Mannheimer Todesmess - Claudia Schmid - E-Book

Mannheimer Todesmess E-Book

Claudia Schmid

4,8

Beschreibung

Auf der beliebten Mannheimer Mess wird während des Feuerwerks ein Toter an die Rückwand einer Weinhütte genagelt. Das Opfer war Winzer an der badischen Weinstraße. Liegt hier das Motiv? Kriminalhauptkommissarin Melanie Härter, die als Winzertochter einen guten Tropfen zu schätzen weiß, ermittelt mit ihrem Kollegen Jörg Kenner in Mannheim und Umgebung. Als Melanies Sohn Felix verschwindet, eskaliert die Lage …

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Claudia Schmid

Mannheimer Todesmess

Roman

Impressum

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

Sämtliche Figuren entspringen der lebhaften Fantasie der Autorin und haben keine Übereinstimmung mit der Realität. Zufällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären von der Autorin nicht beabsichtigt und sind kriminaltechnisch nicht nachzuweisen.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © studioliebhart – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4228-5

Prolog

Neugierig kamen sie näher. Ich spürte ihre weichen Schnauzen an meinen Füßen, feucht und warm. Erschrocken zog ich meine Beine hoch. Die gemauerte Kante zwischen den beiden Buchten, auf der ich saß, war schmal und drückte unerbittlich in meinen Po. Meine Hände krallten sich fest, ich wusste nicht, wie lange es mir noch gelingen würde, mich zu halten.

»Schweine fressen alles, auch Menschen«, hatte er mir böse ins Ohr geraunt, als er mich absetzte, mir einen nassen Kuss in den Nacken drückte, den Koben verließ und die Tür von außen verschloss. Die Umrandung aus Beton war hoch und schmal, ich hatte vergessen, wie lange ich mich schon festklammerte. Können einem Minuten wie Stunden vorkommen? Es war nicht sonderlich hell, die Luft tropfte von dem alles durchdringenden Gestank der Schweinepisse. Ich traute mich nicht laut zu rufen, womöglich käme er zurück und schubste mich hinunter und sah ihnen bei ihrem Mahl zu. Meine Schlappen waren bereits hinuntergefallen, eine Sau hatte sie genüsslich zerkaut. Neugierig sah sie zu mir hoch und grunzte.

Es war abends, als meine Mutter mich endlich vollgepinkelt fand und mich befreite. Die Sorge um mich war ihr tief ins Gesicht geschnitten. Sie musste meine Finger einzeln von der Umrandung lösen, währenddessen der Bauer die Schweine mit seiner Mistgabel in Schach hielt. Mir war kalt und ich wollte bei meiner Mutter im Bett liegen und keine Fragen beantworten und nichts denken und nie wieder von ihr wegmüssen und alles vergessen.

Vorsichtig versuchten sie aus mir herauszukriegen, wer mich da eingesperrt hatte, aber seine Drohung, wenn ich ihn verriete, würde er meine Mutter töten, wirkte so nachhaltig, dass ich eisern schwieg. Nie verriet ich ihn.

1

Wütend kickte Melanie mit ihrem schwarzen Stiefel eine Bierflasche weg, die daraufhin polternd über den Bahnhofsvorplatz rollte. Eine alte Frau mit Kopftuch sah sie vorwurfsvoll an. Melanie war zeitlich knapp dran und etwas außer Atem, weil sie die wenigen Meter von ihrer Dienststelle hierher gelaufen war.

Melanie hätte gern auf die Ehre verzichtet, den neuen Staatsanwalt Thorsten Demsch vom ICE aus Berlin abzuholen. Ihr Vorgesetzter hatte diese Aufgabe generös an sie weitergegeben und sich selbst mit einem dringenden Arzttermin aus der Affäre gezogen. Melanie, die immer noch mit der Weglobung ihrer bisher zuständigen Staatsanwältin Marthe Gesell nach Stuttgart haderte, war gar nicht neugierig auf diesen Typen. Der kam aus Berlin und ließ sich ausgerechnet nach Mannheim versetzen. Als ob es in Berlin nicht auch genug Arbeit für den gäbe! Bestimmt war das so ein geschniegelter Großstadtlackaffe, der Mannheim für Provinz hielt, wo es als höchsten kulinarischen Genuss Saumagen gab, den man womöglich noch mit Bier hinunterspülte.

Wenn es nach Melanie ginge, würde Thorsten Demsch weiterhin in Berlin arbeiten und Marthe in Mannheim bleiben. Mit der bildete Melanie und ihre gesamte Abteilung ein gutes Team, jahrelang waren sie aufeinander eingespielt gewesen. Melanie wusste beinahe, wie Marthe dachte! Thorsten Demsch eilte der Ruf voraus, ein Pedant zu sein. Das konnte ja so richtig heiter werden. Melanie seufzte wehmütig in Erinnerung an Marthe, die schon Mal ein Auge bei ihrem manchmal allzu voreiligen Handeln zudrückte, weil die doch nur zu genau wusste, dass die 39-jährige Polizistin aus Überzeugung war, präziser: Kriminalhauptkommissarin. Wenn der Neue es mit den Vorschriften hypergenau nahm, dann wäre mit ihren bisherigen Freiheiten erst mal Essig.

Melanie fiel der Spruch der Zuzügler ein: »Man weint immer zwei Mal: Erst wenn man nach Mannheim kommt, und dann, wenn man wieder geht.« Marthe hatte sich mit feuchten Augen von ihr verabschiedet, denn auch sie hatte sich wie so viele vor ihr ebenfalls erst auf den zweiten Blick in die ehemalige Arbeiterstadt verliebt, die nach verheerenden Kriegsschäden in den Fünfzigern und bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein mit viel Beton wieder hochgezogen worden war.

Melanie durchquerte die lichte Bahnhofshalle unter der großen gläsernen Kuppel und fuhr mit der Rolltreppe ins Untergeschoss. Eine Horde schwappte ihr entgegen, deren Lärmen das Klackern ihrer Nietenstiefel übertönte. Sie musste sich regelrecht an den Jugendlichen vorbeidrängeln und hielt ihre Lederjacke vorn mit einer Hand zusammen. Verärgert warf sie ihre dunkelbraunen Haare nach hinten. Als sie auf dem Gleis ankam, war der Zug bereits weg und auch alle Ankömmlinge aus Berlin, bis auf einen. Der blickte sie nun erwartungsvoll an. Melanie stutzte. Das konnte er aber nicht sein, einen Großstadtlackaffen stellte sie sich wirklich anders vor. Der Mann wirkte kaum älter als sie und steckte nicht wie von ihr erwartet in einem anthrazitfarbenen Nadelstreifenanzug mit Krawatte, sondern ganz leger in Jeans und blauem T-Shirt. Dazu sah er auch noch unverschämt gut aus, viel zu gut. Nein, das war er sicher nicht. Bestimmt hatte Thorsten Demsch den Zug verpasst und der blonde Typ, der jetzt vor ihr stand und sie erwartungsvoll anschaute, wartete auf sein Blind Date, das Melanie nur zu gern gewesen wäre. Sie musterte ihn unverschämt und schenkte ihm ein Lächeln.

Seine blauen Augen versenkten sich in ihre. Er war etwas größer als sie selbst mit ihren beinahe 180 Zentimetern. Nun streckte er ihr auch noch die Hand hin. Was sollte das? Er öffnete den Mund, »Thorsten Demsch – holen Sie mich ab?«

Melanie entgleisten die Gesichtszüge und sie starrte ihn sprachlos an.

»Entschuldigen Sie bitte, ich dachte, Sie sind da, um mich abzuholen. Ich trete eine neue Stelle in Mannheim an und es sollte jemand kommen. Da außer Ihnen niemand mehr da ist, dachte ich, …« Das Lächeln blieb trotzdem in seinen Mundwinkeln hängen, grub kleine Fältchen um die Augen. Ultramarineblau.

Melanie fasste sich wieder, war voll peinlich, derart die Fassung zu verlieren, nur weil dieser Mensch so verdammt gut aussah! Was sollte der bloß von ihr denken? Ärgerlich auf sich selbst bemühte sie sich, ihre Stimme normal klingen zu lassen »Melanie Härter, KHK. Der Dezernatsleiter ist verhindert, und ich soll Sie abholen.«

Vorm Bahnhof wies Thorsten Demsch, der einen Trolley hinter sich herzog, mit dem Kinn auf die Schlange mit den Taxis. »Nehmen wir eines?«

Melanie schüttelte energisch den Kopf. »Es ist nicht weit, nur ein paar Meter. Ich bringe Sie zum Leitenden Oberstaatsanwalt, der wird sich um Sie kümmern.« Sie lief rot an. Um Sie kümmern – das klang ja, als ob er eine Nanny brauchte. Sie vergrub beide Hände in den Taschen ihrer Jeans und eilte voraus in Richtung Mannheimer Schloss, das ihrer Dienststelle genau gegenüberlag. Sie hatte keinen blassen Dunst davon, dass es bald schon einen hässlichen Fall gäbe, bei dem sie zusammenarbeiten würden.

2

Die Sonne leckte immer noch warm an den Rebstöcken an diesem prächtigen Oktobertag an der badischen Bergstraße. Wolfgang Härter schritt in dem Weinberg, der seit etlichen Generationen seiner Familie gehörte, zwischen den Rebzeilen längs und maß sie prüfenden Auges. Er war so weit zufrieden. Nur vereinzelt fand er ein paar harmlose Käfer.

Die Lese hatten sie in dieser Saison gegen Ende September abgeschlossen, das war relativ früh. Sie produzierten hauptsächlich Riesling. Die Rehheimer Erde verlieh ihm ein zartes Aprikosenaroma, das machte ihn sehr beliebt bei den Kunden. Er war ein ›Allrounder‹, der mit vielen Gerichten harmonierte. Der ›Rehheimer Schafsberg‹ war ihre Hausmarke. Wolfgang Härters Tochter Lisa ließ freche Etiketten entwerfen, die den Flaschen ein modernes Image verpassten. Und es passte zu dem frischen Geschmack ihres Weines, der so elegant im Glas schimmerte. In kleinerer Menge produzierten sie noch Gewürztraminer, wegen seines Zitronenaromas war auch der sehr beliebt. Und er passte perfekt zum Dessert.

Seit Lisa, die das Weingut nun in fünfter Generation führte, auf biologischen Anbau umgestiegen war, ließ ihn die Skepsis bezüglich seiner Entscheidung dennoch nie ganz los. Manchmal überlegte er schon noch, ob sein Rückzug aus der Geschäftsleitung nicht ein wenig zu früh erfolgt war. Andererseits gab der Erfolg Lisa Recht. Ihre ›Frauenweine‹ kamen bei den Kunden an. Mit den Attributen ›sinnlich, fruchtig‹ und vor allem mit ihrer spritzigen Kreation ›Lisas Bergstraßen-Secco‹ eroberte sie sich ein Marktsegment, das nicht nur die weibliche Kundschaft zunehmend ansprach. Tüchtig war sie ja die Lisa, das musste der Vater ihr lassen. Und sehr kreativ! Die Weinproben führte sie auch direkt im Weinberg durch, im Sommer in Verbindung mit einem leichten Picknick. Er zupfte eine der Trauben ab, die noch am Rebstock hing. In diesem Jahr wollte sich Lisa an Eiswein wagen. Das war schon auch ein bisschen riskant, da man nicht so genau wissen konnte, wann der erste richtige Frost kam. Die Trauben mussten in gefrorenem Zustand geerntet werden, oft blieben sie bis Januar am Stock hängen. Die Weinausbeute war geringer als bei Weißwein, da für Eiswein die gefrorenen Trauben gepresst wurden, deshalb musste nach der Ernte die weitere Verarbeitung auch rasch geschehen. Aus den gefrorenen Früchten konnte nicht die gesamte Flüssigkeit gequetscht werden, es blieb immer ein Rest darin. Das Risiko für den Winzer bestand in zu milden Temperaturen. Und wer konnte schon zuverlässig das Wetter vorhersagen? Aber in den letzten Wintern hatten sie sogar hier in der Gegend im Gegensatz zu früheren Jahren ordentlichen Frost gehabt und so pokerte Lisa mit dem Wetter. Sie hatte sich Lisas Eiswein in den Kopf gesetzt und da war nichts zu machen. Wenn sie sich etwas vornahm, ließ sie es sich von niemandem mehr ausreden, selbst nicht von ihrem Vater, dem erfahrenen Winzer. Er erinnerte sich an ihren letzten Dialog in puncto Eiswein: »Lisa, es ist viel zu warm für Eiswein. Wenn es nicht genügend Frost gibt, kannst du die wertvollen Beeren wegwerfen, dann war alles für die Katz!«

»Papa, das Wetter ändert sich in den letzten Jahren. Du kannst nicht mehr nur von früher ausgehen.«

»Der Klimawandel, ja ja. Soll es der nicht wärmer machen?«, versuchte Wolfgang sie dann stets in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken.

»Nein, Papa, nur die Sommer sollen heißer werden. Aber die Winter immer kälter, auch bei uns hier. Ist doch optimales Eisweinwetter, nicht wahr? Die Trauben entwickeln durch die höhere Sonneneinwirkung mehr Süße und im Winter gibt es dann den Frost dazu. Perfektes Eisweinwetter!«, erwiderte sie keck und strahlte ihn an.

So viel weiblicher Logik hatte Wolfgang Härter in der Regel nichts mehr entgegenzusetzen, Lisas Argumente stimmten ja, das musste er heimlich zugeben, auch wenn er ihr das nicht offen sagte. Und Eiswein brachte natürlich einen ganz anderen Erlös als Weißwein und vor allem erhöhte es die Aufmerksamkeit für den Winzer. Auf Werbung verstand Lisa sich nämlich auch noch ganz ausgezeichnet. Und sie wollte unbedingt einen Preis für ihren Wein gewinnen, das hatte sie sich zum Ziel gesetzt. Stur wie sie war, würde sie das wohl auch schaffen. Denn Lisas Sturheit war gepaart mit Ausdauer und Disziplin. Da war nichts geschenkt oder gestohlen, die Härters waren immer emsige Arbeiter gewesen. Schon seit Generationen.

Trotz Lisas Erfolgen hätte er es nur zu gern gesehen, wenn auch die ältere Tochter ins Weingeschäft miteingestiegen wäre. Aber Melanie wollte unbedingt zur Kripo gehen. An Sturheit waren sich die beiden Schwestern ziemlich ähnlich, wenngleich sie sich ansonsten unterschieden, vor allem im Äußeren. Melanie war größer und schlanker als Lisa, die auch noch dunkelblond war im Gegensatz zur braunhaarigen älteren Schwester. Wenigstens war Melanie nicht weit weg im nahen Mannheim. Aber lieber wäre es ihm und seiner Frau Susanne schon, wenn ihr Mädchen diesen Beruf an den Nagel hängte. Vor wenigen Jahren wurde gar nicht weit entfernt in Heilbronn eine Polizistin heimtückisch ermordet, seitdem lagen sie Melanie verstärkt in den Ohren, etwas weniger Gefährliches zu machen. Die Mordrate unter Winzern war ziemlich gering. Er gab aber die Hoffnung nicht auf und sprach bei jeder sich bietenden Gelegenheit Melanie darauf an, doch nach Hause zu kommen und bei ihrer Schwester als Mitgesellschafterin im Unternehmen einzusteigen. Die Tür stand sperrangelweit offen. Er seufzte. Eigentlich durfte er sich überhaupt nicht beklagen, vor allem wenn er an den Nachbarn da drüben dachte. Dieser fand keinen Nachfolger innerhalb der Familie für sein traditionsreiches Weingut und hatte sich schweren Herzens zum Verkauf entschlossen.

Härter ließ seinen Blick über die Reben wandern, bis hin zum nächsten Hang. Genau da oben drauf hing etwas, was ihn jedes Mal, wenn er hinüberschaute, zutiefst ärgerte. Der Nachbar hatte nämlich seinen Wingert ausgerechnet an einen gewissen Jonathan W. Streicher verkauft und dieser windige Schauspieler, der mit einer seichten Fernsehserie zu schnellem Geld gekommen war, hatte sich einen Betonkubus mit Panoramaverglasung auf den Hang kleben lassen.

Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, was der auf der Mattscheibe bot, machte er nun auch noch einen auf Freizeitwinzer. Die meiste Zeit war der sowieso nicht in Rehheim, wie sollte das dann was werden mit dem Wein? Häufig flog er zu Dreharbeiten nach Berlin, wenigstens lief er einem dann an der Bergstraße nicht über den Weg. Es war ja weiß Gott nicht so, dass Wolfgang Härter generell keine Fremden mochte, aber ausgerechnet dieser eine Neigeplackte passte einfach so überhaupt nicht zu ihnen. Nicht zu den Nachbarn, und auch nicht in ihren Ort, weil er sich nicht einfügte. Er bemühte sich auch nicht, sich in das soziale Gefüge an der Bergstraße einzugliedern. Wer wusste schon, was dem alles zuzutrauen war! Wer nichts zu verbergen hatte, der nahm auch am Gemeinschaftsleben teil. Aber dieser Streicher ließ sich nicht bei ihren Festen sehen und war in keinem einzigen ansässigen Verein, so wie er selbst. Wolfgang sang im örtlichen Männergesangsverein. Sein Vater war auch schon Mitglied gewesen und er selbst fand, das musste so sein, wenn man dazugehören wollte. Und in die Kirche ging Streicher auch nie, noch nicht einmal zu den hohen Festtagen.

Wolfgang Härter kniff die Augen zusammen. Die Sonne brach sich in der riesengroßen Fensterscheibe des futuristischen Hauses und tauchte sie in gleißendes Licht. »Dass man den so neumodern hat bauen lassen«, brummte Wolfgang kopfschüttelnd. »Dem Manni sag ich des schon noch amol, dass es eine Frechheit war, uns diesen Neigeplackten da vor die Tür zu setzen, grade direkt vor die Haustür, und dann auch noch mit diesem Monstrum von hässlichem Haus, das die ganze Gegend verhunzt. Der hätte doch auch einen anderen Käufer suchen können, einen, der zu uns passt. Das ist grad so, als ob der Manni uns allen eines hat auswischen wollen.« Er nahm einen der Käfer und zerquetschte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Es gab ein hässliches Geräusch, als der Chitin-Panzer platzte. Wolfgang wischte den gelben Saft, der aus den Eingeweiden des Käfers gequollen war und der nun an seinen Fingern klebte, an einem Weinblatt ab. Dann setzte er seinen Weg zwischen den Rebstöcken fort und versuchte, den Gedanken an den ungeliebten Nachbarn aus dem Kopf zu bekommen. Es wäre ihm am liebsten gewesen, der Kerl würde einfach wieder verschwinden.

Jonathan W. Streicher saß auf seinem schwarzen italienischen Ledersofa. Seine nackten Füße ruhten in weichen, extra für ihn angefertigten Leder-Mokassins. Ihm entfuhr ein zutiefst angewidertes Pah, wobei die Tageszeitung von seinem Schoß auf den Boden rutschte. Der Eysoldt-Ring, der bedeutendste Theaterpreis im deutschsprachigen Raum, war schon wieder an einen anderen Schauspieler als ihn, den großartigen Jonathan W. Streicher, gegangen! Sicher, er verdiente ein Vermögen mit einer Sitcom auf einem großen Privatsender. Aber wie er diese Rolle ausfüllte! Jonathan schüttelte sich angeekelt. Der hohle Neid auf seine Gage verblendete alle und ließ sie nicht genau hinsehen, was er da leistete! Wie feinnervig und nuanciert er den gestressten Silberrücken einer Schwulen-WG spielte, das war nicht zu überbieten! Seine Einschaltquoten waren immens. Und deshalb ärgerte es ihn umso mehr, dass die begehrte Auszeichnung wieder Mal an einen Theaterschauspieler ging, der in staatlich subventionierten Häusern auftrat. Während seiner eigenen Durststrecke in den beruflichen Anfangsjahren hatte er oft genug vor halbbesetzten Provinzhäusern spielen müssen, die alles durchdringende Verachtung dafür wurde zu einem Teil seiner Persönlichkeit. Er hatte sich damals geschworen, es ganz nach oben zu schaffen. Der Weg dorthin führte ihn über die eine oder andere Couch, was ihn nicht störte. Er sah eben neben seinem Können auch noch verdammt gut aus. Deshalb bekam er auch die lukrativen Werbeaufträge. Der Spot für die Fleischwurst war für sein Dafürhalten unheimlich intelligent gemacht, nur deshalb ließ er sich dazu überreden. Die Werbung gegen Blaseninkontinenz reflektierte er heute selbst kritischer als damals, als er den verlockenden Vertrag unterzeichnete. Aber allein mit der Gage aus diesem Werbevertrag ließ er sich dieses Haus an der badischen Bergstraße bauen. Ein großer Kubus aus Sichtbeton und Stahl, die Vorderfront vollständig verglast. Von seinem Platz auf der Sitzgruppe aus hatte er einen unvergleichlichen Blick in die Rheinebene. Manches Mal, bei Nebel, lag das Tal im Diffusen, Unwirklichen. Er liebte diesen Anblick. Und verschwommen im Nebel ruhten weit hinten die majestätischen Türme des Mannheimer Großkraftwerks mit ihren roten Signalleuchten. Das sah an düsteren Tagen beinahe wie ein Motiv von Böcklin aus. Die Lichter dienten als Warnung für Flugzeuge. Man hatte ihm erzählt, dass ein Hubschrauber-Pilot vor etlichen Jahren die Spitze des Mannheimer Fernsehturms abrasierte. In die Türme des Großkraftwerks dagegen war noch keiner geflogen.

Jonathan nahm einen Schluck von dem Spätburgunder, den er sich vorhin eingegossen hatte. Schwer ruhte der samtrote, kräftige Wein im Glas. Jonathan behielt den Wein im Mund und erhob sich schwerfällig, erst dann schluckte er. Das große Wohnzimmer war mit Carrara-Marmor ausgelegt. Zwei Mal war der Boden wieder herausgerissen worden, weil ihm die Veränderung der Farbschattierung im sich verändernden Lichteinfall im Tagesablauf doch nicht zusagte. So etwas ließ sich letztendlich erst feststellen, wenn man einen Raum bewohnte, in ihm lebte. Beim Innenarchitekten sahen die Muster ansprechend aus. Aber hier in seinem Haus, das er sich so lange gewünscht hatte, bei den unterschiedlichen Lichtverhältnissen, kamen die Farben ganz anders zur Geltung. Er wollte nur das Beste. Die Kompromisse von früher waren längst Vergangenheit.

Er strich seine gefärbten Haare zurück und legte die Lesebrille auf dem Tisch ab. Sein Panoramablick war zwar teuer gewesen, dafür aber unverbaubar. Denn er hatte gleich den gesamten Hang dazu gekauft. Den Wingert von diesem alten Winzer Manfred Grönert, dessen einziges Kind eine Tochter war, die nach einer kurzen Weinköniginnenkarriere in die Ferne zog und ihren Eltern frühzeitig ihre Unlust zur Übernahme des elterlichen Betriebes spüren ließ. Jonathan hatte selbstverständlich jemanden eingestellt, der die anstrengende Winzerarbeit für ihn übernahm. Er fand den Zeitpunkt perfekt dazu geeignet, seine schlechte Laune an seinem Verwalter abzureagieren und griff nach dem Telefon.

3

»Und, wie ist er so, unser neuer Herr Staatsanwalt?« Jörg fuhr mit seinem Sessel ein Stück vom Schreibtisch zurück, als Melanie in sein Büro kam. Der Sessel wirkte wegen Jörgs Größe beinahe fragil. Jörg hatte immer noch eine einigermaßen gute Figur. Seine Fressanfälle, denen er in unregelmäßigen Abständen nachgab, glich er nämlich mit Touren auf seinem Mountainbike aus. Sein halblanges schwarzes Haar fiel ihm über die Augen. Er schüttelte es mit einer Kopfbewegung zurück. Seine braunen Augen musterten sie konzentriert.

Melanie zog die Tür hinter sich zu. »Na ja …«, sie suchte nach den richtigen Worten, um die Frage zu beantworten. Sie hatte nicht vor, ihrem überaus neugierigen Kollegen auf die Nase zu binden, dass ihr der Typ gefiel, richtig gut sogar. Und irgendwie musterte Jörg sie unverschämterweise gerade, als ob er eine Zeugin in einem wichtigen Fall befragen würde. Seine Augen durchbohrten sie geradezu, während sein Körper leicht angespannt wirkte.

Jörg Kenner, ihr Teampartner, mit dem sie schon einige Fälle erfolgreich gelöste hatte, nahm die Hand von der Computermaus. »Ja was denn nun! Lass es dir doch nicht dermaßen aus der Nase ziehen! Mach es doch nicht so spannend. Ist er denn ein eingebildeter Großstadtlackaffe?«

Melanie bekam rote Flecken auf dem Hals. »Eigentlich gar nicht.«

Jörg schien sie mit Blicken an die Tür zu nageln und setzte zu einem breiten Grinsen an. Die roten Flecken, die von Melanies Hals in Richtung zu ihrem Gesicht unterwegs waren, sah er natürlich auf Anhieb. Und er wusste ganz genau, wann seine Kollegin diese bekam. »So so, er gefällt dir also, der Neue?« Damit traf er voll ins Schwarze.

Melanie verdrehte genervt die Augen. Bei ihrer gemeinsamen Arbeit war es klasse, dass ihr Kollege und sie sich gut kannten und jede Reaktion des anderen zu deuten wussten. Aber so wie jetzt im Moment ging es ihr mächtig auf den Senkel. »Und wenn?«, funkelte sie ihn kampfeslustig an und machte einen Schritt auf ihn zu. Der Ausschnitt ihres T-Shirts verrutschte und gab den Blick frei auf das Tattoo auf ihrer Schulter.

»O nein, nicht schon wieder! Du fängst aber nichts mit dem an, oder?«

»Sag mal, hast du sie noch alle? Der Typ ist gerade eben erst angekommen.«

»Du hast diesen ganz besonderen Blick, Melanie. Diesen Blick kenne ich.«

»Was geht dich das an, verdammt!« Sie drehte sich wütend um und knallte mit einer raschen Bewegung seine Tür zu.

Auf dem Flur wäre sie ums Haar mit ihrem Chef zusammen gerumpelt. Dem hatte sie noch etwas reinzuwürgen. »Schon zurück vom Arzt?«, fragte sie scheinheilig mit perfekt gespieltem Kleinmädchenaugenaufschlag.

»Was war denn da drin los?« Der leicht zur Rundlichkeit neigende Erich Klöppner überging ihre Frage und zeigte auf Jörgs Tür.

Melanie zuckte mit ihren Schultern. »Mir war bloß die Tür ausgerutscht«, und rauschte ab in ihr eigenes Büro. Ihre Stiefelabsätze knallten auf dem blassgrauen Linoleumboden.

Den Panoramablick auf das Mannheimer Barockschloss nahm sie jetzt nicht wahr, sondern setzte sich mit dem Rücken zum Fenster. Sie legte ihre Hand flach auf den Bauch und versuchte sich zu beruhigen. Jörg nervte manchmal echt! Nur weil sie einmal während einer gemeinsamen Dienstreise in seinem Bett gelandet war, gab ihm das keinerlei Rechte, sich in ihr Liebesleben einzumischen. Da war noch gar nichts zwischen ihr und dem Staatsanwalt, noch rein gar nichts und er bekam schon mal wieder alles mit. Lackaffe! Und eifersüchtig wie ein Gorillamännchen. Außerdem hatte Jörg sowieso eine Freundin.

Melanies Blick blieb auf dem Berg Akten vor ihr auf dem Schreibtisch kleben. Sie presste beide Handflächen auf die Platte und stieß zwei Mal die Luft durch den geöffneten Mund aus. Es ärgerte sie ganz furchtbar, dass Jörg mit seiner Äußerung mal wieder einen prompten Volltreffer erzielt hatte. Denn natürlich gefiel ihr der neue Staatsanwalt, sogar ganz ausgesprochen gut. Er entsprach genau ihrem Beuteschema.

Sie ging in Gedanken ihre To-Do-Liste durch. Einige Berichte waren noch zu schreiben, der dringendste lag oben auf. Und dann war da noch der Ordner mit den ungeklärten Fällen, den sie hin und wieder durchblätterte. Wenn sie bloß mehr Zeit hätte, um diese alten Fälle neu aufzurollen! Einer hing ihr immer noch besonders im Magen: der Mord an dem Mädchen in der Tiefgarage am Stadthaus. Nur kurz war das Mädchen damals allein am Auto gewesen, es sollten ihre letzten Lebensminuten sein. Zurück gelaufen war sie nochmals ans Auto, weil sie ihre Tasche liegengelassen hatte. Und in der Tasche war geschenktes Geld von ihrer Oma, mit dem sie sich etwas kaufen wollte. Melanie war damals vor 17 Jahren ganz neu in der Mannheimer Dienststelle und hatte mit den Kollegen den Tatort untersucht. Es gab Bilder, die bekam sie nie wieder im Leben aus dem Kopf. Eines davon war dieses tote, elfjährige Mädchen. Dies würde sie wohl bis zu ihrem eigenen Ende abrufbar im Gedächtnis aufbewahren. Seltsam verrenkt lag die Kleine da, das geblümte Kleid hochgerutscht, die dünnen Haare zersträhnt überm Gesicht verteilt. Melanie hätte immer noch heulen können, wenn sie an die Hilflosigkeit des Mädchens dachte. Energisch schob sie ein anderes, noch dunkleres Bild zur Seite, das sich den Weg zu bahnen suchte aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins hinein in die Welt ihrer Gedanken. Sie zog eine der Laden ihres Schreibtisches auf und knallte sie mit Gewalt wieder zu.

Auf dem Mädchen hatte ihre Tasche gelegen, wegen der sie nochmals allein ans Auto zurückgegangen war. Wie die Ermittlungen und die Befragungen der Eltern ergaben, fehlte nichts in der roten geblümten Tasche. Alles war noch da, sogar der Autoschlüssel lag auf dem Boden. Es lag auch kein Sexualdelikt vor. Ihre Tasche lag auf ihrem Bauch, so als ob der Täter sie da hingelegt hätte. Sie hatten damals das Rätsel nicht lösen können, weshalb Amelie sterben musste. In der Tiefgarage hatte es zum damaligen Zeitpunkt keine Videoüberwachung gegeben. Und was Melanie überhaupt nicht verwinden konnte: Der Täter lief immer noch frei herum. War dies sein einziger Mord geblieben oder waren da noch mehrere? Was war sein Motiv gewesen? Sie hatten Amelies gesamtes Umfeld gründlich abgeklopft und waren auf nichts gestoßen, was sie der Lösung dieses hässlichen Falles auch nur annähernd nähergebracht hätte. Absolut nichts.

Melanie lief in Mannheims Fußgängerzone hin und wieder den Eltern des Mädchens über den Weg. Sie waren um Jahre gealtert und glitten freudlos durch ihr Dasein. Melanie schlug mit der flachen Hand auf den Ordner. Irgendwann würde sie diesen verdammten Fall klären, und wenn es kurz vor ihrer Pensionierung war. Die Methoden der DNA-Analyse wurden laufend verbessert, sie hoffte, dass es ihr möglich wäre, mit neuesten, ständig verfeinerten kriminalistischen Methoden den Fall endlich zu lösen. Sie nahm sich vor, in den nächsten Tagen in der Asservatenkammer nach Gegenständen zu diesem Fall zu forschen. Vielleicht ließ sich an denen noch etwas finden, womit man heute weiterkam als damals. Sie versuchte, die hässliche Erinnerung zu verdrängen und fuhr ihren Computer hoch. Und das andere, um so vieles dunklere Bild war wieder in ihrem Unterbewusstsein versenkt, bevor der Inhalt in ihr Bewusstsein drang.

Gegen 17 Uhr verließ sie ihr Büro, aber ohne wie sonst ein kräftiges »Alla dann, bis morgen!« in Jörgs Zimmer zu plärren. Der sollte ruhig merken, dass sie sein blödes Gerede absolut nicht witzig fand. Wie immer sprang sie die Treppe hinunter, sie hasste es, den engen Aufzug zu nehmen. Das Industriedenkmal blieb manchmal stecken, und allein die Vorstellung davon ließ ihre Hände schweißnass werden.

Melanie reihte sich mit ihrem Fahrrad in die Bismarckstraße ein, bog am Bahnhof nach links ab in Richtung Tattersall und dann am denkmalgeschützten Tattersall-Kiosk nach rechts in die Seckenheimer Straße. Sie hielt bei dem kleinen Käseladen, denn für französischen Käse mit einem guten Weißbrot hätte sie beinahe sterben können. Sie entschied sich für einen Camembert aus Rohmilch, Ziegenkäse mit Kräutern und einen Picandou.

Nach weiteren 500 geradelten Metern war sie angekommen. Sie schob das Fahrrad durch den geräumigen Flur des Mehrparteienhauses in den Innenhof und schloss es ab. Eigentlich wollte sie sich mit ihrer Einkaufstasche und der noch schnell aus dem Briefkasten gefischten Post auf den Weg in ihre Wohnung machen. Aber schon in der untersten Etage des Treppenhauses war Anna Ternheims balladenhafte Stimme mit ›Strangers in the Night‹ zu hören. »O jemine, so schlimm ist es mal wieder«, Melanie schüttelte genervt ihren Kopf und ging gar nicht erst in ihre eigene Wohnung, sondern gleich noch ein Stockwerk weiter. Felix musste noch einen Moment auf sie warten, da oben wurde sie im Moment absolut dringend gebraucht, wer weiß, was Margret im Rausch wieder anstellen würde. Beim letzten Mal hatte sie spontan Lust verspürt, ihre Waschmaschine in Betrieb zu nehmen und den Abwasserschlauch nicht am Waschbecken eingehängt. Die ganze Brühe war bei Melanie aus der Decke getropft. Tagelang hatte sie anschließend eine laute Trocknungsmaschine in ihrer Wohnung stehen gehabt.

Abgetörnt von dem letztlich unergiebigen Arbeitstag schleppte Melanie sich hoch und hämmerte mit der Faust an die Tür mit dem Schild ›Margret Schreckhuber‹. Wie von Melanie richtig vermutet lag hier die Quelle der Beschallung des gesamten Hauses. »Margret, mach auf!«, bellte sie durch die geschlossene Tür. Hinter ihrem Rücken öffnete sich eine Tür. Dort wohnten die ständig wechselnden Mitglieder einer Studenten-WG. Eine rothaarige junge Frau steckte ihren Kopf in den Flur. »Das geht schon seit zwei Stunden so. Immer dasselbe Lied. Wenn sie wenigstens mal was anderes spielen würde!«, sie grinste gequält.

»Ich kümmere mich darum.« Melanie haute erneut mit der Faust an die Tür. »Aufmachen, Polizei!« Verwirrt zog sich die Rothaarige zurück.

Margret öffnete einen Spalt weit. Melanie stemmte sich gegen die Tür und drückte sie ganz auf. Margret stand mit hängenden Schultern und verheulten Augen vor ihr und roch nach Kirschlikör. Sie war in einen Morgenmantel mit überdimensioniertem Blütenmuster gehüllt. Melanie legte den Arm um sie und schob sie in die Küche, drückte sie dort auf einen Stuhl. Nachdem sie im Wohnzimmer die Stereoanlage auf normale Lautstärke gestellt und einen kontrollierenden Blick in Margrets Badezimmer geworfen hatte, kam sie zu ihr zurück. »Ich mach’ uns einen starken Kaffee. Das wird dir guttun. Und dann erzählst du mir, was los ist.« Heimlich schaute Melanie auf die Uhr. Hoffentlich dauerte das hier nicht zu lange!

Margret raffte ihren knopflosen Morgenmantel mit der Hand zusammen. »Es ist halt manchmal so arg schlimm, weißt. Ich soll Überstunden abfeiern. Ja, bitt’ schön, was soll ich denn da feiern, wenn ich allein in meiner Wohnung herumhock’? Die ganze Woche schon!« Tränen schossen ihr aus den Augen, tropften auf ihre Brust und hinterließen Flecken. »Wegfahren tät ich schon ganz gern. Aber kannst du mir vielleicht sagen, mit wem ich irgendwo hinfahren sollte?«

Melanie hantierte an Margrets Kaffeeautomaten. Aus Erfahrung wusste sie, dass es keinen Sinn machte, jetzt irgendwelche Argumente vorzubringen. Am besten ließ sie Margret einfach reden. Und sorgte anschließend dafür, dass sie wieder nüchtern wurde. Aber am liebsten unten in ihrer eigenen Wohnung, ihre Füße wollten raus aus den Stiefeln.

»Heim hab ich fahrn wollen, weißt.« Mit ›heim‹ meinte Margret ihre niederbayerische alte Heimat, da, wo sie aufgewachsen und vor 15 Jahren weggezogen war. »Aber meine Freundin, die Kressie, die ist zu ihrem Freund nach Münchn gfahrn. Ja, und dann hab ich mir gedacht, allein herumhocken, das kann ich auch hier. Es ist so hart, wenn man niemanden hat, zu dem man gehört. Du hast ja wenigstens deinen Sohn.« Ein neuerlicher nasser Strom ergoss sich über ihre vollen Wangen.

Mit resolutem Handgriff schnappte Melanie sich eine Rolle Küchentücher und stellte sie vor Margret auf den Tisch »Jetzt mach dir mal dein Gesicht sauber. Und hier hast du einen starken Kaffee, den trinkst du. Und dann sehen wir weiter, dann kommst du mit zu mir.« Sie überlegte fieberhaft, mit welchem Notfallprogramm sie ihre Nachbarin wieder auf die Beine stellen könnte. »Meine Schwester, die Lisa, die könnte glaube ich jemanden gebrauchen, der ihr zur Hand geht. Hättest du Lust dazu?«

»Wenn du meinst, dann versuch’ ich des halt mal. Urlaub soll ich auch noch machen, sagt der Chef, es ist schon so viel aufgelaufen. Meinst wirklich, die Lisa kann mich brauchen?« Margrets Blick weitete sich, sie dürstete förmlich nach einer bejahenden Antwort und nach jemandem, der sie brauchte.

Melanie beeilte sich, heftig zu nicken, »Die ist um jede Hand froh. Die Lisa ist eine ganz tolle Winzerin, weißt du. Früher hat unser Vater hauptsächlich Riesling gemacht, wegen dem zarten Aprikosenaroma, von unserer Erde kommt das. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Kisten ›Rehheimer Schafsberg‹ ich in meiner Jugend geschleppt habe.«

»Hilfst du jetzt auch noch mit, im Weinberg?«

»Nein, für die Arbeit im Weinberg habe ich keine Zeit mehr. Ich helfe aber mit auf der Mannheimer Mess, beim Bedienen. Manchmal fahre ich an den Wochenenden auch mit auf Messen, wo die Lisa Probierstände hat.« Melanie trank einen Schluck Kaffee. »Die Lisa führt unser Weingut jetzt schon in fünfter Generation, unser Vater ist ganz schön stolz auf sie. Ich wollte von Anfang an zur Polizei, ich will mit Menschen zu tun haben, das finde ich spannender.« Sie zwirbelte eine Strähne ihres Haares zu einer Locke. »Die Lisa macht jetzt Frauenweine, die kommen echt gut an bei den Kunden. ›Lisas Bergstraßen-Secco‹ macht sie, das ist echt der Renner.« Sie lächelte versonnen. Es stimmte, sie war stolz auf ihre kleine Schwester. »Dieses Jahr will sie erstmalig Eiswein machen. Unser Vater ist zwar dagegen, weil man nicht so genau wissen kann, wann der erste richtige Frost kommt. Die Trauben müssen in gefrorenem Zustand geerntet werden, das kann je nach Wetter bis Januar dauern. Aber gegen Lisas Dickkopf kommt er nicht an, die macht sowieso, was sie will.« Melanie erhob sich und schüttete den Rest ihres Kaffees in den Spülstein. »Die Lisa kann dich ganz sicher gebrauchen. So, und jetzt ziehst du dir was an, dann gehst du mit mir nach unten und wir essen gemeinsam mit dem Felix. Ich muss nämlich ganz dringend nach dem Felix schauen.«

Doch Margret wollte noch ein bisschen in der Wunde wühlen. »Warum hast du dich eigentlich von dem Vater von Felix getrennt?«

Melanie verdrehte genervt die Augen. »Der Huber Erwin war eine richtige Frauenfalle, weißt du. Und er konnte nicht Nein sagen. Ständig hat der irgendeine Frau angeschleppt. Und als ich ihn dann noch in unserem Bett mit einer erwischt habe, da habe ich nur noch rot gesehen und ihn rausgeworfen. Da war der Felix noch gar nicht geboren. Jetzt ist der Erwin älter geworden, hat sich die Hörner abgestoßen. Manchmal ruft er an und fragt nach dem Felix. Aber der Felix interessiert sich nicht für seinen Erzeuger, der sagt, jetzt, wo er groß ist, braucht er auch keinen Vater mehr.«

»Und dann war da keiner mehr?«

Melanie schob geräuschvoll ihren Stuhl nach hinten. »Margret, wo denkst du hin? Der Felix ist jetzt 16! Glaubst du wirklich, ich hätte die ganze Zeit um seinen Erzeuger getrauert?« Sie schüttelte empört ihre braunen Haare, dass sie nur so flogen. »Nein, das habe ich ganz bestimmt nicht.« Sie verspürte wenig Lust, jetzt auch noch über ihre kurze Ehe und die anderen Katastrophen ihres Liebeslebens zu reden, deshalb stand sie auf und meinte energisch: »So, jetzt ziehst du dir aber was an und isst mit uns. Ich geh’ schon mal runter und du kommst gleich nach. Versprochen?«

Margret wischte eine letzte Träne beiseite und nickte.

Melanie schloss die Wohnungstür auf und rief nach Felix. Es kam keine Antwort. In seinem Zimmer war er nicht, auch nicht in der Küche. Sie streifte ihre Stiefel ab und wandte sich zur Badtür. »Felix, bist du da drin?« Nichts. Sie drückte die Klinke herunter. Auch hier war er nicht. Sie setzte sich in der Küche auf einen der Stühle. Sie verlangte von ihrem Sohn keine Rechenschaft darüber, was er den ganzen Tag machte, aber hin und wieder hätte sie ihn schon ganz gern zu Gesicht bekommen.

Es klopfte an der Tür. Melanie eilte fahrig hin und riss sie erleichtert auf. Sicher kam jetzt Felix und sie konnte wenigstens noch kurz allein ein bisschen mit ihm quatschen. Er wirkte so verschlossen in letzter Zeit. Sie schob es immer auf die Pubertät und konnte sich nicht mehr so genau daran erinnern, wann ihre eigene damals zu Ende gewesen war. Aber es war Margret, die vor ihr stand.

»Und was hast du Feines zum Essen?«, strahlte Margret. Melanie wirbelte herum, griff sich den Flyer vom Pizzaservice mit der roten Telefonnummer von der Garderobe und drückte ihn ihr in die Hand.

Als Margret endlich gegangen war und Melanie nach flüchtigem Duschen elendig müde und von Margret beinahe totgequatscht im Bett lag, hörte sie die Wohnungstür klappen. Melanie zog die Decke hoch und dachte im Eindämmern ›Morgen. Morgen rede ich mal wieder ausgiebig mit Felix‹. Als sie merkte, dass die Tür zu ihrem Schlafzimmer leise geöffnet wurde, stellte sie sich schlafend.

4

Kurt Laubenholz stöhnte angewidert. Er sollte sofort beim Chef antanzen, das passte zwar, weil er sowieso etwas mit ihm zu besprechen hatte. Aber der Tonfall, in der er ihn einbestellt hatte, passte ihm ganz und gar nicht. Es war dieser Herr-Knecht-Tonfall gewesen, den er so verabscheute. Das konnte der vor seinen Kameras in seinen Soaps machen, aber doch nicht mit ihm! Dem würde er schon noch zeigen, mit wem er es zu tun hatte. Dieser Streicher war so dämlich, er merkte noch nicht einmal, wenn man ihn betrog. Kurt Laubenholz handelte mit den Lieferanten Spezialpreise aus. Und zwar kaufte er ihnen auf Rechnung Streichers Waren zu erhöhten Preisen ab. Streicher hatte keine Ahnung, was die Sachen wirklich kosteten. Für diese Sonderpreise bekam Kurt Laubenholz private Gratislieferungen, welche bei den Lieferanten unter Schwund ausgebucht wurden.

Sie waren in diesem Herbst mit der Weinlese im Gegensatz zu ihren Kollegen noch nicht fertig. Sie ließen ihre Trauben etwas länger an den Reben. Kurt hatte alle Hände damit zu tun, die Leute zu beaufsichtigen. Die meisten von ihnen kamen aus Polen und wohnten in Containern am Ortsrand. Die jungen Frauen wohnten separat, aber leider nicht allein. Kurt musste sich immer etwas Besonders einfallen lassen, wollte er eine von ihnen wie zufällig treffen.

Als er die Treppen zu Streichers Villa hinaufstieg, streifte Kurts Blick den Nachbarwingert. Die Bekloppte da drüben baute Öko-Wein an. Öko – wenn er das hörte, hätte er schon laut schreien können! ›Frauenwein‹ nannte die neuerdings ihre Plörre, die sie produzierte. Wenn er nur daran dachte! Kurt spuckte verächtlich aus. Womöglich noch bei Vollmond gekeltert! Die würde schon sehen, wo sie das alles hinbrächte. Obwohl, vielleicht kelterte sie ja im Himmelskleid, das würde er sich dann gern mal genauer ansehen. Dieses Weib war komplett irre, genau das war sie. Vielleicht sollte er ihr mal zeigen, wo seine Latte hing, manche Weiber brachte das in die Normalität zurück, die brauchten das einfach mal hin und wieder. Mal sehen, wann sich eine Gelegenheit dazu ergab. Er verzog sein Gesicht zu einer hämischen Grimasse.

Je weiter er die steilen Treppen hochstieg, desto mehr kam er aus der Puste. Am liebsten wäre es ihm schon gewesen, er selbst wäre der Chef. Aber ihm fehlte das nötige Kapital, um selbst in den Betrieb einzusteigen. Es war ein widerwilliger Kompromiss gewesen, sich von dem Schauspieler einstellen zu lassen. Trotzdem fühlte Kurt sich beinahe wie der Eigentümer des Gutes und führte sich im Ort auch entsprechend auf.

Das kam bei den Dorfbewohnern nicht gut an. Zwar war er kein Neigeplackter wie sein Chef, sondern stammte von hier. Aber ihm gehörte der Wingert nicht und das war ein entscheidender Unterschied zu den angestammten Winzern! Ein komischer Kauz war dieser Laubenholz, das raunten sich einige Leute über ihn zu. War der nicht als Jugendlicher schon immer ein Sonderling gewesen?

Sie sagten es ihm nicht direkt ins Gesicht, aber er meinte sie zu spüren, diese vermeintliche Überlegenheit, die sie selbst aus der Tatsache schöpften, etwas geerbt zu haben, nun als Eigentümer dazustehen und dementsprechend aufzutreten. Schon als Kind wurde er in der Schule damit gehänselt, ein uneheliches Bankert zu sein. Zwar war sein Großvater eine Respektsperson im Ort gewesen. Aber der Alte hatte ihn in seinem Testament explizit vom Erbe ausgeschlossen. Kurt schnaubte verächtlich aus. Heutzutage war es beinahe Mode, nicht verheiratet zu sein und Kinder von verschiedenen Partnern in einer Patchworkfamilie zu versammeln. Aber als Kurt klein war, hatte sich diese Form des Familienlebens noch nicht bis in die kleinen Orte hinein durchgesetzt. Er hatte sich jedoch genügend gerächt für die Hänseleien und sich ein paar fügsame Opfer gesucht, die ihr Maul hielten. Immer noch. Er hoffte, das würde auch weiter so bleiben.

5

Morgens hing Melanie wie Blei in ihrem Bett und dann war sie endlich doch auf ihren Beinen. Sie schlich in die Küche, schaltete den Kaffeeautomaten ein und machte sich dann auf in Richtung Bad. Im Flur stolperte sie über Felix’ Schuhe. Wie so oft hatte er die einfach mitten im Weg stehen lassen. Sie packte die Schuhe und warf sie gegen seine Tür. Polternd fielen sie zu Boden.