Blumenlust - Claudia Schmid - E-Book

Blumenlust E-Book

Claudia Schmid

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Beschreibung

Edelgards Buchhandlung »Bücherhimmel« wird anlässlich des Mannheimer Luisenpark-Jubiläums erneut zum beliebten Treffpunkt. Dort macht sie die Bekanntschaft eines charmanten Herrn. Wenn nur ihr Ehemann Norbert nicht wäre … Als eine Mordserie die Stadt erschüttert, ist Edelgard tief getroffen, denn sie kannte eines der Opfer persönlich. Kurzerhand widmet die Miss Marple von Mannheim den „Bücherhimmel“ zur Schaltzentrale ihrer Ermittlungen um. Denn auch ihre kräuterkundige Freundin Luisa bittet sie um Nachforschungen, wittert sie doch erbitterte Konkurrenz von der pfiffigen Kräuterhexe Chloé.

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Seitenzahl: 384

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Claudia Schmid

Blumenlust

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Sat/E-Bookz: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Claudia Schmid; iMarzi / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3272-4

Widmung

Für Mr. Smith, der mir das wilde Gärtlein schenkte.

Die wichtigsten Personen

Edelgard: spielt erneut Miss Marple

Florian: gibt den Kini

Luisa: eine Kräuterkundige

Chloé: die Kräuterbitch

Fee Zoe: eine Influencerin

Melanie: der Bulle

Norbert: der Fels für Edelgard

Marja: bringt ihre Freundinnen mit

Der Mörder: ist nicht der Gärtner

Prolog

Finn beglückwünschte sich selbst zu dem Entschluss für sein frühes Training, denn die Morgensonne verhieß bereits jetzt einen zu warmen Frühlingstag. Viel zu warm jedenfalls für die Jahreszeit. Gegen Mittag, wenn sie hoch am Himmel stand, war der Flüssigkeitsverlust während des Laufens immens hoch. Dabei lagen noch vier Wochen bis zu dem Sport-Event des Jahres vor ihm. Angela, seine Freundin, würde ganz schön überrascht sein, wenn er ihr am Tag davor seine Anmeldung für den Marathon mitteilte. Bis dahin galt es allerdings, weiter hart zu trainieren. Es war in letzter Zeit beruflich nicht so gut für ihn gelaufen, und er bereitete sich auf einen Neustart vor. Alles noch mal auf Anfang. Er konnte es kaum erwarten! Nach dem Durchlauf der Ziellinie wollte er ihr die Frage stellen. Diese eine, deren Antwort ihrer beider Leben auf den Kopf stellte und für immer veränderte. Danach war nichts mehr wie zuvor und würde auch nie wieder so werden, denn sie waren dann auch endlich ganz offiziell ein Paar. Der Trauschein war seiner Ansicht nach das Siegel für ewige Zweisamkeit. Wenn es nach ihm ging, bis der Tod sie schied. Er war wild entschlossen. Dieses Glück, das er sich immer und immer wieder in neuen, noch helleren Farben ausmalte, behielt er ganz fest in den Händen. So war sein Plan. Ihre Antwort war der Startschuss in eine neue Zukunft, gemeinsam mit ihr und seiner Selbstständigkeit. Den Mut dazu holte er sich beim Training für den Marathon. Der Ziellauf war für ihn der Ansporn, sein Leben mit Power umzukrempeln und endlich so richtig durchzustarten, nach all den zahlreichen Fehlschlägen.

Rasch ließ er Ladenburg hinter sich, wo er nahe der Fähre, die hinüber nach Neckarhausen glitt, seinen Wagen wie immer auf dem großen Parkplatz abgestellt hatte und direkt am träge im Morgenlicht glänzenden Fluss gestartet war. Das Grün der Felder war noch nicht von der Hitze verdorrt. Zu dieser frühen Zeit war der breite Weg zwischen der Wasserader und den Feldern menschenleer. Das konnten sich die Kolonnen von Ausflüglern, die ihn an Wochenenden zu Fuß und mit ihren Fahrrädern verstopften, kaum vorstellen. Er tastete nach der Innentasche seiner blauen Hose. Für einen Moment hatte er gedacht, sein Smartphone zu Hause liegengelassen zu haben. Erleichtert fühlte er durch den dünnen Stoff das Gehäuse.

Es erstaunte ihn selbst, wie leicht er sich in das frühe Training eingefunden hatte. Anfangs hatten seine Waden geschmerzt, aber mit Magnesiumtabletten ließ sich das gut abfangen. Auf Höhe von Schwabenheim zerrte er seine Wasserflasche aus dem Gürtel und trank hastig. Er hatte vor, bis zu den Kleingärten an den Ausläufern von Heidelberg zu laufen, dort ein paar Dehnübungen einzulegen und dann dieselbe Strecke zurückzurennen. Mit dem Handrücken wischte er ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Bald kam der Punkt, an dem der Weg eine Abbiegung weg vom Fluss erlaubte. Die wollte er jedoch heute nicht nehmen.

Plötzlich spürte er an einer schmalen Stelle, zu deren beiden Seiten mannshohe Büsche standen, etwas Strammes gegen sein Schienbein schlagen und stürzte überrascht der Länge nach hin. Welcher Idiot führte hier an der langen, quer über den Weg gespannten Leine seinen Köter aus? Der Dicke des Seiles und der Spannung nach zu urteilen handelte es sich um ein Riesentier. Finn hatte sich beim Sturz beide Ellbogen aufgeschlagen und war eben im Begriff, sich hochzurappeln, als er am Hinterkopf einen ziemlich harten Schlag spürte. Er sackte auf seine Knie. Ein erneuter Treffer brachte ihn ganz zu Boden und raubte ihm das Bewusstsein, noch bevor er mit dem Gesicht nach unten in den Staub fiel.

1

Chloé zog die kleine Schere aus ihrer Hosentasche, die in einer Schutzhülle steckte, damit sich die Spitze nicht durch den Stoff ihrer knallengen Jeans bohrte. »Hast du dich wieder in eine Hose reinschießen lassen«, war der gänzlich überflüssige Kommentar ihrer Mutter zu ihrem Kleidungsstil. Als ob sie etwas darauf gäbe, was die von ihrem Outfit hielt! Wenn einem das mit 27 Jahren noch nicht komplett egal war, wann denn dann überhaupt? Ihre Kindheit war längst Schnee von gestern, ein abgeschlossenes Kapitel ihres Lebens. Aufgewachsen war sie in einem der raueren Viertel der Industriestadt. Wobei Mannheim sehr viel Charme besaß, wie es immer hieß. Die Kurpfälzer galten als gemütlich und dem Genuss zugewandt. Dieses klischeebehaftete Bild galt leider nicht für alle, Chloé hatte im Laufe ihres Lebens, vor allem in der Kindheit, genügend Bekanntschaft mit anderen Menschen gemacht. Vor Mobbing hatte sie allerdings die Mitgliedschaft in der angesagtesten Gang des Viertels geschützt. Die waren nicht zaghaft, wenn es Ärger gab, und packten kräftig zu. Da sie sich bei ihren Streifzügen sehr geschickt bei kleinen Diebereien anstellte, war ihr eigener Status immerhin so, dass die Kräftigen der Gruppe sie beschützten. Mit dem Ende der Schulzeit, die ihr wegen zweier Ehrenrunden mit 17 Jahren die Mittlere Reife einbrachte, brach die Gang auseinander. Zwei waren nach Thailand geflogen, ob sie dort noch immer lebten, wusste sie selbst nicht. Eine war in die USA ausgewandert, Detroit oder so. Die anderen? Sie hatten sich alle irgendwie aus den Augen verloren. Aber wo Dietrich sich aufhielt, das wusste sie. Der älteste Sohn der Familie bekam bei denen immer diesen Vornamen. Von Generation zu Generation. Dass er selbigen virtuos zu benutzen wusste, war ihm zum Verhängnis geworden. Bei seinem letzten Bruch war dummerweise jemand zu Hause und war ihm blöd gekommen. Seitdem, oder zumindest seit sie ihn erwischt hatten, saß er im Café Landes ein. Lebenslang hatten sie ihm aufgebrummt. Weil der Typ sein Eigentum verteidigen wollte und Dietrich entschieden zu heftig hingelangt hatte. Der Sturz seines Gegenübers endete tödlich. Sie besuchte Dietrich aus alter Verbundenheit alle paar Wochen. Eine Weile hatten sie früher bei den anderen sogar als Paar gegolten. Besonders freute Dietrich sich, wenn sie ihm Mannheimer Dreck mitbrachte, eine lebkuchenähnliche Spezialität, die er zu schätzen wusste.

War es der Vollmond, der diese Gedanken in ihren Kopf spülte? Da, wo sie heute wohnte, nämlich unmittelbar in den Quadraten, fühlte sie sich jedenfalls gut aufgehoben. Es gab keinen Grund für sie, ihren Wohnstatus zu ändern. Sie konnte sogar zu Fuß an einen der beiden Flüsse, wenn ihr danach war. Der Bahnhof spülte immer wieder neue Kundschaft für sie heran, die ihre erträglichen Einnahmen sicherten.

Punkt 24 Uhr bei Vollmond war ein besonders guter Zeitpunkt, um Kräuter zu ernten. Ganz bestimmte Kräuter, mit einer speziellen Wirkung. »Du bist wie eine Hexe.« Auch dieses blöde Zitat stammte von ihrer Mutter, als sie wie immer unangemeldet in ihre Wohnung geplatzt war und sie in der Küche beim Bereiten ihrer Elixiere überraschte. Die brauchte sie schließlich für ihre Arbeit als Wahrsagerin. Obwohl sie selbst den Begriff »Lebensbegleitung« für ihre Tätigkeit bevorzugte. Das klang wesentlich moderner. Sie hatte ihre Mutter damals mehr oder weniger sanft an den Tisch geschoben und ihr einen Tee verabreicht. Nach einer Inspektion ihres Badezimmers war sie wieder abgerauscht. Vorgetäuscht hatte ihre Mutter allerdings, die Toilette benützen zu wollen. Seit sie sie mit 16 Jahren beim Rauchen von Marihuana erwischt hatte, erlag sie diesem Kontrollzwang ihrer Tochter gegenüber. Chloé fragte sich oft, ob die Reaktion ihrer Mutter auf ein Fläschchen Bier ebenso drastisch ausgefallen wäre. Jedenfalls gab es damals Hausarrest für sie sowie eine kräftige Kürzung ihres Taschengeldes. Während alle anderen in der Klasse mit den neuesten Markenklamotten herumliefen, deckte sie ihren Bedarf in Secondhandläden. Bis sie ihre Scheu überwand und einen Weg fand, an das Gewünschte zu kommen. Mit einiger Geschicklichkeit, die sie sich selbst beibrachte, tauschte sie in Umkleidekabinen Etiketten von Kleidungsstücken aus. Nach dem Riesentamtam, das ihre Mutter veranstaltet hatte, war ihr bewusst geworden, wie immens wichtig es war, sich bei nichts mehr erwischen zu lassen. Diese Lektion saß tief. Dabei hatte sie längst andere lukrative Quellen entdeckt, um ihren Hang zu ausgefallenen Kleidern zu befriedigen. Heute jedenfalls ertappte sie keiner dabei, nach der Schließzeit noch im Luisenpark zu bleiben. Schließlich ging es ihrer Ansicht nach niemanden etwas an, was sie trieb. Über die Drehkreuze am Ausgang gelangte sie jederzeit hinaus, es war noch nicht einmal nötig, irgendwo über eine Mauer zu klettern. Ihr Vorhaben war allerdings nicht legal. Es war für Gäste verboten, im Luisenpark irgendetwas zu ernten.

Auf dem gestampften Boden im Heilpflanzengarten lagen Kieselsteine. Chloé unterdrückte das Fluchen. Denn sie war barfuß, um die Energie des Ortes, gerade in dieser Nacht, ungefiltert zu spüren und in sich aufzunehmen. Keine einzige Wolke bedeckte den Nachthimmel. Das war gut so. Nichts minderte die heilende Kraft des Mondes, außerdem sorgte er für die nötige Helligkeit, sodass sie ohne ihre Taschenlampe auskam. Sie rieb mit den Fingerspitzen an Salbeiblättern, führte die Hand unter die Nase und sog den heilsamen Geruch ein, der sie wie Balsam erfüllte. An einem großen Strauch Rosmarin hielt sie inne. Solche Ausmaße nahm der Lippenblütler eigentlich nur im Mittelmeerraum ein, woher er stammte. Der Duft schwebte in der Luft, vermischt mit dem von Thymian. Wenn man die Augen schloss, konnte man sich in den Abruzzen wähnen, wo sie sich an ein Ferienhaus in den Bergen erinnerte. Geübt schnitt sie ein paar junge Zweige Rosmarin ab und steckte sie in die sehr große Innentasche ihrer leichten Jacke, die sie eigens für diesen Zweck eingenäht hatte. Mit dieser Menge konnte sie die Essenz für ein belebendes Vollbad herstellen, das sich einer ihrer Kunden zubereiten wollte. Eigentlich war sie jedoch auf der Suche nach Johanniskraut. Ihr Potenzmittel auf Kräuterbasis war der Hit bei ihrer Kundschaft, die freiwillig Mundpropaganda für sie betrieb. Die Zutaten für dieses Mittel waren ihr privates, streng gehütetes Geheimnis. Denn die Kräuter bildeten lediglich die Basis für die enorm hohe Wirksamkeit, die ihr ihre Kunden mehrfach bestätigten. Stress und Alter rückten bei ihrer Klientel in gewissen Stunden in den Hintergrund. Mit der flachen Hand strich sie über die Lavendelbüsche, die sie soeben passierte. Mit deren getrockneten Blüten befüllte sie kleine Kissen. Ihre Kunden waren im Grunde genommen dankbar für alles, was sie ihnen anbot. Die Story dazu musste stimmen. Wenn sie auf das von ihr gewählte Narrativ ansprangen, war ihnen beinahe alles zu verkaufen. Als sie sich jedoch über die Blätter des Mönchspfeffers beugte, spürte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Dabei hatte sie doch gar niemand anderen gesehen, geschweige denn, sich ihr nähern hören? Wie war das auf dem Kies möglich? Die einzige Möglichkeit, die ein geräuschloses Nähern ermöglichte, war ein Gehen über die Beete. Instinktiv umklammerte sie ihre Schere fester, als sie sich langsam aufrichtete und umwandte.

»Bist du auch wegen dem Mond da?«

»Des Mondes.«

»Sagte ich doch.«

Der Mann sah weder wie ein Wächter, der die Regel durchsetzte, nach der sich niemand nach einer festgelegten Uhrzeit im Park aufhalten durfte, noch wie ein gefährlicher Triebtäter aus. Trotzdem blieb sie wachsam. Man konnte ja nie wissen, ob jemand einfach nur harmlos aussah oder ob er es tatsächlich auch war. Es gab sogar Kriminologen, welche die Meinung vertraten, selbst sie mit all ihrem Fachwissen könnten Menschen ihre Gefährlichkeit nicht ansehen, ja, sogar Serientäter gingen rein optisch als harmlos durch.

»Was machst du da?«

Chloé entschied sich für eine ehrliche Antwort. »Weißt du, bei Vollmond um Mitternacht geerntet, entfalten die Heilkräuter ihre volle Wirkung.«

Er nickte. Das klang für ihn plausibel. »Und wozu ist Mönchspfeffer gut?« Der Name der Pflanze stand auf einem Schild.

Der Typ sah ziemlich gut aus. Groß gewachsen, sehr dichtes dunkles Haar, braune Augen. In seiner Haltung erinnerte er sie an irgendjemanden. An ein Bild. Oder besser, an ein Foto von einem alten Bild. Sie kam jetzt bloß nicht darauf, auf welches. Jedenfalls schien er ihr genauso harmlos wie sie selbst zu sein.

»Mönchspfeffer?«, wiederholte sie. »Es ist ein Frauenheilmittel bei Menstruationsbeschwerden.«

»Der Name klingt so gar nicht danach.«

»Es wurde früher Mönchen verabreicht, um ihre Libido zu dämpfen.«

»Ah, verstehe.«

»Und was treibst du hier nachts im Park?«

Der Mann hob sein Kinn, so als ob er seinen Blick über den Heilpflanzengarten hinaus in eine unbewusste Ferne richtete. »Ich gehe gerne des Nachts spazieren. Heute ist das Licht besonders schön, wie Samt umschließt es die Welt. Nachts ist es ruhiger, man wird nicht von den vielen Menschen abgelenkt, die tagsüber unterwegs sind. Man ist komplett eins mit der Natur. Das klappt um diese Zeit viel besser. Ohne Ablenkungen oder unliebsame Störungen.«

Chloé beschloss, mit diesem Typen einen harmlosen Spinner vor sich zu haben, jedoch einen überaus attraktiven dieser Sorte. Der sah wie ein Schauspieler oder ein Model aus. Die Nacht bot ihr plötzlich eine ungeplante Verheißung an. Sie schnitt mit schnellen Bewegungen ein paar Stängel des Mönchspfeffers ab und ließ sie in ihrer Jackentasche verschwinden. »Ich will noch ein paar Kräuter ernten. Wartest du? Es dauert nicht lange. Was du sagst, klingt so interessant.« Eigentlich hatte sie noch mehr Kräuter ernten wollen, das verschob sie nun spontan auf den Termin des nächsten Vollmondes.

Der Mann nickte und beobachtete sorgsam jede ihrer Bewegungen.

Als sie fertig war, schritt sie voran zum Ausgang des Heilpflanzengartens. »Kommst du mit an den See?«

»Du meinst, an den Kutzerweiher?« Er hielt kurz inne.

»Genau. Was ist jetzt? Kommst du?«

Während sie über die Wiese schlenderten, an deren Rand sich der Skulpturenweg befand, verfing sie sich unter dem dichten Blätterdach eines der großen alten Bäume, durch welches das Licht des Mondes nicht hindurchzudringen vermochte, mit dem Fuß an einer der Liegen. Bevor sie jedoch zu Boden fiel, war der Mann bei ihr, umfing sie mit beiden Armen und bewahrte sie so vor einem Sturz. Sie hielt ihren Kopf ein wenig länger an seiner Brust, als es unbedingt nötig gewesen wäre. Er roch nach Zedernholz und Thymian. Eine Parfümnote, die sie mochte. Sie fühlten beide die Magie des Moments, als sie wortlos nach seiner Hand griff und ihn zu den Seerosenterrassen führte. Das Wasser der großen Becken, in denen die großen Töpfe mit den Pflanzen standen, glänzte im Mondlicht lackschwarz. Undurchdringlich für Blicke, schien es Geheimnisse zu verbergen. Chloé mochte diese Stimmung, in der für sie so vieles an Verheißung lag. Nicht alles lag glasklar vor einem und ließ deshalb Raum für Fantasien. Auf einem der Becken war die Bewegung eines Läufers in Form einer kunstvoll filigran gestalteten Figur festgehalten. Rannte die Figur in behänder Leichtigkeit vor etwas weg? Oder fixierte sie in der Ferne ein Ziel, zu dem sie hinrannte? Das war etwas, was Chloé schon des Öfteren beim Betrachten des Läufers in den Sinn gekommen war. Sie wusste sogar, wer die Figur geschaffen hatte, weil das auf einem Schild stand. Es handelte sich um ein ganz besonderes Werk der Künstlerin Stefanie Welk. Und sie selbst? Gab es ein Ziel für sie in ihrem Leben oder rannte sie vor dem Leben davon, welches sie früher geführt hatte? Wollte sie lediglich anders ticken als ihre Mutter? Sie blickte den Mann, den sie an der Hand zu einer bestimmten Stelle im Luisenpark führte, von der Seite an. Für den Augenblick zumindest gab es ein sehr kurzfristiges Ziel für sie.

Das Restaurant an den Seerosenterrassen lag einsam und verlassen da. Welch ein Kontrast die momentane Ruhe doch zu dem hier oft quirligen Treiben bei Tage war, wo es oft ziemlich schwer war, einen freien Tisch zu ergattern! Chloé lenkte ihre Schritte weiter zum Pinguingehege. Nur ein paar der Tiere legten ein Nickerchen im Stehen ein, die anderen Publikumslieblinge waren wach. Sie führte den Mann zu einer ihr bekannten geschützten Stelle direkt am Wasser. Dort legte sie ihre Jacke ab, sorgfältig darauf bedacht, die Kräuter aus der Innentasche nicht zu verlieren. Ihr eng anliegendes T-Shirt betonte ihren Körper und war reines Kalkül. Sie schälte sich aus ihren Jeans.

»Was machst du da?« Er dachte flüchtig an Elena, die zu Beginn ihrer Bekanntschaft ähnlich unverblümt und direkt aufgetreten war. Die Initiative für gemeinsame lustvolle Betätigungen war zu seiner Freude stets von ihr ausgegangen. Das lag allerdings bereits eine geraume Weile zurück. Aus der Geliebten war längst lediglich eine Mitbewohnerin in ihrer Zweier-Wohngemeinschaft geworden. Das lag durchaus nicht an ihm, sondern entsprach Elenas Laune. Sie versuchte sogar, ihn aus ihrer gemeinsamen Wohnung zu verdrängen. Träumte er oder passierte ihm dieselbe Art von Leidenschaft, wie sie am Anfang zwischen Elena und ihm loderte, jetzt gerade mit einer neuen Frau? Wie sollte er sich verhalten? Treue war so ein altmodischer Begriff, aber verdammt noch mal, er liebte doch Elena und war bereit, da­rauf zu warten, bis sie wieder so war wie früher, als sie sich kennenlernten. Zu Beginn war sie ihm als seine Traumfrau erschienen, und er hoffte immer noch darauf, sie zeigte sich wieder so wie damals. Dabei stand genau jetzt eine Frau vor ihm, die er gerade eben kennengelernt hatte und die mittlerweile nur noch ihre Unterwäsche trug. Was er im Mondlicht sah, gefiel ihm allerdings sehr. Um der vollen Wahrheit zu entsprechen, war er komplett verzückt, denn schließlich war er nicht aus totem Holz geschnitzt. Einer der Unterschiede zu seinem hochverehrten Vorbild, dem Kini, bestand darin, dass er selbst sich sehr wohl etwas aus Frauen machte. Sehr viel sogar, wie sich jetzt für ihn spürbar bemerkbar machte. Sicher konnte die Frau das sehen. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass es ihm kein bisschen peinlich war.

»Kommst du mit ins Wasser?«

»Spinnst du? Das ist gefährlich.«

»Zu kalt?«

»Die Seile der Gondolettas unter der Wasseroberfläche!«

»Wir halten einfach Abstand zu denen.«

»Und die Karpfen? Die können über einen Meter lang werden. Hast du schon mal gesehen, wie die ihre Mäuler aufreißen? Die haben immer Hunger. Wie so kleine Seeungeheuer verfolgen die bettelnd die Boote. Das sind gierige Biester!«

»Verstehe, du hast Angst um …« Sie griff mit ihrer rechten Hand in seinen Schritt, wo sich deutlich eine Wölbung hervorhob, und drückte sanft zu, wobei sie ihm in die Augen blickte. »Wir bleiben an Land, okay?« Er ließ sie gewähren, als sie seine Hose öffnete, und war ihr bei den Häkchen ihres rotfarbenen BHs behilflich, den sie achtlos neben sich warf. Die nächste halbe Stunde, während sie, hinter hohem Schilfgras verborgen, agierten, wurde zu der aufregendsten in seinem Leben. Das glaubte er zumindest eine Weile. Bis er eines Besseren belehrt wurde. Aber bis dahin sollte noch ein wenig Zeit verstreichen.

2

»Eeedelgard!«

Die feinen Härchen auf meinen Armen schnellten blitzschnell in die Höhe, wie immer, wenn Norbert mit dieser übertriebenen Betonung auf der ersten Silbe meines Namens nach mir rief. Ich beschloss, mich taub zu stellen und ihn in meinem Garten nach mir suchen zu lassen. Denn ich genoss in meinem Hängesessel die Nachmittagssonne an diesem besonders schönen Tag. Sachte schaukelte ich auf unserer überdachten Terrasse hin und her. Ich hatte mich heute überwiegend im Haus aufgehalten. Bevor ich meine Tulpen versorgte, ruhte ich mich nun, in eine leichte Stola gehüllt, etwas aus. Mein Blick verweilte an der kleinen Stelle in der Buchenhecke. Die Nachbarin hielt dort ein kleines Fenster frei, welches ihr einen neugierigen Überwachungsblick in unseren Garten ermöglichte. Dabei hatten wir nichts zu verbergen, aber sie lieh beispielsweise ihren Hund während der zurückliegenden Pandemie, als es nächtliche Ausgangssperren gab, zum Gassigehen aus. Denn mit Hunden konnte man trotzdem raus. Natürlich nahm sie Geld dafür. Ihr Wuffi war am Ende ziemlich durchtrainiert. Es ist nämlich nicht so, dass mir selbst hier irgendetwas verborgen bliebe. Dazu muss ich keine Löcher in Hecken schneiden. Plötzlich fiel ein Schatten auf mich. Ich schreckte hoch.

»Da steckst du! Weshalb antwortest du nicht?«

»Hast du nach mir gerufen?«

»Dreimal!«

»Ich war so in Gedanken, Norbert, ich habe gar nichts gehört. So früh habe ich nicht mit dir gerechnet. Es ist gerade mal kurz nach 16 Uhr.« Ich hoffte, nicht rot anzulaufen, wie es oft geschah, wenn ich ein klein wenig mogelte, denn selbstverständlich war sein Rufen an mein Ohr gedrungen.

Er tätschelte meinen Arm. »Schon gut, Edelgard. Ich habe meine Gleitzeit heute sehr früh ausgenutzt, weil ich meine Mittagspause verkürzt habe. Möchtest du auch ein Feierabendbier?« Er stand im hellen Hemd mit einer Krawatte vor mir, die meine Patentante ihm zu Weihnachten gehäkelt hatte.

Nach all den Jahren hatte er es noch nicht verinnerlicht, dass ich lieber ein Glas Wein anstelle von Bier genieße. »Ich muss mich noch um den Garten kümmern. Vielleicht trinke ich danach ein Glas von dem Wein von der Bergstraße, von dem roten. Davon müssten wir doch noch welchen haben?«

»Kann sein«, brummelte Norbert und verschwand im Haus.

Im vorletzten Jahr verbrachte ich den Sommer in der Kurpfalz, dort hatten wir den Wein bei einem Ausflug an die badische Bergstraße direkt bei einem Winzer erworben. Während unserer Reise um die Ostsee vor wenigen Jahren hatten wir Tamara und Wiebke kennengelernt. Zwei reizende Buchhändlerinnen, deren hübscher Laden sich mitten in Heidelbergs Altstadt befindet. Sie hatten den Zuschlag bekommen, während der Bundesgartenschau in Mannheim einen Buchshop im Luisenpark zu betreiben. Für mich war es die perfekte Lösung gewesen, dort ein halbes Jahr zu verbringen. Denn meine Chefin, die Pfarrerin, hatte ein Sabbatical genommen. Das ist eine geregelte Auszeit, die die evangelische Kirche ermöglicht. Sie verbrachte diese Zeit bei ihrer Familie in Norddeutschland und unterstützte sie. Ihre Schwester betreibt mit ihrem Mann dort eine Schafzucht und hatte Zwillinge bekommen, für die meine Chefin die Patenschaft übernahm. Währenddessen wurde sie in unserer Gemeinde von einer Pfarrerin vertreten, die zur Bedingung machte, eine eigene Pfarrsekretärin mitzubringen, denn die beiden waren ein Paar. Ich hatte eingewilligt, meine Stelle deshalb in diesem Zeitraum ebenfalls ruhen zu lassen. Alles war als ein vorübergehendes Arrangement vereinbart. Was ich jedoch nicht vorhergesehen hatte, war die Tatsache, dass meine Chefin sich auf Dauer umorientierte. Sie fand überaus großen Gefallen an ihrer Rolle als Tante der beiden süßen Wesen und ging voll darin auf. Als just in der Nachbargemeinde des Wohnortes ihrer Schwester eine Pfarrstelle frei wurde, bewarb sie sich dort und wurde prompt genommen, während sich in unserer Gemeinde ihre Vertretung mitsamt der Pfarrsekretärin etablierte. Mir blieb nach meiner langjährigen Tätigkeit lediglich die Mitgliedschaft im Gemeindechor, dessen Ausflüge ich schon früher organisiert hatte. Neben meinen Reisen war es dieser Job im Pfarramt, der meinen Lebensinhalt darstellte. Die vielen Gespräche mit Menschen, die mit ihren verschiedenen Anliegen zu uns kamen, vermisste ich immens. Als ob Norbert meine Gedanken, denen ich gerade nachhing, geahnt hätte, brachte er das Gespräch darauf, als er mit einem gefüllten Weizenbierglas in der einen und einem Weinglas für mich in der anderen Hand auf die Terrasse zurückkam.

Ich nahm es entgegen und stellte es auf dem kleinen Tisch aus blau lackiertem Metall ab. Er hatte offenbar geflissentlich überhört, dass ich im Augenblick nichts trinken wollte.

»Weißt du, Edelgard, es ist gar nicht schlimm, dass du jetzt so viel zu Hause bist. Da kannst du dich wieder mehr um mich kümmern.« Er strahlte, als er sein Glas hob und mir zuprostete. »Vielleicht wird es dann dauerhaft ein wenig ruhiger bei uns. Außer«, er grinste breit, »du findest eine Leiche im Nachbargarten. Ich gehe mal davon aus, dass bei uns selbst keine liegt. Oder gibt es ein heimliches Grab unter unserer Terrasse? Das will ich doch nicht hoffen!« Er lachte über seinen eigenen Witz.

Das Schnurren meines Smartphones enthob mich einer Antwort auf diese launige Bemerkung.

»Tamara! Wie reizend, von Ihnen zu hören. Wie geht es Ihnen und Wiebke?«

»Alles im grünen Bereich, Edelgard, wir beide sind zufrieden. Und wie läuft es bei Ihnen? Es füllt Sie vermutlich nicht gänzlich aus, wieder vermehrt für Ihren Mann da zu sein?« Sie kicherte verschwörerisch.

Ich beglückwünschte mich dazu, den Lautsprecher bei der Entgegennahme des Gesprächs nicht aktiviert zu haben. »Alles gut bei mir, Tamara. Danke der Nachfrage. Mein Garten ist wirklich topp in Schuss! Demnächst kommen Reisebusse hier an, weil er besichtigt wird. Es gibt schon erste Anmeldungen.«

Norbert blickte fragend. Offensichtlich kapierte er meinen Scherz nicht.

»Ich lege meine Karten offen auf den Tisch, Edelgard. Wir reaktivieren den Bücherhimmel und denken dabei natürlich in erster Linie an Sie.«

Beinahe bekam ich Schnappatmung beim Wittern der Chance, meinem neu gewonnenen Status als Hausfrau zu entrinnen.

»Der Park feiert in diesem Jahr ein großes Jubiläum, weil es 50 Jahre her ist, dass dort erstmals eine Bundesgartenschau stattfand. In dem Holzcontainer, in dem der Bücherhimmel untergebracht war, haben die im letzten Sommer selbst einen Souvenirverkauf gemacht, und in diesem Jahr könnten wir ihn wieder pachten. Derjenige, der den Job vorübergehend übernommen hat, ist nämlich in Rente gegangen. Und jetzt meine Frage an Sie: Können Sie sich vorstellen, nochmals unsere Buchhandelsfiliale zu übernehmen? Sie haben das so bravourös gemacht! Wir starten Mitte Mai mit der Wiedereröffnung. Ich weiß, das kommt jetzt ein wenig plötzlich, aber wir haben die Anfrage selbst kurzfristig erhalten.«

Am liebsten hätte ich spontan zugesagt und unterdrückte nur mit Mühe einen Freudenschrei. Die Anwesenheit meines neugierig blickenden Gatten erinnerte mich jedoch daran, dass es vielleicht aus seiner Sicht angemessen wäre, die Angelegenheit zunächst mit ihm zu besprechen. Zumindest sollte bei ihm der Anschein erweckt werden, als ob er mitentscheiden dürfe. Denn meine eigene Entscheidung stand prompt fest. »Ich denke darüber nach und bespreche das mit Norbert.«

»Ja, klar. Das verstehe ich natürlich. So etwas bespricht man als Paar. Wir beide, Wiebke und ich, würden uns natürlich sehr über Ihre Zusage freuen. Das Gehalt …«

»Ach was, da werden wir uns schon einigen. Ich melde mich bald. Sehr bald! Und grüßen Sie Wiebke von mir.«

Norbert nahm einen weiteren Schluck von seinem Weizenbier. »Was ist denn los bei den beiden? Alles in Ordnung? Gibt es Ärger mit dem Bauplatz nebenan? Brauchen sie Beistand?«

»Diese Reihenhäuser, die direkt hinter ihrer Villa gebaut werden? Auf dem Grundstück, welches diesem Leon gehört hatte? Ich mochte den.« Ich wollte Zeit schinden und zögerte mein eigentliches Anliegen ein wenig hinaus. Das verschaffte mir die Möglichkeit, die richtigen überzeugenden Worte für meinen Göttergatten zu überlegen.

»Soweit ich weiß, gab es da mehrere Eigentümer, mit denen es lange einen heftigen Streit gab.«

»Keine Ahnung, was da lief. Irgendwas war mit einer Erbengemeinschaft, Geschwister seiner bereits verstorbenen Eltern. Wenn ich mich recht entsinne, ging der Streit allerdings nicht von ihm aus, der war ja regelrecht lammfromm, ein absolut gutmütiger Mensch. Wiebke hat hin und wieder von ihm erzählt. Ein überaus angenehmer Mensch, meiner Meinung nach. Das war irgend so eine blöde Familiensache. Beim Erben kommen oftmals die wahren Gefühle innerhalb einer Familie ans Licht. Da wird sogar vor Gericht gestritten. Aber die haben sich ja irgendwie letzten Endes dann doch noch geeinigt und verkauft, und er ist nach Schweden gezogen. Ich glaube mich zu erinnern, auf eine der Inseln in der Ostsee.«

»Ist der nicht sogar dauerhaft ausgewandert und hat hier alle Brücken hinter sich abgebrochen?«

»Ich glaube, ja. So wie Wiebke erzählte, hat er in Deutschland alles aufgegeben.«

»Von Heidelberg nach Schweden. Gibt es da nicht eine sehr bekannte Frau, die das ebenfalls gemacht hat?« Er summte ein paar Takte aus Dancing Queen.

Es erstaunte mich, dass Norbert über solchen Klatsch aus der Regenbogenpresse informiert war. Die Popgruppe Abba hatte dieses Lied vor Jahrzehnten der jungen Königin ihres Landes zur Hochzeit gewidmet. Dieses Lied lief in Dauerschleife im Radio zu einer Zeit, als wir selbst noch Kinder waren.

»Edelgard, du bist meine Queen.«

Mein Mann verstand es erneut, mich zum Staunen zu bringen. Nun strahlte er mich an wie ein glückliches Honigkuchenpferd. Ein sehr glückliches Honigkuchenpferd. »Schön, dass du jetzt mehr Zeit hast und es uns hier so gemütlich machst. Ich hole mir noch etwas zu trinken.« Er erhob sich, um ins Haus zu gehen und sein geleertes Glas erneut zu füllen.

»Hmm.« Ich nickte. Wie würde seine Reaktion auf Tamaras Angebot ausfallen? Norbert hing an seinen Gewohnheiten, das wusste ich aus jahrzehntelanger Erfahrung, denn wir waren schon seit unserer gemeinsamen Schulzeit ein Paar. Es hatte vor einer Weile meinem Gefühl nach eine Ewigkeit gedauert, ihn davon zu überzeugen, seinen längst ausgeleierten beigefarbenen Breitcordanzug gegen chicere Kleidung auszutauschen. In dem alten Anzug wirkte er wie ein Michelin-Männchen, welches Werbung für Traktorreifen machte. Ebenso wie seine hellbraunen Lederschuhe mit dem Lochmuster, in denen beim Putzen immer etwas von der Schuhcreme hängenblieb und die ihm ein Schuster schon mehrfach neu besohlt hatte. Die sportlichen Sneaker, zu denen ich ihn mit Hartnäckigkeit überredet hatte, standen ihm viel besser. Sogar sein Gewicht verstand er ein wenig zu reduzieren. Eine komplette Rundumerneuerung sozusagen. Seiner Erzählung nach grüßte ihn seit seiner optischen Neuerscheinung morgens die Pförtnerin des Finanzamtes, wo er seit Jahrzehnten als Jurist tätig war, sehr viel freundlicher als früher.

Als Norbert mit seinem Glas zurückkehrte, hatte ich mich wieder im Griff. Am besten redete ich nicht lange um den heißen Brei herum, sondern schenkte ihm sofort reinen Wein ein. Denn ich wollte den beiden Buchhändlerinnen möglichst schnell zusagen. Womöglich hatten sie noch jemand anderes in petto, und ich guckte in die Röhre. Schließlich lebten in der Stadt am Neckar viele Studierende, die nach der Möglichkeit für einen Nebenverdienst suchten. Das galt es unbedingt zu vermeiden, denn ich wollte es mir lieber nicht ausmalen, auch noch den nächsten Sommer auf meiner Gartenliege verbringen zu müssen. Nach dem abwechslungsreichen Buga-Jahr 2023 hatte ich den darauffolgenden Sommer beinahe ausschließlich in meinem Garten verbracht. Mein Stapel ungelesener Krimis, die ich in den letzten Monaten erwarb, war auf dem besten Wege, gegen null zu schrumpfen. Und in der Nachbarschaft passierte seit Langem überhaupt nichts, was mein Eingreifen erfordert hätte. Absolut gar nichts! Die Langeweile drohte mich gänzlich zu überrollen. Dieses Angebot war tatsächlich meine Rettung!

»Schatz?« Ich setzte ein unwiderstehliches Lächeln auf.

Norbert, gerade zurückgekommen, hielt inne. Mit dieser Anrede gehe ich nämlich sparsam um. Allein aus dem Grund, dass sie sich am Ende nicht abnutzt und ihren Zweck, meinen Gatten aufnahmebereit für mein vorgetragenes Anliegen zu stimmen, womöglich verfehlt. Was doch ziemlich ungünstig wäre, hing doch immerhin mein persönliches Wohlbefinden davon ab.

»Edelgard?« Seine Hand landete sacht auf meinem Knie. Die gewünschte Wirkung trat also genau wie von mir erwartet ein.

Ich legte nach. »Ein wenig langweilig ist es für mich schon, weißt du. Der Publikumsverkehr im Gemeindesekretariat fehlt mir. Immerhin habe ich das all die Jahre gerne gemacht. Irgendwie war das genau meins, immer so viel mit Menschen zu tun zu haben. Ich bin doch eher der gesellige Typ.«

»Aber Edelgard, du singst doch im Kirchenchor! Da triffst du Menschen. Geht ihr nicht bald wieder auf Tour? Das habt ihr doch vor dieser Pandemie auch immer gemacht.«

Ach, wenn er wüsste. Annabell Klärchen, die meist neben mir steht, trifft nur in Ausnahmefällen den richtigen Ton. Zum Ausgleich dazu hat sie zu meinem Bedauern kein Problem mit der Lautstärke. Und die Solopartie, von der ich träumte, sie anzustimmen, hat die neue Pfarrerin selbst übernommen. Mit einem sehr wohlklingenden Sopran, wie ich neidvoll anerkennen muss.

»Ja, schon, aber …«

»Verstehe. Du willst in Urlaub!« Er kicherte.

99 von 100 möglichen Punkten. Wegfahren stimmte zwar. Aber nicht gemeinsam mit ihm. Und Urlaub war auch falsch. Wie brachte ich ihm das bloß schonend bei? Immerhin hatte er sich im vorletzten Sommer, als ich absurderweise in den Verdacht kam, etwas mit dem zeitweiligen Verschwinden von Frida, der Freundin unseres Sohnes Julian, zu tun zu haben, rührend darum gekümmert, meine Unschuld zu belegen und mich von allen Verdächtigungen reinzuwaschen. Da hatte sich dieser Verbrecher, der Indizien gefälscht hatte und dabei sogar in unser Haus hier in Stuttgart eingedrungen war, sauber verrechnet. Aber Norbert hatte mich wirklich heldenhaft rausgehauen. Die Idee, unsere gemeinsame Freundin Marja zu informieren, erwies sich als goldrichtig. Die Journalistin versteht es, herausragend gut zu recherchieren. Ich bin ihr immer noch dankbar für ihre prompte Hilfe.

»Es wäre auch nur für den Sommer.«

»Hä?«

»Erinnerst du dich auch so gerne wie ich an die Bundesgartenschau?«

»Worauf willst du hinaus, Edelgard?«

Meinem persönlichen Blitzmerker ging offenbar soeben ein Licht auf. Dieses Mal für seine Verhältnisse erstaunlich schnell. In seinem Gesichtsausdruck zeigte sich ein Begreifen.

»Der Bücherhimmel wird wieder zum Leben erweckt.« Ich wartete gar nicht erst die Wirkung meiner Worte ab und redete schnell weiter. »Ich bin bereits eingearbeitet und kann sofort loslegen. Schließlich habe ich den Bücherhimmel bei der Bundesgartenschau im Mannheimer Luisenpark ein halbes Jahr lang gemanagt. Zur vollen Zufriedenheit der Kundschaft! Mein Umsatz war beachtlich.« Eins zu null für mich. Meinem Mann fehlten jegliche Gegenargumente.

»Und wann würdest du beginnen?« Das klang schon ziemlich nach einem Einknicken seinerseits.

Am liebsten hätte ich laut gesungen. Es stand mir also nicht bevor, aus purer Langeweile sämtliche unserer Fenster mit selbst gemachten Häkelgardinchen zu schmücken. Und die unserer freundlichen Nachbarin gegenüber, die unser Haus hütete, wenn wir in Urlaub waren, gleich mit. Seit ihr Sohn Johannes nach Beendigung seines Studiums aus ihrem Haus ausgezogen war, hielt sie wegen ihres Empty-Nest-Syndroms des Öfteren ein Schwätzchen mit mir. Sie war ja wirklich nett, aber ihr Jammern über den Auszug ihres Sohnes strengte mich ein wenig an. Schließlich hatte ich meinen Sohn einige Jahre früher als sie herausrücken müssen! Johannes war außerdem lediglich von Stuttgart nach Ulm gezogen, das war ja nun wirklich keine großartige Entfernung. Unser Julian hingegen hatte mehrere Jahre im Ausland verbracht und lebte nun in Berlin. Da fuhr man nicht mal so eben zum Kaffeetrinken hin, was ich wirklich ausgesprochen bedauerlich fand.

»Lass uns morgen darüber reden, Edelgard. Das kommt jetzt so plötzlich für mich. Schlaf eine Nacht darüber! Am Ende ist es doch auch Stress für dich, wo du es jetzt endlich auch viel ruhiger angehen könntest.«

»Ruhe gibt’s genug eines Tages im Seniorenheim.«

»Edelgard, dort behalten sie dich eh nicht. Du stellst in Kürze alles auf den Kopf, so wie ich dich kenne. Die komplimentieren dich spätestens in der dritten Woche raus.«

»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als die nächsten 20 Jahre fit zu bleiben.«

»Hauptsache, oben und unten dicht.«

Mein Mann brachte es, wenngleich nicht sonderlich charmant, auf den Punkt. Trotzdem schaffte er es mit diesem Statement, mich zum Lachen zu bringen. Nach all den Jahren gemeinsam lachen zu können, ist etwas Schönes, auch wenn man beim Anblick des Partners längst keine Schmetterlinge mehr im Bauch spürt. Plötzlich musste ich an Willi denken. Der wohnte bei Tamara und Wiebke, und ich war total verknallt in ihn.

3

Florian stand vor dem raumhohen Spiegel und strich mit einer zärtlichen Geste über den künstlichen Hermelin seines blauen Umhanges. Es war die Maßanfertigung einer Schneiderin, haargenau nach seinen Angaben gemacht. Während ihrer Arbeit daran hatte er sie mehrmals besucht und peinlich darauf geachtet, dass sie seinen Anweisungen strikt folgte. Dass er die Nerven der Frau damit etwas überstrapazierte, blendete er erfolgreich aus. Schließlich zahlte er auch einen stolzen Preis für ihr letztendlich überaus gelungenes Werk. Die Verwendung eines echten Pelzes kam für ihn selbstverständlich nicht infrage. Als Vorlage für sein sagenhaftes Kostüm diente ihm ein von Gabriel Schachinger im Jahr 1887 fertiggestelltes Gemälde von König Ludwig II. Da war der Kini bereits auf tragische, nie ganz geklärte Weise im Starnberger See ertrunken. Der König trug darauf das Gewand des Großmeisters des Ordens des Heiligen Georgs, eines Hausordens der bayerischen Kurfürsten. Als Florian zum ersten Mal ein Foto dieses Bildes sah, verknallte er sich rettungslos in das Kostüm und fuhr sogar extra deshalb nach Schloss Herrenchiemsee, um dort das Gemälde im Original zu sehen. Ihm kam zugute, dass er dem Märchenkönig frappierend ähnlich sah. Bei seinen Auftritten frisierte er sein üppiges Haar ähnlich wie sein historisches Vorbild. Dass er in dieser Kostümierung bei Hochzeiten die Trauringe auf einem kleinen Samtkissen bereithielt, sprach sich immer mehr herum. Es gab bereits Buchungen für das übernächste Jahr. Und das, obwohl er für seine halbstündige Anwesenheit mittlerweile 1000 Euro plus Fahrtkosten berechnete. Während der Bundesgartenschau in Mannheim im Jahr 2023 war er sogar im Luisenpark aufgetreten. Zu Klängen von Wagners Musik ließ er sich bei Einbruch der Dunkelheit auf einem mechanischen Schwan über den Kutzerweiher ziehen. Das war die Lieblingsmusik des Kinis gewesen, der den Komponisten in erheblichem Maße gefördert hatte. Und für dieses Jahr, in dem der Park sein Jubiläum feierte, war er erneut gleich für mehrere Auftritte gebucht worden. Kollege Franzl, der selbst im Kostüm als Freiherr von Drais Führungen durch den Park anbot, wollte erneut die Elektronik vom Ufer aus bedienen und ihn sicher über den glatten Weiher und nach Ende der Vorführung an den Gondolettas mit ihren gelben Dächern vorbei ans sichere Ufer zurückleiten. Sie hatten das eine Weile lang geübt, damit der Schwan wirklich souverän über den Kutzerweiher glitt und Florian nicht zu hektischen Bewegungen gezwungen war. Das sähe nicht nur unelegant aus, sondern würde außerdem den Reiz der Aufführung sehr mindern. Außerdem galt es unbedingt zu verhindern, dass er womöglich ins Wasser fiel. Nicht nur, dass sein Mantel nicht nass werden sollte, es hätte auch ziemlich blöd ausgesehen. Der Franzl war ein wenig verschossen in den Florian, aber dieser gab vor, es nicht zu bemerken, denn er stand nun mal nicht auf Männer. Dass er in seinem Kostüm eine imposante Erscheinung abgab, war ihm indes klar. So ziemlich alle fanden ihn ganz toll, das bemerkte er natürlich, wenn er an Land ging und ihn die Gäste begeistert umringten und nach Autogrammkarten verlangten. Sogar im Internet wurden die gehandelt. Er strich sorgfältig den blauen Samt glatt und schlang den Umhang über einen breiten, mit Schaumstoff gepolsterten Bügel. Danach kletterte er auf einen Stuhl, um den Haken an der Decke zu erreichen. Die praktisch veranlagte Tamara, die mit ihrer Freundin Wiebke im Heidelberger Stadtteil Handschuhsheim im Haus schräg gegenüber wohnte, hatte ihm diesen Tipp für die Aufbewahrung seines Kostüms gegeben. Legte er den Umhang nämlich zusammen, bekam der Stoff einen deutlich sichtbaren Knick. Samt war ganz schlecht zu bügeln. Die Schneiderin hatte ihm eingeschärft, das Bügeleisen nicht in die Nähe seines kostbaren Kostüms zu lassen, wenn er möglichst lange Freude daran haben wollte. Tamara war mit ihrer Bohrmaschine herübergekommen und hatte das Loch für den Haken in der Decke gebohrt.

»Hängst du dein Kokolores wieder auf? Hast du heute etwa frei?« Elena war, wie es ihre Art war, ohne anzuklopfen in sein Zimmer gestürmt. Die beiden teilten sich die Wohnung als Wohngemeinschaft. Als sie vor einigen Jahren hier einzogen, galten sie als Paar. Zumindest aus seiner Sicht. Momentan war ihr komplizierter Beziehungsstatus den explosiven Mietpreisen in Heidelberg geschuldet. Elena verweigerte ihm schon längst ihr Bett und teilte lediglich Küche und Bad mit ihm. Für sie war es eine kurze sexuelle Beziehung gewesen, die sie beide kaum verband, auch wenn sie zuweilen durchaus als heftig zu bezeichnen war. Längst stillte sie jedoch ihre diesbezüglichen Bedürfnisse anderweitig, wenn ihr danach war. Ihr Mitbewohner war für sie wie ein Spielzeug gewesen, dessen sie längst überdrüssig war. Für Florian allerdings hatte sie weitaus mehr bedeutet. Die Vereinigung mit ihr schenkte ihm eine mit keiner anderen Frau erlebte Befriedigung, die ihn Merkmale in ihrem Wesen wie beispielsweise mangelnde Empathie komplett ausblenden ließ. Für ihn war sie seine Femme Fatale, in die er alles hineininterpretierte, was er mit seiner ganz persönlichen Traumfrau verband. Ihm fehlte komplett die Antenne dafür wahrzunehmen, dass dabei eigenes Wunschdenken und Realität desaströs gegensätzlich liefen. Als ob auf seiner Nase eine rosa Brille festgeklebt wäre, verharrte er in der Weigerung, sich einzugestehen, dass Elena sich ihm gegenüber launisch verhielt, und idealisierte sie. Was ihr einerseits schmeichelte, aber andererseits keinen Zoll dazu beitrug, sich ihm gegenüber gnädig zu zeigen. Er langweilte sie längst.

Wenn einer von ihnen einen neuen Mietvertrag für die bislang gemeinsame Wohnung abschloss, wäre die Miete astronomisch hoch. Dabei wäre Elena ihn wirklich gerne losgeworden. Die traumhaft niedrige Miete, die sie dank ihres alten Mietvertrages berappten, hätte sie auch locker alleine schultern können. Der Haken bestand jedoch in der gemeinsam geleisteten Unterschrift auf dem Mietvertrag. Der Hauseigentümer war damals irrtümlich von einem Studierendenpärchen ausgegangen, das er mit der billigen Miete auf seine Art wohlwollend unterstützte, so wie es einige nette Leute in der Stadt am Neckar ebenfalls vorbildlich machten. Denn längst nicht alle Vermieter waren sogenannte Haie, welche die Wohnungsknappheit zu ihrem Vorteil ausnutzten. Allerdings waren sie rar und mussten erst mal gefunden werden. Zeitlich unbegrenzt vermietet und ohne im Voraus vereinbarte Mieterhöhungen, war die momentane Wohnung ein wahres Schnäppchen. Aber eben zu ihrem großen Leidwesen nur für sie beide zusammen als Mieter. Elenas Versuche, ihren ehemaligen Lover Florian aus der Wohnung zu ekeln, liefen komplett ins Leere. Schließlich fand er bei Wiebke im Haus schräg gegenüber jederzeit eine platonisch dargebotene Schulter, um sich wieder zu beruhigen, wenn seine Mitbewohnerin gar zu garstig mit ihm umging oder stundenlang Sauerkraut kochte, was die gesamte Wohnung geruchsmäßig nicht bereicherte. Wie er gehört hatte, setzten die beiden Buchhändlerinnen in diesem Jahr ihr Engagement im Mannheimer Luisenpark fort. Sie hatten angedeutet, es gäbe eine Neuauflage des Bücherhimmels mit Edelgard Buchmann. Er freute sich schon darauf, die sympathische Frau wiederzutreffen. Damit gab es im Haus gegenüber demnächst wieder drei Frauen, die ihm im Bedarfsfall mentale Unterstützung boten.

»Steht die Leiter schon wieder in deinem Zimmer?« Florian stieg vom Stuhl herunter. »Sie gehört uns beiden! Ständig verschleppst du alles und tust einfach so, als wärest du die alleinige Inhaberin. Das geht so nicht!«

Die 160 Zentimeter große Elena stemmte beide Fäuste auf ihre Hüften und streckte sich. »Na und? Hol dir doch eine eigene! Du verdienst doch wirklich genug, oder?« Sie schob ihren hüftlangen braunen Zopf, der nach vorne gerutscht war, über die Schulter nach hinten. »Bist du eigentlich demnächst mal weg«, verächtlich musterte sie den blauen Umhang, »oder gehst du den hier wieder lüften? Ich könnte dein Zimmer für einen Gast gebrauchen.«

»Mein Zimmer? Never. In deinem steht doch eine Couch. Wie steht es damit?«

»Bist du nun hier oder nicht?«, fauchte sie zurück.

»Das wirst du sehen. Ich gedenke nicht, dir meine Termine mitzuteilen.«

Elena stampfte mit dem Fuß auf. Bevor sie eine ihrer üblichen Tiraden gegen ihn loswerden konnte, packte Florian sie, schob sie sanft zur Türe raus und verschloss diese hinter ihr. Er spürte die Wärme ihrer Haut unter seinen Händen und hätte sie liebend gerne an weiteren Stellen berührt, um sie dann endlich wieder zu seinem Bett zu führen. Sie teilte jedoch seine Empfindungen nicht und trommelte wütend mit ihren Fäusten gegen das Holz. Florian wusste aus Erfahrung, wenn er auf ihren Ärger nicht reagierte und ihr keinen neuen Zündstoff bot, trollte sie sich nach ein paar Minuten in ihr eigenes Zimmer. Ihre Zündschnur war ziemlich kurz. Rasend schnell auf 100, beruhigte sie sich allerdings ebenso schnell wieder. Sie wusste außerdem ganz genau, dass es gegen ihre Absprachen war, jemanden während seiner Abwesenheit in seinem Zimmer übernachten zu lassen. Wobei Absprachen mit ihr nicht allzu viel wert waren. Man sollte sich nicht darauf verlassen, dass Elena diese einhielt. Er sehnte sich so sehr zurück nach den Tagen, als er in die beinahe gleichaltrige Frau frisch verliebt war. Da hatte sie sich von ihrer charmantesten Seite gezeigt und war absolut unwiderstehlich. Irgendwie war sie ihm ganz anders vorgekommen, wie eine gänzlich andere Person. Er hätte was darum gegeben, die Elena, die so heftig mit ihm geflirtet und in die er sich verguckt hatte, zurückzubekommen. Aus seiner Sicht war das eine verdammt gute Zeit gewesen. Hoffentlich befand sie sich nur in einer Phase, die vorüberging. Das redete er sich schon seit geraumer Zeit ein. Florian war weder besitzergreifend noch nachtragend. Er hätte ihr jederzeit die Nächte verziehen, die sie mit anderen teilte. Außerdem war er geduldig und konnte warten. Er war Anfang 30, da hatte er noch viel Zeit vor sich. Wenn Elena sich ausgetobt hatte, fand sie zu ihm zurück. Denn seiner Ansicht nach lohnte sich das Warten unbedingt. Auch wenn er sich selbst die Wartezeit neulich mit einem nächtlichen Spektakel im Luisenpark versüßt hatte. Was für eine Nacht! Der Vollmond war der Grund für seine nächtliche Runde gewesen, die regelrecht in einem Parkfieber ihren Höhepunkt fand. Die Nacht war klar und auf eine für ihn nur schwer zu beschreibende Art mystisch gewesen. Im Heilpflanzengarten war er auf diese Frau getroffen, die dort verbotenerweise Kräuter erntete. Alles, was danach geschah, gründete auf ihrer Initiative. Seiner Meinung nach lag der Höhepunkt der Begegnung allein an ihr, auch wenn er genau betrachtet nichts dagegen einzuwenden gehabt hatte. War er nicht genauso frei wie Elena? Außerdem wusste die gar nichts davon.

Die Frau war danach einfach verschwunden, ohne ihm ihren Namen oder ihre Telefonnummer zu geben. Er hatte keine Ahnung, wie er sie wiedersehen sollte, aber diese ungewöhnliche Begegnung spukte weiterhin durch seinen Kopf. Es war ja nicht so, dass er sich eine Beziehung mit der Fremden, für ihn namenlosen, gewünscht hätte. Aber gegen eine erneute Begegnung dieser ganz besonderen Art gab es von seiner Seite aus ganz sicher keine Einwände. Diese Frau hatte ihm eine ganz neue Art des gemeinschaftlichen Höhenfluges verschafft. Es war anders als mit Elena gewesen. Konnte man die Begegnungen überhaupt miteinander vergleichen? Er schämte sich insgeheim Elena gegenüber beinahe ein wenig dafür, dass die Vereinigung am Kutzerweiher mit der Fremden derart lustvoll verlaufen war. Aber er durfte doch träumen! Außerdem nahm er Elena damit rein gar nichts weg. Schließlich war ja noch alles dran an ihm. Vielleicht war diese absolute Knaller-Frau beim nächsten Vollmond erneut im Heilpflanzengarten anzutreffen? Er selbst jedenfalls nahm sich vor, zur Stelle zu sein, und hoffte dabei auf eine trockene, laue Nacht. Alleine von der Vorstellung wurde ihm ziemlich warm zumute.