Gefährdet - Meike Dannenberg - E-Book

Gefährdet E-Book

Meike Dannenberg

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Beschreibung

Die Kinder des Hamburger Reeders und Lokalpolitikers Justus Stein werden bei eisigen Temperaturen in einen Container gesperrt. Doch es gibt keine Lösegeldforderung. Nora Klerner, Spezialistin des BKA für Verbrechen gegen Minderjährige, wird nach Hamburg beordert. Statt einer gepeinigten Familie erwartet sie in der weißen Alstervilla jedoch nur Misstrauen und aggressives Schweigen. Und was hat der Tod eines russischen Ex-Zuhälters mit der Entführung zu tun? Nora muss hinter eine großbürgerliche Fassade blicken, um eine fatale Verkettung von Ereignissen aufzuhalten ...

  • Zwei Kinder sind verschwunden - wird BKA-Spezialistin Nora Klerner sie finden, bevor es zu spät ist?
  • »Ein vielversprechendes Debüt.« (Kölner Stadt-Anzeiger zu BLUMENKINDER)
  • Deutsche Erstausgabe

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Seitenzahl: 541

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Zum Buch

Die Kinder des Hamburger Reeders und Lokalpolitikers Justus Stein werden bei eisigen Temperaturen in einen Container gesperrt. Doch es gibt keine Lösegeldforderung. Nora Klerner, Spezialistin des BKA für Verbrechen gegen Minderjährige, wird nach Hamburg beordert. Statt einer gepeinigten Familie erwartet sie in der weißen Alstervilla jedoch nur Misstrauen und aggressives Schweigen. Und was hat der Tod eines russischen Ex-Zuhälters mit der Entführung zu tun? Nora muss hinter die großbürgerliche Fassade blicken, um eine fatale Verkettung von Ereignissen aufzuhalten. Kann Kollege Johan Helms von der Operativen Fallanalyse, mit dem sie schon in Lüneburg zusammengearbeitet hat, Licht ins Dunkel bringen?

Zur Autorin

MEIKE DANNENBERG, Jahrgang 1974, studierte angewandte Kulturwissenschaften in Lüneburg. Seit 2003 ist sie freie Journalistin und Literaturredakteurin, seit 2011 verantwortlich für den Bereich Krimi beim Magazin BÜCHER. Sie lebt mit ihrer Familie in Bremen.

MEIKE DANNENBERG BEI BTBBlumenkinder. Kriminalroman

MEIKE DANNENBERG

GEFÄHRDET

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Alle in diesem Roman geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden.

Deutsche Erstausgabe März 2019

Copyright © 2019 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © plainpicture/Danel

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-17516-0V002

www.btb-verlag.de

Für meine Schwester Alena

Prolog

Ihr Vertrauen in die grundsätzliche Güte von Erwachsenen zerbarst, als sie aus dem Fenster schlüpfte. Eine letzte dünne Membran aus Hoffnung, ein vages Gefühl von Sicherheit durch die Nähe ihrer Mutter, hatte bisher die Angst vor ihnen in ihr umschlossen. Als diese Kapsel platzte, überflutete Panik ihren ganzen Körper. Sie zitterte, öffnete die Lippen, um zu schreien, doch eine schwitzige kleine Hand presste sich auf ihren Mund.

»Still, komm jetzt!«, vernahm sie die leise Stimme ihres Bruders dicht an ihrem Ohr, in ihrer Heimatsprache und brüchig vor Angst. Sie übertönte nur schwach die Geräusche, die wie eine Sirene ihren Kopf anfüllten, das Wimmern aus dem Mund ihrer Mutter, das Klatschen von Haut auf Haut, das Ächzen und Schnaufen, das grobe Gelächter der Männer. Die Laute machten sie innerlich klein, wie ein Tier, das sich zusammenkauern und an einen schützenden Ort fliehen möchte, reglos hing sie in der Kellerluke. Ihr Bruder packte ihren Arm, zog an ihr, schmerzhaft rieb der scharfkantige Metallrahmen über ihren bloßen Bauch, als ihr Shirt hochrutschte.

Die Schreie und das Wimmern waren dumpf, nur eine Tür von dem Raum mit den eisernen Etagenbetten und den angstvoll starrenden Blicken der Frauen und Mädchen entfernt, in dem sie auch eben noch gesessen hatten, bis ihr Bruder auf einen Stuhl geklettert war und ihr bedeutet hatte, ihm zu folgen. Sie waren die Kleinsten, nur sie passten durch das einzige, winzige Fenster. Jede Faser ihres Körpers zog sich zusammen und schrie, dass sie sie nicht hier zurücklassen durfte. Mama! Mama! Ihre Beine hingen immer noch in der Luft, und jetzt strampelte sie verzweifelt, um wieder zurückzugelangen.

Sie wand sich, plötzlich spürte sie einen festen Griff von Händen um ihre Oberschenkel.

Sie schrie in Todesangst. Doch statt sie zurückzuziehen, schoben die Hände sie mit einem Ruck hoch, sie landete unsanft auf dem rauen Betonpflaster eines Hinterhofes. Es war eiskalt. Tränen schossen ihr in die Augen, wegen der Schramme am Bauch, der plötzlichen Kälte und weil sie nichts mehr verstand. Nur, dass ihre Familie auseinandergerissen wurde, dass das Böse, vor dem sie geflohen waren, sie nun doch eingeholt hatte. Dass ihre Mutter nicht mehr bei ihnen war.

Bei jedem Schritt, den sie heulend ihrem Bruder über die fremden dunklen Straßen hinterherstolperte, fühlte sie Schmerz am Bauch und im ganzen Körper.

Erst Jahre später würde sie sich fragen, welche der Frauen ihnen geholfen hatte, und welche Strafe sie dafür hatte auf sich nehmen müssen. Und was passiert wäre, wenn sie und ihr Bruder mit den anderen in dem Keller geblieben wären.

Hamburg – Freitag – 22:45 Uhr

»Ich habe Angst«, flüsterte Livia leise, das Gesicht im tränennassen Ärmel seines Anoraks verborgen, »und es ist so kalt.« Beinahe hätte auch Lasse geweint, vor Schreck und Erleichterung. Es war das erste Mal, dass seine kleine Schwester sprach, seitdem die Männer sie in den dunklen Raum geschubst und allein gelassen hatten.

Livia klammerte sich an ihn wie ein verängstigtes Eichhörnchen, ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Lasse blinzelte seine Tränen fort, er war der Große, er hatte Verantwortung, doch ein Kloß im Hals würgte ihn. Er war froh, dass Livia ihn in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Wie sehr würde sie sich erst fürchten, wenn sie sah, dass auch ihrem großen Bruder Rotz aus der Nase lief? Auch ihm war kalt. Trotz der Dunkelheit meinte er geisterhaft den Raureif zu sehen, der bei jedem Atemzug von seinen Lippen aufstieg.

Abgesehen von dem hohlen, blechernen Klang, als die Tür zuschlug und verriegelt wurde, wusste er nichts über ihr Gefängnis. Sie hatten nur dagesessen, starr vor Schreck, bestimmt stundenlang, und gelauscht. Manchmal hatte er geglaubt, ein Auto zu hören, blecherne Geräusche von Maschinen.

Livia flüsterte, sie klang kleinlaut. »Ich hab eingepischert.«

Lasse stöhnte, biss sich auf die Lippen, bis es richtig wehtat, und ermahnte sich, dass es nicht ihre Schuld sei. Aber was sollte er jetzt tun? Er strich ihr vorsichtig über das Haar. Was waren das für Menschen, die ein kleines Mädchen so quälten?

Oder einen kleinen Jungen, wisperte es in ihm.

Als er gesehen hatte, wie einer der Männer aus der Seitentür des Kastenwagens gesprungen und auf seine arglose Schwester zugegangen war, nachdem sie schon ihn vor einigen Minuten von der Straße gerissen hatten, hatte er wie wild gezappelt und versucht zu schreien. Doch der Arm des Mannes, der ihn gehalten hatte, und die Hand, die sich auf seinen Mund presste, hätten genauso gut aus Stahl sein können.

Der Mann auf dem Gehsteig hatte Livia wie eine Puppe hochgehoben, ihr den Mund zugehalten und war mit seinem sich windenden Bündel wieder in den Wagen geklettert.

Er war immer noch fassungslos. Sie hatten sie einfach so geschnappt. Genau wie ihn. Auf der Straße. Sie waren fast zu Hause gewesen.

Er war wie erstarrt, so etwas durfte man doch nicht. Das waren Verbrecher. Kinderräuber, wie die, vor denen sie immer gewarnt worden waren.

Er musste wissen, wo sie waren. Seine Beine waren so verkrampft, dass er sie kaum noch spürte. Und er hatte Durst. Gab es hier Wasser?

»Livia. Ich muss mal aufstehen«, flüsterte er. Sie quiekte leise, klammerte sich fester an ihn. »Nein!«

»Livia, wirklich! Ich bin sofort wieder da.« Er löste entschlossen ihre Finger, die sich fest in die Falten seiner Jacke krallten. Es tat weh, sie wegzustoßen. »Ich bin gleich wieder da, wirklich!«, wiederholte er, hörte, dass er jetzt gereizt klang, und seine zurückgehaltenen Tränen begannen zu laufen. Lasse tastete sich vor bis zur Wand, nur wenige Meter von Livias leisem Wimmern entfernt. Die Stelle, auf der sie eben gesessen hatten, war weich, der kratzigen Wolldecken wegen, die auch ihren Sturz abgefedert hatten. Irgendwo dort lagen auch die Stoffbeutel, die ihnen die Männer über den Kopf gezogen hatten. Der Boden neben dem Lager schien aus Metall zu sein und, wie er mit seinen ausgestreckten Fingern spürte, ebenso die Wände. Er ertastete ein Wellenmuster, schmerzhaft kalt, blechern. In winzigen Schritten, den ganzen Körper steif vor Angst und Kälte, zog er sich an der Wand entlang. Schon bald hatte er die Rückwand des Kastens erreicht. Er hatte nun eine vage Ahnung, was ihr Gefängnis sein könnte, doch seine vor Panik leeren Gedanken und sein schnell schlagendes Herz verhinderten, dass er das Wort dafür fand. Plötzlich stießen seine Füße gegen etwas Festes. Lasse bückte sich, fühlte Plastikfolie um eine Reihe von Flaschen. Er zuckte zurück, misstrauisch, streckte die Hand wieder aus. Sie fühlten sich genau an wie Wasserflaschen aus dem Supermarkt. So kleine, die er manchmal mit zum Sport nahm. Mit zitternden Händen versuchte er, ein Loch in die Folie zu reißen, scheiterte im ersten Anlauf, packte mit beiden Händen zu, einige Flaschen rollten über den Boden. Es klang zu laut, und er verharrte instinktiv vor Schreck. Auch Livia verstummte. Als nichts passierte, tastete Lasse mit der flachen Hand über den metallenen, kalten Boden und fühlte Papier, feste rechteckige Umrisse. Lasses Augen begannen zu tränen, er stopfte eine Flasche und die Schokolade in seinen Anorak und krabbelte schnell zurück zu Livia, deren Schniefen ihm den Weg wies. Der Rotz aus seiner Nase lief stärker, sein Kiefer schmerzte vor Anstrengung zu verhindern, dass seine Zähne wieder aufeinanderschlugen. Aber er hatte etwas zu essen gefunden! Er zog Livia an sich, deren Arme sich sofort wieder um sein Bein klammerten wie ein Schraubstock. Im Dunkeln begann Lasse die Schokolade auszupacken, seine Hand streifte Livias tränennasse Wange, er tastete über ihr weiches Gesicht und steckte ihr ein Stück zwischen die Lippen. Dann biss er selbst ab. Schweigend und weinend kauten sie in der Dunkelheit. Und plötzlich wusste er, was es war, worin sie gefangen waren. Einen schrecklichen Moment lang hatte er Angst, sie könnten auf einem Schiff sein, das sie noch weiter von ihren Eltern fortbrachte. Doch um sie war alles ruhig, der Container lag still. Dennoch. Lasse wusste, dass Container über alle Weltmeere verschifft wurden. Er fühlte Livias Wärme an seinem Bein, etwas Feuchtes. Bitte, dachte er, während er den Arm um seine Schwester legte. Bitte. Holt uns hier raus. Hier sind wir! Hier!

Berlin – Sonntag – 05:00 Uhr

Nora öffnete die Augen. Dann schielte sie auf ihren Wecker und schloss sie wieder. Fünf Uhr. Sie war erst vor vier Stunden ins Bett gegangen. Genervt rollte sie sich auf den Rücken, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war. Es gab nur schlafen oder wach sein, nichts dazwischen. Ihr Körper ruhte lediglich in der unbedingt notwendigen Dosis an REM-Phase aus. Sobald ihr Gehirn registriert hatte, dass die erste Tiefenentspannung vorbei war, die größte Erschöpfung in Schach gehalten, holte es sie in den Zustand unterschwelliger Wachsamkeit zurück, der sie auch am Tag begleitete. Ihr erster Therapeut hat den damit verbundenen erhöhten Cortisolspiegel als Posttraumatische Belastungsstörung identifiziert, was Nora nachvollziehbar, wenngleich etwas übertrieben, fand. Es war doch alles schon so lange her. Ändern konnte sie es trotzdem nicht, nicht mit autogenem Training oder Yoga. Und Schlafmittel kamen nicht in Frage. Sie hielt die Augen weiterhin geschlossen. In guten Zeiten fand sie die kurzen Nächte sogar praktisch. Allerdings fühlte sie sich selten glücklich oder entspannt, eher erfüllt von dem zähen Willen, den Tag durchzustehen. Weshalb ihr klar war, dass ihr Schlafdefizit im Grunde sowohl die guten Zeiten als auch diese wohlwollende pragmatische Interpretation torpedierte, sie bräuchte weniger Schlaf als andere Menschen.

Das Telefon klingelte. Nora öffnete wieder die Augen und schlug die Federdecke beiseite. Wenn sie jemand am Sonntag um diese Zeit anrief, musste es wichtig sein.

»Tut mir leid, dich zu wecken«, ertönte die Stimme ihres Vorgesetzten Böhm. Nora korrigierte ihn nicht. »Hamburg hat Unterstützung angefordert. Sie möchten, dass das BKA Terror oder Wirtschaftskriminalität ausschließt. Der Staatsanwalt prüft, ob die Ermittlungszuständigkeit an uns übergehen könnte, wenn das der Fall ist.«

»Wobei Unterstützung?«, fragte Nora und schloss die Augen, während sie lauschte. Sie wollte trotz Böhms Stakkato den Moment noch ein winziges bisschen hinauszögern, in dem das Adrenalin ihren müden Körper überschwemmte.

»Die Entführung. Die Entführung dieser Millionärskinder, die seit gestern überall in den Medien ist!«

Nachdem Nora aufgelegt hatte, tappte sie über den kühlen Holzboden ins Bad, ein winziges Kämmerchen mit antiken Kacheln an der Wand und nachträglich eingebauter Dusche. Ihre Finger schwebten kurz über dem Heizungsthermostat im Flur. Doch das lohnte sich jetzt wohl kaum mehr. Ihr Herz schlug hart und schnell. Sie knipste die kleine Lampe über der Küchenanrichte an und startete die Espressomaschine. Die Kinder aus Hamburg. Ja, sie hatte gestern Nacht davon gelesen.

Ein Junge und ein Mädchen, elf und neun Jahre alt, auf dem Heimweg verschwunden, am Freitagabend. Die Eltern stinkreich. Vermutlich eine Lösegeldsache, oder? Wirklich etwas für das BKA? Der Gedanke war beunruhigend. Es war nicht richtig, wenn Kinder zum Spielball größerer Interessenskonflikte wurden. Eine Entführung hatte das Ziel, Geld zu erpressen. Und das gab es meist nur mit lebenden Kindern.

Während das Gerät aufwärmte, räumte sie den Teller von gestern und die Käsekanten auf, wischte Krumen weg. Es war wieder sehr spät geworden. Sie hatte auf dem Weg vom BKA-Gebäude nach Hause den Nachtbus nehmen müssen. Nora goss Milch in die Edelstahlkanne, mahlte die Bohnen, arretierte den Siebträger an der La Marzocco.

Sie hatte Akten aus dem Fachkommissariat Cybercrime über die Ausbeutung von Kindern, sexuell oder als Arbeitssklaven, gelesen. Die Internetrecherche förderte eine Unmenge an Daten aus den Untiefen des Netzes. Die Kaffeemaschine zischte. Eine La Marzocco wurde jeweils von nur einem Facharbeiter in einem traditionsreichen Handwerksbetrieb in Florenz zusammengeschraubt. Diese Kaffeemaschine war die teuerste Anschaffung, die sie je getätigt hatte.

Nora nahm eine große Tasse aus dem gelaugten Küchenbüfett mit bunten Glasscheiben, ließ den Kaffee einlaufen, schäumte Milch auf, klopfte mit dem Boden der Kanne kurz auf den schwarzen Granit der Anrichte und schwenkte anschließend den Schaum in die Tasse. Eine knappe Stunde, dann musste sie sich ein Taxi rufen, Zeit genug für einen Kaltstart. Sie setzte sich an den Küchentisch, ebenfalls ein altes Bauernmöbel, und legte ihre Füße auf die Sitzfläche des Stuhles gegenüber, zog die Post zu sich, die sie gestern Nacht aus dem Briefkasten geholt hatte. Wie lange würde sie in Hamburg bleiben müssen? Sollte sie der Nachbarin Bescheid sagen, den Briefkasten zu leeren? Meist bekam sie ohnehin nur Werbung. Das Anzeigenblättchen des Viertels, ein Flyer eines neuen italienischen Restaurants, die Karte eines Pizzalieferdienstes. Und ein Brief unter dem ganzen Müll, ein Brief vom Amt für Soziales aus Bochum. Nora betrachtete ihn beunruhigt. Sie hatte nur eine Verbindung nach Bochum. Sie waren dorthin gezogen, nachdem ihre Mutter ihren neuen Mann kennen gelernt hatte. Und sie war dort weggegangen, noch bevor sie volljährig gewesen war. Und seit Jahren hatte sie nichts mehr von dort gehört. Das Amt für Soziales. Sie wollten etwas, und es musste mit ihrer Mutter zu tun haben.

Nora spürte erst nur ein flaues Gefühl im Magen, dann wurde ihr abrupt speiübel.

Mit tauben Fingern legte sie den Umschlag wieder auf die Tischplatte und holte tief Luft. Sie spürte die Spannung im Unterkiefer, sie hatte die Zähne unwillkürlich aufeinandergepresst und ihr war schwindelig.

Vorsichtig nahm Nora die Kaffeetasse, ging ins Schlafzimmer und kroch unter die Decke, zog sie bis zum Kinn und versuchte, die Übelkeit wegzuatmen. Dann angelte sie mit zitternden Händen nach der Tasse, nahm einen Schluck Kaffee, spürte den Schaum seltsam kalt an ihrer Lippe kleben. Unter der Decke war es noch warm, dennoch fröstelte sie. Sie wusste, dass ihr Gehirn den Schock abarbeitete und wartete, dass die körperliche Reaktion abklang. Das konnte sie ja jetzt gar nicht brauchen. Dieser verdammte Brief.

Würden sie ihr schreiben, wenn sie tot war? Um die Beerdigungskosten einzutreiben? War sie nicht schon seit langem tot? Aber der Brief bewies, dass irgendwo in einer anderen Wirklichkeit ihre Mutter noch vorhanden war und nicht – wie Nora für sich beschlossen hatte – einfach aufgehört hatte zu existieren. Sie lebte wahrscheinlich noch, hatte womöglich Freunde, auch wenn das schwer vorstellbar war. Menschen, die nicht wussten, was sie getan oder vielmehr zugelassen hatte. Es war möglich, dass ihre Mutter seit ihrem letzten Kontakt vor über zwanzig Jahren ein ganz normales Leben geführt hatte.

Nur fühlte sich das nicht richtig an.

Sie nahm noch einen Schluck Kaffee, zwang sich, ruhig zu atmen, um dem engen Gefühl in ihrer Brust nicht noch mehr Raum abzutreten.

Langsam kehrte die Wärme in ihre Gliedmaßen zurück, ihr Herzschlag normalisierte sich, der Kaffee schmeckte wieder angenehm bitter. Als die Tasse leer war, ging Nora wie in Trance zum Küchentisch und nahm den Brief wieder in die Hand. Ein Knäuel aus Abscheu, Wut, Trauer und Angst zog die Muskeln in ihrem Nacken zusammen. Sie sah auf die Küchenuhr, noch vierzig Minuten, bis sie losmusste. Glücklicherweise hatte sie immer einen gepackten Koffer mit einer Basisausstattung für mehrere Tage im Schrank. Nora atmete tief ein, riss den Brief auf und las. Wütend ließ sie das Blatt auf den Tisch fallen. Von dort segelte es in einem Bogen über die bunten Flyer der Lieferdienste und die Tischkante und blieb auf dem Fußboden liegen, mit einem Knick in der Luft, unheilvoll wippend wie ein Flügel, als wäre es lebendig. Voller Widerwillen betrachtete Nora das Papier, dann ging sie ihr restliches Zeug packen.

Hamburg, Hansaplatz – Sonntag – 05:00 Uhr

Es war passiert. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er starrte auf den Fernseher gegenüber dem durchgesessenen Sofa. Raumschiffe schossen zwischen Bergen hindurch, es zischte und flackerte, Lichtblitze zuckten durch das dunkle Zimmer. Seine Bierflasche war kalt, fast eisig. Leon hatte sie ihm gerade in die Hand gedrückt, bevor er wieder nach der Steuerung der Konsole gegriffen hatte. Die anderen waren bereits so bekifft, dass sie entweder die Augen geschlossen hatten oder mit leerem Blick auf den Fernseher starrten wie er. Sie hatten vorhin auch nicht bemerkt, dass er für etwas mehr als eine halbe Stunde verschwunden gewesen war. Die Straßen waren ganz leer gewesen. Das Gefühl, das er beim Fahren gehabt hatte, ähnelte dem Schweben der Raumschiffe auf dem Bildschirm. War er nun glücklich?! Glücklicher als zuvor? Im Moment fühlte es sich eher an, als würden seine Nervenenden in Brand gesetzt, ausgehend von einer Glut unter der Oberfläche seiner Haut in der Nähe des Solarplexus. Er zog an der Zigarette, schmeckte den Rauch wie die Ausdünstungen dieses Flächenbrandes in der Lunge, fühlte das Kondenswasser des Bieres fast schmerzhaft über seine heiße Hand laufen. Fast wunderte er sich, dass es nicht zischte, wenn das kalte Wasser auf die Haut traf.

»Es gibt Dinge, die kann man nicht mit Geld kaufen.«

Leon hatte das gesagt, ohne den Blick vom Spiel zu lösen.

»Was?« Tarek drehte den Kopf, aber entweder hatte Leon mit sich selbst gesprochen, oder er hatte nichts Konkretes gemeint. Er sah nicht aus, als erwarte er eine Antwort. Doch, dachte Tarek, es gibt eine Menge Dinge, die man mit Geld kaufen kann. Schweigen, Freiheit, Rache.

»Ich mach die fertig«, sagte Leon, jetzt tatsächlich zu sich selbst. Aber Tarek hatte nun das Gefühl, die Worte seien für ihn bestimmt, meinten das, was er vorhatte. Er lächelte. Die Hitze in seinem Körper ließ ein wenig nach, die Schwärze des Zimmers wurde weniger beklemmend.

»Die bringen mich um«, murmelte Leon jetzt. Die Aliens, die er gejagt hatte, hatten gewendet und starrten nun unheilvoll aus riesigen Augen auf den sich nähernden Kampfflieger.

Tarek nahm einen weiteren Zug, ließ den Rauch langsam durch die Lippen entweichen. Auch das war möglich.

Er blies den Rest Qualm energischer aus und drückte die Zigarette in den übervollen Aschenbecher. »Und wenn schon!«, sagte er leise. »Und wenn schon.«

Er hatte den Stein ins Rollen gebracht, und jetzt musste er das durchstehen bis zum Ende des Abhangs, bis die Lawine unten war. Und er würde auf der Lawine surfen. Er war der Silver Surfer. Über dieses Wortspiel musste er grinsen, schmerzhaft, denn eine weitere Dehnung hielten seine Mundwinkel eigentlich nicht mehr aus, die Wirkung des kleinen quadratischen Stücks Pappe mit der gedruckten silbernen Figur darauf und der winzigen Dosis LSD hatte gerade erst eingesetzt.

Hamburg, Alster – Sonntag – 14:30 Uhr

Nach dem düsteren Morgen in Berlin erschien Nora in Hamburg alles zu weiß. Die Villen und Appartementhäuser auf der gegenüberliegenden Seite der Alster, das schlanke Fährschiff, die Gischt vor dessen Bug, das Glitzern der Wintersonne auf der Wasseroberfläche und selbst der Dunst am Horizont, aus dem die Kirchtürme der Innenstadt stachen. Sie kramte ihre Sonnenbrille hervor. Inzwischen ging es ihr körperlich besser, doch in Berlin hatte die graue Winterwolkendecke tief gehangen, was deutlich besser zu ihrer Stimmung passte. Hier wölbte sich der Himmel geradezu erschreckend hoch. Dazu der See, diese Weite, mitten in der Stadt. Alte Bäume reckten sich winterkahl in die Luft, Weiden senkten ihre nackten, dünnen Zweige auf die Wasseroberfläche.

Nora schnaubte warme Atemluft in ihre Nase, beugte sich vor, um dem Wind weniger Fläche zu bieten. Sie war dann doch heilfroh gewesen, noch heute zu einem Fall nach Hamburg zu fahren. Erst im letzten Moment hatte sie den Brief eingesteckt. Seufzend. Sie würde das nicht einfach ignorieren können.

Eilig folgte Nora dem Uferrundweg. Sie überholte flanierende Paare in mit Pelz verbrämten Daunenjacken, blau, beige, schwarz, gediegen und letztlich ebenso verhalten und neutral wie das vorherrschende Weiß. Unter Wollmützen flossen blondierte Haare hervor, verspiegelte Sonnenbrillen sandten silberne Reflexe in die klare Luft. Sonntagsspaziergang in des Hamburger Bürgers liebstem Park, nun doch in Besitz genommen von den Reichen und Mächtigen, die in dieser Stadt niemals bis ans Wasser des Sees hatten bauen dürfen.

Nora dachte an das, was sie erwarten würde: Angst, Sorge, das Leid der Familie.

Eine junge Frau, die sich bei ihrem Begleiter eingehakt hatte, kam ihr entgegen. Sie war von Kopf bis Fuß in hellbraunes Lederimitat gekleidet, trug leuchtend rosa Lippenstift und eine fellgefütterte Mütze und Schuhe. Der Mann, wie sie, nicht mal Mitte zwanzig, trug einen dunkelblauen doppelreihigen Wollmantel. Nora fragte sich, was junge Menschen dazu trieb, sich anzuziehen wie Rentner. War das das Hamburg der Superreichen? Altes Geld und junge Alte?

Auch Familie Stein lebte in einer dieser riesigen weißen Villen am Saum des Alsterparks. Dennoch schien ihr Vermögen nicht der Grund zu sein, aus dem man ihre beiden Kinder entführt hatte, wie sie zuerst angenommen hatte. Sie hatte inzwischen die Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse gelesen. Auch jetzt, fast achtundvierzig Stunden nach dem Verschwinden der Kinder, gab es keine Lösegeldforderung. Nora war in Sorge.

Es wurde die Befürchtung geäußert, Justus Steins Familie könne aufgrund ihres weit verzweigten Netzwerks in Politik und Industrie zum Ziel eines Terroranschlags geworden sein. Oder dass die Entführung der Kinder mit seiner möglichen Kandidatur als stellvertretender Bürgermeister bei der nächsten Senatswahl zu tun habe. Beide Kinder waren Freitag am späten Nachmittag allein auf dem Heimweg gewesen, jedes für sich, doch beide waren nicht zu Hause angekommen. Samstag, Sonntag, und kein Lebenszeichen.

Während der Lektüre der vorläufigen Ermittlungsakte im Zug war ihr die Welt draußen noch feindlicher vorgekommen als sonst. Als habe ihr persönliches Trauma die Kontrolle über ihre Wahrnehmung an sich gerissen. War sie jetzt überhaupt der Aufgabe gewachsen, eine nervenaufreibende, kräftezehrende Ermittlung durchzustehen – so lange, bis die Kinder gefunden waren, tot oder lebendig? Ihre körperliche Reaktion auf den Brief heute Morgen war erschreckend gewesen. Aber es war nun einmal, wie es war. Wenn sie sich fragte, ob sie eine Wahl hatte, würde sie in diesen Gefühlen ertrinken.

Das LKA Hamburg hatte ihr eine Dienstwohnung zugeteilt. Sie hatte die Akte angefordert. Alles andere wäre eine Kapitulation vor der Vergangenheit.

Nora dachte an die Kinder, und ihr Magen zog sich zusammen. Zwei Tage waren zu lang, um das als Kind physisch und psychisch unbeschadet zu überstehen. Konnte man einem solchen Erlebnis jemals heil entkommen? Sie ging schneller und senkte den Kopf gegen eine kräftige Bö, die winzige Eissplitter in der Luft verteilte. Der Schmerz, den die Kälte mit sich brachte, war ihr willkommen.

Ihr war es gelungen, sich neu zu erschaffen, und hier war einmal mehr die Chance, es zu beweisen. Aber sie war so wütend, so verdammt wütend.

Dieser Weg war der kürzeste von der eilig bezogenen Dienstwohnung in Pöseldorf zu den Steins. Nora hatte nur den Koffer im Flur abgestellt, dann war sie losmarschiert. Noch ein kleines Stück inmitten der sonntäglichen Spaziergänger den Alsterwanderweg entlang, dann würde sie in eine andere Welt eintauchen, die einer trauernden, verängstigten Familie. Nora atmete einmal mehr kontrolliert ein und aus, fühlte in sich hinein. Ihr Herz schlug kräftig, ruhig und regelmäßig, die Müdigkeit war verschwunden.

Bevor sie an der großen Gartenpforte neben der Einfahrt klingelte, sah sie sich um. An der Ecke standen zwei Übertragungswagen, die Journalisten hinter der Windschutzscheibe tranken Kaffee aus Pappbechern und unterhielten sich. Vermutlich waren sie auf Bilder der trauernden Eltern aus. Alle Zeitungen und Fernsehsender hatten über die Entführung berichtet und ältere Fotos des Ehepaares aus der Klatschpresse gezeigt. Er mit einem blitzenden Haifischgrinsen, den Arm um seine schlanke, schöne Frau gelegt, deren Haut im Blitzlicht glänzte und die verhaltener lächelte als er. Vor die Kamera waren seit Samstag nur der Anwalt der Familie, die zuständige Staatsanwältin und der Pressesprecher des Innensenators getreten. Von rührseligen Aufrufen, die Kinder unversehrt zurückzubringen, hatte man den Eltern anscheinend bisher abgeraten.

Nora teilte diese Auffassung. Mitgefühl war nicht gerade ein Markenzeichen professioneller Kindesentführer, es wäre nur eine emotionale Tortur für die Eltern und ein voyeuristisches Spektakel für die Zuschauer. Und dass hier keine Amateure am Werk waren, war mehr als wahrscheinlich.

Sie zog die Schultern hoch und schüttelte sie leicht.

Während sie klingelte, wunderte sie sich kurz, warum Böhm nicht zwei Beamte geschickt hatte. Das BKA, die mächtige Bundesbehörde. In ihrem schicken Wollmantel, eigentlich zu dünn für die messerscharfe Brise von der Nordsee, war sie einfach nur eine sehr kleine Frau, die obendrein jünger aussah, als sie mit ihren dreiundvierzig Jahren war. Die womöglich nicht den gewünschten Eindruck machen würde. Sich aber trotzdem nie dazu durchringen würde, sich zu schminken. Die winzige Kamera am Portal surrte in ihre Richtung, und Nora hielt ihren Ausweis vor die Linse. Als der Türöffner brummte, drückte sie mit dem Unterarm gegen das eisige Tor, Handschuhe waren nicht in ihrem Notkoffer gewesen.

Eine Treppe führte zur imposanten Eingangstür der Villa, die von einer Frau in Zivil geöffnet wurde, deren Gesichtsmimik und lediglich angedeutetes Lächeln die Anspannung und Anstrengung im Hause Stein widerspiegelte. Sie gaben sich die Hand, ernst, wie bei einem Kondolenzbesuch.

»KHK Brigitta Kamp, LKA«, stellte sie sich vor.

In dem weitläufigen Eingangsbereich mit geschwungener dunkler Treppe und Holzpaneelen an den Wänden bog Brigitta Kamp nach links in einen langen, nur unwesentlich besser geheizten Flur. Nora ließ kurz den Blick über die schweren Vorhänge aus cremefarbenem Damast vor den hohen Fenstern schweifen, fühlte den flauschigen Flor des hellen Läufers unter ihren Schuhsohlen nachgeben. Auf einem weißen Beistelltisch stand eine silberne Schale mit Weihnachtskugeln in Rosé und Weiß. Mitte Januar, Ausnahmezustand.

Brigitta Kamp öffnete eine doppelflügelige weiße Kassettentür, und Nora trat hinter ihr in ein Wohnzimmer, so groß wie ihre gesamte Zweizimmerwohnung in Prenzlauer Berg. Neben einem opulenten Weihnachtsbaum und einem breiten Kamin, ebenfalls noch mit Leuchtern und Weihnachtssternen geschmückt, stand eine gigantische weiße Couchlandschaft. Nora nahm erst im zweiten Moment die Frau wahr, die bis zum Hals in eine Wolldecke gewickelt auf dem Sofa saß. Ihr Blick hing an dem Baum, als würde sie in die Ferne in einen tiefen Wald schauen.

Krystina Stein.

Sie wirkte klein und verloren und reagierte nicht auf ihr Eintreten. Nora fröstelte. Obwohl das Feuer im Kamin brannte, war es kühl und zog leicht, so dass die Flammen flackerten. Beige Fellkissen und hier und dort ein gezielter Farbtupfer auf den modernen, abstrakt nebelig verwischten Gemälden an der Wand hatten dem vorherrschenden Weiß des Raumes nur wenig Persönliches entgegenzusetzen. Selbst der Blick aus dem Fenster ging auf einen weitläufigen Garten mit weißem Schleier von Raureif auf den großen Buchsbaumkugeln und Koniferen.

Und doch gab es eine Quelle der Fröhlichkeit in diesem Raum, die dem sterilen Purismus mit so viel Verve trotzte, dass Nora verstand, warum Krystina Stein ihren Blick nicht davon abwenden konnte. Selbstgebastelte Strohsterne, bemalte Kugeln, glitzerndes Lametta, knallbunte Figürchen und ausgeweidete Stanniolpapiere – ihre Kinder hatten den Baum geschmückt vor Weihnachten, dann geplündert Anfang Januar. Bevor der Alptraum begonnen hatte.

St. Pauli – Sonntag – 14:30 Uhr

Johan stand, die Hände in den Hosentaschen, schräg gegenüber des unscheinbaren Gebäudes in der Bernhard-Nocht-Straße und beobachtete die Männer, die sich einer nach dem anderen durch die Glastür im Erdgeschoss schoben. Etliche jüngere blieben stehen, begrüßten einander mit einem leichten Schlag der geballten Faust auf die Fingerknöchel, verschränktem Handschlag und anschließender Umarmung. Sie standen herum, quatschten, einige rauchten und verschwanden dann ebenfalls in dem Sechziger-Jahre-Rotklinkerbau. Keiner beachtete ihn. Gleich würde die Gesprächsrunde in dem Gebetsraum einer womöglich salafistischen muslimischen Gruppe beginnen. Bisher wusste man wenig über den Imam hier, aber überall wo junge muslimische Männer zum Beten zusammenkamen, wurden in Sichtweite immer wieder Observierungsbeamte des Staatsschutzes postiert und sahen zum Gebäude hinüber. Das war, was Lehmann ihm gesagt hatte. Er hatte nicht gesagt, er solle sich das selbst ansehen.

Dennoch stand er hier. Dass Lehmann ihm überhaupt von dem Ort erzählt hatte, war nicht ohne Hintergedanken gewesen, obwohl er ihn völlig informell in der Kantine abgepasst hatte. Ob er sich die Akten mal ansehen könnte? Jugendliche Straftäter, alle mit Migrationshintergrund, die irgendwann in letzter Zeit in und um diese Veranstaltung herum gesehen worden waren. »Du bist doch Psychologe. Vielleicht erkennst du was, was wir nicht sehen.«

Johan zweifelte daran. Er hatte keine Ahnung von den verschiedenen Gruppierungen islamischen Glaubens, von sozialen Ritualen zwischen den jungen Männern, den Hintergrundgeschichten potentieller Gefährder. Aber er war erst seit so kurzer Zeit in der Abteilung der Operativen Fallanalyse in Hamburg, dass er Lehmann, der ein hohes Tier beim Staatsschutz war, diese Bitte nicht sofort abschlagen konnte.

Und dann hatte er an diesem Sonntag einen Spaziergang gemacht und spontan entschieden, an dem Gebäude vorbeizulaufen, das Lehmann so beschäftigte. Er bezweifelte, dass jemand ihn mit seiner abgewetzten Hose und Nickelbrille für einen Mitarbeiter des Landeskriminalamtes halten würde, vermutlich nicht mal für einen Polizisten. Dies war jedenfalls die Einschätzung seiner Kollegen, die mit Spott nicht sparten. Johan war noch nicht lang genug hier, als dass die freundliche Häme sich ebenso hätte abnutzen können wie in Hannover. Er zog die Schultern hoch, um mit dem Kragen seiner Jacke den Hals zu wärmen. Zwischen den Gebäuden zog ein eisiger Wind vom nahe gelegenen Fischmarkt über die Hafenstraße zu ihm herüber, trotzdem genoss er den Moment. Die Woche über hatte er Schulungsgespräche geführt, Seminare vorbereitet, abends mit Lilly ferngesehen, die die ganze Zeit müde war. Er vermisste den Kontakt zur realen Polizeiarbeit, doch das schien der Preis gewesen zu sein, um in Hamburg genommen zu werden. Lilly hatte ihn zusätzlich gedrängt, beim Bewerbungsgespräch seine Arbeit in den Ermittlungsgruppen nicht zu sehr in den Vordergrund zu rücken, sondern mehr über seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu sprechen. Mehr Ruhe, mehr erholsamer Nachtschlaf, mehr Liebe und Licht in seinem Leben, fand sie. Und Sicherheit. Am Schreibtisch.

Die Frage war jetzt: Was qualifizierte ihn, vom Schreibtisch aus, Profile von Jugendlichen anzufertigen, die kurz davor waren, sich vom IS oder Al-Nusra anwerben zu lassen und in den Heiligen Krieg zu ziehen?

Keiner von denen da drüben wirkte gefährlich und schien etwas anderes hier zu wollen, als zu beten und Freunde zu treffen. Die Stimmung schien locker.

»Und die anderen Psychologen aus der OFA?«, hatte Johan Lehmann gefragt. Immerhin war er hier der Neuling.

»Die haben keine Zeit.«

Die halten das auch für Schwachsinn, dachte Johan. Dabei hatte er kurz den Eindruck gehabt, vielleicht etwas bewegen zu können. Er langweilte sich seit seinem Wechsel in die Hamburger OFA fast zu Tode, weil das LKA ihn quasi ausschließlich als Dozenten eingestellt hatte. Ein saures Gefühl stieg in seiner Speiseröhre hoch. War das wirklich richtig gewesen? Alles aufzugeben, was ihm vorher wichtig gewesen war? Er schlug gereizt den Kragen des Parkas ein weiteres Mal hoch, drehte sich um und ging mit dem Eindruck, in dem halben Jahr in Hamburg gefühlte zehn Jahre gealtert zu sein. Aber vielleicht war das so, wenn man solide werden wollte. Erwachsen.

Alster – Sonntag – 15:00 Uhr

Nora warf einen Blick auf Brigitta Kamp, die mit den Augen und einer Drehung des Kopfes zu der Frau auf dem Sofa deutete, dabei die Stirn krauste und die Mundwinkel nach unten zog.

Die trauernde Mutter wirkte apathisch. Nora wunderte sich, dass sie direkt zu ihr und nicht zu Justus Stein oder in das Einsatzbüro ihrer Kollegen hier im Haus geführt worden war, und ging langsam auf Frau Stein zu, die unbeweglich blieb. Beim Näherkommen sah Nora, dass sie noch größer, schmaler und langgliedriger wirkte als auf den Fotos. Sie war schön, auf herbe, nordische Art, obwohl sie im Teenageralter als Fotomodell aus der Ukraine nach Hamburg gekommen war. Später hatte sie in russischer Literatur promoviert, als Dozentin an der Uni gearbeitet. Jetzt war sie achtunddreißig. Auch das hatte Nora auf der Fahrt im Zug gelesen. Die Karriere der Frau hatte sie fasziniert. Sie hatte fast erwartet, auf eine tobende, leidenschaftliche Intellektuelle zu treffen, doch auch wenn Frau Stein das sonst sein mochte, war sie im Moment nur ein Schatten ihrer selbst. Ihre Augen waren rot gerändert, an ihrer Nase hing ein Tropfen. Nora kniete sich vor dem Sofa auf den Boden. »Ich bin Nora Klerner vom Bundeskriminalamt in Berlin.«

Frau Stein reagierte nicht.

War sie womöglich sediert? Doch als ihr Blick langsam zu Nora herüberflackerte, sah sie, dass ihre Augen klar und aufmerksam waren, wenngleich das Blau in ihnen vor Schmerz zu leuchten schien.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Krystina Stein matt. Sie zog die Nase hoch, wischte den Tropfen am Ärmel ihres Kaschmirpullovers ab, zog die andere Hand unter der Decke hervor und reichte sie Nora. Sie war schlaff und eiskalt.

Dann wandte sie ihren Blick wieder dem Baum zu. Einige Sekunden lang tastete Nora ihr Gesicht mit den Augen ab. Die Lippen waren ausgetrocknet und aufgesprungen, die helle Haut um die Augen durchscheinend und zerknittert von Müdigkeitsfältchen. Sie schien wie ein Gefäß aus hauchdünnem Porzellan, das jeden Moment von der zähen Masse aus schwarzer Panik, die es erfüllte, bersten konnte. Keine Beruhigungsmittel oder wenn nur ein leichtes.

Nora warf einen fragenden Blick zu Kriminalhauptkommissarin Kamp, die mit einer Kopfbewegung andeutete, dass sie ihr jetzt in den Flur folgen sollte.

»Sie sitzt die ganze Zeit dort. Schläft manchmal sogar auf der Couch, geht nur zum Duschen nach oben. Aber es ist wichtig, dass wir sie nicht außen vor lassen«, flüsterte sie, kaum dass sie die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Ihr Mann tut das, aber dann steht sie wie ein Geist in unserer kleinen Schaltzentrale oder wandert verloren umher.«

»Sind keine Verwandten hier? Eltern, Geschwister?«, fragte Nora leise zurück. Dass Krystina Stein allein war, dauerte und wunderte sie. KHK Kamp schüttelte den Kopf, setzte sich langsam in Bewegung und flüsterte, während Nora ihr folgte: »Die Mitarbeiter des psychologischen Kriseninterventionsteams schauen täglich nach ihr. Sie schickt sie dann irgendwann wieder weg, aber es scheint ihr dennoch zu helfen. Vielleicht wäre sie sonst längst zusammengebrochen. Die Schwiegereltern und sein Bruder mit seiner Frau waren hier, aber die sind nicht sonderlich sensibel, was sie betrifft. Die Schwägerin brachte die beiden eigenen Kinder mit, eines davon ein Kleinkind. Da ist sie fast in Ohnmacht gefallen. Sie hat angeblich keine Familie mehr in der Ukraine, hier sowieso nicht, und zu ihren Schwiegereltern scheint sie ebenfalls kein besonders herzliches Verhältnis zu haben.«

Nora begann Brigitta Kamp zu mögen. Sie sorgte sich um Frau Stein. Sie tat das wenige, das ihr möglich war, um sie zu unterstützen, indem sie Nora zuerst zu ihr brachte.

Brigitta Kamp verstummte. Am Ende des langen Flures bogen sie um eine Ecke, betraten durch eine ebenfalls fast drei Meter hohe Tür einen weiteren Raum und schlagartig wechselte das Ambiente von steril zu opulent. Justus Steins Büro, Perserteppiche, Mahagonischreibtisch, eine dunkle Ledersitzecke, schwere Bücherregale, Ölschinken und dazwischen, fehl am Platz, Beamte des LKA mit auf Aluminiumtischen flimmernden Computerbildschirmen. Zahllose Kabel liefen von den Telefonbuchsen zu Aufnahmegeräten und Laptops. Drei weitere Männer und eine Frau saßen auf Klappstühlen an den improvisierten Schreibtischen.

Der Mann, der an Steins riesigem Schreibtisch gesessen hatte, kam Nora entgegen. »Meyer, Friedrich«, sagte er und gab ihr die Hand. Er zeigte auf die Frau und den anderen Mann: »Helene Diester, Demirel Akay.« Nora gab Helene Diester, einer jungen Frau mit hochgewölbten Augenbrauenbögen, die ihr einen neugierigen Ausdruck verliehen, dann Demirel Akay, einem muskulösen kleinen Mann mit samtig braunen Augen und dunklen Ringen darunter, ebenfalls die Hand. Dann wandte sie sich wieder Meyer, Friedrich zu. Brigitta Kamp setzte sich an einen freien Platz. Friedrich Meyers Bartschatten war vielleicht Folge der Überstunden der letzten zwei Tage, womöglich trug er ihn aber auch sonst, denn er betonte seine ausgeprägten Wangenknochen und die hohe Stirn, von der das Haar langsam zurückwich, und passte zu seiner eng sitzenden Jeans und dem schwarzen Rollkragenpullover. Ein Mann, der weiß, dass er attraktiv ist, dachte Nora.

Er musterte sie aus kühlen grauen Augen, und sie überlegte, was ihm wohl durch den Kopf gehen mochte. Ob sie eine Hilfe oder eine Belastung sein würde, vermutlich. Ob die Hierarchien neu zu sortieren seien. Hinsichtlich dieser Frage, da war sie sich sicher, würde er erleichtert sein. Sie hatte vor, zunächst nur zu beobachten. Er lächelte plötzlich. »Danke, dass Sie so schnell kommen konnten.«

Meyer winkte Nora zu seinem Schreibtisch und zeigte auf eine Straßenkarte, die auf dem linken der beiden Monitore zu sehen war.

»Die Rekonstruktion der möglichen Entführungsorte. Wir bekommen über die Hotline noch neue Hinweise, leider sind die meisten Anrufer Spinner. Vorhin hat sich jemand gemeldet, der in dieser Straße«, er zeigte auf eine kleine Stichstraße, »gerade aus seinem Auto stieg, als womöglich Livia Stein an ihm vorbeiging. Ein Kollege nimmt die Aussage auf. Wenn er ihre Kleidung beschreiben kann und nicht nur ein blondes Mädchen gesehen hat, dann hätten wir einen Hinweispunkt mehr.«

Auf der Karte waren kleine Punkte eingetragen, an denen jeweils Uhrzeiten standen und die entweder durch eine rote oder blaue Linie miteinander verbunden waren. Die jeweiligen Heimwege von Lasse und Livia. Vor sechs sollten sie zum Essen zu Hause sein, beide hatten sich gegen 17 Uhr 30 aus entgegengesetzten Richtungen von ihren Freunden aus auf den Weg gemacht. Beide Linien führten auf direktem Weg in die richtige Richtung, endeten jedoch einige hundert Meter vor ihrem Zuhause. Dort waren sie zuletzt gesehen worden. Weit hatten sie es nicht mehr gehabt. Nora mochte Meyers sachliche Art. Es half ihr, das Gefühl abzuschütteln, nicht ganz bei sich zu sein.

»Was vermuten Sie?«, fragte sie.

»Jemand hat angehalten, sie einsteigen lassen oder gewaltsam ins Auto gezerrt und ist dann weitergefahren. Davon gehen wir derzeit aus. Lasse hatte ein Handy dabei, das letzte Mal hat es sich hier orten lassen.« Er tippte mit dem Finger auf einen roten Punkt. »Livia hatte ihres leider zu Hause vergessen, wie meist, sagen die Eltern. Weil niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt hat, mutmaßen wir, dass sie ihre Entführer kannten und freiwillig einstiegen. Aber wir haben bisher keine Verdächtigen.« Meyer zeigte seine Handflächen. »Es ist zwar erschreckend, aber das ist alles, was wir zurzeit haben. Umliegende Gebäude wurden durchsucht. Rund fünfzig Beamte im ganzen Stadtbezirk sind im Einsatz, durchkämmen die Orte, die die Kinder kannten, wo sie selbst hinfinden würden, weitere Kollegen befragen die bekannten Sexualstraftäter und jeden, mit dem die Kinder Umgang pflegten. Absolute Fehlanzeige. Wir haben die Mitarbeiter des öffentlichen Nahverkehrs befragt, der umliegenden Geschäfte, Verwandte, Lehrer, Freunde. Keiner weiß, wo die Kinder hingegangen sein könnten, wenn sie abgehauen wären. Was hier aber auch deshalb niemand glaubt, weil sie sich offensichtlich nicht auf dem Heimweg getroffen haben.« Er zeigte auf einen Punkt der Karte. »Hier war eine Nachbarin im betreffenden Zeitraum im Vorgarten. Sie schwört, sie hätte das Mädchen bemerkt, wenn es an ihr vorbeigekommen wäre. Und einen anderen Weg von hier«, er zeigte auf den letzten Punkt, an dem Livia gesichtet worden war, »in die richtige Richtung gibt es nicht.«

»Überwachungskameras?« Nora starrte auf die Karte. Alles kleine Seitenstraßen, Januar, die Sonne ging um halb fünf unter, es war bereits dunkel gewesen.

»Es gibt einige private, aber sowohl Livia als auch Lasse wurden nur ein einziges Mal erfasst. Eine vielversprechende Verkehrskamera war kaputt, und auf den Hauptverkehrsstraßen waren vor und nach der Entführung rund fünfhundert PKWs unterwegs. Berufsverkehr Freitagabend. Nur direkt zwischen den Villen, da war niemand.« Er klang wütend und rieb sich über das Gesicht, kratzte an den Stoppeln. Dann waren die wohl doch ungewohnt. Nora zog ihren Mantel aus und hängte ihn über die Lehne eines freien Stuhls.

»Wie kann ich helfen?«

St. Pauli – Sonntag – 15:15 Uhr

Tarek atmete tief durch, bevor er die Tür wieder öffnete. Doch als er aus dem Treppenhaus trat, das zu dem Gebetsraum im zweiten Stock führte, war der Typ mit der Lederjacke und der Nickelbrille weg. Er hatte eigentlich nicht ausgesehen wie ein Bulle, mit seinen windzerzausten Haaren und hochgezogenen Schultern, aber Tarek erkannte diese Typen, wenn er sie sah. Ihr Blick verriet sie. Dass der Mann direkt zu ihm geschaut hatte, hatte ihm kalten Schweiß den Rücken hinuntergejagt. Immer noch prickelten unzählige Signale wie fehlgeleiteter Strom durch seine Muskeln.

Er schob die Mütze tiefer und schlug die Kapuze über seinen Kopf. Mit eiligen Schritten bog er in die Silbersackstraße ein, ignorierte die Penner, die mit unzähligen aufgeblähten Plastiktüten um sich herum arrangiert auf Pappen unter Mauervorsprüngen trotz der Kälte ihren Rausch ausschliefen. Er machte kleine Schlenker um die Müllhalden aus Flaschen und Verpackungen und besonders große um dunkle eisige Flecken an Wänden und Türen, die man sogar in der Winterluft riechen konnte. Früher hatte er auch hier auf dem Kiez, in einer der Seitenstraßen zur Reeperbahn gewohnt. Auch in seinem Hauseingang hatte ein Schild »Urinieren verboten« gehangen, das niemanden beeindruckt hatte. Unter der Haustür war ein Spalt, so dass man sich sonntagmorgens um eine feuchte Lache auf den Gründerzeitfliesen herumdrücken musste. Seitdem nannte er die Pistengänger nur noch Pissegänger. Hier war alles voller Kakerlaken, mehr- und zweibeiniger. Ab und zu mochte er die Meile voller Leben und Touristen, Kneipen, Shisha-Bars. Aber zurzeit war Ende Gelände mit Entspannen. Er fühlte sich immer noch heiser von letzter Nacht, am Vormittag war er gegangen und hatte Leon und die anderen ihrem Spiel überlassen. Bis jetzt hatte er immer noch kein Auge zugemacht, sein Gesicht hatte sich noch nicht entkrampft, alles in seinem Blickfeld, das er versuchte zu fixieren, begann zu wabern, in sich zu zerfließen und sich neu zu ordnen. So wie jetzt hatte er sich bisher noch nie gefühlt – ein Nervenbündel, eine tickende Zeitbombe, ein hochexplosiver Brandsatz. Einfach gut.

Alster – Sonntag – 15:40 Uhr

»Alle Informationen laufen im Präsidium am Bruno-Georges-Platz bei einer neu gebildeten Sondereinheit zusammen«, erklärte Meyer. Sie waren mit der kleinen Einheit in der Villa, damit sie die Befragungen in der näheren Umgebung besser koordinieren und im Notfall eingreifen konnten.

»Außerdem hat Justus Stein darum gebeten.« Er lehnte sich mit den Händen auf den Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm.

Nora musterte Meyer. Verkniff er sich zu sagen, um sie im Auge zu behalten? Im Raum war es warm und ruhig, ein Hauch verkniffener Verzweiflung stand in den Gesichtern der anwesenden Beamten, die zwar weiter ihrer Arbeit nachgingen, aber aus den Augenwinkeln immer wieder zu Nora schielten, als könne sie etwas daran ändern.

»Mindestens einer von uns schläft nachts in der Gästewohnung im Souterrain«, sagte Meyer, er klang frustriert. Er nahm die Maus und öffnete eine Audiodatei. »Dieser Anruf ist letzten Freitag um 22 Uhr 30 bei der Notrufzentrale eingegangen.«

Krystina Steins tränenerstickte Stimme klang aus dem Lautsprecher, und Nora bekam eine Gänsehaut. »Meine Kinder sind nicht nach Hause gekommen. Sie hätten spätestens um sechs hier sein sollen.« Mit ruhiger Stimme nahm der Beamte Frau Steins Name und Adresse auf, bevor er wieder nach den Kindern fragte. Als er hörte, wie alt die beiden waren, klang sein »Streife ist unterwegs« alarmiert.

»Was passierte dann?«, fragte Nora.

»Er hat auch den Kriminaldauerdienst informiert.« Meyer stockte. »Ich hatte als leitender Beamter Bereitschaft und bin sofort hierher gefahren. Das Ehepaar wirkte angesichts der Situation gefasst, es war wie eine Gefühlslähmung. Sie schilderten ganz ruhig, was passiert war.« Er schüttelte sich. »Es fühlte sich irgendwie surreal an, wie in einem Film.«

Er sah Nora kurz an, schien zu überlegen, ob die Schilderung seiner Gefühle hier fehl am Platz sei. Sie lächelte aufmunternd.

»Ich war erleichtert, als Krystina Stein anfing zu weinen«, sagte er und zog die Schultern hoch, als erinnere er sich an die Hilflosigkeit, die er empfunden haben mochte, weil Trauer und Angst zunächst nicht so ausgesehen hatten, wie er es gewohnt war oder erwartet hatte. »Psychologen des KIT, des psychologischen Kriseninterventionsteams kamen, eine großangelegte Suchaktion wurde in die Wege geleitet. Fast vierhundert Beamte waren Freitagnacht im Einsatz, Rettungstaucher in der Alster und Spürhunde im Viertel und im Park.« Meyer richtete sich auf und presste die Lippen zusammen. »Nichts.«

»So«, Meyer verschränkte die Arme, »jetzt wissen Sie, wie es losging. Seitdem haben wir wenig bis gar keine Ergebnisse erzielt.« Seine Stimme klang sarkastischer als zuvor. »Aber das wissen Sie bereits, sonst wären Sie ja nicht hier.«

Nora lächelte leicht. War sie deshalb hier?

»Und wie gehen Sie weiter vor?«, fragte Nora. Meyer deutete auf die Ledersitzgruppe, und sie setzten sich. Auf einem Tablett standen eine Thermoskanne und Tassen.

»Wir konzentrieren uns derzeit auf das Familienumfeld, die Freizeitaktivitäten, die Eltern der Freunde der Kinder, das Hauspersonal sowie die Freunde der Eltern und enge Geschäftspartner. Sie können ja entscheiden, ob Sie mit einigen Personen noch einmal sprechen möchten, wenn Sie die Protokolle der bisherigen Vernehmungen gelesen haben.«

Er öffnete den Deckel der Kaffeekanne, roch am Inhalt.

»Gerade noch genießbar. Möchten Sie?«

Nora nickte, und er schenkte Kaffee ein, der sich jedoch als lauwarm und bitter entpuppte. Während er trank, stellte Nora ihre Tasse auf den Tisch zurück.

»Was hat der Vergleich mit anderen Entführungsfällen ergeben?«, fragte Meyer. Sein Ton war ruhig, doch Nora spürte seine Anspannung, und man sah ihm die Erschöpfung an. Sie überlegte, was sie sagen konnte. Kindesentführungen, um Lösegeld zu erpressen, waren selten. Zwei Kinder gleichzeitig noch ungewöhnlicher. Meyer schlug die langen Beine übereinander und sah sie abwartend an.

»Wir konnten keinen vergleichbaren Fall in der jüngeren Vergangenheit finden«, sagte sie und Meyer nickte. Er hatte es nicht anders erwartet.

Nora hatte das Gefühl, es würde einfach sein, mit ihm zu arbeiten, er wirkte pragmatisch mit seiner aufmerksamen, aber zurückgenommenen Art, sympathisch durch einige Lachfältchen, die selbst jetzt noch zu erkennen waren. Sie konnten sich gemeinsam Gedanken machen.

»Was ich bisher weiß, zeichnet ein düsteres Bild der Gesamtsituation. Opfer von Entführungen werden über Facebook ausgespäht, ihre Telefone lokalisiert. Es gab in den letzten Jahren mehr Entführungen in der EU und in Deutschland mit dem Ziel, Lösegeld zu erpressen, als die Öffentlichkeit ahnt. Mit steigender Popularität von Personen steigt auch das Risiko für die Familienmitglieder. Zum Teil wurde tatsächlich für Einzelpersonen sehr viel Lösegeld bezahlt, was aus nachvollziehbaren Gründen nicht publik gemacht wurde. Die Aufklärungsrate liegt bei über achtzig Prozent, und es waren überwiegend professionalisierte Täter, die vorher schon straffällig geworden waren und jetzt auf einen großen Coup aus waren, keine Einzel- oder Ersttäter.« Sie sah Meyer eindringlich an. »Hier wird es ebenso sein. Dieses Verbrechen erfordert Planung, bei zwei Kindern doppelt so viele mögliche Probleme und mehr Mittel und Personen zur Finanzierung und Umsetzung. Aber es gibt keinen dokumentierten Fall einer Entführung, bei der nicht innerhalb der nächsten Stunden eine Lösegeldforderung auftauchte …«, sie machte eine Pause, »oder das Opfer tot aufgefunden wurde.«

Meyer seufzte und schaute auf seine Hände. »Wir müssen uns also Sorgen machen.«

Nora nickte. »Erpresserischer Menschenraub ist nach wie vor selten, aber drastisch und gewalttätig. Es wird derzeit eine Stelle zur Präventionsberatung im BKA erwägt, die meisten wirklich vermögenden Familien schützen sich nicht ausreichend. Haben die Steins eine Lösegeld-Versicherung?«

Meyer schüttelte den Kopf. »Nein, die Reederei ist gegen Piraterie versichert. Ich glaube, derzeit prüft die juristische Abteilung der Firma, ob die Klauseln der Verträge womöglich auch Kidnapping von Familienmitgliedern abdecken. Justus Stein rotiert und setzt alles in Bewegung.« Er blies nachdenklich die Backen auf.

Nora lehnte sich zurück. »Es ist eindeutig, was Entführer antreibt. Alles oder nichts. Bei Erfolg haben sie bis an ihr Lebensende ausgesorgt. Das hier lässt sich am ehesten mit der Entführung der Schlecker-Kinder 1987 vergleichen, damals flossen fast zehn Millionen D-Mark Lösegeld.«

Meyer kratzte sich gereizt über das stoppelige Kinn, er sah wie erschlagen aus. »Aber die waren nach einem Tag wieder frei …«

Einen Moment schwiegen sie angesichts der Tatsache, dass sich die Entführer von Lasse und Livia bisher nicht gemeldet hatten. Geld gab es hier augenscheinlich genug.

»Vielleicht melden sie sich, wenn sich die Wogen etwas geglättet haben«, sagte Nora. Ein winziger Lichtschein am Horizont.

Sie sah kurz das Bild vor sich, Kinder eingesperrt in einem schalldichten Kellergeschoss, Fernseher, Spielzeug, eine Toilette. Eine Konstruktion für längere Zeit. Aber auch ein großer Aufwand, höheres Risiko, längeres Leid und andauernde Anspannung. Und grausam. Ihr wurde ein wenig übel.

»Oder es ist etwas schiefgegangen«, sagte sie nachdenklich.

Friedrich Meyer kaute an seiner Lippe. »Die Kinder kamen aus unterschiedlichen Richtungen, das zeugt von guter Planung. Da geht nichts schief«, erwiderte er, nahm einen Schluck Kaffee und verzog dann angewidert das Gesicht. Sie schwiegen, sahen gemeinsam und doch jeder für sich auf das mögliche kleine Licht am Horizont. Ging die Sonne auf oder unter?

»Warum haben die Steins nicht eher die Polizei alarmiert?«, fragte Nora.

»Sie hätten Angst gehabt, die Entführer in Panik zu versetzen, sagen sie. Sie haben deutlich gemacht, dass sie jeder Forderung nachgekommen wären und sich aus Hoffnung auf ein schnelles Ende des Martyriums still verhalten haben.« Meyer hob die Schultern. »Doch niemand hat sich in den ersten Stunden gemeldet. Und irgendwann haben sie es nicht mehr ausgehalten.«

Seit sie den Anruf gehört hatte, vermutete Nora, dass Krystina Stein es nicht mehr ausgehalten hatte.

Nora wollte sich die endlosen Minuten nach dem Verschwinden der Kinder nicht ausmalen. Wie es gewesen sein mochte zu warten? Dafür musste man Nerven aus Stahl haben.

Außerdem gab es noch etwas. Vielleicht hatten die Entführer sich gemeldet, und sie wussten es nur nicht? Doch wer könnte eine solche Erpressung geheim halten, jetzt, wo Beamte sogar hier im Haus wohnten?

Nerven aus Stahl, dachte sie. Womöglich ging es gar nicht um Geld.

»Könnte es sich um ein Familiendrama oder einen Racheakt gegen Familienmitglieder handeln?«

Eine steile Falte erschien kurz auf Meyers Stirn, die jedoch schnell hinter einem eher zweifelnden Gesichtsausdruck verschwand. »Das glaube ich nicht. Und Rache nehmen an unschuldigen Kindern? Unwahrscheinlich.«

Er zog die Mundwinkel nach unten.

Nora lächelte verhalten. »Na ja, Sie können Justus Stein ja anscheinend auch nicht leiden.«

Meyer wirkte überrumpelt, lächelte dann mit einem Anflug von Bitterkeit. »Ich mag ihn nicht besonders und könnte mir vorstellen, dass es vielen so geht.«

Insgeheim aber fragte sich Nora, was Justus Stein so unsympathisch machte, dass jemand wie Friedrich Meyer, der ein umgänglicher Mensch zu sein schien, so schnell Antipathie gegen ihn entwickelte. Und wenn Justus Stein möglicherweise tatsächlich ein Widerling war, könnte es sein, dass seine Kinder doch gemeinsam weggelaufen waren? Wie lange konnte ein fast Zwölfjähriger sich mit seiner neunjährigen Schwester verstecken?

Doch dieses Szenario war von allen aus der Familie, den Angestellten und Eltern der Freunde negiert worden.

Die Tür zum Büro wurde aufgerissen, und ein kühler Luftzug wirbelte in den Raum.

Kirchwerder – Sonntag – 15:40 Uhr

Obwohl er ihr einen Schlüssel gegeben hatte, kam es Emna jedes Mal vor, als würde sie sich heimlich in Tareks Haus schleichen. Das riesige Vorhängeschloss am Gittertor mit Stacheldraht, die unscheinbaren Bewegungsmelder an der Hauswand und die zum Teil noch vernagelten Fenster verliehen dem Resthof mit seinem schlichten, unattraktiven Wohnhaus, zwei Schuppen, ehemaligen Stallungen aus roten Klinkern und einigen rostigen Containern, wie hingewürfelt im hohen Gras, etwas Unheimliches.

Der Hof lag in den Marschwiesen der Elbe bei Kirchwerder, einem stetig feucht klammen Gebiet, das zwar ländlich wirkte, aber im Grunde nur ein kleines Areal war, eingepfercht zwischen Ausläufern des Hafens, dem Industriegebiet Billbrook und Ortschaften ohne nennenswerte Infrastruktur, weit im Südwesten Hamburgs.

Emna überquerte den Vorplatz mit dem vor Nässe glänzenden Kopfsteinpflaster, in dessen Fugen Unkraut wucherte, und benützte den zweiten Schlüssel am Bund, um die Eingangstür zu öffnen. Sie musste dabei fest am Türknauf ziehen, nur selten stellte Tarek die Heizung in den Wohnräumen und der Diele an, und alles aus Holz verzog sich zusehends. Dass ausgerechnet Tarek, obwohl er ein so durch und durch urbaner Typ war, sich einen so gottverlassenen ehemaligen Bauernhof auf sumpfigen Wiesen als heimlichen Rückzugsort ausgesucht hatte, verwunderte sie immer wieder. Aber dann dachte sie an seine Geschäfte, von denen sie vermutlich nicht einmal etwas ahnen sollte, an alles, was er hier lagern und unterstellen konnte. Der Hof war im Grunde ein Spiegelbild seines zerrütteten Lebens und seiner Persönlichkeit, der freundliche Kiffer von nebenan, der in der netten WG wohnte, und dann dieser einsame Hof, wo er all das Dunkle aus ihrer Vergangenheit ablud und seine Trauer und unendliche Wut sich in der Weite des grauen nassen Himmels spiegelte. Deshalb hatte sie auch gehofft, ihn hier anzutreffen. Sie sehnte sich nach ihrem Bruder, so wie er wirklich war, wie nur sie ihn kannte. Aber er war seit einiger Zeit wie vom Erdboden verschluckt und rief auch nicht zurück, wenn sie ihm auf die Mailbox sprach. Seine Mitbewohnerin hatte gesagt, er sei auch nicht am Hansaplatz, der viel einfacher zu erreichen gewesen wäre.

Vor dem Gehöft lag eine Landstraße, die wenigen Autofahrer, die hier vorbeikamen, befanden es nicht für nötig, wegen eines vermeintlich unbewohnten Gebäudes den Fuß vom Gas zu nehmen. Emna hatte ihren silbernen Golf hinter den kahlen Holunderbüschen an der Längsseite des großen Grundstücks verborgen.

Tarek war es lieber so.

»Tarek?«, rief sie in die Stille, ahnte aber, dass er nicht da war und wohl auch schon länger nicht mehr hier gewesen.

Warum war sie hierhergekommen? Sorge?

Sinnlos, ihr Bruder war erwachsen. Sie war nur die nervige kleine Schwester, die ihm ständig vor Augen hielt, wie das Leben sein konnte, wenn man auf der Sonnenseite aufgewachsen war. Sie hatte Glück gehabt mit ihrer Pflegefamilie. Er Pech mit seiner.

Die Diele sah immer noch so aus, wie sie in den Fünfzigern eingerichtet worden war: Tapete mit braunen Sisalfäden, kunststofffurnierte Türen. Es war so still, dass Emna ihr Blut in den Ohren rauschen hören konnte. Sie lauschte, starrte auf die mit braunen Adern dekorierten Bodenkacheln und blinzelte gegen die müdigkeitsbedingte Sinnestäuschung an, als diese zu pulsieren begannen. Ihr schauderte. Sie hatte immer gefunden, dass dieses Haus mit den Artefakten einer fremden Vergangenheit eine feindselige Atmosphäre erzeugte. Als dürfe man es auf keinen Fall dabei stören, in Andacht an seine verstorbenen Besitzer zu vergammeln.

Über zwanzig Stunden war sie inzwischen wach. Sie hatte eindeutig nicht nachgedacht, als sie entschied, hierher zu fahren. Und alles nur, weil sie noch zu aufgekratzt war, um zu schlafen. Weil sie sich nach einer Umarmung sehnte, die ihr die nagende Sorge nehmen würde, die sie seit einiger Zeit wegen Tarek quälte.

Emna ging in die Küche und ließ ihre Tasche auf einen der grauen Stühle fallen. Tarek hatte auch hier weder die braunen Vorhänge noch die Resopalplatte des hellgrauen Küchenschranks entfernt. Nicht einmal die bemalten Teller, die an der Wand hingen.

Er ist eingezogen, als wäre gerade erst unsere Oma gestorben, dachte Emna. Vielleicht ging es darum. Eine andere Vergangenheit, eine andere Familie. Sie war so müde, dass die Frage, was sie jetzt tun sollte, ohne Resonanz in der Wattigkeit ihres Kopfes hängen blieb.

Kaffee war der einzige Impuls, der ihr logisch erschien.

Ob es sich lohnte auf Tarek zu warten? Obwohl sie den weiten Weg hier herausgefahren war, war sie nur mäßig enttäuscht. Ihre Besorgnis hatte im Laufe der Jahre ein relativ hohes, jedoch stagnierendes Niveau erreicht. Nur seit einiger Zeit irritierte es sie mehr als sonst, wenn sie ihn nicht erreichen konnte. Und seitdem sie ihr Medizinstudium beendet hatte, wünschte sie mehr denn je, er hätte ebenfalls eine Perspektive. Obwohl die unaufhörlichen, endlosen Schichten im Krankenhaus, der Notdienst während der Facharztausbildung nicht gerade etwas waren, das sie jemandem raten würde, der nicht ähnlich fanatisch vor etwas davonlief wie sie. Oder auf etwas zu. Das ist noch nicht geklärt, dachte sie.

Sie öffnete die Türen des Küchenschranks auf der Suche nach Kaffee und Zucker und stieß auf eine angebrochene Packung Kräcker, an deren Rand sich kleine Punkte bewegten. Sie warf sie in den Müll, öffnete die silberne Dose daneben, sog den Duft des Espressos ein, schüttete das Pulver in die Kanne, zerrieb zwischen ihren Fingern eine Kardamomkapsel aus dem Glas daneben und streute die Brösel auf das Kaffeepulver, wie es Tareks Mitbewohnerin Nadia immer tat, bevor sie den Aufsatz aufschraubte. Während der Kaffee zu sieden begann, ging sie die Treppe hinauf. Im ersten Stock, wo früher kleine, verwinkelte Räume von einem lichtlosen, engen Flur abgegangen waren, öffnete sich nun ein geräumiges Giebelzimmer mit Schrägen und hellem Kiefernboden, einer Büroecke und einem breiten Schlafplatz. Tarek hatte, ohne auch nur ein Mal einen Statiker zu konsultieren oder die Vermieter zu fragen, alle Wände herausgerissen und einen großen Raum geschaffen, der im Kontrast zum dunklen verwinkelten Erdgeschoss stand. Doch heute zeigte das fahle Licht des grauen Himmels, dessen Wolkendecke die Ziegel des Hauses niederdrückte, unerbittlich die Junggesellenbude, die daraus geworden war. Es roch nach Zigaretten und ungewaschener Kleidung, das zerwühlte schwarze Bettzeug auf der breiten Matratze unter dem Fenster war verwaschen und schmuddelig. Daneben stand ein überquellender Aschenbecher, eine vom Teer verfärbte Bong, mit braunem Wasser darin.

Nur ein Mal hatte Emna in der Vergangenheit hier übernachtet. Damals hatte sie geträumt, brauner Sand, gemischt mit irgendwelchem krabbelndem Getier, sei durch das Haus geweht und habe alles, auch ihren Körper, mit einer trockenen Kruste überzogen. Ohne Zweifel brachte Tarek mit dem dunklen Teil seiner Seele auch ihre verschütteten Ängste hierher.

Wenn Emna nicht Schuldgefühle empfinden würde, dass sie trotz ihres gemeinsamen schlechten Starts ins Leben dennoch ein veritables Sprungbrett bekommen hatte, würde sie einen weiten Bogen um solche Räume machen. Der Anblick der versifften Bude ihres älteren Bruders löste ein schmerzlich ziehendes Gefühl in ihr aus, als reiche die Hand, die sie ihm ausstreckte, nicht weit genug über den Abgrund, der ihre Leben trennte. Trotz der abgestandenen Luft roch Emna Tareks Duft, männlich schwitzig und vertraut. Sie setzte sich auf die Matratze und legte den Kopf in die Hände. Fast war sie dankbar, dass Tareks Bett so wenig einladend war und von unten das Zischen und Blubbern der Kaffeekanne ertönte. Sie wollte hier nicht einschlafen. Steifbeinig ging sie zurück in die Küche und füllte einen Kaffeebecher randvoll mit Espresso, tat drei gehäufte Löffel Zucker hinein und setzte sich an den kleinen Ecktisch. Von hier konnte sie in der Ferne ein paar Pferde sehen, die auf einer Wiese Gras rupften. Verdammt, Tarek, dachte sie, was machst du eigentlich, wenn du hier draußen bist?

Alster – Sonntag – 16:30 Uhr

Nora sah dem hochgewachsenen blonden Mann entgegen, der das Büro betrat. Ein Schwall kalter Luft zog hinter ihm her, stieg von seinem Mantel und seinen Lederhandschuhen auf, die er in der Hand hielt, als wolle er jemandem eine Fehde erklären, während er mit großen, festen Schritten den Raum durchmaß und sie mit seinem Blick fokussierte. Noch im Gehen streckte er die Hand aus, wie um diese Förmlichkeit schnell hinter sich zu bringen.

Und damit niemand Zeit hat, die Flucht zu ergreifen, dachte Nora. Er war ihr sofort unsympathisch. Ein konservativer Politiker wie er im Buche stand, einer, über den ein linker Bekannter aus Berlin sagen würde: »Warum sehen diese Arschlöcher immer so aus, wie man sie sich vorstellt?«

Nora war überrascht, dass sie zu so negativen Gefühlen in der Lage war, obwohl es sich hier um ein Opfer, einen sorgenden Vater, einen zutiefst verletzten Menschen in größter Not handelte. Sie stand auf, reichte ihm ihre Hand, während er sie einmal kurz mit seinen stechend blauen Augen musterte, und sagte: »Justus Stein, und Sie sind …?«

Doch ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Friedrich Meyer ins Visier. »Etwas Neues?«

Seine Stimme klang eher wie ein Knurren, ein wütender, eingeklemmter Laut, als müsse er an sich halten, nicht jemanden zu packen und zu schütteln, bis seine Kinder aus dessen Taschen fielen. Meyer schüttelte bedauernd den Kopf, und Nora beobachtete Steins Reaktion. Er starrte Kommissar Meyer an, als überlege er, wie er ihm sagen solle, dass diese Antwort inakzeptabel sei. Sie sah seine Kiefermuskeln arbeiten – aus Trauer, Wut, Ohnmacht oder Schmerz?

»Aber meine Frau haben Sie im Blick, oder? Ich möchte nicht, dass sie in dieser Situation allein das Haus verlässt.«

Meyer nickte. »Die Psychologin und ihr Hausarzt waren vorhin hier. Wir passen schon auf.«