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Feinde aus Tradition. Verbündete aus Notwendigkeit. Xi Lei bekommt die größte Chance ihrer bisherigen Jägerinnen-Karriere: Die Suche nach dem Vampir, der für den Tod eines ganzen Dorfes im Himalaya verantwortlich ist. Die Spur führt sie nach New Orleans, wo Vampirkönig Damien Moreau unterdessen fieberhaft nach einem Weg sucht, seinen Jahrzehnte alten Deal mit der lokalen Jägerkoordinatorin für nichtig zu erklären. Leis Erscheinen kommt ihm da gerade recht. Die beiden gehen einen prekären Handel ein, der sie über die Grenzen New Orleans hinweg in ein Netz aus Intrigen und Korruption führt. Aber können sie einander wirklich vertrauen?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Inhaltsnotizen
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Glossar
Fremdsprachen-Glossar
Deklinationstabelle
Danksagung
Über die Autorin
Bisherige Veröffentlichungen
Blood and Guilt – die Vorgeschichte
© Sophie Grossalber, 2022
www.sophiegrossalber.com
Meiereigasse 8
2500 Baden bei Wien
Österreich
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Michaela Harich, www.michaelaharich.de
Korrektorat: Tino Falke, www.tinofalke.de
Satz: Sophie Grossalber, www.sophiegrossalber.com
Illustrationen und Cover: Sophie Grossalber, www.sophiegrossalber.com
ISBN: 9783754660324
Dieses Buch wurde veröffentlicht über tolino media.
Hier folgen Inhaltsnotizen für Menschen, die diese benötigen. Wer sie nicht lesen will, blättert bitte weiter.
Blut (teilweise grafisch)
Gewalt, Fantasy (grafisch)
Gewalt, Schwerter (grafisch)
Häusliche Gewalt (angedeutet)
einvernehmlicher Sex (teilweise grafisch)
Die Deklinationstabelle für das nicht-binäre Neopronomen "dey/deren", welches für nicht-binäre Charaktere in diesem Buch genutzt wird, befindet sich am Ende des Buches.
Xi Lei atmete tief durch und lehnte sich dann zur Seite, um an den Menschen in der Schlange vor ihr vorbei zum Schalter zu sehen. Sie hörte gerade noch so, wie der Zollbeamte, der bei der Passkontrolle hinter der Scheibe aus Plexiglas saß, im tiefsten Südstaatler-Akzent auf die ältere Dame vor ihm einredete – die offensichtlich kein Wort verstand, denn sie fuchtelte weiterhin mit dem grünen Einreiseformular vor seiner Nase herum.
Die Jägerin seufzte und rollte einmal die Schultern, um die Verspannung zu lösen, die sich über die fast vier Tage, die sie in Flugzeugen und auf Flughäfen verbracht hatte, angesammelt hatte. Innerlich verfluchte sie den Vampir dafür, dass dey schlau genug gewesen war, sich ausgerechnet in den USA abzusetzen. Nicht nur, dass Lei sich jetzt fühlte, als müsste jemand sie wie einen Klumpen Ton durchkneten, weil sie so viel Zeit in den unbequemsten Flugzeugsesseln der Welt verbracht hatte, es gab auch noch ein klitzekleines Problem: China hatte kein Auslieferungsabkommen mit den Vereinigten Staaten abgeschlossen. Selbst wenn sie also ihre flüchtige Person finden sollte, konnten die amerikanischen Jäger, oder auch die Vampire selbst, ihrer Mission einen Riegel vorschieben.
Ganz zu schweigen davon, dass dey vielleicht nicht mehr in New Orleans ist …
Endlich kam Bewegung in die Schlange am Schalter, und Lei sah einen Lichtblick am Horizont. Sie wollte nur in ihr Hotel, duschen und den Jetlag ausschlafen. Wenn sie noch irgendwo eine ordentliche Massage oder Dehnübungen unterbringen konnte, umso besser. Aber zuerst musste sie es ohne Komplikationen durch die Passkontrolle schaffen. Sie hatte sich offiziell als einreisende Jägerin angekündigt und auch ihren Fall den Jägern in New Orleans dargelegt. Der Zollbeamte starrte sie jedoch über die Schulter des Reisenden vor ihr so finster an, dass sie nicht daran glaubte, heute noch vor Mitternacht im Hotel anzukommen.
Der dumpfe Schlag, mit dem der Stempel des Zollbeamten auf dem Pass des Einreisenden landete, hallte durch die nächtliche Ankunftshalle. Er gab den Pass zurück, und Lei beobachtete, wie der Mann vor ihr durch die Türen zur Gepäckausgabe schritt. Die Türen schlossen sich mit einem leisen Zischen hinter ihm, und sie drehte den Kopf wieder zum Zollbeamten. Dieser winkte sie mit einer kurzen Handbewegung nach vorne.
Lei trat an die auf dem Boden ausgewiesene Linie, reichte dem Beamten ihren Pass und das Formular. Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte, ihre Nervosität damit zu besänftigen, dass sie den Mann hinter der Plexiglasscheibe genauer unter die Lupe nahm, um sich so von ihren eigenen Gedanken abzulenken. Die dunkelblaue Uniform unterstrich seine schwarzen Haare. An den Schläfen konnte sie die ersten grauen Haare erkennen. Das Licht der Neonlampen über ihnen wusch seine sonst vermutlich terrakottabraune Haut zu einem fahlen Rotbraun aus und zeichnete scharfe Schatten und Kanten auf sein Gesicht.
Der Beamte räusperte sich und fragte dann: „Ihr Grund für die Einreise?“
Er sah sie über den Rand ihres Einreiseformulars an. Lei unterdrückte ein Augenrollen. Der Grund stand schwarz auf grün auf dem Blatt Papier in seiner Hand. Aber natürlich musste er nachfragen. So verlangte es das Protokoll.
„Ich bin aufgrund einer Mission hier“, antwortete Lei in bemüht ruhigem Tonfall. „Ist alles mit den Jägern von New Orleans abgeklärt.“
Der Mann nickte und fragte dann weiter: „Sie wissen, dass Sie sich umgehend bei der Jägerkoordinatorin der Stadt zu melden haben, Frau …“, er warf noch einen Blick auf ihre Unterlagen, bevor er weitersprach, „… Lei?“
„Xi.“
Er hob eine Augenbraue.
„Mein Nachname ist Xi. Lei ist mein Vorname. Und ja, die Jäger sind mein nächster Stopp vor dem Hotel.“ Also komm in die Gänge, damit ich endlich hier raus kann!
„Gut, dann legen Sie bitte noch Ihre Finger auf den Scanner hier vorne. Zuerst bitte den rechten Daumen, dann die anderen Finger. Wenn Sie damit fertig sind, schauen Sie bitte in die Kamera hier.“ Er zeigte auf das kleine rechteckige Gerät, das in einem Ausschnitt der Glasscheibe über seinem Computerbildschirm hing. Lei tat wie geheißen und unterdrückte den Drang, ihn zu fragen, warum das so lange dauerte. In China würde sie dafür in ernste Schwierigkeiten kommen, hier vermutlich genauso. Und sie hatte wirklich keine Lust, noch mehr Zeit am Flughafen zu verschwenden.
Der Beamte nickte, stempelte ihren Pass und winkte sie dann endlich durch. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt in New Orleans.“
Sie bedankte sich, wünschte ihm noch eine schöne Nacht und trat dann durch die Tür, um ihr Gepäck zu holen.
Mit ihrem Schwert in seiner Reisehülle und ihrem Rucksack auf den Schultern sah sie sich nach dem Schild für die Mietwagen um. Obwohl sie unglaublich müde war, und am liebsten in ein Taxi gestiegen wäre, würde ein eigener Wagen vieles leichter machen. Sie sah nach oben zu den Schildern an der Decke, die den Taxistandplatz und die Parkplätze auswiesen. Da lang. Ein Pfeil auf dem Schild lotste sie nach rechts, ein Stück den Weg zurück, den sie gerade erst gekommen war, und dann links um eine Ecke. Schon sah sie sich mit einer Reihe an Schaltern konfrontiert.
Lei setzte ihren Rucksack mitsamt Schwert ab und kramte nach dem Zettel, auf dem die Mietwagenfirma stand, die ihr Josephine Bonnet empfohlen hatte. Wie hatte sie noch gleich gesagt? „Die Wagen sind zwar nicht billiger im Vergleich zu den anderen Firmen, aber immerhin zahlst du mit denen hier nicht auch noch versteckte Reparaturkosten für Kratzer, die du nicht verursacht hast.“ Sie steckte den Zettel weg, holte die Unterlagen hervor, die sie benötigte, und ging dann zum letzten Schalter in der hintersten Ecke.
Etwa eine Viertelstunde später hielt sie die Autoschlüssel in der Hand und lief die Reihen in der Parkgarage auf und ab, auf der Suche nach dem Wagen, zu dem sie gehörten. Aber in dem Dschungel aus schwarzen und blauen Chevrolet-Kompakt-SUVs verlor sie die Orientierung. Mit ihrer Geduld am Ende drückte Lei auf den Knopf zum Entsperren des Wagens - und siehe da: Etwas piepte hinter ihr. Sie drehte sich um und seufzte. An dem mitternachtsblauen SUV war sie gefühlt Hunderte Male vorbeigelaufen. Sie öffnete den Kofferraum, verstaute ihr Gepäck und stieg ins Auto. Josephine hatte ihr die Adresse des Jäger-Hauptquartiers in New Orleans auf einem weiteren Zettel notiert. Lei tippte die Adresse in das eingebaute Navigationsgerät. Mit der elektronischen Stimme des Navis im Ohr fuhr sie in die Stadt hinein.
Anfangs hatte Lei etwas Mühe gehabt, sich mit der Ausschilderung der Bundesstraße zurechtzufinden. Aber gemeinsam mit dem Navigationsgerät fand sie den Weg ins French Quarter.
„Sie haben Ihr Ziel erreicht. Ihr Ziel befindet sich auf der linken Seite“, verkündete die elektronische Stimme. Lei warf einen Blick auf das lachsfarbene Haus mit der grünen Tür, über der in großen Neonlettern Mama Jo’s Voodoo geschrieben stand. Jetzt musste sie nur noch einen geeigneten Parkplatz finden. Was mit einem so riesigen Auto kein leichtes Unterfangen war. Glücklicherweise fuhr in diesem Augenblick ein anderes Auto in derselben Größenordnung weg und hinterließ eine Lücke direkt vor dem Jäger-Hauptquartier.
Sie seufzte erleichtert, als sie endlich aus dem Wagen gestiegen war. Diese riesigen, amerikanischen Wägen waren ihr unheimlich. Vereinzelte Pärchen und kleine Grüppchen an Menschen, die entweder gerade auf dem Weg nach Hause oder zur nächsten Feier waren, taumelten die Dumaine Street entlang. Lei blinzelte ein paarmal, die Erschöpfung und der Jetlag krochen ihr tiefer in die Knochen, aber sie musste Josephine zumindest melden, dass sie angekommen war. Erst danach konnte sie ins Hotel. Und ins Bett. Sie hob die Hand und klopfte an die grün gestrichene Tür, von der die Farbe bereits wieder abblätterte. Ein paar Farbpartikel blieben an ihren Knöcheln hängen, und Lei wischte sie hastig an ihrer Hose ab.
Eine Gruppe lachender, feiernder Menschen zog kurzfristig ihre Aufmerksamkeit auf sich, verschwand dann jedoch um die nächste Ecke. Als sie sich wieder der Tür zuwandte, wurde diese gerade geöffnet. Dahinter stand eine etwa vierzigjährige Dame mit dunkler, umbrafarbener Haut und schwarzem Haar, das in einen strengen Dutt hochgesteckt worden war. Die Frage, wer Lei denn sei, stand unausgesprochen zwischen den beiden. Sie beeilte sich, sich vorzustellen. Schließlich wollte sie das hier so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„Ich bin Xi Lei. Die Jägerin aus Lhasa. Ich bin hier wegen eines Vampirs, und sowohl Josephine als auch der Beamte bei der Passkontrolle sagten, ich soll mich hier melden“, plapperte sie drauf los. Sie kramte ihren Ausweis hervor und wollte ihn der Dame in der Tür zeigen, aber diese winkte ab. Ihr strenges Auftreten stand im Kontrast zu dem herzlichen Lächeln, das sie jetzt zeigte.
„Lei! Ich hoffe, du hattest eine halbwegs angenehme Reise. Komm doch rein, ruh dich aus“, sagte sie und winkte Lei hinein. Sie folgte der Einladung, wenngleich etwas verwirrt über den plötzlichen Stimmungswechsel. „Ich bin Kristin, mal so nebenbei. Erzähl, was hat der Vampir, den du suchst, denn angestellt? Wahrscheinlich etwas ziemlich Schlimmes, wenn deine Vorgesetzten dich den weiten Weg von China hierherschicken, um ihn zu finden.“
Lei hörte nur mit halbem Ohr zu, während Kristin brabbelte und sie durch einen bis zum Bersten vollgestopften Verkaufsraum führte. „Jhing hält angeblich nichts von westlichen Geschlechteridentitäten. Deswegen nutzen wir neutrale Pronomen. Auch, wenn mir nicht ganz klar ist, warum wir denen diese Gefälligkeit machen. Dey hat nicht nur eins der höchsten Ko-Existenz-Gesetze gebrochen, indem dey ein Kind verwandelte, sondern infolgedessen ein ganzes Dorf auf dem Gewissen. Vielleicht auch nur die Hälfte, es war schwer abzuschätzen. Der Leichenberg war allerdings sehr eindeutig.“ Ihr Tonfall blieb ruhig, sachlich. Auch wenn sich in ihrem Innersten alles sträubte bei der Erinnerung an die leblosen, glasigen Augen, die sie stumm um Gerechtigkeit anflehten.
„Klingt nach einem schwierigen Fall, den du da hast. Kein Wunder also, dass deine Vorgesetzten dich hierhergeschickt haben“, erwiderte Kristin mit einem anerkennenden Pfiff. Dann öffnete sie eine Tür an der hinteren Wand des Verkaufsraumes. „Komm, hier lang. Du kannst morgen mit Josephine reden. Ich zeige dir erst mal dein Zimmer.“
„Ich habe mich selbst geschickt“, murmelte Lei und hielt kurz inne. „Eigentlich hatte ich ein Hotelzimmer gebucht. Wenn ich da heute nicht auftauche …“
„Ach, papperlapapp. Du kannst immer noch morgen ins Hotel gehen, wenn du dich dort wohler fühlst. Aber heute Nacht bleib erst mal hier. Wir Jägerinnen müssen ja schließlich zusammenhalten. In letzter Zeit gab es einfach zu viele Zwischenfälle mit den Wölfen oder Vampiren. Josephine wäre wohler dabei, wenn du deswegen hierbleibst. Ist sicherer.“ Kristin führte sie einen weiteren Gang voller Türen hinab. Lei antwortete nicht auf ihre Worte, sondern sah sich mit Argusaugen um. Die feinen Haare in ihrem Nacken und an ihren Armen stellten sich auf. Sie überlegte, ob Josephine deshalb wohler dabei war, wenn sie alle Jäger unter einem Dach hatte, weil sie sie dadurch leichter kontrollieren konnte.
Aber mir gefällt das nicht, dachte sie, während sie sich von der fremden Jägerin tiefer in das lachsfarbene Haus mit seinen grünen Türen führen ließ.
Damien Moreau drehte sich langsam in seinem Echtleder-Bürostuhl um die eigene Achse, während in seinen Gedanken immer wieder ein bestimmtes Bild auftauchte: Wie Flor Lozanos Gesicht in der Dunkelheit des Hauseingangs verschwand, bevor Josephine ihm die Tür vor der Nase zumachte. In den letzten beinahe sechs Monaten, seit er sie an Josephine übergeben hatte, war sie ihm vielleicht nicht aus dem Kopf gegangen, aber in der Stadt hatte sie niemand gesehen.
Er warf einen flüchtigen Blick auf den Zettel, der oben auf einem Stapel lag. Wieder dieselbe Information, die seine Partnerin im achten Bezirk des New Orleans P.D., das für das French Quarter zuständig war, übermittelt hatte. Keine Sichtungen. Keine seltsamen Vorkommnisse um Josephine Bonnets Voodoo-Laden.
Wenn er sie nicht so gut bezahlen würde, würde Damien glatt vermuten, dass Josephine ihm seine Informantin abgeluchst hatte. Aber wenn sie nichts zu berichten hatte, gab es eigentlich nur zwei mögliche Gründe dafür: entweder, Flor war wirklich von niemandem gesehen worden, oder aber, Josephine hielt sich sehr gut bedeckt. So wie er sie kannte, war es ziemlich sicher Letzteres.
Er beugte sich nach vorne, nahm den Zettel und legte ihn auf einen anderen Stapel. Flor war nur eine von vielen Jägern, die er Josephine gebracht hatte. Keine von denen waren je wieder in der Stadt gesehen worden. Und Damien bezweifelte, dass sie New Orleans unbemerkt verlassen hatten. Nicht, solange er Mitarbeiter am Flughafen und in der Stadtpolizei in seiner Tasche hatte. Er war sich sicher, dass die Jäger bereits tot waren. Er wollte nur wissen, warum. Josephine würde ihm das nie geradeheraus sagen. Das hatte sie beim letzten Mal mehr als klargestellt.
Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn, während er über seine weiteren Schritte nachdachte. Bevor er sich mit Josephine anlegen konnte, musste er sichergehen, dass sein Clan dabei nicht zu Schaden kam. Wenigstens das schuldete er seinen Vampiren für ihre Treue. Ein verhaltenes Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Grübeleien.
Er hob den Kopf, richtete sich im Sessel auf. „Ja, bitte?“
Die Tür ging auf, und Malone steckte den Kopf durch den Spalt. „Haben Sie ’ne Sekunde, Boss?“
Damien nickte und beobachtete, wie der stämmige Ire in das Büro trat und die Tür sorgfältig hinter sich schloss. „Was gibt’s?“, fragte er den jüngeren Vampir.
„Sergio hat angerufen. Eine Jägerin ist vor etwa einer Stunde in New Orleans gelandet.“
Damien hob eine Augenbraue. Neue Jäger in der Stadt waren nichts Neues. Schon gar nicht, wenn sie über den Flughafen einreisten. Warum sollte ihn das kümmern? Wenn die Jägerin auf legalem Weg nach New Orleans gekommen war, wusste Josephine vermutlich davon. Und er brauchte nichts weiter zu tun, als sich zurückzulehnen und zu beobachten. „Hat Sergio sonst noch etwas gesagt?“, fragte er sicherheitshalber nach.
„Er meinte, die Jägerin sei aus China. Sie sucht nach einem bestimmten Vampir.“ Malone schien kurz in Gedanken nach weiterer Information zu graben. „Jhing Yahui? Madame Bonnet müsste mehr wissen.“
Damien nickte, lenkte seine Aufmerksamkeit bereits wieder zurück auf seine Papierstapel. Malone rührte sich nicht vom Fleck, erwartete offensichtlich eine Antwort oder irgendeine Reaktion abseits eines Nickens. Ohne aufzusehen, erklärte Damien: „Yahui ist nicht mehr hier. Behaltet die neue Jägerin einfach im Auge. Wenn sie zu viel herumschnüffelt …“ Er ließ den Satz absichtlich unvollendet. Malone wusste, was zu tun war, sollte jemand seine Nase zu tief in ihre Angelegenheiten stecken; Jägerin oder nicht.
Der Ire murmelte ein bestimmtes „Boss“ und verschwand dann aus seinem Büro. Damien richtet sich wieder auf und lehnte sich im Bürostuhl zurück. Er verschränkte die Hände ineinander und klopfte zu einer nur ihm bekannten Melodie mit dem Zeigefinger auf seinen Handrücken.
„On verra où ça nous mènera“, murmelte er vor sich hin, während die Schemen eines Plans Gestalt annahmen. Er war sich nur nicht sicher, ob dieser Plan die Lösung seiner Probleme darstellen oder ob er ihn nur tiefer in die Scheiße reiten würde. Da gab es nur einen Weg, das herauszufinden. Damien stand auf, knöpfte sein Jackett zu und ging zur Bürotür.
Malone wartete wie immer im Flur vor der Tür. Als der Ire ihn sah, richtete er sich kerzengerade auf. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. Damien hatte vor ihm nicht verheimlichen können, dass Flors Fall ihn etwas mitgenommen hatte oder dass Josephine, als Antwort auf seine nicht gerade subtil ausgesprochene Warnung, ihre Jäger dazu angehalten hatte, etwas gründlicher bei ihren Inspektionen zu sein. Der Ire spürte, dass etwas zwischen Damien und Josephine nicht stimmte. Aber Damien hatte es noch nicht über sich gebracht, ihn vollends einzuweihen. Er wusste, dass er momentan einen schmalen Grat entlangbalancierte. Ein falscher Schritt und alles, was er sich über die Jahrzehnte aufgebaut hatte, würde um ihn herum zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Da fragt man sich doch, wie stabil das eigene Imperium eigentlich ist …
„Alles in Ordnung, Boss?“, fragte Malone, als Damien noch immer nicht gesagt hatte, was er eigentlich wollte. Der ältere Vampir nickte.
„Hat Sergio Kopien vom Pass und den ganzen Bewilligungen der neuen Jägerin geschickt?“
„Natürlich. Soll ich sie Ihnen holen?“, hakte Malone nach.
Wieder nickte Damien nur. Das war Antwort genug, und der Ire huschte den Gang hinunter, schneller als Damien es für einen Mann von seiner Statur für möglich gehalten hatte – und das ganz ohne seine Vampirfähigkeiten einzusetzen. Während er darauf wartete, dass Malone zurückkam, verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen. Er schloss die Augen und seufzte, als selbst in diesem Moment Flors verängstigtes Gesicht vor seinem inneren Auge auftauchte.
¡No pueden hacer eso! ¡Por favor! ¡Espere! ¡Señor, por favor! Die letzten Worte, die die Mexikanerin ihm entgegengeschleudert hatte, bevor Josephine die Tür geschlossen hatte, hallten in seinem Kopf wider. Wie eine hängen gebliebene Schallplatte. ¡Señor, por favor! Sie hatte ihn um Hilfe angefleht, aber es gab nichts, was er hätte tun können. Der Deal, den er mit Josephine vor dreißig Jahren eingegangen war, kettete ihn an sie. Es sei denn, er fand einen Weg, um sie loszuwerden, ohne seinen Clan in Gefahr zu bringen.
Malone polterte den Gang hinunter, und Damien öffnete seine Augen. Der andere Vampir hielt ihm eine Akte hin, die er zögerlich annahm. „Danke, Malone“, murmelte er, stieß sich von der Wand ab und ging zurück in sein Büro. Er legte die Akte auf den Tisch, ließ sich in den Sessel sinken. Eine Weile saß er nur da und starrte die cremefarbene Mappe an, als ob die darin enthaltenen Blätter Papier ihm ihre Geheimnisse anvertrauen würden, wenn er sie nur fest genug anstarrte. Oder die Lösung für sein Problem ihn anspringen würde aus dem Nichts, wenn er nur lang genug in diesem Sessel saß. Er zog die Mundwinkel nach unten und setzte sich wieder aufrechter hin. Er konnte nicht länger untätig rumsitzen und darauf hoffen, dass die Muse ihn küsste. Er musste etwas tun. Und diese chinesische Jägerin könnte der Schlüssel sein.
Wenn sie es denn will … Er hatte keine Ahnung, was er von dieser Lei erwarten sollte - oder, viel mehr, konnte. Sie war hier, um einen Vampir zu jagen, den er ihr nicht ausliefern konnte. Solange Jhing keine Regeln in seiner Stadt brach, würde er Lei auch nicht dabei helfen, ihren Fall abzuschließen. Was außerhalb seines Territoriums geschah, interessierte ihn nur, wenn es irgendwie doch seinen Bereich betraf. Wie Flor, die sich in Mexiko unter Menschen geschlichen hatte, die nach New Orleans gekommen waren, und die eine potenzielle Gefahr für seine Geschäfte dargestellt hatte. Aber vielleicht konnte er Lei auf anderem Wege auf seine Seite ziehen. Selbst, wenn es ihm widerstrebte, auf die Hilfe einer Jägerin angewiesen zu sein. Er lehnte sich im Sessel vor, klappte die Akte auf und legte die Kopie ihres Passes und Einreiseformulars zur Seite. Damien wusste nicht, wie Sergio es geschafft hatte, an eine Kopie von Leis Missionsprotokoll zu gelangen. Aber was er darin las, gab ihm das Gefühl, dass es leichter werden würde als gedacht, Lei für seine Zwecke einzuspannen.
Das Zwitschern der Vögel und die Geräusche von Jägern beim morgendlichen Training begleiteten Lei aus ihrem Traum zurück in die Realität. Sie blinzelte, hob die Hand, um ihre Augen von dem einfallenden Sonnenlicht zu schützen. Sie setzte sich auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah sich in dem spärlich eingerichteten Zimmer um. Es war gerade groß genug für ein Bett, einen Schreibtisch und einen Schrank. Sie hatte ihren Mantel an den Haken bei der Tür gehängt. Das Schwert lehnte neben dem Bett, wo sie es vor dem Einschlafen hingestellt hatte. Der Rucksack stand, immer noch gepackt, in einer Ecke zwischen Schrank und Schreibtisch. Nicht wirklich schlimmer als die Himalajas, dachte sie und zuckte mit den Schultern. Es war deutlich wärmer, und der Wind pfiff nicht durch irgendwelche Ritzen im Haus. Tatsächlich war es so drückend schwül, dass Lei sich fragte, ob es wirklich erst morgen war oder ob sie nicht mehr vom Tag verschlafen hatte.
Sie stand vom Bett auf, versuchte, den Anschein von Ordnung zu wahren, und machte ihr Bett, bevor sie sich ihrem Rucksack widmete. Die trainierenden Kolleginnen und Kollegen waren indes verstummt. Vermutlich waren sie dabei, sich Frühstück zu beschaffen, oder gingen ihren Aufgaben nach. Leis Magen meldete sich mit lautem Grummeln zu Wort, und sie musste ein Grinsen unterdrücken, als sie an ihre Ausbildungszeit zurückdachte. Einer ihrer Mitschüler hatte immer lachend kommentiert, dass man eine Uhr nach Leis Magen hätte stellen können und immer pünktlich zum Essen kommen würde. Sie hatte sich nie dafür geschämt. Menschen brauchten Nahrung zum Überleben. Warum sollte sie also verletzt oder beschämt sein, wenn ihr Körper ihr mitteilte, was er benötigte? Sie hatte das Privileg, nicht hungern zu müssen. Ganz im Gegensatz zu weiten Teilen der Weltbevölkerung. Obwohl eigentlich genug Ressourcen verfügbar wären, um die ganze Welt zu ernähren, wenn sie nur richtig verteilt wurden. Lei schüttelte den Kopf über die zeitweilige Boshaftigkeit der Menschheit. Wozu mussten sie Vampire oder Werwölfe jagen, wenn sich ihre eigene Spezies genauso gut selbst zu Grunde richten konnte?
„Es ist zu früh für diesen Scheiß“, murmelte sie, fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht und suchte dann ihre Kleidung für den Tag aus den wasserdichten Beutelchen in ihrem Rucksack, in die sie ihr Zeug gepackt hatte.
Mit nun schon aufdringlicher grummelndem Magen verließ Lei ihr Zimmer und warf einmal einen Blick in beide Richtungen des Gangs vor ihrer Tür. Keine Spur von Kristin oder irgendeinem anderen Jäger. Sie hob eine Augenbraue. Sieht so aus, als wären gerade wirklich alle beim Essen. Sehr zu ihrem Leidwesen, denn sie hätte Kristins Tourguide-Fähigkeiten jetzt gut gebrauchen können. Die andere Jägerin hatte es nämlich in der Nacht davor verabsäumt, ihr zu sagen, wo sich der Speisesaal befand – vorausgesetzt, die Jäger von New Orleans aßen immer gemeinsam und gingen zu den einzelnen Mahlzeiten nicht ihrer eigenen Wege.
Lei entschied sich, nach rechts abzubiegen und dem Korridor zu folgen. Dieser führte sie an einer Reihe von Türen vorbei, von denen sie annahm, dass sie in weitere Schlafzimmer führten. Zumindest sahen diese Türen genauso aus wie ihre eigene.
Sie kam vom Schatten des Ganges aus in einen Innenhof, wo sie Trainingspuppen und Fitnessgeräte vorfand. Das war also der allgemeine Trainingsplatz, zumindest von diesem Stützpunkt. Sie konnte sich vorstellen, dass einige der Jäger es ähnlich hielten wie sie und ihre Kameraden in China, und einfach ins Fitnessstudio gingen, wenn sie keine spezifischen Übungen machen mussten, wie etwa einer gepolsterten Holzpuppe einen Stahlpflock ins Herz zu treiben. Kein Betreiber eines Fitnessstudios würde sich darüber freuen, wenn ein Teil der Kundschaft die hauseigenen Boxsäcke mit mitgebrachten Waffen pfählte. Auch wenn jeder wusste, wie Jäger Vampire töteten. Dabei zusehen wollten bestimmt die Wenigsten.
Während Lei grübelnd im Innenhof von Josephines Haus stand, landete eine Taube auf dem Kopf einer der Holzpuppen.