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Dr. Eva Mares, Gynäkologin im Krankenhaus Bremen, führt nach einer brutalen Vergewaltigung in der Nachtschicht eine anonymisierte Spurensicherung durch. Das Opfer, eine junge Frau, wünscht keine Nachverfolgung, weil sie die Ereignisse möglichst schnell vergessen will. Wenig später wird eine andere lebensgefährlich verletzte Frau mit ähnlichen Misshandlungen eingeliefert. Eva fürchtet, dass derselbe Mann erneut zugeschlagen hat. Nur sie wüsste dann, dass DNA eines Serienvergewaltigers im geheimen Archiv des Krankenhauses lagert. Eva ahnt nicht, dass der Täter längst weiß, wer sie ist und wie gefährlich sie ihm werden kann - und dass er begonnen hat, Katz und Maus mit ihr zu spielen...
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2024
Dr. Eva Mares, Gynäkologin im Krankenhaus Bremen, führt nach einer brutalen Vergewaltigung in der Nachtschicht eine anonymisierte Spurensicherung durch. Das Opfer, eine junge Frau, wünscht keine Nachverfolgung, weil sie die Ereignisse möglichst schnell vergessen will. Wenig später wird eine andere lebensgefährlich verletzte Frau mit ähnlichen Misshandlungen eingeliefert. Eva fürchtet, dass derselbe Mann erneut zugeschlagen hat. Nur sie wüsste dann, dass DNA eines Serienvergewaltigers im geheimen Archiv des Krankenhauses lagert. Eva ahnt nicht, dass der Täter längst weiß, wer sie ist und wie gefährlich sie ihm werden kann – und dass er begonnen hat, Katz und Maus mit ihr zu spielen …
Meike Dannenberg wurde in Bremen geboren und wuchs im Hamburger Schanzenviertel auf. Ihre Mutter betrieb dort eines der ersten Bio-Cafés. Meike Dannenberg studierte in Lüneburg Angewandte Kulturwissenschaften und arbeitete nebenbei als freie Journalistin. Nach Abschluss des Hauptfaches Kommunikation beendete sie ihr Studium vorzeitig, um sich ganz dem Journalismus und ihrer Familie zu widmen. Seit 2010 ist Meike Dannenberg Redakteurin eines Literaturmagazins und trifft Autorinnen und Autoren zu Gesprächen über deren Arbeit. Und endlich fasste sie sich ein Herz und folgte ihrem Wunsch, selbst Kriminalromane zu schreiben. Meike Dannenberg lebt ihrer Familie in Bremen, ist Mitglied im SYNDIKAT und im PEN-Berlin.
MEIKE DANNENBERG
DIE ÄRZTIN
THRILLER
GEFÄHRLICHENACHTSCHICHT
Dieser Roman wurde gefördert durch:
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text-und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: © Arcangel Images/Bjanka Kadic | © FinePic®, München
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-5616-7
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Von hier aus hatte er freien Blick auf das kleine Mädchen im Garten, während die dichten Büsche ihn selbst vor ihren Blicken verbargen. Aber sie hatte ohnehin anderes zu tun, als auf ihre Umgebung zu achten. Sie kletterte immer wieder aus ihrem Planschbecken, sammelte auf dem Rasen bunte Schwimmtiere ein und warf eines nach dem anderen ins Wasser.
»Schwimm, Delfi! Los Kroko!«, hörte er ihre helle Stimme. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
Er hatte gewusst, dass sie sich auf die Suche nach Spielzeug machen würde, das sie mit in ihr Bad nehmen konnte. Welches Kind tat das nicht? Zwischen Schwimmnudel und Kescher, auf halbem Weg zur Scheune, hatte er ihr etwas hingelegt. Er hielt ganz still, als sie langsam in diese Richtung streunte. Sie bückte sich zu der Schwimmnudel. Fast war er versucht zu schreien: Das nicht, du blödes Balg! Scharf sog er Luft in die Nase ein und presste die Lippen aufeinander. Triumphierend sah er, wie sie doch nach dem roten Gerät griff und entschlossen auf das Planschbecken zuging. Das Stromkabel schlurrte im Gras hinter ihr her. Sie war bestimmt schon sechs und hatte verstanden, was sie damit machen konnte. Schlaues Kind!
Vorsichtig beugte er sich vor.
Panische Schreie einer Frau gellten durch den Garten – »Stopp, Emma! Stopp!«
Unwillkürlich ballte er seine Hände zu Fäusten, als Emmas Mutter um die Hausecke sprintete. Ihre Schreie, gepaart mit ihrem schneeweißen Gesicht, ließen ihn frohlocken.
Das wird dir eine Lehre sein, Schlampe!
Rückwärts kroch er aus seinem Versteck hinaus. Man konnte sich nur beglückwünschen, wenn man so vorausschauend planen konnte wie er. Die Angst um ihre Kinder würde sie bis ins Mark lähmen.
Eva stand an der hölzernen Arbeitsfläche vor dem offenen Küchenfenster und schnitt Obst für das Frühstück. Die Luft war geschwängert von Tau. Letzte Nacht war überraschend ein Sommergewitter heruntergekommen. Sie war aufgestanden und hatte vom Fenster des Schlafzimmers aus die zuckenden Blitze am tiefschwarzen Himmel betrachtet. Jetzt war es wieder hell und heiß, und auf der ungemähten feuchten Wiese hinter dem Haus spielte Emma im Planschbecken. Nur noch drei Wochen bis zu den Sommerferien.
Emma stand bis zum Bauchnabel im Wasser und plapperte vor sich hin. Wie so oft sprach sie mit den geflügelten Insekten, die von der Wasseroberfläche angezogen wurden, erzählte ihnen und der Welt Geschichten, die in ihrem sechsjährigen Gehirn wuchsen wie Bohnenranken. Eva lächelte und viertelte die Erdbeeren.
Eva nahm die Sahne aus dem Kühlschrank und warf einen Blick nach draußen. Das Planschbecken war leer. Unruhe mischte sich in ihre Bewegungen. Sie beugte sich vor und spähte aus dem Fenster.
Keine Emma. Ihr Herz schlug schneller.
Aber, nein, da kam ihre Kleine. Sie trug etwas im Arm. Eva nahm einen Stapel Teller aus dem Regal, während sie weiterhin ihre Tochter beobachtete.
Was war das für ein rotes Plastikteil, das sie mit sich schleppte? Erst als Emma ihr den Rücken kehrte und auf das Planschbecken zuging, sah Eva das Stromkabel, das sie hinter sich durch das halbhohe Gras zog, gleich hatte sie das Becken erreicht. Panisch beugte sich Eva aus dem Fenster und schrie: »Stopp, Emma! Stopp!«
Doch Emma hörte sie nicht oder wollte sie nicht hören. Sie machte sich bereit, über den Rand des Beckens zu klettern, die Arme zu öffnen und ihren Plan in die Tat umzusetzen, die elektrische Luftpumpe im Wasser zu versenken. Eva schrie ein weiteres Mal, noch schriller jetzt. Emma hielt inne, drehte sich um.
»Bleib so stehen, Emma, nicht bewegen!«
Eva sprintete barfuß über die bunten Zementkacheln des Küchenbodens, schlitterte durch die offene Terrassentür und raste um die Hausecke. Sekunden später war sie bei Emma, die sie verdutzt ansah.
Eva griff nach der elektrischen Luftpumpe. »Nie, nie Strom mit Wasser zusammenbringen!« In ihrem Kopf rotierte der nicht umgesetzte Vorsatz: Sicherheitsschalter für die Steckdosen am Schuppen besorgen.
»Ich wollte Blubberblasen machen, Mami.«
Die dunklen Locken hingen Emma nass ins Gesicht, ihre braunen Augen hatten das Strahlen eines Kindes, das vollkommen zufrieden mit sich und der Welt war, nur ihr Mund verzog sich zu einem erschrockenen Flunsch. »Papa hat das auch gemacht!«
Eva folgte mit den Augen dem Kabel, das wie eine rote Schlange im Gras lag. Der Stecker war schon eingesteckt. Verlängerungsschnur und Luftpumpe lagerten normalerweise in einem Kabuff in der Scheune, bei den aufblasbaren Matratzen, für die sie sie gekauft hatten, hinter einer verschlossenen Tür, dort, wo sie auch Sense und Säge aufbewahrten.
Eva war flau im Magen, und sie schüttelte den Kopf. »Papa hat den Blasebalg benutzt. Nicht die elektrische Pumpe.«
Eva ließ die Pumpe fallen und schloss Emma in die Arme, fühlte die feuchte Kälte, als ihre nassen Haare Wasserflecken auf ihrer Bluse hinterließen. Emma schmiegte sich kurz an sie, dann machte sie sich los und krähte: »Schau mal, Mami!«
Mit einem Bauchklatscher warf sie sich in das Becken, dass es nur so spritzte. Eva sah ihr zu und versuchte, sich zu beruhigen. Nur langsam kehrte die Welt zurück, mit summenden Bienen und Schmetterlingen, die über dem wilden Majoran und den duftenden Lavendelblüten taumelten, mit kristallblauem Himmel und Federwölkchen. Als Jacob und sie sich vor einem Jahr entschlossen hatten, in den Naturpark Wildeshauser Geest zu ziehen, hatte Eva sich gesorgt, Cafés, Restaurants und das Gedränge der Stadt zu vermissen. Doch das Gegenteil war der Fall. Normalerweise. In diesem Augenblick kam sie sich zwischen den weit verstreuten Fachwerkhäusern, Weiden, Feldern und knorrigen Bäumen ausgeliefert vor. Das alte Bauernhaus hatten sie zwar inzwischen einigermaßen modernisiert, und dahinter stand eine geräumige Scheune mit einer Tischtennisplatte, aber es galt noch zahlreiche Bauvorhaben im und am Haus umzusetzen. Was lauerten hier noch für Gefahren für die Kinder? Irgendwann, wenn alles fertig war, würden Jacob und sie die Arbeit im Krankenhaus hinter sich lassen können und eine Praxis auf dem Land eröffnen. Aber solange sie beide abwechselnd nach Bremen pendelten und dort zwischen den Schichten in ihrer Zweitwohnung schliefen, war es schwer, das alles zu schaffen.
Als Emma wieder versunken ihre Kreise im Wasser drehte, verstaute Eva Kabeltrommel und Luftpumpe in dem Verschlag, schloss ab und hängte den Schlüssel zurück unter die Dachtraufe der Scheune, weit entfernt von Emmas kleinen Fingern.
Ihr Blick fiel auf den Pfad, der von der Scheune in den Wald führte. Deutlich zeichneten sich Fußspuren im Morast ab. Große Männerfüße. Verblüfft hielt sie inne.
Jacob war seit dem Gewitter noch nicht draußen gewesen, Levin schlief noch, und auch Nellys Teenagerfüße waren schmaler. Hatte die Kabeltrommel überhaupt seit gestern schon auf der Wiese gestanden? Sie sah Jacob vor sich, wie er gestern Abend die Hecke gestutzt hatte. Und deutlich erinnerte sie sich, wie er die Trommel über den Rasen zurück in den Schuppen getragen hatte.
Die Zeit stand für einen Moment still, als Eva begriff. Sie fuhr zu Emma herum. Wie eine kleine Robbe, unempfindlich gegen die Kälte, dümpelte sie im flachen Wasser.
Sie hatte geglaubt, er würde sie in Frieden lassen. Sie war doch vor dem Polizeipräsidium im Auto sitzen geblieben. Ihr Herz raste panisch. Mit den Augen suchte Eva den Waldrand ab.
Die Kabeltrommel mit der elektrischen Luftpumpe war eine Antwort. Seine Antwort. Weil sie beinahe zur Polizei gegangen wäre. Eine unmissverständliche Warnung.
Beim nächsten Mal kommst du nicht so glimpflich davon.
Am grauen Saum des Himmels kroch sanftes Rot herauf, doch in den Häuserfluchten saßen noch die schwarzen Schatten der Nacht. Eva war als Einzige an diesem Sonntagmorgen in den Sommerferien um sechs in der kopfsteingepflasterten Straße schon vor der Tür. Sie nestelte an ihrem Fahrradschloss, das wie immer klemmte, wenn sie es einige Tage nicht benutzt hatte. Das Geräusch der Metallkette, die gegen das schmiedeeiserne Gitter klirrte, ließ sie zusammenzucken. Sie hob den Kopf und lauschte. Ein paar frühe Vögel zwitscherten. In den Vorgärten wucherten Frauenmantel, Sonnenblumen und Stockrosen, Gehwegplatten hoben sich unter den knorrigen Wurzeln der Alleebäume. Eva legte ihre Strickjacke in den Fahrradkorb und ruckelte am Schloss. Als sie gestern Abend zu ihrem ersten Arbeitstag nach der Urlaubswoche in Bremen angekommen war, hatte sie sich am Ostertorsteinweg den Weg durch lärmende Feiernde bahnen müssen. Sie hatte ein Glas Wein auf ihrem Balkon im Hochparterre mit Andrea aus dem ersten Stock getrunken, inmitten der plötzlich ungewohnten Lebendigkeit des Viertels. Und trotz des lauen Abends und Andreas funkelnder Laune war Eva beklommen zumute gewesen. Gegen drei Uhr hatte jemand eine Flasche auf dem Gehweg zerschmissen und sie aus dem ohnehin schon leichten Schlaf gerissen.
Die letzte Woche in der Geest hatte sich dagegen wie ein sommerlicher Traum angefühlt. Das Blau des weiten Himmels über dem norddeutsch platten Land spannte sich von Horizont zu Horizont, bei Sonnenaufgang war es von durchsichtiger Frische, in der Dämmerstunde verlieh sein Kobaltton den blauen und violetten Stauden im Garten eine surreale Note. Sie, Jacob und die Kinder hatten jeden Morgen an der Tafel im Schatten der Kastanie gefrühstückt. Danach hatten sie Ausflüge gemacht, waren über Sandwege an reetgedeckten Fachwerkhäusern vorbei zu den Steinkreisen in der Heide geradelt oder zum See.
Sie hatte so getan, als hätte es diesen Albtraum nie gegeben. Doch kaum war sie wieder hier, spürte Eva erneut Spannung in ihren Schultern und unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Warum ging das verdammte Schloss nicht auf? Sie schaute die Straße hinunter. Es war nach wie vor menschenleer, der kühle Morgen Vorbote eines weiteren heißen Sommertages. Einige Fassaden zwischen den gedeckten Blau- und Grautönen waren grellbunt gestrichen, der Stuck komplementär abgesetzt. Im Viertel gab es überall farbige Mosaike, selbstgepinselte Sinnsprüche und skurrile Skulpturen. Ein bisschen Villa Kunterbunt für alle. Das war Bremen, hier war das Unangepasste gerade passend. Bisher gerade richtig für Eva, doch heute schienen die hohen Fensterflügel der stuckverzierten Reihenhäuser zu ihr herüberzusehen. Das Schloss öffnete sich mit einem Klicken, eilig schwang sie sich in den Sattel.
An der Hauptstraße fegten Kehrmaschinen zerbrochene Flaschen, Pappbecher und Zigarettenkippen zusammen. Eva vermied das Gleisbett der Straßenbahn, in dem sich Fahrradreifen leicht verfingen. Verletzungen durch solche Unfälle hatte sie schon zur Genüge gesehen. Sie liebte das Viertel, mit dem Kino, dessen Plakate in Öl gemalt wurden, mit den Kunsthandwerkerläden und schattigen Hinterhöfen, in denen man feine Rotweine trinken konnte. Aber hier war auch der Rotlichtbezirk, Kneipen, aus denen Rockmusik dröhnte und Besoffene auf den Gehsteig torkelten. Drogendealer standen vor der leer stehenden Sparkassenfiliale Spalier, und gelegentlich verschwand ein Aufgebot der Polizei in einem Hauseingang zwischen Bioläden, Wollgeschäften und Boutiquen. Bremen war eine Großstadt und doch wieder nicht, Kreuzberg, Charlottenburg und Neukölln teilten sich hier eine Straße.
Dagegen würde in zwei Stunden zu Hause der Wecker klingeln, damit Levin rechtzeitig zu seinem Ferien-Fußballspiel kam. Frank würde ihn und Emma wecken und Levin wie ein Felsbrocken im Bett liegen, als müsse man ihn aus einem Kokon herausmeißeln, den er jede Nacht neu spann. Emma dagegen hasste es zu hetzen. Sie war eine pflichtbewusste Erstklässlerin und auch in den Ferien immer viel zu früh wach. Für ihren mürrischen Bruder hatte sie morgens nur ein Augenrollen übrig und mümmelte vermutlich ihr Müsli, während Levin hoffentlich duschte, Frank Brote schmierte und sie zusammen mit Nüssen und Obst in Picknickdosen steckte, die sie nach dem Abpfiff brauchen würden.
Sie sollte sich nicht sorgen. Levin würde beim Anblick der Brotdosen die Mundwinkel spöttisch nach unten ziehen und murren: »Wir können doch Pizza essen, Paps.« Und am Ende aß er das Picknick fast allein und eine ganze Pizza obendrein, während Emma wählerisch in Süßigkeiten und Obst pickte.
Eva hielt an einer roten Ampel. Und Nelly? Sie würde spät aufstehen und erst allein bleiben, was sie neuerdings toll fand, und die Zeit mit einer ausgedehnten Badesession und Haarpflege füllen. Später würde sie sich verabreden, wenn sie eine Freundin fand, die in den Ferien zu Hause war. Klar, sie war fünfzehn, es war ihr gutes Recht, sich abzusondern. Auch oder gerade weil Eva sie mit Argusaugen im Blick behielt. Irgendwann würde sie ihr das erklären müssen. Wütend trat Eva in die Pedale, in der Hoffnung die Unruhe auszuschwitzen, die ihr die Stadt bereitete.
Gegenüber der Notaufnahme parkte ein Streifenwagen. Das war zwar nicht ungewöhnlich, kam aber auch nicht jeden Tag vor. Und Eva hätte gern gerade jetzt auf den Anblick der Polizisten verzichtet und den langen Atem der dunklen Seite der Nacht, den sie mit sich brachten. Hinter der Glastür des Haupteinganges kamen ihr zwei Beamte mit angespannten Gesichtern entgegen. Gesine am Empfang hob die Hand. Evas Herz wurde schwer, ihr Adrenalinpegel stieg. Sie wusste, was das bedeutete.
»Dr. Mares! Sie müssen …«
Eva nickte. »Notaufnahme?«
Statt wie sonst zuerst mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock zur gynäkologischen Abteilung zu fahren, bog Eva in den Gang mit den Erstversorgungsräumen. Weiße Wände, große Schiebetüren aus Metall, grelles Licht. Sophie kam ihr mit schnellen Schritten entgegen, die Medizinisch-Technische Assistentin deutete hinter sich.
»Schockraum drei.«
Im Inneren des Erstversorgungsraumes herrschte hektische Betriebsamkeit. Dr. Rainer Wenner, der Unfallarzt, führte einen Ultraschall am Abdomen einer jungen Frau durch, während Anästhesist Sahid Al-Enezi versuchte, einen Zugang in ihren Handrücken zu legen. Der Kopf der Patientin rollte hin und her. Ihr dunkles Haar hing in langen Strähnen über ihr Gesicht, dennoch sah Eva dunkelblaue Hämatome, verkrustetes Blut und Würgemale. Sie schien nackt unter dem dünnen Tuch, das über ihren Körper gebreitet war.
Rainer bemerkte Evas Anwesenheit zuerst. »Selin Bayar, neunzehn Jahre, vergewaltigt, stumpfe Gewalteinwirkung, lebensgefährliche Blutungen im Bauchraum. Ich mache sie gleich auf.«
Ein Déjà-vu. Evas Hände und Füße wurden kalt.
Selin wehrte sich gegen den Stich der Braunüle, blinzelte und ruderte mit den Armen. Eva sprang vor, griff nach der freien Hand der jungen Frau und drückte ihre Finger. »Schhh, Sie sind im Krankenhaus, alles wird gut.«
Sie hielt Selins Hand, strich ihr mit der anderen sanft über die weiche Haut der Wange, der einzige Bereich des Gesichts, der unversehrt schien. Der Widerstand des Mädchens erlahmte.
»Danke, Eva.« Rainer fuhr wieder mit dem Ultraschallkopf über den Bauch der jungen Frau und starrte auf den Monitor. Seine Stirn war gefurcht. Zwei Pfleger standen bereit, um sie in den OP zu bringen.
Eva hielt die kühle Hand fest, obwohl sie jetzt schlaff in ihrer lag und Selins Lider nicht mehr flatterten. Das Sedativum wirkte. Sie schaute zu Rainer. »Was siehst du?«
»Viel Blut, Milz, Leber vielleicht.« Sein Blick huschte zu dem Unterleib der Patientin. »Und das, was wir noch nicht wissen. Die Kripo hat über die Staatsanwaltschaft eine Anordnung zur Spurensicherung eingeholt.«
»Ich mache mich fertig.«
Eva warf noch einen Blick auf Selins Gesicht und strich ihr das feuchte Haar aus der Stirn. Dann legte sie ihre Hand vorsichtig neben den schmalen Körper auf den Untersuchungstisch. Evas Finger zitterten.
Im Fahrstuhl sammelte sich Schweiß an ihrem Haaransatz und im Nacken. Es war zu früh, Rückschlüsse zu ziehen. Sie mussten dem Mädchen das Leben retten, feststellen, wie schwer es verletzt war. Sie würde Abstriche und Proben nehmen, alles steril verpacken. Schnell und effizient, dann konnte sie Selin weitere intime Untersuchungen bei Bewusstsein ersparen. Im vierten Stock kam ihr Margarete, die Stationsleiterin, entgegen.
»Hol mir doch bitte ein Sexpack und bring die mobile Ultraschalleinheit in OP 4.« Evas Stimme war rau. In Margaretes Augen erkannte sie den Widerschein ihrer eigenen Angst, und kurz waren sie Verschworene. Dann drehte Margarete sich mit steinernem Gesicht um und eilte davon.
Während Eva sich hastig OP-Kleidung anzog, zwang sie sich, ruhig zu atmen, und versuchte, auf Betriebstemperatur zu kommen. Noch immer fröstelte sie, obwohl es in der Umkleide stickig warm war. Unter Ärzten hieß es, im OP müsse man kaltblütig sein. Niemandem nutze es, wenn Hände zitterten, die ein Kleinkind aufschnitten oder einen Säugling zur Welt brachten. Hände, die verhindern mussten, dass aus der Liege eine Bahre wurde.
Sie hatte trainiert, ihre Gefühle abzuschalten, doch nun stiegen ihre Gedanken und Erinnerungen auf wie aufgescheuchte Vögel. Eva schloss die Augen, ballte die Hände zu Fäusten, löste sie wieder.
Als sie in den OP trat, war sie hellwach und konzentriert, es existierte nichts mehr außerhalb dieses Raumes.
Sophie legte ein Tuch über Selins Unterleib. Als Eva Platz nahm, sah sie Fesselspuren an den Knöcheln des Mädchens. Sie blinzelte und zählte bis drei, bevor sie mit der Untersuchung begann. Es gab blaue Flecken und Schnitte an den Oberschenkeln, Schwellungen und Rötungen, Haarrisse und Hämatome. Aber zum Glück keine weiteren Blutungen. Sophie fotografierte. Auch sie wirkte mitgenommen.
Die Untersuchung schmerzte Eva. Ihre Stimme, mit der sie monoton in das Mikro an ihrem Revers sprach, wurde zunehmend heiserer, so dass sie sich fortwährend räuspern musste. Während sie am unteren Ende des OP-Tisches arbeitete, stillte Rainer Wenner ebenso fokussiert die Blutung im Bauchraum. Eva sah, dass seine Kiefermuskulatur spannte. Das Mädchen war noch nicht über den Berg. Sie schluckte. Selin war nur vier Jahre älter als Nelly, fast noch ein Kind. Ein Scheißkerl hatte sie zerstören wollen, unterjochen, quälen. Womöglich töten.
Eva nahm mit Tupfern Proben, kämmte mit dem sterilen Kamm aus dem Sexpack die Haare aus. Sie legte die Probenröhrchen eins nach dem anderen auf den Edelstahltisch, wo Sophie sie mit Klebeetiketten versah und in den Beweisbeutel steckte. Das Paket war bald prall gefüllt. Eva betete, dass in einem Röhrchen DNA des Täters sein würde. Sperma war mit bloßem Auge zu erkennen, ebenso Hautschuppen unter den Fingernägeln. Aber bisher hatte sie nichts dergleichen gesehen. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Begann alles von vorn? Allein der Gedanke war wie ein Tritt in die Magengrube.
Sie setzte ihre Unterschrift auf das Etikett, das das Paket versiegelte, und Sophie ging, um es der wartenden Polizei zu übergeben. Rainer trat zurück, zog mit einem schnappenden Geräusch die blutigen Handschuhe von seinen Fingern und nahm die Maske ab. Er lächelte Eva knapp zu und verließ den OP. Sahid drehte sich von ihr weg, überprüfte die Kurve des EKG und die Sauerstoffsättigung. Niemand achtete auf sie. Eva zögerte. Nur zur Sicherheit, dachte sie, nur zur Sicherheit. Es ging hier auch um ihre Kinder, und gleich war der Moment vorbei. Sie nahm drei weitere Röhrchen von der Edelstahlfläche des Tisches, zog die Tupfer heraus, nahm eine weitere Probe von der Haut der jungen Frau, strich über ihre Schenkel, zupfte ein Haar mit Wurzel aus. Dann verschloss sie die Reagenzröhrchen, steckte sie in ihre Hosentasche und trug Salbe auf Selins Wunden auf.
Keinen Augenblick zu früh. Sahid zog die Elektroden von Selins Brustkorb und hängte einen Beutel mit Kochsalzlösung an das Bett, das zwei Pfleger hereinbrachten. Eva zog die Handschuhe ab, nickte den drei Männern zu und verließ den Raum, während Selin umgebettet und in den Aufwachraum gebracht wurde. Im Vorraum warf sie ihre Kleidung in den Wäscheeimer und nahm einen frischen Kittel aus dem Schrank. Die drei Röhrchen behielt sie, verdeckt von ihren Fingern, in der Hand und ließ sie dann in die Tasche gleiten.
Eva hatte gewusst, dass dem blinden Fokus auf die Untersuchung, den sie sich aufgezwungen hatte, eine Welle von Gefühlen folgen würde. Aber sie hatte nicht mit dem Zittern gerechnet, das ihren Körper erfasste, kaum, dass sie den Gang betreten hatte.
Sie fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, trat auf den Hof und sog die frische Luft durch die Nase ein, um den Geruch von Desinfektionsmitteln und Angst loszuwerden. Dann ging sie auf die nächstgelegene Toilette und schloss sich ein. Was war mit Selin geschehen? Sie versuchte, die aufkeimende Panik in den Griff zu bekommen.
Was, wenn sie eine Mitschuld trug an dem, was ihr passiert war?
Als er sie mit wehendem Ärztekittel durch die Lobby des Krankenhauses eilen und in einem Gang verschwinden sah, ließ er einen Moment den Kurier sinken. Sie hatte gestresst gewirkt. Er kaute auf seiner Unterlippe. Gut so.
Die Atmosphäre war ruhig, aber geschäftig. Patienten mit leichten Beschwerden warteten, Angehörige schauten auf ihre Handys, erste Besucher kamen herein.
Nein, sie hatte ihn sicher nicht gesehen.
Es war unfassbar, was die Menschen alles nicht mitbekamen, selbst, wenn es sich direkt vor ihrer Nase abspielte. Unglaublich! Erneut hielt er sich die Zeitung vors Gesicht, tat, als ob er lese, während er den Gang neben dem Empfang im Auge behielt.
Sie blieb verschwunden. Hatte sie wirklich gedacht, alles sei vorbei?
Eine Frau kreuzte sein Blickfeld. Sie hatte es eilig. Groß, hager, kurze borstige Haare, dunkle Kleidung. Er sah ihr nach, wie sie an den Glaskasten trat und der Mitarbeiterin ein aufgeklapptes Lederetui vor die Nase hielt.
Er zog spöttisch die Mundwinkel nach unten. Die würde undercover keine fünf Minuten überleben; dass sie Polizistin war, roch man drei Meilen gegen den Wind. Er schielte an der Zeitung vorbei, gefesselt von dem Gesichtsausdruck der jungen Krankenhausangestellten, der Erschrecken und Beflissenheit ausdrückte. Ihr Finger zeigte in den Gang, in den Eva Mares verschwunden war.
Die Polizistin steckte den Ausweis ein und wandte sich in die gewiesene Richtung.
Er schnaubte. Eine kantige Bohnenstange, die Männer jagte. Die hatte doch keine Chance. Eva Mares hingegen konnte ihm gefährlich werden.
Die Wut war wie ein elektrischer Impuls. Er schlug die Zeitung zusammen, legte sie auf die Plastikschale des Besucherstuhls und stand auf. Alles wegen einer dummen Annahme, die sich als falsch erwiesen hatte. Wo er doch sonst nie Fehler machte. Jetzt ging es darum, dass sie weiterhin Angst hatte, je mehr, desto besser.
Eva lehnte an den kühlen Kacheln neben den Waschbecken. Das Nervenflattern ließ etwas nach. Sie tastete nach den Proben in ihrer Kitteltasche. Sie fühlten sich kalt an, ekelerregend, als sei eine brutale Verderbtheit in ihnen eingesperrt, die wie ein Flaschengeist hervorspringen könnte, wenn sie sie öffnete. Sie ließ sie los und kühlte ihre Hände unter dem Wasserstrahl, tupfte Stirn und Wangen ab und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihre Wimperntusche war verschmiert, ihr Gesicht blass und ihre Pupillen geweitet.
Wir suchen nach Mustern, dachte Eva. Wir wollen Ereignisse in Beziehung setzen, weil wir die Zufälligkeit der Welt nicht ertragen. Es kann alles ganz anders sein, als es jetzt scheint. Beruhige dich!
Doch was zunahm, war das Gefühl, ein vergiftetes Geheimnis zu hüten. Aber sie war Ärztin, und als solche musste sie sich verhalten. Und als Mutter. Es war nicht ihr Geheimnis. Oder zumindest nicht ausschließlich.
Sie sog Luft tief durch die Nase ein und entließ sie langsam durch den Mund. Was blieb, war das ungute Gefühl, sich selbst zu belügen.
Als Eva auf den Flur trat, sah sie eine hagere Frau im dunklen Sommermantel mit ausholendem Schritt auf sich zukommen. Ein Muskel in ihrem unteren Rücken versteifte sich, als sie vor ihr stehenblieb und nach einem Blick auf ihr Namensschild sagte: »Frauke Herrschmann, K 32. Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?«
»Natürlich«, Eva nickte, »gehen wir in mein Büro.«
Die heimlich genommenen Proben schienen ein Loch durch den Kittelstoff zu brennen, als sie mit der Polizistin im Fahrstuhl in den vierten Stock fuhr und die Bürotür aufschloss. Das Zimmer der diensthabenden Stationsärzte war ein schlichter Raum mit weißen Möbeln, der an ein Behandlungszimmer grenzte. Eva trat hinter den Schreibtisch und bot der Kommissarin einen Besucherstuhl an, dann setzte sie sich selbst.
Ihre Besucherin hatte diesen forschenden Blick einer Polizistin im Dienst, misstrauisch, irgendwie allwissend. Eva sah durch die halboffene Tür des Behandlungszimmers die Beinstützen des gynäkologischen Stuhls und schluckte. Alles hatte genau in diesem Raum begonnen.
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
Frauke hätte den Kaffee gerne genommen, aber ihr Bedürfnis nach Koffein musste warten. Am Tatort lief bereits die Spurensicherung. Allerdings war auch Selin Bayars Körper ein Tatort, vielleicht sogar der wichtigste. Sie hatte das Mädchen vorhin nur kurz gesehen, bevor sie in den Krankenwagen gehoben worden war. Frauke war einiges gewohnt, aber Selins Anblick hatte ihr Mitgefühl geweckt. Und sie außerordentlich wütend gemacht. Was Dr. Mares ihr sagen würde, konnte für die Ermittlungen entscheidend sein.
Die Ärztin spielte nervös mit einem Kugelschreiber. Frauke ließ es sich grundsätzlich nicht nehmen, ihr Gegenüber einzuschätzen. Fünfundzwanzig Jahre Erfahrung als Polizistin, davon zwanzig als Hauptkommissarin und fünfzehn als Kommissariatsleiterin hatten sie gelehrt, dass dies während einer laufenden Ermittlung notwendig war.
Dr. Mares war eine attraktive Frau in den Vierzigern, mit markanten Zügen, aber weichem Mund. In dem Regal hinter ihrem Schreibtisch stand ein Familienfoto mit Mann und drei Kindern im Alter zwischen etwa sechs und fünfzehn Jahren. Die zwei Teenager waren hochaufgeschossen, offensichtliches Erbe des Vaters, der alle um einen Kopf überragte. Zwischen grünen Blättern im Hintergrund schimmerten Sonnenflecken. Frauke blickte wieder zu Dr. Mares. Ihre helle Haut war gerötet und in den sonnengebleichten Haaren ringelten sich feuchte Strähnen. Sie hatte den Tag auf die denkbar grausigste Weise beginnen müssen, sah erschöpft und derangiert aus. Aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen, sie brauchte sie in Topform, die Brutalität der Tat sprach für sich.
»Was können Sie mir über die Verletzungen von Selin Bayar sagen?«
Die Antwort kam ohne Zögern, der Blick der Ärztin ließ keine Gefühle erkennen. »Einblutungen, Risse in der Vulva, der Muttermund ist gequetscht, ein Hämatom, groß wie ein Hühnerei.«
Frauke verzog keine Miene, hatte jedoch das Bedürfnis, die Beine übereinanderzuschlagen. Was sie niemals tat.
»Einer oder mehrere Täter?«
Die Ärztin seufzte. »Beides möglich. Schwer zu sagen.«
Frauke nickte nachdenklich. »Können Sie mir zum jetzigen Zeitpunkt schon sagen, ob da etwas ist? Hautpartikel unter den Fingernägeln, fremde Schamhaare, Sperma?«
»Ich habe nichts gesehen, aber vielleicht finden Ihre Kollegen etwas bei der molekularbiologischen Untersuchung. Ich habe die Abstriche und Proben genommen, die sie wollten.«
Dr. Mares seufzte erneut. Frauke kannte das von Menschen, denen die Brust eng war, manchmal aus Angst oder Sorge.
»Spermaspuren hätte ich wahrscheinlich wahrgenommen, das UV-Licht hat nichts angezeigt, aber wie gesagt, ich hoffe auf den molekularbiologischen Befund.«
Sie verzog das Gesicht, als wolle sie etwas sagen. Wir kooperieren, dachte Frauke, spuck’s aus.
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
Dr. Mares zögerte. »Nein, eigentlich nicht. Er war sehr …«, sie schluckte, »… brutal.«
Frauke nickte. »Ja.«
»War das ein Exfreund oder ihr Partner?« Die Ärztin zögerte. »Oder ein Fremder, der Frauen auflauert?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Vielleicht weil die Vorstellung so grauenhaft ist. Hatten Sie in letzter Zeit ähnliche Fälle?«
War Dr. Mares besonders neugierig?
»Nein, mit dieser Vorgehensweise nicht«, sagte Frauke.
Die Ärztin nickte. »Ich habe eine fünfzehnjährige Tochter. Deshalb bin ich so alarmiert.«
»Bei den meisten Vergewaltigungen kennen Opfer und Täter sich.«
»Ich weiß.« Dr. Mares blickte auf ihre Hände, dann wieder Frauke ins Gesicht. »Wo wurde sie gefunden?«
»Selin Bayar wohnt in einer Studenten-WG. Ihre Mitbewohnerin ist frühmorgens nach Hause gekommen und hat sie gefesselt auf ihrem Bett gefunden. Sie waren gemeinsam aus, Selin ging aber früher nach Hause. Eigentlich wollte ihre Mitbewohnerin bei ihrem Freund übernachten, es war reiner Zufall, dass sie doch in die Wohnung gegangen ist.«
Dr. Mares blinzelte. Sie begriff, was das bedeutete.
»Sie hat ihr das Leben gerettet!«
»Allerdings. Können Sie mir etwas über Ihren Eindruck sagen? Was haben Sie gefühlt?«
Die Ärztin runzelte die Stirn. »Gefühlt? Ich war natürlich schockiert. Ich habe mich konzentriert und das Protokoll befolgt …« Sie stockte, schien zu überlegen. »Aber Sie meinen, was ich denke, was hinter der Tat steckt?«
Frauke nickte knapp.
»Das kann ich natürlich nicht sagen. Ich weiß nicht, ob es um sie ging oder Frauen im Allgemeinen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, da hat jemand eine sadistische Neigung ausgelebt. Vielleicht, weil so viel am Unterleib war. Weil er sich da so …«, sie zögerte erneut, »… abgearbeitet hat. Kann man das so sagen? Und dann natürlich das Würgen.« Sie schüttelte sich. »Besser kann ich es nicht beschreiben. Und die Schläge oder Tritte. Der pure Wahn.« Sie holte tief Luft. »Ich habe eine Zusatzausbildung zur Spurensicherung bei sexualisierter Gewalt gemacht, aber es ist nicht gerade mein täglich Brot.«
Frauke stand auf. »Ich danke Ihnen für diese Unterstützung. Für die Frauen ist es wichtig, dass Sie vor Ort sind, wenn es drauf ankommt.«
Dr. Mares erhob sich ebenfalls. »Ich schicke Ihnen später meinen Bericht, die Proben sind ja bereits auf dem Weg.«
Frauke streckte die Hand aus. Der Händedruck der Ärztin war warm und fest, ihre Finger ein wenig feucht.
Frauke legte ihre Visitenkarte auf den Schreibtisch.
»Falls Ihnen noch etwas einfällt.«
Dr. Mares nahm sie auf, betrachtete sie einen Moment. Wieder hatte Frauke das Gefühl, sie wolle etwas sagen oder fragen, doch sie schwieg.
Nachdem die Kommissarin gegangen war, schloss Eva einige Sekunden die Augen und atmete aus. Sie holte die Reagenzröhrchen aus ihrer Kitteltasche, steckte sie in einen Klarsichtbeutel, warf ihn in die unterste Schublade des Schreibtisches und schloss diese ab. Das Gespräch war ihr auf den Magen geschlagen.
»Ruhig bleiben«, murmelte sie.
Gleich stand die Morgenbesprechung der Oberärzte an, anschließend ihre Visite. Dabei fühlte sie sich alles andere als bereit, zum Tagesgeschäft überzugehen. Ihre Gedanken waren bei Selin auf der Intensivstation und bei dem Unbekannten, der sie misshandelt hatte. Sie stemmte die Hände in die Hüften, zog die Schultern hoch und hielt die Tränen zurück, die sich ungebeten aufdrängten. Auch ihre Patientinnen auf der Station hatten Anrecht auf ihre Fürsorge und volle Konzentration. Und sie wusste, wie sie diese erreichen konnte.
Am Eingang der Neugeborenenstation desinfizierte sich Eva die Hände. Frisch gebackene Mütter wickelten in einem großen Raum ihre Babys, es war warm hier, hell und ruhig. Eine junge Frau sah unsicher auf ihr Kind hinunter, dessen winziges Gesicht rot angelaufen war und das ein leises Maunzen von sich gab. Eva trat neben sie.
»Ich weiß nicht, wie ich ihn anfassen soll«, flüsterte die Mutter. »Er ist so winzig.«
Der Kleine ruderte mit seinen Händen in der Luft, Eva hielt ihm einen Finger hin. Sofort schloss sich seine Faust darum. Eva lächelte die Frau an.
»Er mag es, angefasst zu werden, bis vor kurzem war er nie allein. Trauen Sie sich, bald sind Sie mit ihm zu Hause.«
Die Frau nahm einen Waschlappen und eine Windel aus der Schale neben sich und machte sich sanft ans Werk. Ihr Gesicht glühte vor Liebe. Die Berührung der klitzekleinen Finger machte Eva erneut bewusst, was auf dem Spiel stand, wenn sie abgelenkt war. Auch für diese kleinen Wesen, und dass sie sicher das Licht der Welt erblickten, war sie verantwortlich. Und Momente wie diese waren es, die ihr durch die Abgründe der letzten Wochen geholfen hatten.
Als Frauke das Haus in der Humboldtstraße erreichte, bot sich ihr nicht das erwartete Bild parkender Vans der Spurensicherung und Kollegen in Schutzanzügen, die im Treppenhaus auf und ab liefen. Die Haustür des Gründerzeithauses war geschlossen. Frauke klingelte irritiert. Die WG der drei Studentinnen lag im Dachgeschoss, Thiel erwartete sie an der Wohnungstür.
Er deutete Fraukes Gesichtsausdruck richtig.
»Die waren in großer Besetzung hier, das ging recht schnell.« Er hielt ihr die Tür auf. »Ich habe nur noch auf dich gewartet.«
»Haben sie was gefunden? Einbruchsspuren? Wir können zwar nicht ausschließen, dass Selin und der Täter gemeinsam aus der Disko hierhergekommen sind, aber auch nicht, dass er sie vor dem Haus oder in ihrer Wohnung abgepasst hat.«
»Keine Einbruchsspuren, zumindest nicht aus jüngerer Zeit«, antwortete Thiel. »Für einen Dietrich sei das Schloss zu komplex, heißt es. Die Kollegen haben Selins Zimmer unter die Lupe genommen, den Flur, das Bad, die Küche, die Wohnungstür, das Treppenhaus. Gefunden haben sie eine Menge unterschiedlichster Spuren – Haare, Fasern und zahlreiche Fingerabdrücke. Aber das war in einer Wohnung, in der drei junge Menschen leben, zu erwarten.«
Frauke folgte Thiel in die Küche. Auf dem Tisch lagen ein Laptop und ein Handy in beschrifteten Plastikbeuteln. Sie ließ sich auf einen der wackligen Küchenstühle fallen, unter dem winzigen Tisch fanden ihre langen Beine kaum Platz.
»Haben sie sich auch die Umgebung des Hauses angesehen?«
Er nickte. »Sie waren hinten im Hof, aber es gibt keine frischen Fußspuren. Das Zimmer von Julia Cummings, die Selin gefunden hat, wurde ebenfalls untersucht. Sie sagt, alles sei unverändert. Die andere Mitbewohnerin, Lydia Werl, ist bei ihren Eltern, die habe ich noch nicht erreicht. Auch bei ihr wurde laut Cummings nichts angerührt.«
»Wo ist Julia Cummings jetzt?«
»Bei ihrem Freund.«
Thiel, der an der Arbeitsplatte unter der Schräge lehnte, war noch krummer als sonst. Er war groß und hager und hatte als ruhiger Typ, der alle überragte, im Laufe der Jahre einen Rundrücken entwickelt. Doch der zurückhaltende Eindruck täuschte, er war ein äußerst scharfer Beobachter.
»Sie war völlig fertig, konnte kaum eine Aussage machen. Wir wissen jetzt allerdings, dass sie mit einer weiteren Freundin«, Thiel sah auf seinen Notizblock, »einer Kim Baumann im Dschungel feiern waren. Selin Bayar ist früher nach Hause, etwa drei Stunden, bevor Julia Cummings sie hier in der Wohnung fand. Ich habe Cummings gebeten, sich um eins mit dir hier zu treffen, um das gemeinsam durchzugehen.«
Frauke nickte. »Gut. Dann würde ich vorschlagen, du besorgst die Daten der Überwachungskameras aus dem Dschungel. Was den Heimweg betrifft: Wenn Bayar die Abkürzung durch die Vermeerstraße genommen hat, ist da Essig mit Bildern, aber wenn sie am Rembertiring lang ist, sind da gleich zwei Verkehrskameras.« Sie sah sich um. »Hast du schon mit den Nachbarn gesprochen?«
Thiel nickte. »Zum Teil. Im Erdgeschoss war keiner. Das ältere Paar im ersten Stock hat ein Rumpeln gehört. Aber sie meinten, bei den Mädels wäre häufiger Party, sie hätten sich nichts dabei gedacht. Das war gegen zwei Uhr.«
Frauke zog die Augenbrauen hoch. »Alles klar.«
Thiel hielt ihr einen Schlüsselbund hin, an dem ein kleiner Pinguin aus Holz baumelte. »Der gehört Selin.«
Er nahm sein Sakko vom Stuhl und zog es über.
Frauke stand auf. »Wenn du die Bilder der Kameras hast, sag Bescheid. Heute Abend tragen wir die Ergebnisse zusammen.«
Er nickte.
Dann war sie allein in der Wohnung.
Nachdem sie ihre Visite beendet hatte, betrat Eva den Flur vor der Intensivstation. Sie wusste, dass Selin noch schlief, auch schlafen musste, um sich zu erholen, aber sie musste einfach wissen, wie es ihr ging.
Eva klingelte, es summte, und sie zog die Tür auf. Sie fragte sich, wie schwer es für Selins Angreifer sein konnte, hier hineinzukommen. Es gab die Klingel, ein Betreten-Verboten-Schild, aber würde ihn das abhalten? Noch hatte die junge Frau keine Aussage gemacht. Es war kein Polizeibeamter zu sehen, auch sonst niemand, auch wenn die Pflegekräfte natürlich irgendwo hier waren, stets bereit, wenn Geräte Alarm auslösten.
Eva blieb im Türrahmen des Krankenzimmers stehen. Selin wirkte klein unter der Decke, die fürsorglich um sie festgesteckt worden war. Einige Kabel führten zu ihrem Arm und weiter unter das weiße Plumeau. Das Display neben dem Bett zeigte einen regelmäßigen Herzschlag, die Sauerstoffsättigung war im unteren Bereich, aber normal. Ein Tropf versorgte sie mit zusätzlicher Flüssigkeit, um den Blutverlust auszugleichen. Lasst sie vergessen, so lange es geht, dachte Eva. Wenn sie aufwachte und ansprechbar war, würde das nächste Martyrium folgen. Die polizeiliche Vernehmung. Eva würde ihr erklären, welcher Art ihre Verletzungen waren. Ein Rechtsmediziner würde ihre äußerlichen Verletzungen dokumentieren und noch mehr Fotos machen, bevor das Gesicht abschwoll und die Wunden verschwanden. Antibiotika gegen mögliche bakterielle Infektionen und antivirale Mittel hatte sie bereits bekommen, aber die Entscheidung für oder gegen eine Verhütungspille stand noch aus. Wenn sie bis zum nächsten Morgen nicht wach und ansprechbar war, würde womöglich jemand diese Entscheidung für sie treffen müssen. Waren ihre Angehörigen informiert? Wollte sie das überhaupt?
Es ist grausam, wie sehr wir ihr nachstellen, dachte Eva, während sie mit den Händen in den Kitteltaschen dastand. Aber wir sind für ihre Genesung zuständig, die Polizei für die Ergreifung des Täters. Beides lässt sich nicht aufschieben.
Der Vergewaltiger. Sie wusste nichts über den Mann, außer, wie brutal er Selin geschlagen und getreten hatte. Dass er sie gefesselt und gewürgt hatte. Es könnte jeder gewesen sein, ein abgewiesener Verehrer, ein wütender Exfreund, ein Fremder. Und meist kam eine solche Tat ja nicht einmal zur Anzeige.
Der kalte Klumpen in ihrem Bauch war wieder da.
»Eva?« Rainer Wenner riss sie aus ihren Gedanken. »Was machst du hier?«
Ertappt drehte Eva sich um »Ich wollte nach ihr sehen. Ist deine Schicht nicht längst zu Ende?«
Rainer schürzte die Lippen. »Ich wollte auch wissen, wie es ihr geht.«
Er trat an das Bett, zog die Decke zur Seite und betrachtete die Verbände am Bauch des Mädchens. Seine Augen wurden schmal.
»Sie blutet noch aus der Naht heraus. Das muss beobachtet werden. Ich bleibe in der Nähe, falls ich sie noch mal aufmachen muss.«
Eva nickte ihm dankbar zu. Rainer war extra von zu Hause wieder hierhergekommen, um Selin persönlich zu überwachen.
»Schrecklich, oder?«, sagte er nachdenklich. »Diese Brutalität. Hast du so etwas schon einmal gesehen?«
Eva nickte und schwieg.
»Ich gehe mal und rede mit der Schwester.«
Eva sah ihm hinterher. Konnte er nicht endlich die Bezeichnung »Schwester« aus seinem Wortschatz streichen? Die nachwachsende Generation der MTAs und Pflegekräfte fanden das nicht mehr tolerabel, und so alt war Rainer auch noch nicht, dass er Schwierigkeiten haben müsste, sich umzugewöhnen.
Sie machte sich wieder auf den Weg zurück in ihre Abteilung. Hoffentlich gab es bald Ergebnisse der DNA-Untersuchung. Sie musste darauf bauen, dass es etwas Persönliches war, das Selin und ihren Vergewaltiger verband, und er bald gefasst wurde. Und für ihr eigenes Seelenheil hoffen, dass sie keinen perversen Serienvergewaltiger decken musste.
Nach Thiels Aufbruch war es ruhig in der kleinen Wohnung. Putzschlieren auf dem Dachfenster schimmerten im Sonnenlicht, Staubteilchen tanzten durch die Luft. Der Verkehrslärm drang nur gedämpft herein. Es ist seltsam, dachte Frauke, wie das Wissen, dass eine Frau in dieser Wohnung misshandelt wurde, die Stille verändert. Als seien ihre erstickten Schreie darin gefangen.
Der Flur war ein dämmriger Schlauch, der die Räume verband. Gegenüber der Eingangstür hing ein Spiegel, mit drei roten Kussmundabdrücken verschiedener Lippen. Darunter schwarze Flecken von Fingerabdruckpulver. Die Wände zierten Postkarten und ein Familienkalender. Eine der drei würde morgen eine Klausur schreiben. Berge von Schuhen, vom Sneaker bis zur Sandalette, türmten sich auf einem kleinen Regal unter der Garderobe.
Frauke betrat Selins Zimmer am Ende des Flurs. Sie hatte sich auf Blutspuren eingestellt, aber die Größe der Lache, die einen dunklen Fleck auf der nackten Matratze hinterlassen hatte, bestürzte sie dennoch. Das Laken war nicht auf dem Bett gewesen, der Täter musste es mitgenommen haben. Auf dem hellbeigen Teppich waren Zierkissen verteilt, rosa, weiß, aus Fellimitat und Samt. Am Kopfteil des weißen Bettes war der Lack an zwei Stellen abgewetzt. Selin hatte sich gewehrt, der Kabelbinder hatte bis ins Holz geschnitten. Überall verlieh dunkles Fingerabdruckpulver den hellen Möbeloberflächen einen schmuddeligen Film.
Vor dem Überfall schien es dagegen aufgeräumt gewesen zu sein, Mappen in Roséfarben und Grün lagen in akkuraten Stapeln auf dem Schreibtisch. In einem goldenen Becher steckten grüne und rosafarbene Stifte, einer mit einer Fellkugel am oberen Ende. Nach einem Kampf sah es nicht aus. Hatte er sie gepackt, als sie schon geschlafen hatte? Oder war etwas, das romantisch hätte sein sollen, zu einem Albtraum geworden? Am Schrank hingen kleine Handtaschen mit goldenen Schnallen, im Inneren waren Pullis und Hosen gefaltet, Blusen und Kleider auf Bügeln sortiert.
Frauke strich mit dem Finger über eine schwarze Hose und eine grüne Bluse. Selins Stil war gediegen, fast schick. Als habe sie Ziele, eine Karriereplanung. Sie schaute in den Ecken des Schranks nach und in den Fächern. Ein Schuhkarton enthielt eine große Anzahl Konzertkarten. Frauke war überrascht, als sie sah, dass es sich überwiegend um Heavy-Metal- und Hardrock-Konzerte handelte. Allerdings waren selbst die Karten jüngeren Datums schon über ein Jahr alt. Sie stellte den Karton zurück. Selin hatte anscheinend eine wilde Phase gehabt, jetzt aber Freude daran gefunden, sich bei der Einrichtung im Farbspektrum Weiß, Rosa und Hellgrün zu bewegen. Eine Farbwahl, der eine gewisse Geborgenheit nicht abzusprechen war, sanft und unaufgeregt.
Frauke atmete gegen den Druck in ihrer Brust an. So jung. Aus ihrer Warte von fünfzig plus war Selin noch ein halbes Kind.
Sie öffnete die Schubladen des Schreibtisches, aber es lagen nur Mappen für die Uni darin. Die Notizen waren kurz, prägnant, in ordentlicher Schrift verfasst. Im Nachttisch fand Frauke Taschentücher, Kleinkram, Tampons, Handykabel und Modeschmuck. Kein Verhütungsmittel, Tagebuch oder Kalender.
Sie ging zurück in die Küche, nahm Laptop und Handy, verließ die Wohnung und trat kurz darauf in das helle Vormittagslicht auf dem Bürgersteig. Sie blinzelte und sah sich um. In der Humboldtstraße standen überwiegend Mehrfamilienhäuser, dazwischen die typischen Bremer Reihenhäuser aus dem vorletzten Jahrhundert mit schmiedeeiserner Terrassenüberdachung im Hochparterre. In die Lücken, die der Krieg gerissen hatte, war die ein oder andere Bausünde eingezogen. Die Humboldtstraße war inzwischen ausgewiesene Fahrradstraße, dennoch fuhren hier für einen Sonntagmorgen viele Autos. Ausflügler, die im Viertel frühstücken wollten oder die Abkürzung in die Innenstadt zu Kunsthalle und Dom nahmen.
Als Frauke vor über zwanzig Jahren bei der Polizei in Bremen anfing, war in der Humboldtstraße der allseits bekannte Straßenstrich. Jetzt war hier eine angesagte Wohngegend, verkehrsberuhigt und nah am Viertel, wie die Bremer ihren Szenekiez zwischen Ostertor und Steintor nannten.