allmählich aufhörst, mich zu lieben, werde ich aufhören, dich zu lieben, allmählich. Wenn du auf einmal mich vergisst, suche nicht nach mir, denn ich werde dich schon vergessen haben.)

Diese Zeilen von Pablo Neruda fielen ihr ein, als sie zur Bühne zurückging.

Sie liebte den Absolutheitsanspruch und die brutale Konsequenz, die darin steckten.

Das Schicksal ihrer Großmutter muss diese Neigung zur Radikalität gefördert haben.

Der Großvater hatte sie zehn Jahre vor der kubanischen Revolution verlassen und sich in die Vereinigten Staaten abgesetzt.

Sie hatte sich und die sechs Kinder alleine durchbringen müssen und war von Tabakernte zu Zuckerrohrernte als Wanderfamilie über die Insel gezogen.

Doch nie hatte sich Mama Esmeralda vor ihrer Enkelin beklagt und nie hatte sie sich wieder mit einem Mann eingelassen.

Das hat Laura schon als kleines Mädchen imponiert.

Über den Großvater hatte Laura von ihrer Großmutter dennoch kein böses Wort gehört. Er hatte Mama Esmeralda verlassen und sie hatte ihn konsequent vergessen. Der Comandante wurde der einzige Mann, den sie nach der Revolution kritiklos verehrte. Durch ihn wären die Schwarzen erst zu vollwertigen Menschen geworden.

Als sie wieder auf der Bühne des Jazzkellers war, ärgerte sie sich über das beginnende Bröckeln ihrer Konsequenz, das auch Mario bemerkt haben musste. Sie redete sich ein, es wäre nur Neugierde auf das Leben Marios nach ihrer Trennung. Aber sie wusste, dass sie sich selbst belog. Sie schaute unauffällig in Richtung seines Platzes. Er war noch da. Er hatte nichts von seiner Attraktion verloren.

Aber eine für sie unerklärliche Empfindung war dazu gekommen, eine Empfindung, für die Misstrauen schon ein viel zu starkes Wort war. Bei aller charmanten Wendigkeit steckte in Mario eine gnadenlose Energie. Eine Gefährlichkeit, die sie früher an ihm noch nicht bemerkt hatte. Aus dem schlagfertigen Studenten von damals war ein immer noch liebenswürdiger Mann geworden. Allerdings mit einer unbeirrbaren Zielstrebigkeit, die keinen Widerspruch dulden würde. Sie fühlte sich ihm gegenüber nicht mehr ebenbürtig.

Suche nicht nach mir, denn ich werde dich schon vergessen haben. Fast beschwörend hatte sich diese Zeile in ihrem Kopf festgesetzt. Beinahe hätte sie sie gesungen. Aber, sie würde sich am Schluss des Konzerts Marios Adresse und Telefonnummer geben lassen und sich mit ihm verabreden.

»Born To Lose«, sagte jemand hinter ihr. Es war die sanfte Stimme von Nelson, dem peruanischen Klarinettisten der Band. Sie schaute ihn an und versuchte, seinen starren schwarzen Augen abzulesen, ob er mit der Nennung dieses Titels irgendetwas andeuten wollte. Aber es gelang ihr nicht. So sang sie als Nächstes den alten Ray-Charles-Hit, dessen Text sehr wohl auch Nelsons Verlustängste ausdrücken könnte.

*

»Ein raffiniert ausgeklügeltes ästhetisches Konzept lässt leider jeden Ausdruck für Gefühle vermissen.

Damit reiht sich auch diese Aufführung teilweise in die Serie der scheiternden Produktionen der Freien Volksbühne ein. Wenn auch als die Interessanteste.«

Zufrieden schrieb Hans den letzten Satz seines Halbverisses über die Premiere von »Leonce und Lena« in seinem Bericht über die letzte Spielzeit an der Freien Volksbühne Berlin.

Er gehörte nicht zu den Kritikern, die Vergnügen an vernichtenden Formulierungen hatten, wie manche seiner Kollegen. Er kam auch bei Verrissen ohne Polemik aus. Vielleicht war auch nur sein nicht zu unterdrückendes Harmoniebedürfnis stärker ausgeprägt, als es für einen Kritiker zuträglich war. Zum Starkritiker würde er es so nicht bringen.

Er steckte sich eine Zigarette an und las seinen Text Korrektur. Als er damit fertig war und die Kritik zum Druck weitergegeben hatte, lehnte er sich in seinem Arbeitssessel zurück, schaute über die schmuddelige Potsdamer Straße und rauchte noch eine.

Er war ganz zufrieden mit sich. Wer hätte jemals vorausgesagt, dass der Sohn eines kleinen Verwaltungsangestellten aus einem Heidedorf ohne Kultureinrichtungen einmal zum respektierten Feuilletonredakteur einer Berliner Tageszeitung werden würde.

Seine Eltern verbanden mit Kultur gar nichts. Weder die ignorante Verachtung neureicher Banausen noch die geheuchelte Hochachtung gehobener Kleinbürger.

Sie hatten es einfach hingenommen, dass ihr Sohn Germanistik studieren wollte, nachdem er auf dem Gymnasium schon für die Schülerzeitung kleine Artikel geschrieben hatte.

Als er dann seinen Dr. phil. hatte, waren einige seiner Verwandten nicht von der Vorstellung abzubringen, er wäre nun Arzt für spezielle Krankheiten, aber seine Eltern waren dennoch stolz auf ihn, obwohl er kein Arzt war. Alles war so unglaublich glatt gelaufen, dass Hans sich die vielen Ausbrüche aus seiner Ehe vor sich selbst als Ausdruck einer unausgelebten Abenteuersehnsucht entschuldigte.

Als Kind war er manchmal im Herbst bei Nebel nachts heimlich aus dem Fenster seines Kinderzimmers gestiegen und war durch das völlig ausgestorbene Dorf gestreift. Er fand es aufregend, ohne zu wissen warum. Vielleicht waren das schon seine ersten Abenteuerversuche.

Als er auf der Internatsschule war, hatte ihn ein Mitschüler einmal zu Weihnachten zu sich nach Hause eingeladen. Das ganze Haus war dort voller Besucher. Jedes der drei Kinder hatte jemanden einquartiert. Hans war fasziniert von der Offenherzigkeit der Eltern, die locker und selbstverständlich mit dieser Situation umgingen.

Die ältere Schwester hatte eine Studienkollegin zu Besuch. Eine sehr hübsche und grazile Mulattin aus Martinique. Obwohl Hans damals schon drei Jahre Französisch auf der Schule hinter sich hatte, brachte er beim Anblick der Karibikschönheit keinen brauchbaren französischen Satz über die Lippen. Er konnte sie nur anstarren und mühsam ein paar Worte wie Comment ça vas und Ähnliches stammeln. Aber dieser Anblick hatte in ihm einen Drang nach Fremdheit und Exotik geweckt, dem er später immer wieder erliegen sollte.

Wie sehr diese Neigung ihn doch als Provinzheini auswies. Er musste über sich selbst lächeln, als das Telefon ihn unterbrach.

»Bist du noch in der Redaktion?«

»Wo sonst?«, fragte er eine Nuance zu barsch zurück. Bei seiner Frau Hannah war er immer auf der Hut, nicht bei einer Lüge ertappt zu werden. Sie hatte allen Grund, misstrauisch zu sein.

»Wie blöd von mir. Ich hab dich da ja schließlich dort angerufen«, tadelte sie sich gut gelaunt selbst. »Ich wollte nur wissen, wann du zum Essen kommst?«

»Sofort, ich bin gerade fertig.« Er freute sich auf seine Frau und auf die Mädchen.

Obwohl sie selbst arbeitete, hatte sie den Tisch liebevoll dekoriert und sehr gelungene italienische Pasta gekocht.

Die Kinder waren schon im Bett und sie tranken noch ein Glas Montepulciano zusammen. Hans war gesättigt und zufrieden. Sie schaute ihn lächelnd an und fragte ihn ohne Arg, ganz nebenbei, ob denn Katharina Koch eine Kollegin von ihm wäre.

Alle seine Sinne schalteten sofort auf Alarm. Die Pause, die er brauchte,

um sich Erklärungen auszudenken, dauerte einen kleinen Augenblick zu

lange.

»Nein, das ist nur eine junge Schauspielerin von der Freien Volksbühne«, sagte er schließlich so obenhin, wie es ihm gelang. Es gelang ihm nicht besonders gut.

»Ach nur«, machte sie sich über ihn lustig, »was wolltest du denn von ihr?«

»Wieso?«, stammelte er. Fast panikartig vergegenwärtigte er sich die Geschichte. Er hatte sie gestern auf der Premierenfeier kennengelernt, bei der er sich intensiv mit einer Dramaturgin unterhalten hatte. Katharina Koch und eine andere junge Schauspielerin waren ein paar Mal um sie gekreist, wobei ihn Katharina hemmungslos an geflirtet hatte. Es war ihm immer schwerer gefallen, sich auf das Gespräch mit der Dramaturgin zu konzentrieren. Er hatte schließlich das Gespräch beendete und war regelrecht geflüchtet, obwohl er sich geschmeichelt fühlte. Das Mädchen war fast zwanzig Jahre jünger als er. Aber er war hier zu bekannt. Vor der Tür hatte sie sich ihm einfach in den Weg gestellt. »Ich wollte Sie schon immer kennenlernen«, hatte sie ihn angelächelt, »ich habe schon viel von Ihnen gelesen.« Sie meinte seine Kritiken. »Na, so lange können Sie ja noch nicht lesen«, hatte er den halbherzigen Versuch gemacht, ins Väterliche auszuweichen. Aber die schönen hellblauen Augen und der sinnliche auffordernde Mund des Mädchens hatten etwas anderes verlangt. Er hatte sie in eine dunkle Ecke gezogen und dort waren sie knutschend übereinander hergefallen. Im Taxi, mit dem er sie nach Hause gebracht hatte, war es ebenso weitergegangen wie vor ihrer Haustür, wo sie ihn dann aber plötzlich gestoppt hatte und ihn nicht mit hineingenommen hatte.

Heute Morgen, bevor er zur Redaktion gefahren war, hatte er idiotischerweise von zu Hause angerufen, sie aber nicht erreicht. Nur ihren kindischen Anrufbeantworter. »Hi. Wenn du mich sehr gut kennst, weißt du, wo ich bin. Wenn nicht, musst du dich hinten anstellen und es noch einmal versuchen.«

»Das muss ja sehr dringend gewesen sein«, riss ihn seine Frau aus der Erinnerung, »wenn du die Nummer immer parat haben musst.«

Was für ein Trottel er doch war. Sie hatte natürlich auf Wahlwiederholung gedrückt.

*

Er musste es endlich schaffen, sich wirklich erwachsen zu verhalten.

Das hatte Hans sich zu Beginn dieses Freitagabends vorgenommen.

Hannah hatte den ganzen Tag außer Haus zu tun gehabt. Sie bereitete gerade eine Modenschau vor, bei der die Mannequins ihre Schmuckkollektion tragen sollten.

Die letzten beiden Wochen war sie aus ihrer Werkstatt kaum herausgekommen.

Damit der Haushalt weiterhin reibungslos lief, hatte sie ihm überall kleine Zettel hin geklebt.

Wenn sie zwischendurch aus ihrer Werkstatt auftauchte, fragte sie ihn nur kurz ab, was er von den aufgeschriebenen Aufgaben schon abgearbeitet hatte.

Hans bewunderte ihr Organisationstalent und die souveräne Freundlichkeit, die sie dabei behielt. Eine Bewunderung, die bei geschätzten Arbeitskollegen allerdings auch nicht anders ausgesehen hätte.

Dabei hatte Hannah als Frau für ihn auch nach der Geburt des zweiten Kindes keineswegs ihren Reiz verloren. Sie hatte ihre schlanke Leichtathletinnenfigur behalten.

Sie kleidete sich sportlich elegant mit einem raffinierten Touch von Nachlässigkeit. Die Fülle ihrer positiven Eigenschaften, über die er nachdachte, während er das Abendbrot für die Kinder zubereitete und ihr Einsatz für ihre Beziehung war erdrückend, wenn er es mit dem verglich, was er außer seinem Gehalt dazu beitrug.

Er verhöhnte sich selbst wegen seiner Aufgeregtheit, die ein langer Blick aus den grünen Augen einer farbigen Sängerin bei ihm ausgelöst hatte.

Völlig verblödet hatte er sich vor zwei Wochen verhalten, als er sinnloserweise 20 Minuten im kalten Auto gewartet hatte, nur um sie dann mit einem anderen Mann davonfahren zu sehen.

Zwei Wochen war er vernünftig geblieben. Das Telefon klingelte. Sein Kollege für die Filmkritiken bat ihn um Hilfe.

Eigentlich sollte er eine Kritik über die Premiere von Ödipussi von Loriot schreiben, die gleichzeitig in Ost- und West-Berlin stattfinden sollte. Aber er musste unbedingt zu seiner kranken Mutter.

Er bat Hans, für ihn einzuspringen.

Hans sagte sofort zu. Eine rauschhafte Erregung ergriff ihn. Er würde nicht zur Premiere gehen. Er hatte die Vorpremiere schon gesehen. Er würde nach Ost-Berlin fahren und sie heute ansprechen.

*

Mario ging ihr nicht aus dem Kopf.

»Zerbrechlich wie ein Seiltänzer

Über den Dächern von Barrancas

Spielte der kleine Luchín.

Mit seinen blauen Händen

Mit dem Stoffball,

Mit der Katze und mit dem Hund.

Das Pferd schaute ihm zu.«

Lauras kräftige Stimme übertönte das Kindergeschrei, das damals aus dem Ballettsaal der Technischen Universität drang, wohin man Kleinkinder aus einer población von Santiago gebracht hatte, deren Eltern durch einen Sturm obdachlos geworden waren.

Es war die erste Strophe des Liedes, das Victor Jara, der nach dem Militärputsch im Stadion von Santiago ermordete Sänger, über eins dieser Kinder geschrieben hatte.

Laura stimmte gerade die zweite Strophe an:

»Im Wasser seiner Augen

Spiegelt sich das klare Grün«,

als hinter ihr eine männliche Stimme die gleichen Zeilen mit leicht verändertem Text sang:

»Im Wasser ihrer Augen

Spiegelt sich das klare Grün.«

Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes, das gleichzeitig Herausforderung und Schüchternheit ausdrückte. Der große Lockenkopf wurde von einem schlanken etwas kurz geratenen Körper getragen.