Rat Pack - Gerd-Rainer Prothmann - E-Book

Rat Pack E-Book

Gerd-Rainer Prothmann

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Der Architekt Ronald Burger ist für ein großes Bauprojekt in Dresden, als seine Frau tot in der Badewanne gefunden wird. Es gibt keinen Hinweis auf Fremdverschulden, aber Kommissar Conrad observiert ihn trotz wasserdichter Alibis. Zwei ehemalige Schulkameraden verschwinden auf einmal spurlos und werden Monate später ermordet aufgefunden. Burger hat Angst. Mehrfach wird er von einem mysteriösen Unbekannten verfolgt und entkommt nur knapp dem Tod. Er hat eine furchtbare Ahnung, wer hinter dem Ganzen stecken könnte. Während die Polizei weiter im Dunkeln tappt, bestätigt ihm seine Jugendliebe, die zur Weltausstellung nach Hannover gekommen ist, seine Vermutungen. Er weiß jetzt, dass beide um ihr Leben fürchten müssen und informiert den Kommissar. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Ein Mordversuch während einer spektakulären Parade auf der EXPO, Flucht, Verfolgung, Entführung, Folter. Und die Polizei kommt immer einen Schritt zu spät…

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Gerd-Rainer Prothmann

Rat Pack

Roman

Buch

Der Architekt Ronald Burger ist für ein großes Bauprojekt in Dresden, als seine Frau tot in der Badewanne gefunden wird. Es gibt keinen Hinweis auf Fremdverschulden, aber Kommissar Conrad observiert ihn trotz wasserdichter Alibis. Zwei ehemalige Schulkameraden verschwinden auf einmal spurlos und werden Monate später ermordet aufgefunden. Burger hat Angst. Mehrfach wird er von einem mysteriösen Unbekannten verfolgt und entkommt nur knapp dem Tod. Er hat eine furchtbare Ahnung, wer hinter dem Ganzen stecken könnte. Während die Polizei weiter im Dunkeln tappt, bestätigt ihm seine Jugendliebe, die zur Weltausstellung nach Hannover gekommen ist, seine Vermutungen. Er weiß jetzt, dass beide um ihr Leben fürchten müssen und informiert den Kommissar. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Ein Mordversuch während einer spektakulären Parade auf der EXPO, Flucht, Verfolgung, Entführung, Folter. Und die Polizei kommt immer einen Schritt zu spät…

Autor

Gerd-Rainer Prothmann, 1943 in Elbing (Westpreußen) geboren, studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Hamburg und Berlin. War an mehreren Theatern Dramaturg und Regisseur und hat als Intendant ein großes Gastspieltheater in Hannover geleitet. Er hat eine kurze Zeit lang in Chile gelebt und zahlreiche Theaterstücke aus Lateinamerika übersetzt. Er spielt bis heute Saxofon in verschiedenen Bands und lebt mit seiner Frau in Hannover.

Gerd-Rainer Prothmann bei epubli:

Blume des Bösen, Roman, 2014

Oktoberstürme, Roman, 2016

Prolog

Aus weiter Ferne nähert sich ein Zug.

Ein leises Singen, das langsam lauter und lauter wird. Unaufhörlich. Lauter und lauter. Schließlich ein unerträgliches Getöse, das seine Ohren direkt neben den Schienen schmerzen lässt. Er versucht, den Kopf wegzureißen, kann ihn aber nicht bewegen.

Immer heftiger bebt es neben und unter ihm. Er wird durchgeschüttelt wie Kieselsteine auf einem Rüttelsieb. Er schreit, wimmert, fleht, bettelt. Aber seine Stimme ist nicht zu hören. Wie ein Tier im Todeskampf wirft er sich hin und her. Verzweifelt versucht er, zur Seite zu rollen. Vergeblich. Er ist fest an die Schwellen gekettet. Die Lichter der heranbrausenden Lok werden immer größer. Ein dreiäugiger, boshafter Zyklopenblick. Mit allerletzter Kraft zerrt er an den Fesseln und brüllt wie ein sterbender Stier. Aber noch immer löst sich kein Ton von seinen Lippen. Unaufhaltsam donnert der Zug auf ihn zu. Er verschluckt sich an seinen eigenen tonlosen Schreien. Droht zu ersticken. Dann gibt er es auf und fügt sich seinem grausigen Schicksal. Mit Höllenlärm rast der Zug über ihn hinweg. Der Fahrtwind reißt ihm die letzte Atemluft aus der Nase. Es ist vorbei. Er spürt keinen Schmerz. Nichts mehr. Das also ist das Ende, denkt er. Seine Augen stehen offen. Ganz ruhig liegt er da. Der unermesslich lange Güterzug rollt endlos weiter und weiter. Aber warum hört er, wie er sich entfernt? Immer leiser wird? Ist das möglich, wenn man tot ist? Ganz vorsichtig versucht er, sich zu bewegen. Es geht nicht. Aber er spürt, dass er gefesselt ist. Ist der Zug nicht über ihn hinweggerollt? Ist er im letzten Moment über eine Weiche auf das Nebengleis gefahren? Er liegt weiter wie tot da, doch er atmet noch.

Da nähert sich ein zweiter Zug. Er zappelt und schreit wieder los und erwacht endlich. Schweißgebadet.

Er liegt gefesselt und geknebelt auf einem

matratzenlosen eisernen Bettgestell. Eine nackte Birne baumelt von der Decke und funzelt ihm schaukelnd ins Gesicht.

Draußen dröhnt wieder ein Zug vorbei, der den ganzen Raum erzittern lässt. Vorsichtig dreht er seinen Kopf zur Seite. Er befindet sich in einer winzigen Holzhütte. Nicht größer als ein paar Quadratmeter. Ein kleiner Tisch mit Stuhl und das eiserne Bettgestell, auf dem er liegt. Sonst gibt es nichts. Wie ist er hier hergekommen?

*

1

Sonntag. 2.Januar 2000

Ronald Burger saß in der Falle.

Aus dem Haus wollte er nicht, aber zuhause bleiben konnte er auch nicht mehr.

Es war nasskalt. Knapp über null Grad. Für den

Nachmittag war Eisregen angekündigt. Dunkel hatte der Tag begonnen, spät erst war es etwas heller geworden und gegen fünf war es schon wieder dunkel.

Nur Susanna war wieder in Hochform.

Als er mittags ins Haus kam, hatte sie ihn gefährlich aufgekratzt begrüßt. In der linken Hand ein

eisklimperndes Whiskyglas, mit der rechten theatralisch winkend: »Da ist er ja. Der große Architekt!«

Sie war wieder in dem aggressiv-besoffenem Zustand, in dem jedes Wort von ihm nur eine willkommene

Vorlage für weitere grundlose Attacken gewesen wäre. Also war er wortlos die Treppe in sein Arbeitszimmer hinaufgegangen. Verfolgt von den übertrieben modulierten Rufen einer gänzlich unbegabten Laienschauspielerin, die höhnisch klingen wollte. »Oh, der Kleine hat Angst vor seiner jungen Frau! Läuft er wieder weg wie ein Häschen? Hopp, hopp, hopp, die Treppe rauf? Und versteckt sich hinter seinem Schreibtisch? Wie immer?«

Er hatte die Tür zu seinem Arbeitszimmer

zugeschlagen und sich in seinen Schreibtischsessel fallenlassen.

Die nächsten Stunden hörte er sie in ihrem Zimmer und in der Küche immer lauter poltern und rumoren, an Möbel stoßen und fluchen.

Obwohl die Situation nicht ungewöhnlich für ihn war, schaffte er es einfach nicht, konzentriert zu lesen, oder zu arbeiten. Bald würde die mit Alkohol und Streitlust aufgetankte Kampfmaschine hier oben auftauchen und sich einen besseren Sparringspartner suchen als

herumstehende Möbel.

Er musste weg. Raus. Irgendwo hin. Er könnte zur Finissage der John-Baldessari-Ausstellung ins Sprengel Museum gehen.

Ein heftiger Knall. Wie ein Gewehrschuss. Laut fluchend hatte sie die Klotür hinter sich zugeschlagen. Sein Startschuss, die lähmende Lethargie endlich

abzuschütteln. Schnell schlich er sich die Treppen runter. Schnappte sich seinen Mantel, stieg in das vor dem Haus geparktes Auto und fuhr los. Richtung Museum.

Beim Einbiegen in die Ausfahrtstraße am Rande des großen Stadtwalds Eilenriede fiel ihm ein dunkelblauer Kombi auf, der sofort startete, wendete und sich zwei Wagen hinter ihm einfädelte. Ein Privatdetektiv? Von seiner Frau beauftragt, um endlich handfeste Beweise für ihre krankhafte Eifersucht zu bekommen? Oder litt er wirklich an Verfolgungswahn, wie sie ihm ständig vorhielt? Als er sich bei der nächsten Ampel umsah, waren schon vier Wagen zwischen ihnen. Zwei Ampeln weiter sah er ihn dann gar nicht mehr.

Er parkte den Wagen am Rande eines kleinen Parks gegenüber vom Neorenaissancegebäude des

Landesmuseums und stieg aus. Im gleichen Moment setzte der Eisregen ein. Er rutschte sofort weg und wäre hingefallen, hätte er sich nicht am Türgriff festgehalten.

Vorsichtig taperte er über die Straße und bewegte sich langsam Richtung Sprengel Museum. Er hörte den Schmerzensschrei einer Frau, die gestürzt war und drehte sich um. Er wollte ihr zu Hilfe kommen, musste aber heftig mit den Armen rudernd um sein eigenes Gleichgewicht kämpfen.

Inzwischen waren schon mehrere Männer bei der Frau und halfen ihr vorsichtig auf die Beine. Ein dunkel gekleideter dürrer Mann mit einem schwarzen

Schlapphut stand hinter der Gruppe und schien starr in seine Richtung zu blicken. Aber er konnte seine Augen unter der Krempe nicht sehen. Sicher ein Künstler oder Pseudokünstler, der zur Finissage wollte. Oder war das der Privatdetektiv? Blödsinn. Der würde sich wohl kaum so auffällig verkleiden.

Vorsichtig und konzentriert setzte er seinen Weg zum Museum fort. Der Eisregen klatschte ihm ins Gesicht und aus den durchnässten Haaren lief ihm eiskaltes Wasser in den Nacken, obwohl er den Kopf wie eine Schildkröte in den hochgeschlagenen Kragen des gefütterten Trenchcoats gezogen hatte.

Merkwürdigerweise genoss er diesen Kampf mit den Naturelementen. Der war so viel direkter als der unberechenbare Stellungskrieg mit seiner Frau.

Auf der anderen Straßenseite fielen zwei junge Mädchen quiekend auf den Hintern. An einer

entfernten Kreuzung krachten Autos ineinander. Erste Unfallsirenen jaulten ihre Quarten, aber er setzte unbeirrt seinen Altmännertippelgang Richtung Museum fort. Zwischendurch versuchte er, unauffällig nach hinten zu schauen, ohne wegzurutschen. Der Schlapphut war noch immer da. Im gleichen Abstand hinter ihm.

Endlich kam er am Fuß des Museums an, wo breite Terrassenflächen aus hellen Pflastersteinen treppenartig nach oben zum Eingang führten. Eingeschlossen von einem hauchdünnen, magisch glitzernden Eispanzer waren sie inzwischen selbst zu einem kühlen Kunstwerk geworden. Unmöglich, dort freihändig hinaufzugehen. Ohne den nach oben führenden Handlauf aus Edelstahl an der rechten Seite gab es keine Chance. Also reihte er sich ein in die Schlange der vorsichtig hochsteigenden Museumsbesucher. Eine an einem langen Seil hängende Bergsteigergruppe, die in Zeitlupe einen schmalen Grat erklimmt.

Oben rutschte er nach ein paar Schritten plötzlich nach vorne weg. Im letzten Moment konnte er sich mit beiden Händen abfangen, um sein Gesicht zu schützen, schlug sich aber schmerzhaft die Knie auf. Im Fallen nahm er noch wahr, wie ein älterer Mann vor ihm sich mit beiden Händen an den Hals fasste, strauchelte und über das niedrige Begrenzungsmäuerchen fiel. Mit einem erstickten Aufschrei, als wäre seine Stimme von außen in den Hals gedrückt worden, rutschte er den über drei Meter hohen Pflastersteinhügel hinunter, auf dem sich das Museum neben der Uferstraße erhob und knallte mit voller Wucht gegen einen Sperrpfosten.

Trotz der Schmerzen im Knie stand Ronald schnell wieder auf, um nach dem Mann zu sehen und per Handy einen Rettungswagen zu rufen. Er wählte die 112 und schilderte der überforderten Frau vom

Telefondienst, was er gesehen hatte. Direkt, nachdem er aufgelegt hatte, sah er, dass schon ein paar Leute aufgeregt fuchtelnd einen zufällig vorbeikommenden Unfallwagen heranwinkten und auf das leblose Bündel zeigten, das seltsam verdreht vor dem Sperrpfosten lag. Er tippte auf Wahlwiederholung und informierte die genervte Frau darüber, dass schon Hilfe vor Ort war und bekam dafür sogar Lob für seine Aufmerksamkeit, mit einem Hauch weiblicher Wärme in der Stimme. Blaulicht zuckte gespenstisch über die vereisten Flächen, als die Rettungssanitäter den Mann auf einer Trage in den Unfallwagen schoben.

Der Schlapphut fiel ihm wieder ein. Vorsichtig drehte er sich um. Er war nicht mehr da.

*

2

»Ich bin in Hannover. Wir treffen uns heute Abend zum Essen!«

Sein alter Schulfreund Michael Fox -er hieß tatsächlich wie der amerikanische Schauspieler- gab

Regieanweisungen wie bei einer Theaterinszenierung und Ronald gehorchte belustigt. Wie jedes Mal.

Sie verabredeten sich zum Essen im Zentrum. Im Mövenpick am Kröpcke, obwohl Ronald eigentlich an einem Entwurf weiterarbeiten wollte, der noch in dieser Woche fertig werden musste. Aber so hatte er

wenigstens einen guten Grund, seiner Frau aus dem Weg zu gehen.

Trotz Michaels angeberischer Attitüde mochte er ihn. Sie kannten sich schon seit Schultheatertagen auf dem Gymnasium. Michael hatte damals fast schon genauso ausgesehen wie heute. Ein Erwachsenengesicht mit Doppelkinn und präpotentem Blick aus dunkelblauen Augen, das auf einem etwas zu stämmigen Körper saß. Ein Typ wie geschaffen für Chef- und Königsrollen. Ronald hatte sich damals nicht zu Unrecht für den begabteren und besseren Schauspieler gehalten, aber es war Michael gewesen, der nach dem Abitur direkt zum professionellen Theater gegangen war und sich rasch vom Assistenten zum Regisseur hochgearbeitet hatte. Wobei Ronald immer den leisen Verdacht hatte, dass der Vater, ein einflussreicher Staatssekretär im

Kultusministerium, seine Finger mindestens beim Öffnen wichtiger Türen im Spiel gehabt haben musste.

Michael lebte als freier Regisseur in Hamburg und hatte zuletzt für ein Hamburger Tourneetheater »Kunst« von Yasmina Reza inszeniert. Am Nachmittag wollte er im Theater am Aegi eine Auffrischungsprobe machen und danach sollten sie sich unbedingt zum Essen treffen. Die Aufführung könnte dann ohne seine Anwesenheit laufen.

Ronald entdeckte ihn gleich beim Betreten des

Restaurants. Sein großer Kopf schien noch größer geworden zu sein und wurde zusätzlich von einer prächtigen grauen Mähne umwölkt. Als Michael ihn eintreten sah, setzte er sein halbausgetrunkenes Bierglas ab und rief wie ein Sänger in der Opernkantine laut, mit Stütze: »Da ist ja mein Stararchitekt!«

Es war ihm peinlich, als sich wegen der albernen

Auftrittsansage mehrere Köpfe nach ihm umdrehten. Er ließ sich aber nichts anmerken und umarmte Michael, der sich erhoben und mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn gewartet hatte. Ein kräftiger großer Mann im schwarzen, kragenlosen Hemd, das lässig über die schwarze Kargohose fiel.

»Ich habe für uns etwas Traditionelles bestellt«,

verkündete er marktschreierisch mit rollendem R,

»Zürcher Geschnetzeltes mit Rahmsauce und Rösti. Dazu einenachtundneunziger Primitivo! Ich denke, das war ganz in deinem Sinne.«

Auch das war typisch für Michael. Er bestellte das Essen immer für alle, was aber keineswegs bedeutete, dass er die Rechnung bezahlen würde.

»Was gibt es Neues?«, gab Ronald, der Michael über zwei Jahre nicht gesehen hatte, den Startschuss für eine ausgedehnte unterhaltsame Suada, die auch durch das zwischendurch servierte und genussvoll verzehrte Essen nie in Gefahr geriet, abzureißen. Eine Suada, bei der sämtliche Ergänzungen des Wortes Arschloch, für den Leiter des Tourneetheaters, die Direktoren der

Gastspielbühnen, die Technik und ebenso renitente wie

unbegabte Schauspieler durchdekliniert wurden. Keiner blieb verschont und Ronald staunte fast bewundernd, wie sich bei Michaels Erzählungen mühelos Wahrheit und Erfindung mischten. Aus welchem Bereich und zu welchen Themen Ronald bisweilen Namen bekannter Persönlichkeiten auch beisteuerte, bis hin zum

Bundeskanzler, Michael hatte erst kürzlich mit ihnen telefoniert oder direkt mit ihnen gesprochen, um ihnen die Meinung zu geigen. Das Verwirrende war dabei, dass Michael die meisten Leute, gegen die er vom Leder zog, tatsächlich kannte. Er hatte außerdem die Fähigkeit, seinem jeweiligen Gesprächspartner das Gefühl zu

vermitteln, er wäre wirklich wichtig und weit entfernt von allen Arschlöchern dieser Welt.

Zwei knappe Stunden unterhielt er so seinen

Schulfreund und viele andere Restaurantbesucher gratis dazu, dann musste er zurück zum Theater, weil er zum Ende der Vorstellung dort sein wollte.

Als sie das Restaurant verließen, schlug ihnen passend zu Michaels theatralischem Auftritt ein effektvolles Schneegestöber entgegen. Sie nutzten das halbrunde Vordach bis zur Ecke des Gebäudes und liefen dann schnell über die kleine Straße zum Taxistand. Die Verabschiedung fiel wetterbedingt nur kurz aus. Nicht ohne das Versprechen, sich beim nächsten Mal wieder in Hannover zu treffen. Was aber durchaus erst in ein paar Jahren sein könnte.

Ronald wollte gerade die Treppen zur Tiefgarage hinuntersteigen, als er hinter dem dichten Schneetreiben die vagen Umrisse einer scheinbar auf ihn

zustürmenden dunklen Gestalt wahrnahm. Instinktiv wich er zur Seite und eilte zur Einfahrtsrampe der Tiefgarage. Der schmale Fußweg neben der Autospur war noch nicht gestreut worden und er hatte Mühe, beim Runterlaufen nicht hinzufallen. Als er das erste Parkdeck erreichte, verlangsamte er seine Schritte und fluchte über sich selbst. Was war das denn gerade für eine lächerliche Reaktion? Hatte er sich von den dramatisch aufgepimpten Erzählungen Michaels etwa anstecken lassen und sah auf einmal überall gefährliche Gestalten, vor denen er auch noch weglaufen musste? Du machst dich ja lächerlich! Dennoch konnte er es nicht lassen, sich gründlich umzuschauen. Es gab aber absolut nichts Verdächtiges.

Plötzlich sprang nur wenige Meter neben seinem

Wagen ein dunkel gekleideter dürrer Mann mit

Baseballkappe hinter einer Säule vor und zeigte mit irgendeinem Gegenstand in seine Richtung. Er machte sofort kehrt und lief auf den Garagenzugang der Oper zu, aus dem in diesem Moment herausgeputzte Leute strömten, die zu ihren geparkten Autos wollten. Sich höflich entschuldigend lief er gegen den Strom die Treppen zum Opernhaus hinauf. Bis ins Foyer. Dort blieb er endlich stehen, um zu verschnaufen. Was war das für ein Typ? Sicher kein Privatdetektiv. Womit hatte der auf ihn gezeigt? War das eine Waffe gewesen? Unsinn! Das war einfach nur ein Verrückter, der sich über ihn lustig gemacht hatte. Während er sich langsam wieder beruhigte, beobachtete er eine Gruppe junger Leute. Er ging etwas näher und entnahm dem fröhlichen Geschnatter, dass es sich um Gesangsstudenten der Musikhochschule handeln musste. Als sie aufbrachen, mischte er sich unter sie und ging mit ihnen im Pulk runter in die Parkgarage. Von dem Verrückten war nichts mehr zu sehen. Schnell schloss er seinen Wagen auf, setzte sich erleichtert hinters Steuer, startete und reihte sich ein in die Schlange der geduldig auf ihre Ausfahrt Wartenden.

Bis er endlich auf die Straße fahren konnte, schaute er sich aber immer wieder zwanghaft um.

*

3

Montag. 10. Januar

Rötliche Sonnenstrahlen fielen durch die halbgeöffnete Lamellen einer Jalousie auf sein nassgeschwitztes

Gesicht, als er mit unerträglichen Kopfschmerzen

langsam wieder zu sich kam.

Wo war er? Was war passiert?

Nur mit Mühe gelang es ihm, die zugekrampften Augen ein wenig zu öffnen. Er lag auf dem Boden und sah die Rollen eines Schreibtischsessels direkt neben sich. Bohrende Kopfschmerzen zwangen ihn, seine

Augen sofort wieder zu schließen. Vorsichtig wälzte er sich auf die andere Seite und tastete seinen lädierten Kopf ab. Ein beißender Schmerz ließ ihn aufschreien. Ganz behutsam erkundete er die Stelle noch einmal. Über einer Wunde am Hinterkopf klebte wie ein Pflaster eine harte Kruste aus geronnenem Blut und Haaren.

Zögernd machte er seine Augen wieder auf. Vor ihm lag eine leere Weinflasche auf dem Boden. Hatte er die ausgetrunken? Er versuchte aufzustehen, sackte aber gleich wieder zusammen, weil ihm schwindlig wurde. Die Kopfschmerzen drohten jetzt endgültig seinen Schädel zu sprengen.

Unendlich langsam zog er sich an einem Möbelstück hoch und schaute sich um. Es war sein Arbeitszimmer, in dem sich fächerförmig helle Sonnenstreifen auf dem Boden und an den Wänden abzeichneten. Bis auf die Flasche und ein paar Weinflecken auf dem Teppich sah alles aus wie immer.

Er ging ins Badezimmer, duschte und wusch sich

vorsichtig das verkrustete Blut aus den Haaren. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, untersuchte er vor dem Badezimmerspiegel mit Hilfe eines Handspiegels die Wunde und säuberte sie umständlich mit Wattepads, die er vorher mit Desinfektionsspray eingesprüht hatte. Dann schnitt er mit einer Schere vorsichtig die Haare rund um die Wunde ab, klebte ein Pflaster drauf und kramte schließlich ein paar Schmerztabletten aus der Medikamentenkiste, schluckte zwei und spülte mit Wasser aus dem Hahn nach. Die restlichen steckte er ein.

Während er sich rasierte, erinnerte er sich nach und nach wieder an den gestrigen Abend und stellte lapidar fest, dass er den kümmerlichen Rest seiner

Selbstachtung schon sehr viel früher verloren hatte. Lange bevor er sein Bewusstsein verloren hatte. Seine Wunde war das sichtbare Ergebnis der letzten Streiterei mit seiner Frau. Auslöser war wieder einmal einer ihrer grundlosen Eifersuchtsanfälle gewesen. Absurderweise hätte eigentlich er eifersüchtig sein müssen, denn sie hatte ihn in den zehn Jahren ihrer Ehe ständig betrogen.

Sie war fünfzehn Jahre jünger als er und begründete ihr Verhalten allen Ernstes im besoffenen Zustand damit, dass sie die Jahre, die er ihr voraus hatte, im

beschleunigten Tempo nachholen müsste. Im Übrigen wären seine rückständigen Besitzansprüche sowieso so was von gestern.

Wie einem entbeinten Hühnchen hatte sie ihm nach und nach alles herausgepult, was einmal zum

Knochengerüst seiner Persönlichkeit gehört hatte.

Er war zu einer Besprechung mit einer zweifellos attraktiven Bauherrin gewesen, die ihm sehr

detailverliebt von den Ausbauplänen für ihre Villa erzählt hatte, deren Verwirklichung ihr vor kurzem verstorbener Mann leider nicht mehr erleben würde.

Natürlich hatte Ronald das geschmackvolle Ambiente und die Ausstrahlung der unverkrampft ihre

Vorstellungen beschreibende Frau genossen. Die ungewöhnliche Ausdehnung des Gesprächs hatte er dabei nicht ungern in Kauf genommen und er war erst um halb eins nach Hause gekommen.

Als er die Haustür aufschließen wollte, war sie mit einem Ruck aufgerissen worden.

»Fahr zurück und schlaf bei der Schlampe!«, hatte Susanna ihn angeschrien, die Tür wieder zugeschlagen und den Riegel vorgeschoben.

Sie musste im Büro erfahren haben, dass der künftige Auftraggeber eine gut aussehende Witwe sein würde.

»Ich kann doch nicht nur von Männern Aufträge annehmen!«, hatte er mit unterdrückter Lautstärke durch die geschlossene Tür gezischt. Wegen der spießigen Reimers im Haus gegenüber.

»Aber du musst ja nicht gleich beim ersten Gespräch mit der Bauherrin ins Bett hüpfen!!«, hatte Susanna von drinnen gekreischt, am Ende ihres Satzes hatte sie den Riegel zurückgezogen, kurz die Tür geöffnet, ihm eine geknallt, die Tür sofort wieder zugeschlossen und

geräuschvoll den Riegel einrasten lassen.

Metallisch schmeckendes Blut war ihm aus der Nase gelaufen und der dämliche Dackel der Reimers hatte angefangen zu kläffen. Er hatte sich ein Taschentuch unter die Nase gepresst und sich verstohlen

umgeschaut. Aber zum Glück schien niemand die peinliche Szene beobachtet zu haben. Er war dann ums Haus herumgegangen, um durch die Kellertür ins Haus zu kommen. Wie erhofft, war sie nicht abgeschlossen gewesen und er hatte sich wie ein Einbrecher ins Haus geschlichen, war eilig die Treppe hinauf in sein

Arbeitszimmer gehastet und hatte von innen abgeschlossen.

Als sie das mitbekam, hatte sie von unten gebrüllt: »Du feiges Schwein! Nicht einmal jetzt verhältst du dich wie ein richtiger Mann! Ohne meinen Vater wärst du doch gar nichts! Ohne sein Geld absolut nichts! Kein Mann! Kein Architekt! Nichts! Nichts! Nichts! Nicht mal mit dem Arsch würde dich eine andere Frau angucken!«

Sie hatte ihrem Eifersuchtsanfall damit zwar jede Grundlage entzogen und dass ihn keine andere Frau anschauen würde, war völliger Quatsch. Andere

beschrieben ihn eher als auffallend gut aussehenden Mittfünfziger. Schlank und groß. Ein George-Clooney-Typ mit blauen Augen. Aber wenn sie angetrunken war, traf sie dennoch mit der Präzision eines Neurochirurgen seine wirklich wunden Punkte.

Ohne das große Architekturbüro ihres Vaters hätte er sich damit begnügt, einer von vielen angestellten

Architekten in einem großen Büro in Hamburg zu bleiben.

Ihm mangelte es an Talent und Lust zur Akquise. Fähigkeiten, die bei ihrem Vater ausgeprägter waren als dessen Kreativität. Er dagegen fühlte sich nicht zu

Unrecht als Künstler. Er skizzierte seine Entwürfe am liebsten per Hand. Computergestützte Hilfsmittel waren eigentlich unter seiner Würde. Das überließ er lieber seinen Mitarbeitern. Auch weil er damit nicht wirklich gut umgehen konnte.

Mit ihren letzten Worten war Susanna vor seiner Tür angelangt. Als sie bemerkte, dass er abgeschlossen hatte, war sie ausgeflippt und hatte wütend mit den Füßen dagegengetreten. Mit einer für ihren Zustand

erstaunlichen Ausdauer.

Ronald hatte sich totgestellt. Wie ein Opossum bei Gefahr.

Sie hatte noch eine Weile weitergetobt und war dabei immer ordinärer und beleidigender geworden, bis sie es schließlich aufgegeben hatte.

Im Haus hatte auf einmal eine fast bedrohliche Stille geherrscht.

Nach einer halben Stunde hatte er die Tür seines Arbeitszimmers leise aufgeschlossen, vorsichtig den Kopf durch den Türspalt gesteckt und in den Flur

gespäht. Er war leer und stockdunkel gewesen. Kein Geräusch war mehr zu hören gewesen.

Er hatte die Tür wieder zugemacht, ohne

abzuschließen, sich in den Schreibtischsessel gesetzt und darüber nachgedacht, was er tun könnte, um seine

verkorkste Lebenssituation zu lösen. Aber seine Gedanken hatten sich festgefahren wie ein Autofahrer, der es aus Vorsicht nicht wagt, die gewohnte Straße zu verlassen, um genau dort in einer Schneewehe zu landen. Schließlich hatte er gar nichts mehr gedacht, hatte nur noch ins Leere gestarrt und muss weggedämmert sein. Wahrscheinlich hatte sie ihm dann die Flasche über den Kopf gehauen.

Inzwischen war es halb sieben und die Vögel aus dem gegenüberliegenden Stadtwald nahmen laut singend ihren aussichtslosen Kampf gegen den immer lauter werdenden Verkehr der Ausfahrtstraße auf.

Leise stieg er die Treppe nach unten. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Susanna lag angezogen auf dem zerwühlten Bett und schnarchte mit weit

aufgerissenem Mund. Er trat ein und ging näher. Das Zimmer roch säuerlich. Ein Kissen war auf den Boden gefallen. Er hob es auf und betrachtete sie angeekelt. Von ihrer Attraktivität war in diesem Zustand nicht mehr viel zu sehen.

Verwischtes Make-up, besabberter Mund, aus einem Nasenloch floss Rotz. Neben ihrem Kopf

eingetrocknete Brocken von Erbrochenem.

Es wäre der richtige Augenblick, sich endgültig von ihr zu befreien. Er schaute auf das Kissen in seiner Hand, als könnte es ihm Auskunft darüber geben, was jetzt zu tun wäre.

Erschrocken wollte er diesen Gedanken sofort wieder verjagen. Aber er blieb hartnäckig da und versuchte verführerisch, Besitz von ihm zu ergreifen.

Während er noch mit diesem Gedanken spielte, wusste er aber genau, dass er ihn nie zur Tat treiben könnte. Dazu war er zu feige. Zu bequem. Und auch zu rational. Er schmiss das Kissen aufs Bett. Ans Fußende.

Sie hätte in seiner Situation bestimmt weniger Bedenken gehabt. Da machte er sich keine Illusionen. Immerhin hatte sie ihm mit voller Wucht eine Flasche über den Kopf gehauen.

Liebte er sie eigentlich noch? Hatte er sie überhaupt jemals geliebt? Oder sie ihn? Sie war es schließlich

gewesen, die ihn vor zwölf Jahren abgeschleppt hatte. Er war alleine zum Maschseefest gegangen. Einem alljährlich stattfindenden Massenereignis mit Ess- und Trinkstationen und zahlreichen Musikbühnen rund um den künstlichen See. Er hatte im hinteren Bereich der Löwenbastion gestanden, einer kleinen in den See ragenden Rundung mit zwei die Bühne bewachenden Bronzelöwen von Arno Breker. An einem Stehtisch, ein Glas Weißwein trinkend hatte er auf die Bühne

geschaut. Gestört von einer Gruppe junger Leute, die ein paar Tische weiter weg stand. Mehrere sehr modisch gekleidete junge Männer hatten mit immer lauter und blöder werdenden Sprüchen darum gebalzt, von den beiden weiblichen Mitgliedern mit einem Lachen belohnt zu werden. Als er sich leicht genervt zu ihnen umgedreht hatte, war sein Blick auf den der jungen Frau getroffen, deren ansteckendes Lachen sogar die Musik übertönt hatte. Sie hatte ihn ungeniert angeflirtet und an ihren Tisch gewunken. Später hatte sie ihn aufgefordert, sie nach Hause zu bringen. Und er war geblieben. Bis heute. Trotz allem.

Immer wieder hatte er das Ritual mitgemacht. Seit zehn Jahren. Sobald sie am Tag nach einem Streit wieder nüchtern war, würde sie ihn im Büro anrufen und ihn mit Kleinmädchenstimme um Verzeihung bitten. Und wenn er dann nach Hause käme, würde sie ihn schon an der Tür mit einem leidenschaftlichen Kuss empfangen und ihn, ohne den Kuss zu unterbrechen, geschickt ausziehen, durch den Flur zerren und ihn auf dem Teppich des Wohnzimmers quasi vergewaltigen. So lief es immer ab, wenn sie sich gestritten hatten. Und sie stritten sich oft.

Diese leidenschaftlichen Versöhnungen waren

vielleicht die stärksten Fesseln ihrer Beziehung. Dabei konnte er sich nicht erklären, was ihre ständige

Bereitschaft tatsächlich bedeutete. Dass es sich bei ihr um sexuelle Unersättlichkeit handelte, glaubte er schon lange nicht mehr. Sie versuchte noch nicht einmal, ihm Orgasmen vorzutäuschen.

Es waren wohl für sie nur weitere Bestätigungen ihrer Macht über ihn. Einer Macht, die sie aber nicht nur bei ihm testete. Alles Bestätigungen dafür, dass sie jeden kriegen konnte, um ihn danach wieder abzustoßen. Oder zu behalten. Wie ihn.

Er holte sich Anzug, Hemd, Krawatte, Socken und Unterzeug aus dem begehbaren Schrank. Sie schnarchte ohne Unterbrechung weiter, während er sich im großen Badezimmer anzog. Danach machte er sich in der Küche unten einen Espresso, backte ein Hörnchen auf und bestellte sich ein Taxi. Das karge Frühstück

verzehrte er stehend am Küchentresen, weil er zum Zug nach Dresden musste. Für ein Großprojekt.

Als er das Taxi auf dem Kies der Auffahrt hörte, nahm er den schon im Flur bereitstehenden kleinen Koffer in die Hand und ging nach draußen.

*

4

Donnerstag. 13. Januar

Eine ungewohnte Unruhe hatte ihn gepackt. Noch vor der ersten Besprechung ging Ronald runter zum

Elbufer.

Warum hatte Susanna nach zwei Tagen immer noch nicht angerufen? Was hatte sie vom gewohnten Ritual abgehalten? Es wunderte ihn mehr, als dass es ihn besorgte.

Nur flüchtig nahm er die breiten etwas zerzausten Elbauen wahr. Winternebel hatte einen dunstigen Schleier vor die berühmte Silhouette Dresdens gezogen. Noch ohne die Kuppel der Frauenkirche. Wie auf

einem verwischten Fotobild von Gerhard Richter waren die Brühlsche Terrasse und die Kuppeln von

Albertinum und Kunstakademie nur zu erahnen.

Der Wetterbericht hatte einen sehr sonnigen Januartag versprochen. Aber der blassgelbe konturenlose Fleck schaffte es noch nicht einmal, den dichten Nebel

aufzulösen und die Temperatur gegen den eisigen Ostwind über drei Grad nach oben zu treiben. Ihn fröstelte. Aber er ging weiter.

Sollte er sie anrufen? Aber was sollte das bringen? Dass sie ihn möglicherweise verspottete und ihm

unterstellte, er wolle sie nur kontrollieren? Also ließ er es. Er ärgerte sich darüber, wie sehr sie sein Denken

beherrschte. Wie eine Droge, von der er einfach nicht loskam. Obwohl er jede Minute ohne sie genoss, wurden seine Gedanken immer wieder durch sie okkupiert. Wie von einer allgegenwärtigen Besatzungsmacht.

Sie war nicht bloß eine verwöhnte und gut aussehende Tochter aus reichem Hause. Auch wenn sie sich genauso benahm. Sie war auch eine überdurchschnittlich begabte Malerin und hatte ein paar Semester an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig studiert. Der

Vater hatte alles finanziert. Wohl in der heimlichen Hoffnung, sie würde irgendwann umschwenken auf Architektur.

Tatsächlich hatte sie die Malerei von einem auf den anderen Tag hingeschmissen und war zurück nach

Hannover gekommen. Nur nicht, um Architektur zu studieren. Sie hatte einfach gar nichts mehr gemacht. Außer shoppen und Partys feiern.

Sie war Ende Zwanzig gewesen, als sie Ronald

aufforderte, sie zu heiraten. Vielleicht hatte der Vater nur deswegen so schnell zugestimmt, um ihren Ausschweifungen endlich Zügel anzulegen. Ganz sicher hatte sie es bei ihrem Vater genau auf diesen Eindruck abgesehen. Doch nach der Heirat hatte sie genauso weitergemacht wie davor. Instinktsicher hatte sie den Mann gefunden, mit dem sie das machen konnte.

Er war schon fast bis zur Augustusbrücke gekommen, als er sich daran erinnerte, dass die Sitzung in zwanzig Minuten beginnen sollte. Schnell ging er hinauf zur Straße und nahm sich ein Taxi. Sie hatte nicht angerufen und er würde es auch nicht tun.

Als er zurück bei der Baugesellschaft war, winkte ihm die junge Frau hinter dem Empfangstresen schon von weitem zu. »Anrufe. Aus Hannover!« Er möge dringend zurückrufen.

Also doch, dachte er befriedigt, das Ritual wird eingehalten und wollte den Zettel mit der notierten Nummer schon mit einer Ich-Weiß-Bescheid-Geste zurückweisen. Aber dann nahm er ihn doch, als würde er der jungen Frau mit den knallroten Haaren damit einen Gefallen tun.

»Es muss wirklich dringend sein. Der Herr hat schon mehrmals angerufen«, sagte sie mit leicht sächsischem Tonfall.

Erst jetzt schaute Ronald auf die Nummer. Er kannte sie nicht. Eine hannoversche Nummer, die mit 109