Mörderische Bergstraße - Claudia Schmid - E-Book

Mörderische Bergstraße E-Book

Claudia Schmid

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Beschreibung

In elf spannenden Kurzgeschichten, die als Fortsetzungskrimi den gesamten Band umfassen, sind Edelgard und ihr Norbert wieder auf Tour und erkunden die »Mörderische Bergstraße«. Beginnend im hessischen Darmstadt, über das geschichtsträchtige Lorsch und das romantische Heidelberg bis ins badische Wiesloch, wo Bertha Benz einst tankte. Auf unterhaltsame Weise stolpert das kauzige Ehepaar in ungewöhnliche Kriminalfälle und über diverse Leichen. Spannung und Humor sind garantiert!

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Seitenzahl: 285

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Claudia Schmid

Mörderische Bergstraße

KRIMIS

Zum Buch

Mörderische Bergstraße Wer ist die geheimnisvolle Unbekannte, mit welcher der Pfarrer mehrmals gesehen wird? Was hat es mit Gregor auf sich, der unsichtbar die Urlaubsresidenz bewacht? Und auf Zeltplätzen geht es mitunter lebensgefährlich zu! In elf spannenden Kurzgeschichten, die als Fortsetzungskrimi den gesamten Band umfassen, bereist die mordlüsterne Edelgard mit ihrem Norbert – ja, er lebt immer noch – die »Mörderische Bergstraße«. Beginnend im hessischen Darmstadt, über das geschichtsträchtige Lorsch und das romantische Heidelberg bis ins badische Wiesloch, wo Bertha Benz einst tankte. Auf unterhaltsame Weise stolpern die beiden in ungewöhnliche Kriminalfälle und über diverse Leichen, wobei Norbert bald selbst unter Mordverdacht gerät …

Claudia Schmid lebte in Passau, bevor sie sich ihren Traum erfüllte und an der Mannheimer Universität Germanistik studierte. Seit 30 Jahren wohnt sie nun in der Metropolregion Rhein-Neckar, nahe Heidelberg, und schreibt Kriminelles, Historisches, Reiseberichte, Hörspiele und Theaterstücke. Neben ihren Büchern hat die Ehren-Kriminalkommissarin der Polizei Mannheim-Heidelberg über vier Dutzend Kurzgeschichten veröffentlicht. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin ist auch als Redakteurin von »kriminetz.de« sowie als Kommunikationstrainerin tätig und übernimmt mit Vorliebe kleine Rollen in Fernsehkrimis. Lesetermine der Autorin finden Sie auf www.claudiaschmid.de.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Die brennenden Lettern

Blumenfieber

Mannheimer Todesmess

Wer mordet schon in Mannheim?

Mörderische Bergstraße

Mörderischer Jakobsweg (mit Leila Emami und Fenna Williams, 2018)

Mörderische Fluss-Kreuzfahrten

Mörderische Ostsee

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Da Freizeiteinrichtungen einem ständigen Wandel unterliegen und Irrtümer vorbehalten sind, besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben. Die Tipps sind eine persönliche Auswahl aus der Vielzahl dessen, was die Bergstraße zu bieten hat. Ausführliche Informationen erhalten Sie beim Tourismus Service Bergstraße e. V., Großer Markt 9, 64646 Heppenheim und in der Außenstelle Weinheim, Marktplatz 1, 69469 Weinheim www.diebergstrasse.de

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © nnattalli / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-5990-0

Gute Freunde (Darmstadt)

»Eeedelgard!«

Ich hasse die Art, wie er meinen Namen ausspricht, mit dieser völlig übertriebenen Betonung auf der ersten Silbe. Keine Ahnung, was meine Mutter geschluckt hatte, als sie sich diesen Namen für mich überlegte. Alle anderen Mädchen in der Klasse hießen Monika, Helga, Sabine, Andrea oder Angelika. Aber Edelgard! Vielleicht war auch Mutters Tante der Grund dafür, die jüngste Schwester meiner Großmutter. Obwohl unverehelicht, hatte sie es beizeiten verstanden, das gesamte elterliche Erbe an sich zu ziehen und den Rest der Familie leer ausgehen zu lassen. Mutters Plan war, sie als meine Patentante einzusetzen und sich damit zugleich nach einem bald fälligen Ableben sozusagen über mich einen Zugang zu dem Erbe zu ermöglichen. Aber Tante Edelgard erwies sich als äußerst zäh. Hochbetagt lebt sie quietschfidel in einer Seniorenresidenz und sendet mir zu meinen Geburtstagen handgestickte Deckchen, die bereits ein ganzes Regal in meinem Schrank füllen. Sogar unserem mittlerweile erwachsenen Sohn hatte sie eines zur Konfirmation gefertigt.

Und ausgerechnet ich blieb dann an Norbert kleben, an dem Sitzenbleiber, der erst im letzten Schuljahr von einer anderen Schule zu uns kam.

Seit so vielen Jahren ertrage ich ihn nun schon. Das muss ein Ende haben! Seit unser Sohn aus dem Haus ist, vertritt er nämlich die Meinung, meine Fürsorge, die bis dahin »meinen beiden Männern« galt, habe sich jetzt ganz und gar auf ihn zu richten. Wir sind am Beginn unseres Urlaubs, und da wird etwas passieren, denn ich kann einfach nicht mehr länger. Wir bereisen die Bergstraße, wo es sehr hügelig sein soll. Es gibt hier viele Burgen. Könnte ja sein, dass da mal jemand runterfällt von so einem Hügel oder einer Burg. Wieso also nicht Norbert? Dann bin ich ihn endlich los, und zwar für immer. Alles wird nach einem Unfall aussehen. Soll es ja hin und wieder geben, so einen tragischen Unfall im Urlaub. Und ich werde dann als trauernde Witwe zurück nach Hause reisen. Die Lebensversicherung auf Norbert ist ganz ordentlich ausgestattet, sie wird dazu beitragen, mein gebrochenes Herz schnell zu heilen. Ich bin als Begünstigte eingetragen und werde danach als vermögende Witwe ganz neue Möglichkeiten auf dem Single-Markt haben. Ich werde endlich unseren Sohn auf Malta so oft und so lange besuchen können, wie ich will. Julian wird sich bestimmt sehr darüber freuen. Wenn ich schon mal dort bin, kann ich gleich bei ihm nach dem Rechten sehen und mich in seinem Haushalt nützlich machen. Bei dem Gedanken an Julian fällt mir ein, dass ich ihm gleich eine Nachricht senden muss, dass wir hier gut angekommen sind. Nicht, dass sich der Junge womöglich Sorgen macht, ob wir den Zug wirklich erreicht haben.

Norbert trägt wie üblich seinen beigefarbenen Breitcordanzug, obwohl er genau weiß, dass ich den nicht ausstehen kann. Und zu allem Überfluss hat er zusätzlich hellbraune Schuhe an! Mit Lochmuster! Norbert hat ziemlich zugelegt seit unserer Hochzeit. Das ist ja kein Wunder, denn das Einzige, was er stemmt, ist abends im Fernsehsessel sein Weißbierglas. Ich würde viel lieber einen trockenen Weißwein mit ihm trinken, aber davon versteht er leider nichts.

In dem hellen, etwas zu engen Anzug könnte Norbert gut als Michelin-Männchen auftreten, das Werbung für Traktorreifen macht.

Nur eine kurze Weile muss ich ihn also noch ertragen, bevor ich nach einer günstigen Gelegenheit Ausschau halten kann. Und ich bin wild entschlossen, sie zu nutzen, sobald sie sich bietet! Ich beende diese Reise an der Bergstraße 1 ohne ihn, das steht für mich fest.

Ich blicke mich nach Norbert um. Er sitzt bereits in einem der Taxis. Wir sind nämlich mit dem Zug gereist und in Darmstadt ausgestiegen. Der große Koffer steht daneben, Norbert erwartet wohl, dass der Fahrer sich seiner annimmt. Der steigt nun aus, hievt das schwere Stück ins Auto und lächelt mich an.

»Mann nicht sehr nett. Dame muss zuerst einsteigen«, raunt er mir zu, während er mir die Tür aufhält.

Wie recht er damit hat! Die Manieren meines Mannes befinden sich wie so oft auf einem Tiefpunkt. Kaum habe ich auf der Rückbank Platz genommen, fragt Norbert mich über seine Schulter gewandt nach der Adresse unserer Unterkunft. Dabei hat er doch zu Hause darauf bestanden, die Unterlagen an sich zu nehmen! Ich kann mich genau daran erinnern, dass er sie zuunterst in den Koffer gelegt hat. In den, der nun hinter uns im Auto liegt.

Dem Taxifahrer steht die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als er uns an der Zieladresse entlässt. Die erste Station unserer Reise liegt am Rande von Darmstadt, so werden wir es nicht weit zu unseren Ausflügen haben. Vielleicht kann ich Norbert dazu bringen, ein paar Stationen des Burgenwegs 2 zu wandern? Unsere Wirtin, Edna Buttner, betreibt eine kleine Pension. Sie begrüßt uns mit einer leichten Suppe, die wir im Salon einnehmen.

»Hier serviere ich Ihnen das Essen, Sie können sich obendrein jederzeit gerne hier aufhalten, wenn Sie Gesellschaft mit meinen anderen Gästen suchen.« Edna trägt ihr volles, von grauen Strähnen durchzogenes Haar hochgesteckt. Ihr blaues Kleid ist mit weißen Punkten übersät. Die Frau wirkt auf mich sehr sympathisch. Ihre offene Art, ihr Gegenüber direkt anzublicken, wenn sie mit ihm spricht, gefällt mir sehr.

»Reizend, reizend.« Norbert ist begeistert von der Suppe und dem beigelegten Graubrot. »Haben Sie vielleicht etwas Griebenschmalz dazu?«

Was muss Edna bloß von uns denken? Kaum sind wir angekommen, hat mein Mann bereits Sonderwünsche. Das ist mal wieder typisch für ihn und mir wirklich peinlich. Am liebsten würde ich mich für meinen Mann entschuldigen. Aber wie würde das denn wirken? Also sage ich jetzt nichts.

»Selbstverständlich.« Edna verschwindet kurz in ihrer Vorratskammer und kommt mit einem freundlichen Lächeln zurück. Sie hält ein kleines Glas in der Hand und stellt es vor Norbert auf den Tisch.

»Wissen Sie, das hat es bei meiner Oma immer gegeben.« Zufrieden streicht er das Schmalz auf sein Brot und streut mit einer beinahe schon zärtlichen Geste sorgfältig Salz da­rüber. Mit entrücktem Gesichtsausdruck beißt er hinein. Es knirscht, als er mit seinen Backenzähnen die Grieben zermalmt. »Köstlich!« Seine Augen leuchten, von seinem Kinn tropft etwas Fett. »Schmeckt wie bei meiner Oma. Machen Sie das selbst?«

Edna schüttelt den Kopf. »Nein, aber mein Metzger. Es riecht etwas gewöhnungsbedürftig, wenn man Schweinebauch auskocht.«

»Wie ausgekochte alte Socken.« Norbert kichert.

Ich frage mich, woher mein Mann wissen will, wie ausgekochte alte Socken riechen? Von mir jedenfalls nicht. Mein Haushalt ist immer tadellos in Ordnung. Socken werden selbstverständlich umgehend entsorgt, wenn sie nicht mehr in Ordnung sind. Nicht auszudenken, wenn man etwa einen Unfall hat, ins Krankenhaus kommt, dort die Schuhe auszieht und die Füße stecken in löchrigen Socken! So etwas kommt bei mir ganz bestimmt nicht vor. Was entwirft er da bloß für ein Bild von den Zuständen bei uns zu Hause?

Ich nehme nur wenig von der Suppe und greife nach meiner Serviette, was meinen Mann zu dem Ausruf veranlasst: »Edelgard, schmeckt es dir nicht?« Und an Edna gewandt: »Was soll denn unsere Gastgeberin denken, wenn du nicht ordentlich zulangst?« An einem seiner Schneidezähne klebt eine Griebe.

Doch die zauberhafte Edna lächelt, als ob nichts wäre. »Sagen Sie es ruhig, wenn Sie einen Wunsch haben. Mir liegt schließlich ihr Wohlergehen am Herzen.«

Als ich Edna um eine Tasse Tee bitte, betritt ein weiterer Gast den Speiseraum. Norbert, der bereits aus seinen Schuhen geschlüpft ist, schiebt flugs seine Füße wieder hinein. Denn es ist eine ausgesprochen hübsche junge Frau, die sich ganz unbekümmert zu uns an den Tisch setzt. Sie ist ungewöhnlich angezogen, aber so etwas tragen die jungen Leute wohl heutzutage. Über einer Leggings trägt sie eine kurze Jeans mit aufgestickten Blüten, ihre dunkle Bluse hat sie nur vorne in den Hosenbund gestopft, während sie hinten he­raushängt. Dazu trägt sie Turnschuhe. Socken sind nicht zu erkennen, dafür ihre blanken Knöchel.

»Sind Sie heute angekommen?«

Norbert schenkt ihr das bezauberndste Lächeln, zu dem er in der Lage ist, und nickt. Am liebsten würde ich ihn jetzt unterm Tisch gegen das Schienbein treten. Doch ich habe mich im Griff. Zeugenaussagen sollen schließlich später belegen, ich habe meinen Mann abgöttisch geliebt.

»Und Sie? Weshalb sind Sie hier?« Um davon abzulenken, dass Norbert die junge Frau anstarrt, ohne ein Wort hervorzubringen, reiße ich die Konversation an mich.

Sie streift ihr langes, honigblondes Haar zurück. »Ich bin Journalistin und arbeite an einem Reiseführer über die Bergstraße. Sie können sich meinen Namen notieren, wenn Sie sich für mein Buch interessieren. Marja Schnitter.«

»Das passt ja wunderbar!« Norbert scheint seine Sprache wiedergefunden zu haben. »Da können Sie uns sicher gute Ausflugstipps geben. Besser wäre natürlich, Sie begleiten uns.«

Irgendetwas ist seltsam an der Art, wie sie Norbert anblickt, beinahe lauernd. Besonders fiel mir das auf, als sie ihm verriet, wie sie hieß. Da hatte ich den Eindruck, sie erwarte, dass ihm der Name irgendetwas sage, dass er sich an etwas erinnere. Aber Norbert zeigte keinerlei ungewöhnliche Regung bei der Nennung des Namens. Wie sollte er denn? Selbst ich habe ihn nie gehört.

Marja scheint sich besonders für Norbert zu interessieren, das merke ich an der leichten Anspannung, mit der sie hier sitzt. Sie wendet sich fast ausschließlich ihm zu. Das erscheint mir ungewöhnlich, denn normalerweise wenden sich Menschen, die wir gemeinsam kennenlernen, eher an mich. Was hat die bloß Faszinierendes an meinem Mann entdeckt, was mir bislang verborgen blieb?

»Und Ihr Name?«, fragt sie ihn.

»Norbert.« Er strahlt.

Ich tippe, diese Marja wollte eher seinen Nachnamen wissen. Deshalb schiebe ich nach: »Buchmann. Wir heißen Buchmann.«

»Verstehe, Sie sind ein Ehepaar.«

Bingo, die Frau kann kombinieren! Irgendwie habe ich den Eindruck, dass sie, besonders wenn sie sich unbeobachtet fühlt, Norbert neugierig anstarrt. Vor allem scheint sie sich für sein linkes Handgelenk zu interessieren. Dort hat er einen besonderen Hautflecken, den er erst vor ein paar Jahren bekam. Ich sage immer scherzhaft zu ihm, er beginne zu rosten.

Nun wendet Marja sich an Edna. »Ich habe schon in Darmstadt gegessen. Ich war davor auf der Mathildenhöhe.«

»Können Sie uns den Besuch empfehlen?« Norbert strahlt sie an, als ob der Weihnachtsmann persönlich vor ihm säße.

»Unbedingt sollten Sie diese Künstlerkolonie besuchen.«

»Da wohnen Künstler?«

Marja lächelt nachsichtig. »Um 1900 wurde die Mathildenhöhe vom hessischen Großherzog Ludwig für Künstler gegründet, die dort lebten und arbeiteten. Heute hat sie musealen Charakter. Aber im Großen Glückert-Haus 3 befindet sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Ich werde dort in den nächsten Tagen an einem Vortrag über Lyrik teilnehmen.«

»Lyrik.« Norbert nickt beeindruckt.

Zuweilen dichtet er selbst unter der Dusche. Ich hoffe innig, er gibt jetzt keinen seiner Ergüsse, die nach dem Motto »Reim dich oder ich fress dich« entstehen, von sich. Als er ansetzt zu sprechen, halte ich beinahe die Luft an.

»Ich lese hin und wieder Lyrik.«

Zu Norberts großem Bedauern sitzt die Journalistin am nächsten Morgen nicht mit uns am Frühstückstisch. Dabei entgeht ihr wirklich etwas! Zum Beispiel die Kapazität des Magens meines Mannes. Selbst ich bin immer wieder von den Mengen überrascht, die er sich einzuverleiben vermag. Aber dem Korb mit frischen, verführerisch duftenden Brötchen, zartgelber Rahmbutter und der imposanten Aufschnittplatte kann er wohl nicht widerstehen.

Danach beherzigen wir Marjas Tipp von gestern und fahren mit dem Taxi zur Mathildenhöhe. Ich bin bereits nach dem ersten Blick begeistert von dieser Anlage. Jugendstil, so weit das Auge reicht. Das Wetter heute ist fantastisch, seit langer Zeit ist es mal wieder so richtig warm. Meine Jacke habe ich abgestreift, sie liegt locker über meinem Arm. Ich muss an die Secession in Wien denken, wo ich vor vielen Jahren eine Ausstellung besuchte. Wie verzaubert bewege ich mich beschwingt zwischen den Gebäuden. Die Architektur des Jugendstils verleiht den Gebäuden eine spielerische Leichtigkeit. Der Hochzeitsturm 4 neben dem Ausstellungsgebäude überragt alles. Sein Dach sieht ungewöhnlich aus, denn es ist in fünf schmuckvolle Bogen unterteilt. Wie auf einer Plakette am Eingang steht, kann man darin heiraten. Das erinnert mich an meine eigene Hochzeit, bei der 80 Gäste zu Besuch waren. Die Feier war wirklich außerordentlich. Mein Kleid war apricotfarben, ich trug alten Schmuck von meiner Großmutter, rote Granatsteine in schweres Silber gefasst. Tante Edelgard hatte mir die Kette für die Feier geliehen. Sogar eine Friseurin war gleich am Morgen zu mir ins Haus gekommen, um mein Haar zurechtzumachen und mich perfekt zu schminken. Die Hochzeitstorte war dreistöckig gewesen. Obenauf saß ein kleines Pärchen aus Marzipan. Das verwahrte ich, bis es schimmelte. Vor der Kirche hatten meine Freundinnen aus meinem Sportverein Spalier gestanden. Norberts Kumpane aus seiner Verbindung waren gekommen und ließen uns hochleben.

Ich blinzelte ins Sonnenlicht. War ich damals glücklich gewesen? Na ja, meinen Traumprinzen hatte ich nicht zum Mann genommen, so viel war mir auch zu diesem Zeitpunkt klar gewesen. Dass der Alltag uns jedoch derart schnell einholen würde, überraschte mich dann doch. Norberts Interessen verlagerten sich mehr und mehr auf Kulinarik und Biersorten, was sich deutlich auf sein Äußeres niederschlug. An manchen Tagen fühle ich mich wie ein antiquarischer Schrank in unserer Wohnung, den er stolz seinen Gästen zeigt, dem er selbst im Alltag aber keine Beachtung schenkt.

Ich blicke hoch zum Giebel. 48,5 Meter hoch ist der Turm, das steht ebenfalls auf der Tafel. Ob ich es schaffe, Norbert dazu zu bringen, die 212 Stufen hochzusteigen? Immerhin gibt es da oben eine Aussichtsplattform auf Ebene sieben. Das fügt sich vorzüglich in meinen Plan. Seitlich am Turm ist eine große Sonnenuhr angebracht. Meine Großmutter trällerte so gerne »Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die schönen Stunden nur« vor sich hin. Da hätte ich wenig zu zählen. Die Stunden und Tage an Norberts Seite tropfen vor sich hin und sammeln sich in einem See voller Belanglosigkeiten. Ich blicke mich nach ihm um. Doch er sitzt schon wieder. Auf einer weiß lackierten Parkbank hat er Platz genommen und seine Breitcordjacke abgelegt. Im Sitzen sind die Knöpfe seines hellen Hemdes einer enormen Belastung ausgesetzt, vor allem die auf Höhe der Bauchpartie. Er wischt sich mit seinem Taschentuch die Stirn ab. »Edelgard, schau du dich ruhig um. Ich bleibe hier sitzen. Ich glaube, mein Blutdruck ist zu hoch. Es ist wohl besser, wenn ich mich schone.«

Nicht nur dein Blutdruck, mein Lieber, vermutlich explodiert auch dein Cholesterinwert. Zumindest könnte ich mir das gut vorstellen. »Alles klar«, flöte ich und lasse mir meinen Unmut über die verpasste Chance nicht anmerken. Denn vor mir liegt eine wunderhübsche russische Kapelle 5 mit kleinen Türmchen. Ihr Anblick verzaubert mich regelrecht. Die drei Türmchen tragen goldene Kuppeln, das Gebäude ist mit reichhaltigen Mosaiken verziert. Ich umrunde das kostbare Kleinod mit Staunen.

Hinter der Kapelle entdecke ich eine großzügige Brunnenanlage 6 und winke Norbert zu mir. »Schau mal, hier können wir gemeinsam sitzen.« Mir geht durch den Kopf, dass schon Leute in Wasserpfützen ertrunken sein sollen. Zumindest habe ich davon gehört.

Aber kaum hat Norbert neben mir Platz genommen, stürmen zwei oder drei Schulklassen herbei. Ihre Lehrer verteilen Aufgabenzettel an die Schüler, die sie ausfüllen sollen. Rasch sehe ich ein, dass es unmöglich ist, Norbert vor so vielen Zeugen in den Brunnen zu schubsen und anschließend zu behaupten, es wäre ein Unfall gewesen.

Nachdem wir ausgiebig gerastet haben, verspürt Norbert schon wieder Hunger und wir verlassen die Mathildenhöhe. Die Ausstellung über die Künstler 7 werde ich ein anderes Mal besuchen. Am besten wäre es, dafür ohne den quengelnden Norbert herzukommen!

Als wir abends vor unserer Pension ankommen, sehe ich eine junge Frau auf das modern umgebaute Haus nebenan zugehen. Ich nicke ihr freundlich zu, doch sie senkt ihren Blick und huscht wie ein Reh davon.

Zum Glück hat uns Edna einen Schlüssel mitgegeben, denn sie ist noch nicht wieder zu Hause. Auf dem Tisch im Salon stehen ein Kuchen und Tee in einer Isolierkanne für uns bereit. Wie aufmerksam unsere Gastgeberin doch ist! Während wir am Essen sind, klopft es an der Tür. Ich erhebe mich und öffne, neugierig darauf, wer das sein könnte, denn die anderen Gäste haben sicherlich ebenfalls Schlüssel erhalten.

Zu meinem Erstaunen ist es die junge Frau von vorhin. »Bitte, ich muss hierbleiben.« Sie drückt sich an mir vorbei und sieht sich hektisch um. »Ist Edna nicht da?« Sie zittert, mit der Hand reibt sie an ihrem Kinn.

Nachdem ich verneine, bricht sie in Tränen aus. Ich führe sie in den Salon und gieße ihr Tee ein. »Trinken Sie erst mal. Wir warten gemeinsam auf Edna. Währenddessen können Sie uns erzählen, wie wir Ihnen helfen können.«

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Mit Edna wäre es leichter, Sie weiß Bescheid.« Sie zupft nicht vorhandene Flusen von ihrem langen Rock.

»Worüber weiß Edna Bescheid?«, Norbert vergisst für einen Moment, von seinem Brot abzubeißen.

Die junge Frau scheint ihm auf Anhieb zu trauen, denn die Worte sprudeln nun regelrecht aus ihr heraus. »Edna ist immer so freundlich, aber die da drüben reden nicht mit mir. Ich mache ihr Haus sauber, wenn sie nicht da sind. Ich wasche ihre Wäsche und bereite das Essen zu. Wenn sie nach Hause kommen, gehe ich in den Anbau. Sie wollen nicht, dass ich bei ihnen sitze.«

»Sie sprechen von Ihren Arbeitgebern?«

»Ja, also« sie zögert. »Wie soll ich Ihnen das erklären? Das ist nicht so einfach.« Skepsis liegt in ihrem Blick.

Ich lege meine Hand auf ihren Arm. Ich habe eine Vermutung, die ich nun äußere. »Sie arbeiten schwarz für die?«

Sie nickt ausweichend. »Mir ist vorhin beim Einkaufen jemand aufgefallen. Den hatte ich gestern schon gesehen! Als ich ihn erneut bemerkte, bin ich in Panik nach Haus gelaufen, statt irgendwo anders hin, um ihn in die Irre zu führen. Nun weiß der, wo ich wohne, er ist mir nämlich gefolgt! Wenn das so eine Art Kontrolleur war? Vielleicht hat mich jemand gemeldet? Ich gehe immer in denselben Läden einkaufen. Erst als ich die Haustür hinter mir zumachte, war mir klar, dass ich verraten habe, wo ich wohne. Wieso habe ich bloß nicht früher daran gedacht, dass es ein Fehler ist, ins Haus zu laufen? Als der Mann endlich weg war, bin ich gleich hierhergekommen. Vielleicht weiß Edna Rat.«

Ich stehe auf und ziehe die Vorhänge zu. Sicher ist sicher. Als ich mich wieder setze, frage ich: »Wie heißen Sie eigentlich?«

»Minea.«

Ein Geräusch an der Haustür lässt uns alle drei aufschrecken. Minea wird eine Spur blasser. Norbert erhebt sich und schleicht zur Tür. Da er wie üblich während des Essens seine Schuhe abgestreift hat, kann er dies auf seinen dicken Socken beinahe geräuschlos. Ein kurzer Aufschrei, gleich darauf kommt Edna aufgelöst in den Salon.

»Du lieber Himmel, was haben Sie mich erschreckt!« Sie greift sich auf Höhe des Herzens an die Brust.

Norbert steht mit hochrotem Kopf hinter ihr und stammelt: »Das tut mir leid.«

»Dachten Sie, ich breche in mein eigenes Haus ein?« Als sie Minea entdeckt, eilt sie zu ihr und legt den Arm um sie. »Ist etwas passiert? Hast du Nachricht von deinen Geschwistern?«

Minea schüttelt traurig den Kopf und erzählt Edna nun ebenfalls, dass sie sich beobachtet fühlt.

»Danke schön, dass Sie Minea hereingelassen haben.« Sie nickt Norbert und mir zu. »Die Nachbarn …«, sie beendet den Satz nicht, aber ihr Gesichtsausdruck zeigt deutlich, was sie von ihnen hält.

»Sie arbeiten hart in einer großen Frankfurter Firma, irgendwas mit Chemie«, bringt Minea vor.

»Die könnten es sich leisten, offiziell jemanden einzustellen, der ihnen die Hausarbeit abnimmt.«

»Das geht doch nicht, mich anzumelden …« Nun laufen wieder Tränen über Mineas Wangen.

»Das weiß ich doch.«

»Wo liegt das Problem?« Nun bin ich neugierig, weshalb diese Leute Minea nicht ordentlich beschäftigen können.

Edna strafft ihre Schultern. »Es liegt an Mineas Aufenthaltserlaubnis.«

Ich habe vor einer Weile einen Zeitungsartikel darüber gelesen, dass es gut situierte Familien gibt, die Illegale bei sich aufnehmen und sie den Haushalt für einen eher symbolisch zu nennenden Lohn erledigen lassen. Eine Form moderner Sklavenarbeit. Und ich hatte gedacht, so etwas gäbe es nur in Saudiarabien, wo philippinische Putzfrauen in engen Kammern unter Treppen hausen. »Kann man denn da gar nichts machen?«

»Was denn? Wenn die Behörden Wind davon bekommen, dass Minea hier ist, sitzt sie morgen im Flieger.«

»Und wie kam sie hierher?« Norbert hat, seit er an der Tür war, nicht wieder zu essen angefangen. Das ist für seine Verhältnisse wirklich ungewöhnlich. Äußerst ungewöhnlich sogar.

Mineas Stimme klingt traurig. »Das ist eine lange Geschichte. Ich bin heute zu müde, um sie zu erzählen.«

»Wie kommt es, dass Sie unsere Sprache so gut sprechen?«

»Ich habe sie in der Schule gelernt. Mein Vater war Professor an der Universität. Bei uns wohnten oft Studenten aus Deutschland.« Sie senkt ihren Blick. »Aber das ist vorbei. Alles ist vorbei. Es wird nie wieder so sein, wie es war.«

Edna nimmt sie in ihre Arme. »Du bleibst heute Nacht hier. Ich habe ein freies Zimmer, das ist erst nächste Woche besetzt. Komm mit, wir beziehen das Bett.«

Als Edna zu uns zurückkommt, überfalle ich sie mit einem Vorschlag. »Wäre das nicht etwas für Marja? Sie könnte doch eine Reportage schreiben über Menschen wie die nebenan, die die Notlage von Leuten ausnutzen, indem sie sie billig für sich schuften lassen.«

»Journalistin?« Die Art, wie Edna das Wort gedehnt ausspricht, zeugt von einer gewissen Skepsis. »Ich weiß nicht so recht, ob ich das wirklich glauben soll. Ich habe eher den Verdacht, die ist hinter etwas ganz anderem her.«

»Verdacht?« Norbert gibt das Echo.

»Na ja, womöglich spielt sie uns allen etwas vor?«

Mir selbst war ja gleich Marjas merkwürdiges Interesse an meinem Mann aufgefallen. »Und wer, glauben Sie, ist sie wirklich?«

Norberts Gesichtsfarbe verändert sich. Hat er die junge Frau falsch eingeschätzt?

»Ich habe vor drei Tagen ihre Bettwäsche gewechselt. Dabei habe ich in ihrem Schrank etwas Komisches gefunden.«

»Gefunden?«, echot Norbert schon wieder. Er blickt mich an.

Offenbar müssen wir hier gar nicht von der CIA abgehört werden, Edna scheint über ihre ganz eigenen Methoden zur Überwachung der Gäste zu verfügen. Hoffentlich kann sie nicht zusätzlich Gedanken lesen, denke ich bei mir.

Unsere Vermieterin erhebt sich. »Ich zeige es Ihnen.«

Kurz darauf kehrt sie mit einem Schnellhefter zu uns zurück. Sie legt ihn auf den Tisch und schlägt ihn auf.

Die Schlagzeilen »Serienmörder« und »Killer an der Bergstraße« stehen in großen Lettern auf abgegriffenen Illustriertenblättern.

»Was hat das zu bedeuten?« Ich stehe angesichts der morbiden Sammelleidenschaft der jungen Frau vor einem Rätsel.

»Vor einigen Jahren hat es hier in der Nähe mehrere Morde an jungen Frauen gegeben. Ich kann mich gut daran erinnern. Die Taten wurden nie aufgeklärt. Damals hat man gemunkelt, der Täter käme aus dem nahen Frankfurt und sei dort abgetaucht. Vielleicht ein Banker, der seinen Frust an wehrlosen Opfern entlädt.«

»Wieso Frust? Worüber denn?« Norberts Interesse ist geweckt.

Edna guckt bedeutungsvoll. »Die Bankenkrise. Das hat in Frankfurt einige Köpfe gekostet.«

»Ich dachte, nur die Kleinen hängt man …«, murmele ich.

»Sprichwörter. Manchmal haben sie schon einen wahren Kern. Aber wenn das Vertrauen der Anleger nachhaltig erschüttert ist, rollen schon mal vereinzelt auch größere Köpfe. Damit man vordergründig reinen Tisch macht.«

»Und so ein Typ soll aus lauter Frust durch die Gegend gefahren sein und Frauen ermordet haben?«

»Solchen Männern geht es um Macht. Sie wollen andere beherrschen, indem sie sie erniedrigen und töten.«

»Seltsames Faible für eine junge Frau, sich für solch schreckliche Taten zu interessieren.« Norbert schüttelt seinen Kopf. »Dabei hat sie doch ganz andere Möglichkeiten.«

»Einen Reiseführer zu schreiben, nicht wahr?« Beinahe muss ich lachen, denn mein Mann spielt sicherlich auf ihr tolles Aussehen an. Ein Blick auf die Blätter mit dem makabren Inhalt lässt mich jedoch verstummen.

»Sie könnte ehrlich sein. Sie könnte doch sagen, weshalb sie eigentlich hier ist und in alten Sachen stochert.« Edna rümpft die Nase. »Diese …«, sie unterbricht sich und lauscht, dann springt sie vom Stuhl auf. »Ich habe soeben ihr Auto gehört. Sie wird gleich reinkommen. Ich lege das schnell zurück.«

»Guten Abend! Begrüßungskomitee?« Marja lächelt unbefangen in die Runde. Als sie Minea sieht, die wieder in den Salon gekommen ist, überlegt sie einen Moment.

»Ein neuer Gast?« Sie streckt ihr die Hand hin.

»Sozusagen, ja. Ich darf Sie allerdings bitten, Stillschweigen darüber zu bewahren.« Edna, die rechtzeitig aus Marjas Zimmer zurück ist, kommt Minea mit einer Antwort zuvor.

»Ah. Geheimnis. Verstehe.« Marja grinst breit.

»Sie sind doch Journalistin«, wage ich einen Versuch.

»Reisejournalistin.«

Das kommt für mich eine Spur zu schnell. »Sie recherchieren …« Edna blickt mich an, als wolle sie mich damit zum Schweigen bringen. Aber ich fahre unbeirrt fort: »… doch gerne. Es geht um einen sicheren Platz für den neuen Gast.«

»Und jetzt meinen Sie, ich hätte bei meinen Recherchen zu meinem Reiseführer ein Versteck aufgetan? Eines, das keiner findet?«

»Auf keinen Fall kann ich hierbleiben! Das ist viel zu nahe dran.« Minea ist schon wieder kurz davor, in Tränen auszubrechen.

»Uns fällt schon was ein. Gib uns etwas Zeit.« Edna versucht, sie zu beschwichtigen, und klärt Marja mit knappen Worten auf. »Minea ist illegal im Land. Sie kann aber nicht zurück in ihre Heimat, weil ihr Leben dort in Gefahr ist. Heute gab es einen Vorfall, der darauf hindeutet, dass man ihr auf der Spur ist, ich tippe auf die Ausländerbehörde. Wenn die sie finden, wird sie in den Flieger gesetzt, obwohl sie in ihrem Herkunftsland nicht sicher ist.«

Marja hört aufmerksam zu, denkt nach und greift zu ihrem Smartphone. »Ich habe da so eine Idee. Aber ich muss erst telefonieren. Mit einem alten Freund.« Mit diesen Worten verschwindet sie in ihrem Zimmer.

Als sie kurz darauf zurückkommt, nimmt sie sich ein Stück Kuchen vom Tablett und sagt zu Minea: »Wir müssen gleich los. Mein Kumpel wohnt in einer WG in Frankfurt in einem Hochhaus. Der Vermieter kümmert sich nicht um die Bewohner, Hauptsache, er erhält seine Miete regelmäßig. Ist dem völlig egal, wer sich da aufhält. Dort kannst du fürs Erste unterkommen. Felix kennt jemanden, der schon öfter Leuten wie dir geholfen hat.« Auf Mineas skeptischen Blick hin erklärt sie: »Menschen ohne Papiere. Die eigentlich offiziell gar nicht hier sind. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen. Er will seine Kontakte nicht preisgeben, sonst ist es mit der Hilfe vorbei. Aber er hat mir versprochen, dir zu helfen. Den Kuchen esse ich unterwegs.«

Edna ist nicht ganz wohl dabei, ihren Schützling mit der ominösen Journalistin ziehen zu lassen. »Ist das wirklich sicher?«

»Glauben Sie mir, der hat schon vielen Leuten geholfen. Er hat Ahnung davon.«

»Und woher kennen Sie diesen Felix?«

»Wir haben zusammen studiert. Dann war er eine Weile in der Hausbesetzer-Szene unterwegs, und was er jetzt so ganz genau macht, weiß ich nicht. Irgendwas mit Design oder so, auf jeden Fall etwas Lukratives. Ich weiß, dass er Menschen wie Ihrer Bekannten hilft und über ein entsprechendes Netzwerk verfügt. Man kann sich da voll auf ihn verlassen.« Und mit einem Blick zu Minea: »Wir sollten jetzt aber wirklich los!«

Edna nimmt Minea zum Abschied ganz fest in den Arm. Man merkt ihr an, wie schwer es ihr fällt, sie gehen zu lassen.

»Wo bringen Sie sie genau hin?«

»Tut mir leid. Je weniger Sie wissen, desto besser. Wenn Sie die Adresse nicht kennen, können Sie sich nicht verplappern.«

Als Edna Marjas Auto anspringen hört, geht sie an die große Kommode in ihrem Salon. Sie nimmt drei Gläser und eine Karaffe heraus, die sie auf den Tisch stellt.

»Birnenlikör«, erläutert sie, als sie sich zu uns setzt. »Selbst gemacht. Den haben wir jetzt alle nötig, nicht wahr?«

Es ist weit nach Mitternacht, als Marja endlich zu uns zurückkommt. Norbert liegt längst auf unserem Bett. Ich habe mit Edna Filme im Fernsehen angeschaut, denn ich wollte sie nicht alleine lassen. Über den seltsamen Fund in Marjas Zimmer haben wir nicht weiter gesprochen.

Marja sieht ziemlich müde aus. Ihre Gesichtshaut ist fahl und sie hat tiefe Ringe unter den Augen. Edna reicht ihr ein Glas mit Birnenlikör.

Am nächsten Morgen werden wir früh von Lärm geweckt. Vor dem Nachbarhaus steht ein dunkles Auto. Jemand drischt nebenan sehr laut an die Haustür und ruft mehrmals, man solle unverzüglich aufmachen. Ein Blick auf den Wecker zeigt mir, dass es 6.15 Uhr ist. Ich streife eine Jacke über und gehe in den Salon. Dort treffe ich auf Edna. »Was ist denn da drüben los? Wer macht da so einen Radau?«

Bevor sie antworten kann, klopft es schon bei uns an der Haustür.

»Machen Sie sofort auf!«

Edna rafft ihren Morgenmantel zusammen und öffnet. »Worum geht es denn?

»Personenkontrolle, wir sind von der Ausländerbehörde. Ist Ihnen im Nachbarhaus etwas aufgefallen? Geht da jemand ein und aus, der da gar nicht offiziell wohnt?«

Edna gibt sich einen nachdenklichen Gesichtsausdruck, bevor sie scheinbar gleichmütig antwortet: »Da drüben? Da wohnt doch ein Ehepaar. Da habe ich sonst niemanden gesehen.«

Als der Mann weg ist, gähne ich ausgiebig: »Na, da haben wir ja großes Glück gehabt.«

»Minea hat das Glück gehabt. Und diese Marja scheint doch ganz in Ordnung zu sein. Worüber auch immer sie in Wirklichkeit recherchiert. Sie hat Minea ja wirklich im letzten Moment in Sicherheit gebracht. Das hoffe ich zumindest. Auf keinen Fall darf sie in ihre Heimat zurückgeschickt werden – das wäre ihr Untergang. Schade, ich habe mich so an die junge Frau gewöhnt, wir haben öfter eine Tasse Tee gemeinsam getrunken. So ein schreckliches Schicksal. Wissen Sie, meine Mutter war ebenfalls ein Flüchtling. Sie hat Danzig mit einem der letzten Schiffe verlassen, als dies noch möglich war. Das war in derselben Nacht, als die Gustloff sank. Sie war aber mit ihren Eltern und ihrer Schwester auf einem anderen Schiff gewesen. Erst später erfuhren sie, dass zur selben Zeit, während sie ebenfalls auf der Ostsee waren, die Gustloff torpediert wurde und einige Tausend Menschen ertranken. Eigentlich hatten sie auf dieses Schiff gewollt, aber die Abfahrt verpasst. So hatten Sie sich auf das andere gedrängt. Glauben Sie mir, meine Mutter hat mir wirklich beigebracht, Menschen in Not zu helfen.« Sie hält inne und blickt aus dem Fenster. »Obwohl Marja Minea geholfen hat, wäre es mir trotzdem lieber, sie würde mir sagen, weshalb sie eigentlich hier ist.«

Und weshalb Sie meinen Mann so neugierig anguckt, füge ich in Gedanken hinzu, sage jedoch laut: »Vielleicht schreibt sie einen Kriminalroman über wahre Fälle?«

Mit der Bemerkung schaffe ich es, Edna aus den Erinnerungen zu lösen, die ihre Mutter an sie weitergegeben hat.

»Das kann natürlich gut sein. Wollen Sie einen Kaffee?«

Während sie den zubereitet, blicke ich aus dem Fenster. Dabei sehe ich das Paar von gegenüber, wie es auf zwei Männer einredet. Ich ziehe das Fenster auf Kippstellung.

»Das ist doch bloß unser Gästezimmer, was sie da gesehen haben«, höre ich, wie die Frau sich herausredet.

»Voll mit Kleidern?« Der Mann, der vorhin bei uns war, wirkt sehr skeptisch.

Die Frau lacht. »Die sind von unserer Nichte, die uns öfter besucht. Deshalb hat sie hier bei uns Kleider. Das ist praktischer für sie, dann muss sie die nicht immerzu hin und her schleppen.«

Durch das gekippte Fenster erkenne ich die Lüge, denn ich weiß es besser.

Ich höre einen der Männer sagen: »Wir sind gestern einer Frau gefolgt, die seit einiger Zeit immer in denselben Geschäften einkauft. Einer der Inhaber informierte uns, dass er aus verschiedenen Gründen den Verdacht hegt, es könne sich um eine Illegale handeln.«

Die Nachbarin gibt sich erstaunt. »Illegale? Also hören Sie mal! Das ist nun wirklich das Letzte, womit wir etwas zu tun haben.«

Ob die Männer ihr glauben? Ich hoffe es. Nicht für diese Frau und ihren Mann, der jetzt auf seinem Smartphone he­­rumtippt und irgendetwas von Anwalt sagt. Einzig für Minea hoffe ich, dass die Männer ihnen glauben.

Freizeittipps

 1 Bergstraße; sie reicht vom hessischen Darmstadt bis ins badische Wiesloch. Wie an einer Perlenkette liegen aneinandergereiht die einzelnen Orte an der Verkehrsader. In dem fruchtbaren Gebiet gedeihen auf den Sanddünen längs des Rheins unter anderem Weinreben und Spargel. Auch Tabak wurde in vielen Gemeinden angebaut. Seit dieser Anbau seitens der EU nicht mehr subventioniert wird, wurde er allerdings eingestellt. Vielerorts zeugen denkmalgeschützte Tabakscheuern von dieser traditionsreichen Geschichte. Die Bergstraße ist ein beliebtes Wohngebiet mit Einzugsgebiet der jeweils nahen Städte Frankfurt, Darmstadt sowie Mannheim und Heidelberg. Neben Naherholungssuchenden sind hier viele Urlauber anzutreffen. Informationen über die Region erteilt sehr gerne der Tourismus Service Bergstraße, Großer Markt 9, 64646 Heppenheim. www.dieberg­strasse.de

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