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In Lüneburg wird die Leiche eines 12-jährigen Mädchens gefunden: wie aufgebahrt liegt sie da, scheinbar friedlich, mit Blumen umkränzt. BKA-Sonderermittlerin Nora Klerner und Profiler Johan Helms unterstützen die Kripo vor Ort bei den Ermittlungen, denn es gibt Parallelen zu einem Mordfall in Tschechien. Auch die Aktivitäten einer obskuren Hippie-Gruppe haben Nora und Johan im Visier. Nora ist sich sicher, dass der Täter aus dem Umfeld des dubiosen Kollektivs stammt. Als ein weiteres Mädchen verschwindet, wird Nora wegen eigenmächtiger Aktionen vom Fall abgezogen. Doch sie ermittelt auf eigene Faust weiter. Denn sie weiß, wenn sie nicht schnell handelt, wird wieder ein »Blumenkind« sterben.
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Seitenzahl: 642
Veröffentlichungsjahr: 2016
MEIKE DANNENBERG
BLUMENKINDER
Kriminalroman
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Der überwiegende Teil der Schauplätze dieses Kriminalromans entspricht realen Gegebenheiten. Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Originalausgabe Dezember 2016 im btb Verlag
Copyright © 2016 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagfotos: © Christopher Rees/Arcangel Images;
Anthony Hatley/Arcangel Images
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
MK · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-17515-3V002
www.btb-verlag.de
Zum Buch
Im beschaulichen Lüneburg wird die Leiche eines Mädchens gefunden: wie aufgebahrt liegt sie da, scheinbar friedlich, mit Blumen umkränzt. BKA-Sonderermittlerin Nora Klerner und Fallanalytiker Johan Helms unterstützen die Kripo vor Ort bei den Ermittlungen, denn es gibt Parallelen zu einem Mordfall in Tschechien. Auch die Aktivitäten einer obskuren Hippie-Sekte haben Nora und Johan im Visier. Nora ist sich sicher, dass der Täter aus dem Umfeld der dubiosen Aktivisten-Gruppe stammt. Als ein weiteres Mädchen verschwindet, wird Nora wegen eigenmächtiger Aktionen vom Fall abgezogen. Doch sie ermittelt auf eigene Faust weiter. Denn sie weiß, wenn sie nicht schnell handelt, wird wieder ein »Blumenkind« sterben.
Zur Autorin
MEIKE DANNENBERG, Jahrgang 1974, studierte angewandte Kulturwissenschaften in Lüneburg. Seit 2003 ist sie freie Journalistin und Literaturredakteurin, seit 2011 verantwortlich für den Bereich Krimi und Kinder- und Jugendbuch beim Magazin BÜCHER. »Blumenkinder« ist ihr Debütroman. Sie lebt mit ihrer Familie in Bremen.
Das kleine Mädchen atmete langsam aus und hielt die Augen geschlossen, wie man es ihm gesagt hatte. Es hörte scharrende Füße, spürte den Luftzug einer Person, die vorüberging. Dies war der Raum der Erwachsenen, der Raum, in den sie sich zurückzogen und verändert wieder herauskamen. Das Kind hatte kurz gesehen, dass er viele Ecken hatte, jedenfalls mehr als vier, bevor es, wie ihm geheißen, die Augen schloss. Monotones Summen füllte den Raum wie das Innere eines Bienenstocks. Es wusste, dass alle wegen ihm hier waren, brummten, stöhnten. Unruhig rutschte es auf dem Kissen herum. Hatte es etwas falsch gemacht? Aber er hatte ihm doch wehgetan!
»Sch, sch«, sagte seine Mutter, die dicht hinter ihm saß. »Das wird dir helfen, gesund zu werden. «
Der wabernde Klang der Stimmen steigerte sich zu einem langgezogenen Laut, der es von allen Seiten zu bedrängen schien und von den Wänden zurückgeworfen wurde. Das Mädchen tastete mit der Hand nach dem Knie seiner Mutter und krallte sich in den weichen Stoff ihres Kleides. Seine Hand wurde gelöst und zurück auf das eigene Knie gelegt.
»Geh durch die Pforte«, flüsterte die Mutter. »Geh durch die Pforte aus Licht!«
Welches Licht?, dachte das Kind. Durch seine geschlossenen Augenlider sah es nur rot wabernde Flecken, die sich nicht festhalten ließen.
Der Gesang wurde immer lauter. Es kämpfte gegen den Wunsch aufzuspringen und fortzulaufen, blinzelte, und sah kurz die Gestalten von etlichen Männern und Frauen, die in weiße Gewänder gehüllt im Schneidersitz um es herum saßen, bevor es die Augen schnell wieder zusammenkniff. Manche saßen starr und kerzengerade, die Augen weit aufgerissen, den Blick ins Nichts geheftet. Die nach oben gerichteten Handflächen lagen auf den Knien. Allen standen vor Anstrengung der Mund offen, einige bewegten den Oberkörper vor und zurück.
Plötzlich war der Schmerz wieder da. Im Kopf, im Hals, er sammelte sich in seinem Brustkorb, schwer wie ein Bleigewicht. Es schnappte nach Luft und krümmte sich zusammen. Seine Hand fasste hinter sich und griff ins Leere. Es war nicht allein. Oder doch? Die farbigen Flecken hinter seine Augen tanzten mit dem Gesang, zogen sich zusammen und verbanden sich zu einem dunklen Punkt, der immer größer wurde. Es fiel.
Blau wie Gletschereis wölbte sich der Maihimmel über der Stadt. Das Licht kroch in Winkel, Gassen und Hinterhöfe, ließ Turmspitzen und Wetterhähne glitzern, und die überwiegend blassen Wintergesichter der Bewohner wandten sich den ersten warmen Strahlen des Frühsommers zu. Nach einem grauen Frühjahr und starken Regenfällen um Ostern herum war das Licht zurückgekehrt.
Nora erklomm die Stiegen zu ihrem Zimmer und stellte den Koffer vor das Fenster mit dem breiten Sims. Sie sah hinaus. Die Treppengiebel Lüneburgs reckten ihre Backsteinfinger der gleißenden Morgensonne entgegen, und als sich das Licht in dem kleinen Sprossenfenster brach, fühlte sie sich kurz sicher wie im Bauch einer Trutzburg. Sie hatte sich unter den Hotelangeboten, die ihr eine Beamtin aus Lüneburg gemailt hatte, ein Giebelzimmer herausgesucht. Die Treppe war nicht viel mehr als eine Hühnerleiter, aber das Zimmer groß und hoch, mit freigelegten Deckenbalken und Schrägen. Es thronte über den anderen, und das gefiel Nora. Kurz überlegte sie, ob sie erst auspacken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie hatte den frühen Zug aus Berlin genommen, um sich die Stadt anzuschauen und ein Gefühl für den Ort zu bekommen. Später, das wusste sie, würden ihre Eindrücke nicht mehr ungefiltert sein, Kollegen würden sie beeinflussen, die Routine vieles überdecken. Es galt, keine Zeit zu verlieren.
Im Parka und mit einem wollenen Halstuch gegen die trotz der Sonne noch frische Frühlingsluft, stieg sie die steilen Treppen zur Rezeption hinunter und trat hinaus. Das Ende der kleinen Gasse, in der ihre Pension lag, wurde durch Reste der hohen Stadtmauer aus dem Mittelalter begrenzt, also wandte Nora sich nach links Richtung Altstadt mit den denkmalgeschützten Kaufmannshäusern.
Im Zug hatte sie auf dem Tablet die Internetseite der Touristen-Information gelesen (»Stühle und Tische vor den Cafés in der Altstadt laden zum Sehen und Gesehenwerden ein …«), die Karte der Stadt studiert und sich die Ergebnisse der letzten Landtagswahl angeschaut: über fünfundzwanzig Prozent der Lüneburger Bürger hatten Grün gewählt. Eine Art Tal der Friedvollen, der ökologische Fußabdruck nur eine Barfußspur im Sand, mit florierenden Reformhäusern und Biomarktketten statt Billig-Discountern. Im Prenzlauer Berg, wo Nora wohnte, tummelte sich der Nachwuchs dieser Kultur, zwanzig Jahre jünger und eingebettet in ein urbanes Potpourri aus Dönerbuden, Second-Hand-Läden und Anti-Schick. In der verkehrsberuhigten Zone der Lüneburger Innenstadt hatte dagegen die Bürgerlichkeit aufgefressen, was an Individualität einmal da gewesen sein könnte, bevor man wegen der Kinder in die Kleinstadt zog. Alles war so aufgeräumt, dass sie nicht umhinkonnte, die Lider zusammenzukneifen und gezielt nach etwas Ausschau zu halten, das nicht ins Bild passte.
Idylle war für Nora eine Chimäre. Sie konnte Einzelteile benennen, aber in der Summe ergaben sie kein harmonisches Ganzes. Die Leute können in gepflegten Einfamilienhäusern leben, ihren Garten hegen, ihren Job mögen und ihren Ehepartner lieben. Aber irgendwo war bei jedem eine Narbe, eine Leiche im Keller, ein schwarzes Loch, das einen Sog entwickeln konnte, in dem all die trügerische Harmonie verschwand. Nora wünschte, sie könnte das anders sehen, aber das Leben hatte ihr bisher vor allem gezeigt, dass keiner hübschen Fassade zu trauen war. Die Straße führte sie am Rand des Rathausmarkts entlang. Wenn sie ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne abschirmte, konnte sie oben im barocken Türmchen auf dem Dach des imposanten Gebäudes ein Glockenspiel erkennen, auf dem Platz spielten Kinder.
Es hatte etwas geradezu Bizarres, dass ausgerechnet in dieser Stadt ein Kindsmörder sein Unwesen trieb. Die Kriminalpolizei hatte zuletzt vor über zehn Jahren in einem Mordfall ermitteln müssen und noch nie wegen Entführung eines Kindes mit anschließendem Mord. Bis vor fast genau vier Wochen, Ende April, als die zwölfjährige Saskia verschwunden war. Der ganze Landkreis war bei der Suche nach dem Mädchen mobilisiert worden, täglich kam etwas in den Nachrichten, titelte die Lüneburger Landeszeitung mit dem Foto des Kindes. Doch zehn Tage nach ihrem Verschwinden hatte man das Mädchen in einem Waldstück zwischen Winsen und Lüneburg aufgefunden: erwürgt und nackt, mit Blumen im Haar. Seit einigen Stunden erst hatte ihre Leiche im Wald gelegen.
Es war ein Fall, dem man sich auch außerhalb Niedersachsens nur schwer hatte entziehen können. Nora hatte gelegentlich in Wiesbaden, wo sie kurzzeitig die örtliche Polizei gegen internetgestützte Kinderprostitution unterstützt hatte, den Ticker gelesen, die zunehmende Ratlosigkeit der Polizei vor Ort verfolgt. Inzwischen waren die Nachrichten abgeebbt.
Es ist immer traurig, wenn die Realität eine Scheinwelt in Scherben schlägt, dachte Nora. Die Menschen glauben sich zu kennen, aber im Grunde kennen sie nur das, von dem die anderen zulassen, dass man es sieht. Hier schien alles so dicht beieinander, so kuschelig eng, die vermeintliche Sicherheit des Schwarms einer homogenen Gruppe. Bis der Schwarm begann, seinen eigenen Mitgliedern zu misstrauen.
Nora bog in eine der kleineren Gassen ein und lief zwischen Wohnhäusern entlang, die über die Jahrhunderte gelernt hatten, sich gegeneinanderzulehnen, um der zunehmenden Bodensenkung zu trotzen. Es gab Mauern, die sich nach außen wölbten, als hätte ein Riese in das Gebäude geblasen. Nora konnte verstehen, warum Lüneburg so viele Touristen anzog.
Ein Kleinkind auf einem Laufrad überholte sie in halsbrecherischem Tempo auf dem Katzenkopfpflaster, gefolgt von den schnellen Schritten der Eltern.
Die blauen Male an Saskias dünnem Hals waren die einzigen sichtbaren Verletzungen, als man sie fand. Und tatsächlich war ihr Körper ansonsten unversehrt, wie sich bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung herausstellte. Aber das Mädchen war ausgemergelt gewesen, bei einem Kind dieses Alters reichen zehn Tage Hungern, bis man jede Rippe sah. Saskia hatte in den Tagen vor ihrem Tod anscheinend nichts zu essen bekommen, ihr Magen war leer gewesen.
Es waren besonders diese Details, die bei den Lüneburgern die Nerven bloßlegten. Nora konnte es sich gut vorstellen: wütende Eltern, die – besorgt durch die schleppenden Ermittlungen der Polizei – ihre Kinder von der Schule abholen, fremde Männer in der Nähe der Spielplätze und im Park misstrauisch beäugen. Bisher haben sie vielleicht nicht mal ihre Haustür verschlossen, nun sperren sie ihre Kinder ein.
Und noch wussten sie nicht das Schlimmste. Wie viel größer würde der Aufruhr sein, wenn erst bekannt wurde, dass Saskia nicht das einzige Opfer war? Dass der Täter bereits vorher gemordet hatte?
Nora hielt dem Wind, der trotz strahlender Sonne plötzlich mit einer scharfen Bö um die Häuser pfiff, ihre Wut über die Verderbtheit der menschlichen Natur entgegen und schob die Hände tiefer in die Manteltaschen. Die Gasse öffnete sich auf einen weiten Platz, an dem Handelshäuser prunkvoll in Reih und Glied standen, an der einen Seite flankiert von der Handelskammer im glasierten Schachbrettmuster, an der anderen begrenzt von einem großen Kirchturm. Nora bog nach rechts ab, in eine weitere große Einkaufsstraße mit Bekleidungs- und Einrichtungsgeschäften in uralten Rotklinkerhandelshäusern mit schmucker Fassade, hier und dort fand sich auch ein gut eingepasster Neubau. Eine mit Rentnern gefüllte Kutsche hinter dicken Brauereipferden klapperte die Sehenswürdigkeiten ab. Eine Touristengruppe folgte einem Mann mit wehendem Umhang, Hellebarde und Samthut.
Eine Art Miniaturwunderland, dachte Nora, Puppenhausen, und ich bin Gulliver und gehöre hier nicht her. Sie werden merken, dass ich die Finsternis an diesen Ort bringe, und sich auf mich stürzen. Sie werden mich mit Nadeln piksen und am Boden festbinden. Sie wusste auch nicht, warum der Gedanke fast etwas Tröstliches hatte.
Aus einem türkischen Restaurant holte sie sich eine vegetarische Pita, setzte sich auf eine Bank und beschloss, nach dem menschlichen Strandgut an den Säumen dieser Vorzeigeidylle zu suchen. Sie würde sich erst heimisch fühlen, wenn sie wusste, dass sie da waren – die Verlorenen, Verwahrlosten, die am Rand. Sie biss von ihrer Pita ab.
Sie würden da sein. Sie waren immer da.
Johan Helms trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und dachte an das tote Mädchen. Das Foto ihrer Leiche hatte sich vor seinem inneren Auge eingebrannt. Vor allem entsetzten ihn ihre unglaublich dünnen Knöchel und Handgelenke. Beim Anblick der schutzlosen Nacktheit des Kindes hatte er sofort das Gefühl gehabt, all diese Knochen müssten bei der geringsten Bewegung brechen, als seien sie zu fragil, um den starren Körper zusammenzuhalten, leicht und hohl wie die eines Vogels.
Er stöhnte und rieb sich über den Kopf, ein leichter Schweißfilm stand ihm auf der Stirn, Nachwirkung des Alkohols von gestern Abend. Er schluckte, um seinen Hals zu befeuchten, der noch belegt war vom Zigarettenrauch.
Der Verkehr auf der A7 zwischen Hamburg und Hannover war für einen Sonntagabend ungewöhnlich dicht. Darüber hinaus hatte es begonnen zu regnen. Normalerweise wäre Johan von Hamburg direkt nach Lüneburg gefahren und hätte die Nacht in dem winzigen Apartment verbracht, das man ihm als Dienstwohnung zur Verfügung gestellt hatte. Aber er musste am nächsten Morgen in der Früh noch in Hannover im LKA-Gebäude Unterlagen abholen, zudem stand eine Besprechung mit seinem Chef an. Nicht viel Zeit, um an dem Täterprofil des Mädchenmörders zu arbeiten, das er morgen Nachmittag auf der Lagebesprechung in Lüneburg präsentieren sollte.
Die Wagen vor ihm, die ohnehin nur im Schneckentempo über die regennasse Autobahn schlichen, kamen endgültig zum Stillstand. Johan legte den Kopf in den Nacken und spürte den Verspannungen in seinem Rücken nach wie verknotete Drahtseile vom Nacken bis zum Steiß. Was für ein Wochenende! Er hatte das Köln-Concert von Keith Jarrett schon immer gemocht. Das Gedicht von Wiglaf Droste dagegen hatte er noch nicht gekannt. Jetzt würde er es allerdings vermutlich nie wieder vergessen, dachte er und musste grinsen. »Schwarze Tasten, weiße Tasten/Töne die das Herz belasten/Finger die nicht ruhen noch rasten… Er hatte mit Lilly über den letzten Absatz gelacht, als sie am Samstag in ihrer Wohnung auf der großen Couch vor der Musikanlage lagen, seine Hände unter ihrem Pulli.
»… junge Menschen wurden Greise/wenn Keith Jarrett klimperte/auf dem Flokati litt ganz leise/wer vorher fröhlich pimperte.« Sie konnte das ganze Gedicht auswendig, rezitierte es mit Inbrunst und hatte dabei seine Hände tiefer ihre Taille entlang dirigiert. Johan dachte an die weiche Haut ihres Bauches und spürte gleichzeitig, wie ihn das schlechte Gewissen einholte, das ihm schon am Freitag auf den Fersen gewesen war. Hatte er dem Mörder in die Hände gespielt, indem er wertvolle Zeit vergeudete? Doch die zwei Wochen davor hatte er Tag und Nacht gearbeitet, kaum mehr als vier Stunden geschlafen und wenig gegessen. Der Geburtstag seines besten Freundes war eine Ausnahme gewesen.
Er stellte das Radio leiser und zwang sich, die schier endlos scheinenden drei Wochen durchzugehen, die die Ermittlungen im Mordfall Saskia nun schon andauerten. Drei Wochen, die sich wie drei Monate hinzogen und in denen weder das SoKo-Team um Kriminalhauptkommissar Mohns in Lüneburg noch er selbst auf eine Spur gestoßen waren. Doch dann, Mitte letzter Woche, hatte sich das Blatt gewendet. Johan hatte einen ganz ähnlichen Mord an einer Zwölfjährigen in Tschechien entdeckt. Vor Monaten schon war das Mädchen dort umgebracht worden. Genau wie Saskia war womöglich auch das Kind in Lestra noch einige Zeit am Leben gewesen, bevor es in den Wald gelegt wurde, aufgebahrt, geschmückt mit Blumen im Haar.
Dass Johan die Datei überhaupt gefunden hatte, war reines Glück gewesen. Normalerweise hatten das VICLAS, das Violent Crime Linkage Analysis System der Bundesrepublik, und die Datenbank, die die Tschechen nutzten, keinen Zugriff auf Verbrechen des anderen Landes. Da aber die Staaten der EU kontinuierlich daran arbeiteten, die Verknüpfung von Verbrechensmustern zu verbessern, waren einzelne neuere Fälle in die deutsche Datenbank eingepflegt worden und umgekehrt.
Der Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe. Die hektischen Bewegungen der Scheibenwischer erinnerten ihn an die Aufregung, die in der Ermittlungsgruppe geherrscht hatte. Die Entdeckung der Parallele war die entscheidende Wendung in diesem Fall, das war allen klar gewesen. Ein zweites Opfer – was die Dringlichkeit der Ermittlungen noch deutlicher machte. Sie brauchten Ergebnisse. Schnell. Der Mörder hatte nicht nur einmal zugeschlagen, und der Zeitabstand zwischen den Taten war unglaublich kurz gewesen.
Johan hatte, wie in einigen grenzübergreifenden Kapitalverbrechen möglich, unmittelbar nach seiner Entdeckung Amtshilfe vom BKA beantragt, die binnen eines Tages genehmigt worden war. Sie würden Nora Klerner schicken, um die Kommunikation mit den tschechischen Kollegen zu übernehmen und eine Anfrage bei Europol zu stellen, von wo aus wiederum die Polizeibehörden weiterer Länder informiert wurden und gebeten, ihre Datenbanken nach Taten mit ähnlichen Merkmalen zu durchforsten. Das Ganze war groß, beängstigend groß.
Johan hatte schon einmal mit Nora Klerner zusammengearbeitet und sie als außerordentlich eigenwillig kennengelernt. Und damit bildete sie ein gutes Gegengewicht gegen Dienst-nach-Vorschrift-Beamten vom Typ Mohns.
Am Freitag auf dem Weg nach Hamburg, als er sich entschlossen hatte, doch zu der Feier zu fahren, hatte Johans Gehirn noch über der Theorie eines möglichen internationalen Serientäters gebrütet. Dann war auf der Party wie aus dem Nichts diese Frau aufgetaucht. Und was für eine Frau! Als er sich mit ihr unterhalten hatte, war sein Gedankenstrom abgelenkt worden. Er hatte keine Chance. Ihr Duft, ihr lächelnder sinnlicher Mund, ihre Verheißung in der verqualmten Küche voller Menschen, der Tisch überquellend von Wein-, Sekt- und Bierflaschen, die Bässe aus dem Raum nebenan wie ein rauer Kuss in der Zwerchfellgegend. Irgendwann hatte der Mädchenmörder einfach abtreten, sich in den Teil der finsteren Welt verpissen müssen, in den er gehörte.
Johan schlug mit der Hand leicht gegen das Lenkrad. Der Stillstand auf der Autobahn machte ihn wahnsinnig. Was war da los? Wusste wieder irgendein Depp nicht, was ein Reißverschluss war? Er schielte an den Autos vorbei, sah aber nur die von Regentropfen gebrochenen gelben Lichter einer Baustelle.
Seine Gedanken kehrten zurück zu Lilly. Endorphine, Adrenalin. Gab es bessere Drogen? Als er sich von ihr verabschiedete, hatten zwischen ihren Worten und Küssen lange Pausen gelegen. Aber es war ein glückliches, begehrendes Schweigen, das Raum für Wünsche ließ. Er hatte bedauert, dass er nach Lüneburg zurückmusste. Ob sie sich nächstes Wochenende sehen könnten? Sie konnten. Dieser Gedanke machte Johan für einen Moment unruhig. Konnten sie wirklich? Er neigte dazu, sich in der Arbeit ebenso zu verlieren wie in diesen gestohlenen Stunden mit Lilly.
Die Bremslichter des Wagens vor ihm erloschen, der schlammgrüne Kastenwagen fuhr an. Johan kuppelte und schaltete in den ersten Gang. Schon jetzt wusste er, dass er morgen bei der Präsentation seiner Analyse dafür büßen würde, dass er sich am Wochenende nicht der Rekonstruktion der Taten gewidmet hatte. Ausgerechnet jetzt, wo es knifflig wurde. Die Kritik Rainer Mohns, der ständig einen Grund suchte, ihm am Zeug zu flicken, ließ ihn dabei kalt. Aber Saskia – ihr war er es schuldig. Genauso wie Evelina aus Tschechien. Und möglichen weiteren Opfern.
Nur die beiden, dachte Johan und gab Vollgas, als der Kastenwagen vor ihm am Ende der Baustelle auf die rechte Spur schwenkte. Bitte, lass es nur die beiden sein.
In dieser ersten Nacht schlief Nora kaum. Sie wälzte sich im Bett hin und her und fand keinen Schlaf. Obwohl sie in ihrem Giebelzimmer über den Dingen thronte, war ihr die ganze Zeit bewusst, dass es nur einen Weg in das Zimmer hinein gab. Sollte jemand, wer auch immer, heraufkommen und ihr Übles wollen, bliebe ihr nur eine Flucht über das steile Dach. Rein hypothetisch. Sie hatte gelernt, mit ihren Ängsten umzugehen: sich eine Position im Raum zu suchen, von der aus sie alles überblicken konnte, mit einer Wand im Rücken. So zu liegen, dass sie sich sicher fühlte. Aber trotz allem, es funktionierte nicht immer. Schließlich holte Nora sich einen Roman aus einem Regal voller zurückgelassener Bücher an der Treppe und las, bis der Morgen graute. Sie würde sich an das Zimmer gewöhnen müssen. Es würde niemand die Stiege hinaufkommen.
Als es endlich dämmerte, atmete sie auf, duschte lange heiß und machte sich auf den Weg zur Polizeidirektion Lüneburg: drei unansehnliche Quader mit Flachdach und vier Stockwerken hinter einem Parkplatz an einer breiten Verkehrsstraße, die den älteren Stadtbezirk von einem Areal großer Bau- und Supermarktketten trennte. Im Vorraum der Wache vor dem Glaskasten des wachhabenden Beamten blieb Nora stehen und lauschte. Sogar hier schien die Atmosphäre geprägt von dehnbarer Ruhe. Der Polizist in dem Aquarium tippte etwas in den Computer, kein Telefon läutete.
Nora wartete auf Marie Güster, die sie in ihr Büro bringen sollte. Einmal hatten sie zuvor miteinander telefoniert. Ein freundliches, unverfängliches Gespräch, auch über die Vorzüge Lüneburgs. »Sie werden sich hier wohlfühlen«, hatte die Kollegin gesagt. Ein seltsamer Gedanke.
Marie Güster kam die Treppe hinunter. Sie war sehr jung, und ihre helle Haut schimmerte so durchscheinend, dass ihre Augenringe sie anämisch und so übernächtigt aussehen ließen, wie Nora sich fühlte. Sie lächelte ein wenig schüchtern, und Nora war überrascht. Diese Frau schenkte ihr Vorschusssympathie. Das war nicht immer der Fall. Nora war seit sechs Jahren Sonderermittlerin beim BKA, lang genug, um zu wissen, dass die Erwartungen an sie hoch waren – aber nicht so hoch wie die Renitenz, wenn sie auf Ermittlungsfehler oder Versäumnisse stieß. Und die Hoffnungen, die in sie gesetzt wurden, gingen stets einher mit der Sorge, dass sie Fehler aufdeckte. Im Grunde wäre es einfacher und sicherlich netter, immer mit den gleichen Kollegen zusammenzuarbeiten und nur aus Wiesbaden und Berlin zur Stippvisite in die örtlichen Polizeiinspektionen abzutauchen. Doch Nora hatte gute Gründe für die Wahl ihres unsteten Postens. Und sollten die ruchbar werden, könnte das in einem Desaster enden.
Sie erwiderte das Lächeln von Marie Güster. Es fühlte sich an, als würde sie ein mürbes Gummiband mit Gewalt spannen. Maries Handfläche war warm und trocken, aber ihr Händedruck ein wenig schlapp.
»Unseren Chef Rainer Mohns werden Sie erst nachher kennenlernen«, sagte Marie. »Er ist in Uelzen bei den Kollegen, um sie über die neusten Entwicklungen zu informieren.«
Sie lotste Nora durch ein anonymes Treppenhaus mit grauem Linoleum in den dritten Stock, in ein geräumiges Büro mit riesigem Schreibtisch aus buchenfurniertem Sperrholz und einem fast leeren, ebenfalls buchefarbenen Kunststoffregal für Aktenordner vor einem Fenster, das auf den Parkplatz hinausging. Auf der Fensterbank standen Topfpflanzen in angegilbten Flechtkörben, und nur in der Ferne lugten die Kirchturmspitzen im Altstadtviertel hervor.
Willkommen zu Hause, dachte Nora.
Marie lächelte ihr aufmunternd zu. »Äh, so, das ist Ihr Büro.« Sie ließ den Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen. Anscheinend fiel ihr erst jetzt ebenfalls auf, wie trist es wirkte. »Und jetzt zeige ich Ihnen die Kaffeeküche und stelle Ihnen die Kollegen vor.«
Die Blicke der anwesenden Kollegen und Kolleginnen des Fachkommissariats I, zuständig für Gewalt- und Tötungsdelikte, waren stets auf den Computer fixiert, als sie von Büro zu Büro gingen. Nora gab jedem die Hand, alles wirkte sehr unaufgeregt, auch wenn ihr verstohlen hinterhergeschaut wurde, wenn sie ein Büro wieder verließ. Sie hatte Verständnis dafür. Dem LKA Niedersachsen und vor allem Johan Helms, der um ihre Hilfe gebeten hatte, war ihre Anwesenheit willkommen, aber die Lüneburger waren nicht gefragt worden. Sie mussten sich vorkommen wie Provinzbullen, die plötzlich kontrolliert wurden, weil etwas aus dem Ruder lief.
Systematisch versuchte sie, sich die Namen einzuprägen. Da war Kriminalkommissar Volker Reine, ein schlanker Mann mit grauen Haaren und hartem Gesicht, der sich förmlich erhob, als sie den Raum betrat. Ein weiterer Beamter, Heiner Vollmer, deutlich älter als Reine, mit Bart und Bauch, der sich verlegen am Kinn kratzte und dann grinste. Und eine etwas burschikose Mittfünfzigerin, Kriminalhauptkommissarin Irene Bauer, die breit lächelte. Sie führte, erfuhr Nora, die Akten im Fall Saskia und vertrat den Leiter der Ermittlungen, den Ersten Hauptkommissar Rainer Mohns, wenn er, so wie jetzt gerade, nicht zur Verfügung stand.
»Hallo, Frau Klerner. Ich habe hier einen Ausdruck mit allen notwendigen Passwörtern für unseren Server und die darauf befindlichen Fälle für Sie. Marie hat Ihnen die Akten der Soko-Saskia in der ausgedruckten Version auf den Schreibtisch gelegt. Auf dem Server finden Sie alles auch noch einmal digital«, sagte sie, »die Laufakten habe ich hier.« Sie legte die Hand auf einen ansehnlichen Stapel Registermappen.
»Nora, bitte«, sagte Nora zum wiederholten Mal und nahm den Zettel entgegen.
Sie hatte zwar allen das Du angeboten, aber letztlich war es ihr gleich, Unverbindlichkeit war ihr am liebsten.
Zu Beginn ihrer Tätigkeit als Beraterin und Sonderermittlerin hatte Nora sich jedes Mal intensiv auf eine neue Gruppe eingelassen, hatte versucht, kurzfristige Freundschaften zu schließen, das interne Beziehungsgeflecht zu durchschauen. Doch irgendwann hatte es nachgelassen, dieses Gefühl, dazugehören zu wollen. Vielen Kollegen fiel es schwer, sich in Noras Gegenwart zu entspannen. Die Mythen über die Spezialausbildungen in ihrer Abteilung und ihrer Behörde umgaben sie wie ein fremdartiger Geruch, der sie aus der Herde aussonderte. Dabei war die zusätzliche Ausbildung in Mikromimik und FACS, Facial Coding Action System, für Nora mehr eine Art Überlebenstraining gewesen und auch nichts sonderlich Beeindruckendes, wie sie selbst fand. Eher ein Setzkasten für Muskelgruppen und deren vermeintliche Zusammenhänge mit Emotionen. Die analytische Herangehensweise an die Gefühle ihrer Mitmenschen hatte Struktur in ihre damals chaotische, überreizte Wahrnehmung gebracht und ihr geholfen, ihre Angst in Schach zu halten.
Nach dem Rundgang durch die Büros zeigte Marie ihr noch die Küche, bevor sie sie allein ließ. Nora nahm sich eine große Tasse mit Kaffee, dessen Oberfläche ölig glänzte, und ging damit in ihr neues Büro. Der Stuhl unter ihr fühlte sich fremd an, das Büro sah aus wie eine hässliche Möbelausstellung, und doch wusste sie, dass es sie nicht stören würde. Das Einzige, was zählte, waren die dicken Akten vor ihr auf dem Schreibtisch. Sie waren ihre Brotkrümel im dunklen Wald.
Sie pustete in die Tasse, musterte die dicken Mappen und zog dann aus ihrer eigenen Tasche den Ordner, der der eigentliche Grund dafür war, dass man sie angefordert hatte: die Akte zu Evelinas Tod in Tschechien vor etwa sechs Monaten. Sie legte sie neben die anderen und spürte die Energie, die von den Ordnern ausging, das leise Vibrieren der Düsternis und Traurigkeit dessen, was sie zwischen den Pappdeckeln erwartete. Sie wappnete sich gegen ein Gefühl, ähnlich dem, wenn ein nacktes Knie über Asphalt schürft, dann schlug sie die erste Seite des Ordners zu Saskias Tod auf und machte sich an die Arbeit.
Eine halbe Stunde später hatte sich Nora einen groben Überblick über die Details verschafft, die die Kollegen am Fundort der Leiche erwartet hatten. Sie war im Wald aufgebahrt worden, auf einer Lichtung. Auf dem Foto waren ihre blonden Haare wie ein Glorienschein um ihren Kopf drapiert, mit verwelkten Blüten von Frühlingsblumen geschmückt. Obwohl das Mädchen durchscheinend weiß war, mit einem leichten bläulichen Schimmer, sah sie fast aus, als schliefe sie. Ihre Wimpern lagen wie dunkle Fächer auf der blassen Haut. Ihre Hände hielten weitere Wiesenblumen mit dünnen Fingern umklammert. Sie lag auf der Seite, die Knie angewinkelt und die Beine übereinandergelegt wie ein langgliedriger Embryo. Sie war nackt, aber Äste hatten ihren Körper zuvor bedeckt, und immer noch klebte hier und da ein welkes Blatt dunkel auf ihrer Haut. Ihr Gesicht war erstaunlich friedlich, fast als würde sie schlafen. Nora wusste, dass die entspannten Muskeln in Saskias Gesicht von den Sedativa in ihrem Blut herrührten, aber dennoch war das Bild von einer morbiden Ästhetik, vor der ihr grauste.
Sie nahm sich den deutlich schmaleren Ordner vor, den sie bereits gestern auf der Zugfahrt studiert hatte, und schlug ihn auf. Er war schlicht beschriftet. Evelina Berkowski, f 02. Dezember 2011, Lestra.
Knapp ein halbes Jahr war es her, dass das zwölfjährige Mädchen im Dezember in Tschechien verschwunden war. Wochenlang hatte sie im Wald gelegen, bevor Forstarbeiter Mitte Januar über ihren Leichnam gestolpert waren. Weihnachten für drei Geschwister und ihre Eltern im Ungewissen über den Verbleib ihrer ältesten Tochter.
Die Ähnlichkeit der auf den Bildern abgebildeten Haltung der Leichen war frappierend. Die Akte, die Nora am Freitag in Berlin zugestellt worden war, enthielt einige Fotos, eine mehrseitige Zusammenfassung über den Stand der Ermittlungen und die verschiedenen Ansätze, die bisher verfolgt worden waren, sowie etliche bereits aus dem Tschechischen übersetzte Protokolle von Vernehmungen von Angehörigen und Anwohnern.
Sie überlegte kurz, ob die angenehm klaren Sätze in der Zusammenfassung das Werk des Übersetzers waren oder ob die Tschechen einfach besser als deutsche Beamte formulierten, die die Sprache gelegentlich in ihre Bestandteile zermahlten und zu Wortungetümen neu zusammensetzten. Hier war alles klar und schlicht gehalten: Evelina Berkowski, zwölf Jahre alt und Schülerin am Gymnasium von Hofovice, war an einem Freitag Anfang Dezember verschwunden, als sie für ihre Mutter am späten Nachmittag Besorgungen machen sollte. Die Mutter war zunächst davon ausgegangen, dass Evelina auf dem Weg eine Freundin getroffen hatte und spätestens gegen neunzehn Uhr zu Hause sein würde. Als sie jedoch um zwanzig Uhr immer noch nicht heimgekehrt war, suchten zunächst die Familie und deren Freunde, später auch die Polizei in dem dichten Wald, der das kleine Dörfchen umgab, nach dem Kind. Ohne Erfolg. Bis zum 17. Januar 2012. Ein Förster fand sie in einer Senke, zugedeckt mit Reisig, eine Rose in der Hand.
Die Übereinstimmungen der Physiognomie der Kinder, ihres Typs und ihrer Haltung auf den Bildern waren zu groß, um zu leugnen, dass hier mit höchster Wahrscheinlichkeit der gleiche Täter am Werk gewesen war. Es sei denn, jemand hatte das Foto von Evelinas totem Körper oder den Ablauf der Tat in Lestra gekannt und sich große Mühe gegeben, sie genau nachzubilden.
Der Täter hatte sich offenbar viel Zeit gelassen, die Leichen der Mädchen im Wald zu arrangieren. Als hätte jedes Detail eine Bedeutung: wie ihr Körper lag, die Blumen, ihre Nacktheit. Die Frühlingsblumen, die Saskia in den Händen hielt, waren nur wenige Stunden zuvor gepflückt worden, als man ihre Leiche fand. Evelinas Rose, vermuteten die Ermittler, stammte von einer Tankstelle. Spuren von Tesafilm waren am Stängel gefunden worden. Sonst nichts. Die Rose war im Schnee konserviert, das eisige Winterwetter hatte sie gefroren, genau wie Evelinas Körper, der nur wenige Verwesungsspuren oder Tierfraß zeigte. Sie konnte ebenfalls noch länger in der Gefangenschaft ihres Entführers gelebt haben, aber ob überhaupt und wie lange, darüber konnten die Rechtsmediziner nur vage Vermutungen anstellen. Der Winter hatte die Spuren erkalten lassen. Ob sie sofort nach der Entführung getötet worden war oder später, konnte nicht mit Sicherheit gesagt werden.
Bei Saskia war es einfacher: Sie war am 30. April verschwunden und am 09. Mai gefunden worden. Sie war erst einige Stunden tot gewesen.
Nora klopfte mit dem Ende des Kugelschreibers gegen ihre Lippen. Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn man bereits von Evelinas Tod gewusst hätte? Hätten Spuren aus Tschechien die Ermittler auf die richtige Fährte bringen können und dem Mädchen in Lüneburg das Leben retten? Bisher wies nichts darauf hin.
Sie vertiefte sich in den Obduktionsbericht von Saskias Leiche, der eher aus dem bestand, was nicht gefunden worden war: keine Penetration, Hymen unbeschädigt, keine Spuren von DNA an ihrem Körper, kein Sperma, keine Nahrungsreste im Magen. Pflanzliche Beruhigungsmittel hatten in beider Blut nachgewiesen werden können: Baldrian und Hopfen, ebenso wie die beiden Alkaloide Hyoscyamin und Scopolamin, die in verschiedenen Nachtschattengewächsen vorkamen und zu den Delirantia gehörten, also ein Delirium hervorrufen konnten. Saskia hatte sich einmal als Kind den Arm gebrochen, ansonsten war sie kerngesund gewesen. Ebenso Evelina. Sie hätten beide sehr alt werden können.
Nora warf einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster, bevor sie den Rücken durchdrückte, die Akten nebeneinander vor sich ausbreitete und begann, sich systematisch an die Vergleichsanalyse zu machen.
Als jemand an die Tür ihres Büros klopfte, zuckte Nora zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass die Sonne inzwischen hoch am Himmel stand. Seite für Seite hatte sie sich durch Vernehmungsprotokolle, rechtsmedizinische Analysen und Besprechungsprotokolle gekämpft. Die Arbeit von drei Wochen in Lüneburg und, soweit übersetzt, von Monaten in Tschechien. Der Gummibaum warf bereits einen kleinen Schatten.
In der geöffneten Tür stand ein Mann um die fünfzig. Sein Gesicht sah aus, als hätte es eine Weile zwischen Kinn und Scheitel in einem Schraubstock gesteckt, mehr breit als lang. »Hallo, Frau Kollegin«, sagte er und dehnte dabei das »e«. Er verschränkte die Arme vor der Brust, trat ins Zimmer, und seine Präsenz im Raum ließ keinen Zweifel an der latenten Aggressivität, die sein Körper ausdünstete.
»Da gibt uns das BKA jetzt auch noch die Ehre«, fügte er hinzu. Was darauf folgte, sollte wohl ein Lächeln darstellen, zuvor aber huschte für den Bruchteil einer Sekunde eine Anspannung durch Muskel Nummer 15 und 17, die mit einigen anderen das Herunterziehen der Mundwinkel steuerten, die Ringmuskeln um die Augen zogen sich zusammen, seine Lider schlossen sich halb. Dann war die Grimasse weg, er grinste sie an, bemüht freundlich, aber Nora hatte den Ausdruck des Unwillens gesehen und seufzte.
Oh ja, den kannte sie. Noch immer pochte es an seiner Schläfe, sie sah die ineinander verschränkten Arme, die Hände, die ein klitzekleines bisschen zu stark an den Armen klammerten. Um das zu kaschieren, hatte er sich lässig in den Türrahmen gelehnt. Dieser Mann hatte Angst vor ihr, am liebsten würde er sie sofort wieder wegschicken. Dass er das nicht durfte, ärgerte ihn. Er fühlte sich bedroht. Er hatte wahrscheinlich ein Autoritätsproblem, weil er nicht gemocht wurde, und je weniger er gemocht wurde, desto mehr fühlte er sich bedroht. Und er sah aus wie einer, den zu mögen schwerfiel.
»Sie müssen Rainer Mohns sein.« Nora deutete auf die Akten, die sie bis jetzt gelesen hatte. »Gute Arbeit!« Komplimente sind so eine Art optimal energieabsorbierende Masse, dachte sie, weich und ohne nennenswerte Leitungseigenschaften.
Nora hatte kein Interesse an Kompetenzgerangel. Sie machte ohnehin, was sie wollte. Daran würde auch einer wie Mohns nichts ändern.
Der Leiter der Lüneburger Mordkommission betrachtete sie einen Moment skeptisch, dann ließ er die Spannung aus seinem Körper weichen, wechselte von breitbeinig auf festen Stand und löste seine Arme. Er nahm Noras Hand. Waffenstillstand.
»Wir treffen uns um drei in der großen Runde zur Besprechung. Bis dahin haben Sie Zeit, sich einzulesen«, sagte Mohns.
Als er gegangen war, merkte Nora, dass sie flacher geatmet hatte. Sie war froh, dass sie sich hier wahrscheinlich nur für sehr begrenzte Zeit aufhalten würde. Der Ton, in dem er ihr einen Auftrag erteilt hatte, ließ sie daran zweifeln, dass sie gut miteinander zurechtkommen würden. Sich gängeln zu lassen war nicht ihr Ding. Sie warf einen Blick auf die Uhr, zog die Akten wieder zu sich heran und begann abermals zu lesen.
Johan war spät dran. Der Vormittag war ihm nur so unter den Händen zerronnen. Er hatte im LKA in Hannover wesentlich mehr Zeit verbracht als geplant, nachdem sein Chef ihre morgendliche Besprechung kurzfristig hatte verschieben müssen. Aus diesem Grund waren Johans Vorbereitungen hauptsächlich auf die Autofahrt nach Lüneburg beschränkt gewesen, was zur Folge hatte, dass er nun ohne eine gut choreographierte Fallanalyse vor die Kollegen treten musste. Etwas, das ihm nicht nur aus Respekt vor den Opfern zuwider war. Er würde improvisieren müssen.
Als er die Tür des Besprechungsraumes öffnete, saßen bereits alle Beamten der SoKo-Saskia an den Tischen. Er ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. War Nora Klerner schon aus Berlin angereist? Ja, sie hatte sich einen Stuhl ganz hinten gesucht. Er lächelte ihr erleichtert zu.
Mohns saß vorne links, dem Platz neben dem Flipchart und der Leinwand, auf denen Johan gleich seine neuen Erkenntnisse in einer kurzen Präsentation veranschaulichen würde.
Ob Mohns Nora bei den Kollegen einführen würde? Es wäre ihm zuzutrauen, dass er ihre Anwesenheit einfach ignorierte. Es wussten ja ohnehin die meisten, wer die Frau war, die da in ihren Reihen saß. Und Nora hatte etwas an sich, das den Menschen natürlichen Respekt einflößte, selbst den Mohns dieser Welt. Wie sie jetzt auf ihrem Stuhl saß, halb zurückgelehnt, aber dennoch mit einer wahrnehmbaren Körperspannung. Sie kam ihm vor wie eine Katze, weich, aber wachsam, klein, aber präsent. Ihre dunklen Haare waren so kurz, dass sie ihren schmalen Hals betonten. Ungeschminkt wirkte sie pur, verletzlich. Sie war zwar noch nicht lange Sonderermittlerin, hatte aber schon von sich reden gemacht. Manchmal auch in der Art, dass sie zickig sei, schwierig. Aber seit sie im letzten Jahr mitgeholfen hatte, einem internationalen Ring Pädophiler das Handwerk zu legen, waren selbst kritische Töne von Respekt untermalt. Sie hatte von Anfang an die richtige Spur verfolgt und war zuletzt in einer verdeckten Operation als Käuferin und Händlerin von pornographischen Fotos aufgetreten und hatte so die Täter überführen können.
Johan erinnerte sich gut an die Zusammenarbeit mit ihr in Hannover. Ihr irritierender Blick, der von innen loderte, schien dem Gegenüber die Seele Stück für Stück auseinanderzunehmen und gleichzeitig auf Abstand zu halten. Und bei den Kinderschändern hatte sie sofort gewusst, welcher als Erstes einknicken würde und wie sie ihn anpacken musste. Sie schien über eine Art Emotions-Detektor zu verfügen, verblüffend und ein wenig beängstigend. Und er fand sie auch nicht kompliziert, eher schwer einzuschätzen. Sie ließ sich nicht in die Karten schauen, und zwischendurch hatte er gedacht, dass sie ziemlich verbissen sei. »Du fängst an.« Mohns machte sich nicht einmal die Mühe, von seinem Stuhl aufzustehen. Wie immer ließ er den Chef der SoKo raushängen, obwohl er an den konkreten Ermittlungen wenig beteiligt war. Johan empfand seine Worte fast ironisch. Wer sollte denn sonst anfangen? Er hatte den zweiten Mord entdeckt. Die nächste Dimension.
Er trat an die Chart. Vor allem galt es jetzt, die Zusammenhänge zwischen den Tötungen beider Mädchen aufzuzeigen, bevor die Beamten vielleicht sogar eine Verbindung ermitteln konnten, die den Mörder ausgerechnet zu ihnen geführt hatte.
Johan fing mit den Übereinstimmungen an, die in diesem Fall mehr als deutlich waren. Beide waren blond, zierlich und hübsch. Sie sahen sich ähnlich. Gleichzeitig wies die Tatsache, dass sie beide nicht sexuell missbraucht worden waren, darauf hin, dass der Täter ein Motiv hatte, das aus seiner Persönlichkeit und seiner Biographie und weniger aus seinem sexuellen Trieb heraus resultierte. Und dann die Art, wie die Mädchen zurechtgemacht waren, ein weiterer Hinweis auf einen Zwang. Wer machte sich schon die Mühe, dem Opfer einer Gewalttat Blumen ins Haar zu binden, wenn da nicht auch Schuldgefühle waren? Und wer schloss aus, dass es sich nicht auch um eine Täterin handelte? Die Inszenierung einer Leiche war häufig mit Sühne verbunden, Gesichter wurden abgedeckt, Nacktheit verborgen. Über Evelina hatte der Täter Zweige gebreitet. Weil er nicht wollte, dass sie gefunden wurde, weil es sehr viel kälter war im tschechischen Winter als im frühlingshaften, nassen Norddeutschland oder weil er sich bei dem früheren Mord geschämt hatte?
Johan begann die wichtigsten Punkte der Parallelen der beiden Mordfälle in einer Tabelle an die Tafel zu schreiben. Alter: beide zwölf. Aussehen: blond, blaue Augen, schlank. Kleidung: keine. Kein Schmuck, keine Habseligkeiten. Todesursache: Strangulation.
Dann ließ er den Stift einen Moment in der Luft schweben und fügte stichwortartig die Punkte hinzu, von denen er glaubte, sie könnten auf den Täter zutreffen, während er erläuterte: »Beide Morde wurden mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit von ein und derselben Person verübt. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass der Täter vom Mord in Tschechien wusste und ihn dann nachgeahmt hat, so waren einige Details der Tat nur einem kleinen Kreis ermittelnder Beamter bekannt.« Er schrieb: Sakrale Motive, rituelle Handlung. »Dabei handelt es sich vor allem um die überkreuzten Beine, das gebürstete und arrangierte Haar, die Blumen, mögliche Zeichen einer emotionalen Wiedergutmachung der erfolgten Tötung. Die Würgemale sind die einzige sichtbare Verletzung, eine Übertötung liegt nicht vor, was für eine weniger persönliche Beziehung zu den Mädchen spricht.«
Das Schweigen im Raum war lähmend. Johan spürte, wie er zu schwitzen begann. Mohns war für einen nicht unwesentlichen Teil der angespannten Stimmung in der Abteilung verantwortlich. Aber das war ihm nicht bewusst, oder er wollte es nicht wissen. Mohns gehörte nicht zu den Menschen, denen es wichtig war, wie seine Mitmenschen sich fühlten. Ihm ging es nur darum, ob sie funktionierten.
Johan war nicht sicher, ob es sich bei dem Täter um einen Mann oder eine Frau handelte. Er konnte den Gedanken nicht aus seinem Kopf bekommen, dass vielleicht eine Frau für die Tode verantwortlich war. Doch allein schon die körperliche Kraft, deren es bedurfte, um jemanden, auch ein Kind, zu erwürgen, sprach dagegen. Aber ihm schien es, als ob sich in der Tat eine Art Askese, ein Ritual verbarg, zumindest in sexueller Hinsicht. Wie eine Austreibung der Sexualität. Ein Triebtäter, der seinen Trieb töten wollte.
Doch das war reine Spekulation und die würde Johan hier nicht preisgeben.
»Er oder sie fühlt sich nicht als Teil unserer Gesellschaft, sondern über ihr stehend«, sagte er und schrieb »Außenseiter« an die Flipchart. Im gleichen Moment merkte er, wie unglücklich das Wort gewählt war. War nicht jeder, der mordet, ein Außenseiter vor allem unter moralischen Gesichtspunkten? Er drehte sich zur Gruppe: »Zumindest empfindet er oder sie das so. Die Gesellschaft muss den Mörder nicht zwangsläufig auch als Außenseiter wahrnehmen. Er hatte sich die Zeit genommen, sich bei dem toten Mädchen lange aufzuhalten, als würde ihm niemand gefährlich werden können. Das spricht für ein überhöhtes Selbstbewusstsein. Er hat keine Angst.«
Johan zögerte, blickte sich um und entspannte sich etwas. Mittlerweile verfolgten die meisten Beamten interessiert seine Ausführungen. Nur bei Mohns nahm er einen leicht belustigten Ausdruck um die Augen wahr. Der Erste Hauptkommissar hatte seine Arme vor der Brust verschränkt und sich auf seinem Stuhl weit zurückgelehnt.
Er schaltete den Beamer ein. Bilder beider Mädchen, aus der gleichen Perspektive fotografiert, leicht schräg von vorne, sodass Gesicht und Arme zu sehen waren, erschienen auf der Leinwand.
Ihre Wangen schmiegten sich an den Boden, als schliefen sie. Evelinas Leichnam war eingefallener, aber sie lagen vollkommen gleich. Still, kalt wie tot geborene Zwillinge.
Einen Moment schien die Zeit stillzustehen, bis alle Anwesenden kollektiv die Luft ausatmeten, die sie unvermittelt angehalten hatten. Johan ließ ihnen einen Augenblick, die Informationen, die die Fotos transportierten, sacken zu lassen. Keiner der Lüneburger Kriminalbeamten hatte je in einem solchen Fall ermittelt, keiner hatte je erwartet, es tun zu müssen. Jetzt gab es kein Entrinnen vor dem Schmerz und der Wut. Und bei einigen Kriminalern auch vor dem Jagdinstinkt. Ein Serienmörder, ein potentiell mit allen Wassern gewaschener Täter – das war so etwas wie ein Zwölfender der Beamtenkarriere. Johan wusste das, auch wenn ihm selbst diese Gefühle abgingen. Ihn interessierte mehr, was in jemandem vorging, der zu so etwas fähig war. »Wir haben zwei Morde. Bei einem dritten sprechen wir von einer Serie. Dennoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass der enge zeitliche Abstand und die Inszenierung der Leichen aus psychologischer Sicht alarmierend sind. Wir müssen davon ausgehen, dass der Mörder es wieder tun wird.« Er ließ das Gesagte wirken. Nora hatte sich nach vorne gelehnt und betrachtete die Bilder.
»Wir wussten, dass der Täter Saskia Blumen als Grabgabe in die Hände gelegt hatte, und waren bisher davon ausgegangen, dass die Haltung, in Embryonalstellung auf der Seite liegend, eher zufällig beim Ablegen der Leiche entstanden ist und die Blumen womöglich auf ein persönliches Verhältnis zu Saskia selbst hinweisen. Die exakte Übereinstimmung ihrer Haltung mit der Evelinas zeigt jedoch, dass es sich bei beiden Kindern um Stellvertreter für eine Tötungsfantasie handelt, die nicht unbedingt persönlich motiviert ist. Unter dieser Prämisse verraten uns die Blumen auch etwas Generelles über den Täter. Er möchte vor seiner eigenen moralischen Instanz oder der der Gesellschaft ausdrücken, dass er trotz seiner Tat den toten Mädchen Ehre erweist. Das spricht dafür, dass er wenig oder keine Kontrolle über seinen Zwang zu töten hat. Womöglich sogar für Reue.« Johan machte eine Pause. »Wenn man jetzt beachtet, dass die Beine der Kinder überkreuzt sind, dann ergibt sich ein weiterer Hinweis. Die überkreuzten Beine sind hier womöglich ein christliches Motiv, denn auch Jesus hatte am Kreuz die Beine übereinandergelegt. Vielleicht sollen auch die Kinder in aller Unschuld stellvertretend eine Sünde des Täters auf sich nehmen oder sie waren ein Opfer.« Er holte Luft, spürte ein nervöses Kratzen in seinem Hals. »Womöglich hinkt der Vergleich. Die Haltung stimmt natürlich nicht ganz überein. Wir haben es nur eventuell mit einem religiösen Menschen zu tun. Ebenso ist es möglich, gerade im Zusammenhang mit dem nicht eindeutigen sexuellen Motiv, dass sich Scham hinter dieser Stellung verbirgt. Der Täter möchte nicht, dass jemand die Kinder entblößt sieht, obwohl er sie selbst ausgezogen hat.«
Ein Schnalzen war zu hören – es kam von Mohns, der die Hände hinter dem Kopf faltete. Die operative Fallanalyse und ein vorhergegangenes Psychologiestudium rangierten bei ihm auf der Stufe von Kaffeesatzlesen, vermutete Johan. Krank, mehr Worte würde er nicht finden, um einen solchen Täter zu beschreiben. Sich in ihn hineinversetzen zu wollen: noch kränker.
Dabei ging es in der Analyse nicht um die Psyche des Mörders, sondern um das Geflecht der Fakten, die Rückschlüsse auf seine Person zuließen. Die Ausbildung bestand darin, den Tatort zu lesen wie eine Semiotik des Todes. Es ging um Absichten, Nachlässigkeiten und Akribie. Alles war ein Zeichen, auch die Auslassungen wie die Pausen in der Musik. Ohne einen sexuellen Missbrauch hatte die Tat einen anderen Klang. Die Zeit, die sich der Täter bei den Leichen genommen hatte, bestimmte den Takt und zeigte seine Kaltblütigkeit. Er hatte die Kinder gewaschen. Nur das Verwischen von Spuren oder ebenfalls Teil eines Rituals? Es gab einen umfangreichen Bezugskatalog in der operativen Fallanalyse. Er hatte bisher zu wenig Zeit gehabt, die einzelnen Schritte der Rekonstruktion des Tathergangs durchzuführen, um nicht auch Vermutungen äußern zu müssen. Es gab nie nur ein Motiv, es war immer ein ganzes Motivbündel, das nach und nach zutage trat, und er konnte bisher nur einzelne Aspekte benennen. Das spielte Mohns Skepsis in die Hände.
»Ein Glaubensbekenntnis durch gekreuzte Beine?«, fragte Mohns spöttisch. »Wenn du mich fragst, hat er sie so klein gefaltet, wie es ging. Als wollte er, dass sie wie Babys liegen.« Er blickte sich zu seinen Leuten um und grinste. »Religiöser Spinner, das klingt nach ziemlichem Hokuspokus!«
Johan schaute ihn kalt an. Er wusste, er hätte sich besser vorbereiten sollen, und ja, Jesus, das konnte etwas an den Haaren herbeigezogen erscheinen. Aber das Bild der Mädchen trug auf jeden Fall einen sakralen Stempel, und auch Scham über sexuelle Triebe konnte einen religiösen Hintergrund haben. Oder in einem rigiden Elternhaus oder selbst erlebten Missbrauch wurzeln. Es gab viele Möglichkeiten, sie mussten über alle reden.
Er wandte sich von Mohns ab und referierte über die betäubenden und halluzinogenen Stoffe, die im Blut der beiden Mädchen gefunden worden waren. »Der Täter wollte nicht, dass die Kinder bewusst erleben, was mit ihnen geschieht. Es ging nicht um sie, sondern um ihn selbst.« Hier bewegte er sich auf sicherem Terrain.
»Irgendwelche spontanen Ideen oder Eindrücke?«, fragte er und eröffnete die Diskussion, die jeder Fallanalyse folgte; die Kollegen waren dazu aufgefordert, seine Schlussfolgerungen zu kommentieren.
Einen Moment war es still. Sein Blick blieb an Marie Güster hängen, einer jungen Beamtin, deren lange Haare zu einem kunstvollen Dutt an ihrem Hinterkopf verschnürt waren und die nun von ihren Notizen aufblickte. »Gehen wir denn tatsächlich von einem Einzeltäter aus?«, fragte sie. »Ein religiöser Hintergrund könnte doch auch auf eine Gruppe hinweisen. Das Fehlen des sexuellen Aspekts wäre so auch leichter zu erklären. Wenn mehrere Menschen zusammenkommen, tritt dieser zurück, vor allem, wenn er als verwerflich gilt.«
Johan nickte. »Guter Hinweis!«, sagte er. Tatsächlich war er selbst bis jetzt eher von einem Einzeltäter ausgegangen. Marie lächelte.
»Vielleicht wurden sie einem seltsamen Gott geopfert? Es gibt genug Wahnsinnige da draußen!«, sagte Moritz Wochleben, ein junger Kollege, dessen Pony bis fast über die Augen fiel. Er stützte den Kopf auf die Hände und starrte auf seine Notizen, als ob dort die Antwort auf seine Vermutung stünde. Moritz Wochleben war gerade zum ersten Mal Vater geworden, hatte Johan unlängst gehört. Ob das dazu führte, dass er die Welt bedrohlicher wahrnahm als zuvor? Auf jeden Fall sah er müde aus.
Johan warf Nora einen Blick zu und fing ein Lächeln auf, wenn auch ein undurchdringliches. Für sie brachte die Besprechung vermutlich nichts Neues. Im Gegensatz zu den Kollegen hatte sie die Bilder von Evelina schon zuvor gesehen.
»Wir müssen auf jeden Fall schnellstmöglich damit beginnen, die Liste der verhörten Personen in Tschechien und Deutschland abzugleichen«, sagte Mohns. Seine Ungeduld war ihm anzumerken, offensichtlich wollte er die Diskussion wieder in eine Richtung lenken, die er fassbarer fand. »Die Kollegen in Lestra sollen uns alle Pendler von und nach Deutschland auflisten, soweit welche in der Gegend leben. Es gibt eine Menge Tschechen, die hier über die Sommermonate als Leiharbeiter auf dem Bau oder in der Landwirtschaft arbeiten.« Irene notierte, was er gesagt hatte. Weitere Ideen und Mutmaßungen folgten. Unter anderem sollten die Fernfahrerrouten und Handelsbeziehungen zwischen Niedersachsen und Mittelböhmen geprüft werden.
Die Idee, jemand, der sich regelmäßig in beiden Gegenden aufhielt, könnte am ehesten als Täter in Frage kommen, elektrisierte alle. Worüber keiner gerne nachdachte, war dagegen, dass der Ort ebenso zufällig gewählt sein könnte wie die Mädchen, dass es weitere Opfer in ganz Europa gab. In diesem Fall hatten sie keine Chance, den oder diejenigen, die das getan hatten, zu schnappen. Diese Möglichkeit blieb unausgesprochen, aber sie war allen mehr als bewusst. Ein Albtraum. Dagegen sprach allerdings, dass Saskia so viele Tage in den Händen ihres Entführers verbracht hatte. Das bedurfte einiger Vorbereitung und Ortskenntnis.
Johan ergriff wieder das Wort und schloss seine Präsentation damit ab, für wie unwahrscheinlich er es erachte, dass der Täter aus dem engeren Familien- und Bekanntenkreis der Mädchen stammte. Es gebe in Saskias Umfeld niemanden, der – soweit bekannt – eine wie auch immer geartete Beziehung zu Tschechien habe, und Johan zeigte noch einmal auf die Bilder, die immer noch wie eine makabre Fata Morgana auf der Leinwand erschienen. »Bei einem Mord dieser Art könnte durchaus eine persönliche Beziehung zu dem Mädchen eine Rolle spielen. Aber bei zwei identisch zurechtgemachten Leichen geht es meiner Meinung nach um die Tat an sich, und das birgt, wie gesagt, auch unmittelbar die Gefahr von weiteren Opfern.«
Er zog den Stecker des Beamers aus dem Laptop, und in dem Moment, wo die Bilder verschwunden waren, schien sofort mehr Sauerstoff im Raum vorhanden zu sein. Trotzdem wirkten alle wie gelähmt. Die blütenweiße Leinwand sah plötzlich aus, als könne jederzeit eine weitere, noch unbekannte Tote auf ihr erscheinen.
Dann begann sich die Anspannung zu lösen, geschäftige Unruhe kam auf, aber Mohns dachte nicht daran, Johan das letzte Wort zu überlassen. Er stand auf und hielt das, was er vermutlich für eine Motivationsrede hielt. »Der Faktor Evelina wird uns nun endlich dorthin bringen, wohin wir von Anfang an gesteuert sind: die Lösung des Falls. Ich erwarte vollen Einsatz, Männer.« Er nickte in Richtung der Kolleginnen. »Und Frauen!«
Johan sammelte seine Papiere ein und biss die Zähne zusammen. Aus Mohns Mund klang es, als sei es ein Glücksfall gewesen, dass ein zweites Kind ermordet worden war. Die Beamten im Raum scharrten mit den Füßen. Obwohl es draußen noch hell war, hatte der Himmel inzwischen einen rötlichen Abendschimmer angenommen. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und alle schien es aus der Enge des Besprechungszimmers an den Schreibtisch zu ziehen, um das Gehörte erst einmal zu verdauen.
»Dass er schon einmal getötet hat, macht es umso dringlicher, den Täter zu finden«, schnarrte Mohns. »Und Leute, wir müssen verdammt noch mal einen Zahn zulegen, bevor er auf die Idee kommt, es wieder zu tun.«
Was du nicht sagst, dachte Johan bitter. Was du nicht sagst.
Während der Raum sich leerte, hielt Nora die wichtigsten Punkte des Vortrags stichwortartig für die tschechischen Kollegen fest. Sie hatte Johan genau beobachtet, während er seine Analyse zusammenfasste. Beim Durchgehen der Akten hatte sie bereits ähnliche Schlüsse gezogen. Sie stimmte ihm zu, wenn er den sakralen Charakter der Aufbahrung der Kinder unterstrich. Sie vermutete, dass auch Evelina vor ihrem Tod noch einige Zeit in der Gewalt des Entführers gelebt hatte, obwohl es keine Fesselspuren, nur leicht abgekratzte Fingernägel gab. Als hätte das Mädchen erst sehr spät begriffen, in welcher Lage es sich befand. Das konnte an der Betäubung liegen. Und natürlich beschäftigten sie die Wirkstoffe aus den Nachtschattengewächsen. Wie die Alkaloide wirkten, darüber äußerten sich die Mediziner in beiden Ländern vage. Wahrscheinlich waren die Mädchen benommen gewesen, vielleicht bewusstlos. Bilsenkraut, Stechapfel, Tollkirsche konnte man im Garten ziehen.
Wenn sie wach gewesen waren, hatten sie womöglich sogar halluziniert. Aber trotzdem schien es Nora, als wären sie mit dem Mann vertraut gewesen oder vertrauten ihm zumindest ein wenig. Die Drogen wurden oral verabreicht und wirkten verzögert.
Nora tendierte zu einem Mann als Täter. Mehrere Täter oder sogar eine ganze Gruppe von Menschen hielt sie für sehr unwahrscheinlich. Das Bild der Mädchen hatte so etwas Privates. Gelegentlich hatte sie sogar das Gefühl gehabt, als würde sie eine höchst intime Szene stören, wenn sie die Fotos betrachtete. Der Täter hatte die Mädchen nicht für die Polizei so arrangiert, sondern für sich selbst. Warum sie eine Frau als Täterin ebenfalls fast ausschloss, würde sie in einer ruhigen Minute noch einmal mit sich selbst ausmachen müssen. Der fast mystizistische, christliche Aspekt dagegen war ihr suspekt. Aber irgendwie passte er trotzdem ins Gesamtbild, wenngleich sie nicht sagen konnte, warum.
Im Großen und Ganzen fand sie, dass Johans Ausführungen eine Bereicherung waren. Er dachte ungewöhnlich. Und diese Taten waren ungewöhnlich. Johans Unsicherheit heute hatte sie allerdings überrascht. Als er anfing, hätte sie schwören können, er sei überhaupt nicht vorbereitet. Aber er hatte schnell in ein Fahrwasser gefunden, auch wenn er gelegentlich gezögert hatte.
Johan wurde häufig in die Kategorie emphatischer Schlauberger gesteckt, als schusseliger Professor mit Jeans und Turnschuhen, zerraufter Frisur und Intellektuellenbrille abgetan.
Weil er obendrein recht jung war, erst Mitte dreißig, schienen ihn viele zu unterschätzen. Aber Nora wusste, er konnte pragmatische Entscheidungen treffen, ohne in eine Vielzahl von Theorien zu verfallen. Er hielt sich stets an die Fakten, auch wenn er sie kreativ interpretierte.
Nora dagegen vertraute mehr ihrer Intuition. Sie wusste zwar, wie trügerisch die sein konnte, aber sie pflegte ihr Unterbewusstsein wie ein sensibles archaisches Haustier, das sich in wenig eindeutigen Lauten und jeder Menge intensiver Gefühle ausdrückte. Wenn Nora sich die Zeit nahm, es aus seiner tiefen Höhle in ihren Gehirnwindungen zu locken, zu streicheln und ihm Brocken der Ermittlungsergebnisse hinzuwerfen, dann lieferte es nicht selten Einsichten. Insgesamt war sie der Meinung, dass Fakten sich im Blickwinkel der Betrachtung veränderten. Und damit war der Begriff Fakt eigentlich auch schon obsolet.
Sie sah sich um. Der Raum war inzwischen leer, nur noch Johan und die junge Marie Güster standen vorn am Flipchart und unterhielten sich leise. Nora sammelte ihren Laptop und ihre Notizen ein und ging zu ihnen.
Sie war überrascht, wie sehr sie sich darauf freute, wieder mit Johan zusammenzuarbeiten. In seinem jungenhaften Grinsen lag etwas, das ihr einfach gute Laune machte.
Er streckte ihr die Hand entgegen: »Nora! Schön, dass du da bist!«
»Schön, dass du so aufmerksam das VICLAS studiert hast«, erwiderte Nora.
Johan hob seine Hand verschwörerisch an den Mund. »Glück!«, flüsterte er.
Nora lächelte. »Na gut. Dann gut, dass du Glück hattest.«
Er grinste. »Was planst du als Erstes?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich werde mir den Fundort der Leiche ansehen. Dann mit den Eltern des Mädchens sprechen, mit Freundinnen, der Schule, versuchen, Saskia ein bisschen besser kennenzulernen. Aber am wichtigsten wird die Kommunikation mit Tschechien sein. Herausfinden, was nicht in der Akte steht.«
Johan nickte. Er wusste, dass er nicht nach der Abteilung beim BKA, in der man seit drei Tagen über Euro- und Interpol begonnen hatte, mögliche weitere Leichen aufzuspüren, die in das Profil passten, fragen musste. Sobald dort etwas auftauchte, würde Nora es sie wissen lassen.
Nora blickte zu Marie hinüber, die aufmerksam das Gespräch verfolgt hatte. »Mohns hat mir vorhin gesagt, ich könne mir einen Beamten aus der Gruppe aussuchen, der mich begleitet. Haben Sie Interesse?«
Marie bekam rote Flecken im Gesicht. »Auf jeden Fall!«
Nora lächelte. »Dann treffen wir uns morgen um sieben hier auf dem Parkplatz.«
Nora spürte, wie ihr die beiden hinterhersahen, als sie den Flur zu ihrem Büro hinunterging. Sie hatte heute gleich zwei Menschen mit ihrer Anwesenheit froh gestimmt. Das war deutlich mehr, als sie in der Bilanz ihrer zwischenmenschlichen Interaktionen an den meisten Tagen auf der Habenseite verbuchen konnte.
Ein Kaffee mehr hätte auch nicht geschadet, dachte Nora und blinzelte missmutig hinter ihrer Sonnenbrille, während sie tiefer in das Lederpolster des Wagens rutschte. Die Nacht war ähnlich kurz gewesen wie die vorherige. Endlose Stunden des Grübelns waren vergangen, bis sie endlich hatte einschlafen können. Jetzt war es gerade erst sieben und in ihren Augen nicht der geeignete Moment für ein angeregtes Gespräch.
Zum Glück sah es nicht so aus, als ob Marie sich innerhalb der nächsten Minuten aus ihrer Befangenheit befreien würde. Seitdem sie in das Auto gestiegen waren, blickte sie nach vorne, lenkte und schwitzte. Nora spürte ihre Verunsicherung. Aber sie hatte keine Lust, das zu ändern, und sie selbst konnte Schweigen sehr gut aushalten.
Es war so verdammt hell. Bei aufgehender Sonne fühlte Nora sich oft einer schützenden Haube beraubt, die ihre Sinneseindrücke auf ein erträgliches Maß dämpfte. Außerdem war der Punkt, auf den der Wagen sich zubewegte, eine weitere Stecknadel in der düsteren Landkarte in ihrem Inneren, die den Ort eines gewaltsamen Todes eines Kindes bezeichnete. Ihr war nicht nach Reden.
Marie steuerte den Wagen auf einen kleinen Feldweg, der von der Hauptverkehrsstraße abging, die Adendorf und Bardowick verband. Sie kamen an einer Abzweigung zur Mülldeponie vorbei und ruckelten dann eine Weile zwischen hohen Bäumen hindurch. Am Ende des Weges hielten sie an, und Nora folgte Marie auf einem Pfad weiter in den Wald hinein. Ihre Schritte wurden vom Laub des Vorjahres gedämpft, das den Boden der Buchen-Monokultur bedeckte und leise knisterte. Sie stiegen einen kleinen Hügel hinauf, auf dem weniger Bäume wuchsen. Nora hielt an und lauschte. Von ferne war das leise Rauschen des Verkehrs zu hören, trotzdem erschien es ihr, als seien in dem Moment, als sie die Anhöhe betraten, alle Geräusche verstummt. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und versuchte zu erspüren, was der Boden ihr verriet. Schritte waren auf ihm gegangen, eine Last war getragen worden, 32 Kilogramm. Saskia war leicht für ihr Alter und ihre Größe von 1,30 Meter gewesen. Nora sah vor sich, wie die blonden Haare über ihren zarten Nacken fielen.
Sie war in eine Plane gewickelt gewesen, ein winziges Stück davon hatten sie unter der Leiche gefunden. Aber bestimmt hatte er sie trotzdem in den Armen gehalten wie in einem billigen Liebesfilm. Dieser Täter warf sein Opfer nicht über die Schulter wie ein Sack. Er hatte sie genau betrachtet, mit dem Blick eines Liebenden, sonst wäre sein Arrangement später nicht so exakt ausgefallen. Er hatte sie bestimmt vorher und mit Sicherheit danach betrachtet.
Nora lauschte in sich hinein. Was hatte Johan über die Haltung gesagt? Ob der Täter hier gebetet hatte?
Er musste einen Grund gehabt haben, mit dem Mädchen einen Hügel hinaufzugehen. Etwas über 30 Kilo waren schließlich etwas, das getragen sein wollte. Entweder er war sehr stark, oder es gab einen anderen Grund. Oder waren da mehrere Menschen? Sie spürte in sich hinein, aber auch wenn sie es sich vorstellen konnte, wie eine Gruppe von Menschen im Gänsemarsch auf den Hügel gestiegen waren, hielt sich das Bild eines einzelnen Mannes, der das Kind trug, hartnäckig.
Sie hatten die Mitte des Hügels erreicht. Marie blieb stehen und deutete auf einen Stein neben einer kleinen Senke. »Hier hat sie gelegen. Die Beamten von der Spurensicherung haben drei Tage lang das ganze Gelände durchforstet, aber bis auf ein paar unvollständige Schuhabdrücke im nassen Untergrund nichts gefunden. Ohne eine Marke, wahrscheinlich ein robuster Alltagsschuh, der Breite nach zu schließen Größe dreiundvierzig.«
Groß für eine Frau. Normal für einen Mann.
Nora blickte zurück. Die Steigung war nur leicht, vielleicht zehn bis zwölf Grad, und im Endeffekt war der Hügel vermutlich nicht mal höher als vier Meter. Aber er schien die einzige Erhöhung hier zu sein, so weit sie sehen konnte.
Sie wandte sich an Marie. »Hat mal jemand einen Altertumsforscher gefragt? Vielleicht hat die Erhöhung einen menschlichen Ursprung? Sonst hätte sie doch längst durch Erosion abgetragen sein müssen.«
Marie schaute sie erstaunt an. »Gibt es solche Hügel denn nicht überall?«
»Nicht unbedingt. Wir sollten es zumindest in Betracht ziehen«, sagte Nora und lächelte.
Marie lächelte ebenfalls, sowohl über das »wir« als auch die Tatsache, dass Nora mit nur einem Schritt auf den Fundort der Leiche eine mögliche Spur zutage gefördert hatte »Würdest du mich einen Moment alleine lassen?«, bat Nora.