Blutkraut, Wermut, Teufelskralle - Manfred Baumann - E-Book

Blutkraut, Wermut, Teufelskralle E-Book

Manfred Baumann

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Angelo Stassner plant einen neuen Coup: Blutkräuter-Gemälde. Doch jetzt liegt der Galerist in seinem eigenen Blut. Erstochen. Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Mord und den Blutkräuter-Bildern? Die Polizei bittet den Kräuterexperten und Hobbydetektiv Pater Gwendal um Hilfe. Dieser rätselt über ein seltsames Zeichen, das der Tote hinterlassen hat. Das überlieferte Wissen um die Kraft von Pflanzen öffnet Gwendal schließlich den Weg zur verblüffenden Lösung des Falles.

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Seitenzahl: 355

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Manfred Baumann

Blutkraut, Wermut, Teufelskralle

6 Kräuter-Krimis

Impressum

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Text im Kapitel »Wermut«:

http://gutenberg.spiegel.de/buch/-1363/1

Charles Baudelaire: Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal.

Übersetzung von Terese Robinson,

erschienen 1925 im Georg Müller Verlag, München

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © kulikovan / fotolia.com, © maylat / fotolia.com, © Thomas Mathis https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Phyteuma_orbiculare.JPG

ISBN 978-3-8392-5440-0

Zitat

»Ich habe keine Lieblingsheilpflanze. Es gibt nur Pflanzen, die ich mehr oder weniger verstehe.«

Pater Johannes Pausch, Prior des Europaklosters Gut Aich, St. Gilgen/Österreich

*

»Those who don't believe in magic will never find it.«

Roald Dahl

Inhalt

Blutkraut

Wermut

Oregano

Petersilie

Liebstöckel

Teufelskralle

Blutkraut

Hirtentäschel, Capsella bursa pastoris, auch: Blutkraut, Herzelkraut, Beutelschneider, Löffeldieb

Bekannteste Heilwirkung ist die blutstillende Wirkung. Früher wurde nach Geburten gern Hirtentäscheltee getrunken, um Nachblutungen zu minimieren.

Der Sage nach streute der Teufel Hirtentäschelsamen in den Garten von Rübezahl.

*

Das Geräusch klang jämmerlich, als hocke ein kleines Gespenst an der Kirchenmauer und wimmere vor sich hin. Aber es waren nur die Angeln der Kirchentür, die quietschten. Bruder Friedhelm hatte offenbar vergessen, die Scharniere zu ölen. Ich muss ihn daran erinnern, dachte Pater Gwendal, als er ins Freie trat. Der Gesang der Mitbrüder, der die nächtliche Vigilfeier beendete, hallte noch in ihm nach. Die anderen waren auf dem Weg zu den Dormitorien, zu den Schlafräumen im Hauptgebäude. Gwendal wollte noch ins Freie, wollte die belebende Luft der lauen Sommernacht genießen. Sein Ziel war der sanft zum See abfallende Mariengarten im Süden des Klosters. Wieder drang der klägliche Laut an sein Ohr. Er drehte sich um. Die Tür zum Gotteshaus war verschlossen. Die konnte nicht mehr quietschen. Vielleicht doch ein kleines Gespenst in der Dunkelheit? Nein, das Klagen hatte einen anderen Tonfall. Es kam aus Richtung der Baumgruppe außerhalb der Einfriedung. Vermutlich schrie hier der kleine Sperlingskauz, den Gwendal vor drei Tagen in der Dämmerung auf der Gartenmauer beobachtet hatte. Der Mönch setzte seinen Weg fort. An der obersten Stufe der Steintreppe hielt er inne. Die warme Nachtbrise streichelte Gwendals Wangen. Als tränke er purpurroten Wein aus einem funkelnden Pokal, sog der Ordensmann die warme Luft in sich ein. Und zugleich mit dem Odem der Nacht erreichte ihn der erste Duftschwall aus dem Kräuterreich, das sich zu seinen Füßen erstreckte. Aus dem Bouquet stach der Geruch der Nachtviole besonders hervor. Süß und zugleich würzig. Schon zu Ostern hatten die schlanken Strünke die ersten violetten Blüten zum Himmel gereckt und seitdem die Besucher des Gartens Woche für Woche mit ihrer Pracht erfreut. Normalerweise blüht diese Kreuzblütlerart nur bis in den Juli. Aber die Nachtviolen von Kloster Eulenberg zeigten ihr violettes Kleid fast jedes Jahr bis Mitte August. Als wollten sie die Gottesmutter an ihrem Festtag noch begrüßen. Heute war die Nacht zum 15. August. Morgen würde man das Fest Mariä Himmelfahrt feiern, Assumptio Beatae Mariae Virginis. Hochfrauentag nannte man diesen Feiertag in Bayern und Österreich, seit Jahrhunderten verbunden mit Kräuterfest und Kräuterweihe. Gwendal war gespannt auf den morgigen Tag. Das Marienfest mit Kräuterzeremonie gehörte jedes Jahr zu den Höhepunkten des Veranstaltungsreigens auf Stift Eulenberg. Aber dieses Mal würde es zu einem besonders reichen Erlebnis werden. Denn morgen eröffneten die Mönche den neu angelegten Kräutergarten im östlichen Teil des Areals. Planung und Bau hatten fast zwei Jahre gedauert. Aber nun war es soweit. In wenigen Stunden würde das Fest über die Bühne gehen.

Langsam stieg Gwendal die Stufen hinunter zur ersten Terrasse. Er gönnte sich oft den Luxus eines stillen Streifzuges durch die Kräutergärten des Klosters, bevorzugt in lauen Sommernächten. Mit jedem Schritt änderte sich die Komposition der Duftnoten, die ihn erreichten. Schon schob sich der frischherbe Geschmack von Muskatellersalbei über den süßlichen Ton der Nachtviole. Gleich darauf mischte sich der Geruch von Lavendel dazu, der Gwendal immer an die gestärkte Bettwäsche im Schlafzimmer seiner Großmutter erinnerte. Beim nächsten Beet umschmeichelte ihn der Duft von Zitronenmelisse. Er beugte sich vor, strich mit den Fingern über die Blätter, sog den Geruch tief ein. Weiter ging es im Reich des nächtlichen Kräuterzaubers. Der Pater erreichte die zweite Terrassenstufe. Ein Hauch von Kampfer drang in seine Nase. Er lächelte. Der Mond war vor einer Stunde untergegangen, aber das Licht der Sterne reichte völlig aus, um das Königsblau der kleinen staubwedelähnlichen Blütenstrünke zum Glänzen zu bringen. Hier wuchs Ysop, dessen Geruch immer auch ein wenig an Kampfer erinnerte. Und bisweilen auch an Bohnenkraut. Wieder bückte sich Gwendal und strich behutsam über die Blüten und Blätter des Ysop. Es war zugleich ein anerkennendes Streicheln, ein Lob. Ein Dank für einen treuen Wächter. Der Ysop wirkte mit seinen ätherischen Ölen wie eine Waffe gegen Fressschädlinge. Sein intensiver Geruch hielt Schnecken und Kohlweißlinge fern. Der Ysop, an den Rändern der Beete gepflanzt, schützte dadurch auch viele Kräuter in seiner Umgebung. Als Gwendal die nächste Terrasse erreichte, hörte er wieder das helle klagende Fiepen. Ein Schatten strich über die Klostermauern, segelte nach draußen. Der Sperlingskauz hielt offenbar auf das Ufer des kleinen Sees zu, der sich an den Fuß des Klosterhügels schmiegte. Ein paar Sekunden konnten Gwendals Augen der Schattenkontur des Vogels am Himmel folgen, dann verschluckte ihn die Dunkelheit. Er wollte noch eine Weile bleiben, streckte seinen fülligen Körper auf die breite Steinbank zwischen dritter und vierter Trasse. Er ließ seine Gedanken wandern, über das Seeufer hinaus zu den Sternen. Er spürte die Vorfreude auf das morgige Fest. Und zugleich badete er im Meer der Düfte, die von den vielfältigen Geschenken Gottes ringsum auf ihn einströmten. Rosmarin, Anis, Majoran, Wermut, Zitronenverbene, Melisse, Thymian. Er fühlte sich eins mit der Schöpfung. Der Duft und die Farbenpracht seiner Kräuter waren für ihn wie ein Gebet. Wie ein Gesang, der ein Lied anstimmte über das Vertrauen in die Kraft des Lebens.

Doch schon nach ein paar Minuten wurde dieses Lied gestört. Motorenlärm röhrte durch die Stille. Gleich darauf hörte er Rufe, die immer lauter wurden. Galten diese Rufe ihm? Er stemmte seinen Körper hoch und stapfte nach oben, missmutig wegen der unerwarteten Störung. Dennoch getrieben von der Neugierde, die seinem Naturell entsprach. Die Szene, die sich ihm im Hof des Klosters bot, hatte er nicht erwartet. Er sah ein Polizeiauto mit blinkendem Blaulicht. Was machte ein Einsatzfahrzeug der Exekutive mitten in der Nacht im Stiftsareal? Und warum fuchtelte der Prior aufgeregt mit beiden Händen in seine Richtung. Den Uniformierten, der neben der geöffneten Wagentür stand, kannte er. Das war Revierinspektor Albert Thominger. Einst gefeierter Mittelstürmer des USK Eulenberg und seit ein paar Monaten der örtlichen Polizeidienststelle zugeteilt.

»Was ist los, Albert?« Er war ein wenig außer Atem, als er die beiden Männer erreichte. Der plötzliche Lärm hatte ihn die Terrassenstufen um einiges schneller hinaufeilen lassen, als ihm gut tat. »Was soll dieser Aufruhr?«

Der junge Beamte verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.

»Das soll sie Ihnen selber sagen.« Sie? Gwendal verstand nicht. Der Polizist drückte eine Taste seines Handys und reichte es dem Mönch. Verwundert nahm Gwendal das Telefon entgegen und hielt es ans Ohr. Er erkannte die Stimme auf Anhieb, obwohl er die Frau seit vielen Monaten nicht mehr gesehen hatte.

»Verflucht, warum haben Sie Ihr Handy nicht eingeschaltet?« Sie hielt sich nicht lange mit Einleitungen auf.

»Ich wünsche Ihnen auch einen guten Abend, Frau Chefinspektorin. Schön, dass Sie unsere klösterliche Ruhe zur nächtlichen Stunde durch das imposante Erscheinen eines Streifenwagens bereichern.«

»Was soll ich machen, wenn Ihr Handy tot ist und am Telefon der Klosterpforte kein Schwanz abhebt?« Hier leben keine Schwänze, sondern körperlich komplett ausgestattete Mönche, war er versucht zu sagen, unterließ es aber. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung vor knapp einem Jahr. Damals war ein Toter unter einem Salbeistrauch des Klostergartens gelegen.1 Und Chefinspektorin Sybille Knaus hatte ihm zur Begrüßung nicht einmal die Hand gereicht.

»Ich brauche Sie.«

Wie bitte? Hatte er sich verhört?

»Wie meinen Sie das?«

»Verdammt, so wie ich es sage: Ich brauche Sie!«

Er blickte sich verwundert um. Nein, er träumte nicht. Er stand mitten auf dem Klosterhof. Über ihm blinkten die Sterne. Aus dem Mariengarten wehte immer noch ein Hauch von Nachtviole, Muskatellersalbei und Lavendel zu ihnen herüber. Neben sich erblickte er einen verschlafenen, verdattert blickenden Prior und einen hilflos grinsenden Streifenbeamten, der vor vielen Jahren sein Ministrant gewesen war.

Er schluckte, räusperte sich, um seiner Stimme mehr Halt zu verleihen.

»Morgen ist Marienfeiertag. Wir weihen unseren neuen Kräutergarten ein. Das wird ein großes Fest. Wir erwarten viele Besucher. Selbst wenn Sie herkommen, werde ich mich leider keine Minute für Sie freimachen können. Übermorgen habe ich den ganzen Tag über Therapiedienst im Ottilienzentrum, aber vielleicht könnte ich in der nächsten Woche …«

»Auf der Stelle!« Ihre Stimme war lauter geworden.

Er hielt inne. Auf der Stelle? War das ein Scherz? Er hatte diese stets übel gelaunte Frau seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Sie war ihm nicht abgegangen. Und plötzlich tauchte sie wieder auf, als Stimme am Telefon, die ihm mitten in der Nacht einen Polizeiwagen samt Beamten vor die Nase knallte.

»Ich habe einen Toten.«

»Wie bitte?«

»Es ist Angelo Stassner.« Sie sagte das in einem Tonfall, als müsste er den Namen kennen. Er blickte irritiert auf Thominger. Der junge Beamte zog die Schultern hoch, schüttelte den Kopf. Keine Ahnung.

»Ich bedaure sehr, dass Sie mit einem Toten konfrontiert sind, Frau Chefinspektor. Aber warum brauchen Sie dazu mich?«

»Das erkläre ich Ihnen, wenn Sie da sind.«

Ein heller Ton war zu hören. Gleich darauf noch einer. Die Kirchturmglocke schickte ihre Botschaft durch die Dunkelheit. Es war Mitternacht. Es galt, einen neuen Tag anzukündigen. Den Hochfrauentag. Das Fest Mariae Himmelfahrt. Gwendal lauschte dem Klang der Glocke. Bald würden sie die Pforten öffnen für die vielen Gäste der Kräuterweihe. Er holte tief Luft, atmete bewusst den Duft der Nachtviolen ein.

»Bitte.« Die Stimme am anderen Ende der Verbindung klang leise.

Er reagierte nicht. Schwieg. Aber seine Finger aktivierten den Außenlautsprecher am Handy. Ein paar Sekunden war nichts zu hören außer einem schwachen Rauschen aus dem Lautsprecher.

»He, Pater Gwendal, sind Sie noch da?« Nun hörte sie sich wieder an wie die forsche Polizistin, die er kannte.

»Ja.«

Sie schnaubte. »Wie ich an der Akustik erkenne, haben Sie das Handy auf ›laut‹ geschaltet.« Das Fauchen, das sie folgen ließ, erinnerte ihn an den Marder, der ihm im Frühjahr im Geräteschuppen untergekommen war.

»Also von mir aus, dann sollen es alle hören. BITTE!« Sie brüllte. Dann wurde ihre Stimme mit einem Mal sanft. »Reicht das jetzt? Kniefall genug?«

»Ja.«

»Dann beeilen Sie sich.«

Die Turmuhr hatte aufgehört zu schlagen. Im Hof von Kloster Eulenberg standen drei Männer zwischen der Kirche und einem Polizeiwagen mit drehendem Blaulicht. Ein Ordensprior, ein Streifenbeamter und ein schlichter Mönch und Kräuterfreund.

Alle drei grinsten.

»Albert, was weißt du?« Gwendal hatte im Fond des Autos Platz genommen. Draußen huschten Bäume vorbei, ein alter Heustadl, eine Kapelle. Albert Thominger war ein rasanter Chauffeur.

»Leider gar nichts, Pater. Sie hat vor 20 Minuten auf der Dienststelle angerufen und mich zum Kloster beordert, um Sie zu holen. Gründe hat die Chefinspektorin dem kleinen Revierinspektor keine genannt.«

»Aber du weißt wenigstens, wohin wir fahren.«

»Ja, zumindest weiß es mein Navi. Dillenberg. Erlenweg 19.«

Die Adresse sagte ihm gar nichts. Aber den Ort kannte er, flüchtig. Sie würden etwa eine Dreiviertelstunde brauchen. So, wie der junge Beamte über die zu dieser nächtlichen Stunde schwach befahrenen Landstraße raste, vielleicht auch nur eine halbe.

Sie schafften es schneller. 21 Minuten nachdem sie das Kloster verlassen hatten, bog Thominger von der Landstraße ab. Das Navi lenkte sie zu einem breiten, gut ausgebauten Feldweg. Gleich darauf schälten die Scheinwerfer des Wagens eine Toreinfahrt aus der Dunkelheit. Vor einem großen Gebäude standen drei Polizeifahrzeuge. Der Revierinspektor bremste, sprang aus dem Auto und öffnete die Hintertür des Wagens. Ächzend stieg Gwendal aus. Er trug immer noch den hellen Umhang, mit dem er auch die Vigilfeier zelebriert hatte.

Einer der Beamten vor dem Haus steuerte auf sie zu.

»Guten Abend, Pater. Ich darf Sie ins Haus begleiten.« Dem Mann lugten graue Haarsträhnen unter der Dienstkappe hervor. Das Gesicht wirkte freundlich, offen. Der Polizist, den er auf Anfang 50 schätzte, erinnerte Gwendal eher an einen Schafhirten auf der Alm als an einen Gesetzeshüter im Einsatz. Sein Händedruck war fest.

Gwendal folgte dem Beamten. Sie bewegten sich mit raschen Schritten auf das Haus zu. Plötzlich hemmte etwas Gwendals Schritt. Ihn überkam das Gefühl einer Erscheinung. Aber es war kein übernatürliches Phänomen, das ihn faszinierte, es war das Gesicht einer jungen Frau. Sie stand im Hof, ein paar Schritte von der Haustür entfernt, neben zwei Polizistinnen. Der Lichtstreifen aus einem der Fenster fiel exakt auf ihr Gesicht. Sie blickte zu ihm herüber. Es waren vor allem die Augen, die ihn beeindruckten, der sanfte, melancholische Blick, dazu die hellen Haare, die ihr in langen welligen Locken über die Schulter fielen. Die rechte Hand hatte sie auf die Brust gelegt, als fühle sie dem eigenen Herzschlag nach. Er wusste sofort, woran ihn dieser Anblick erinnerte. An die Venus auf einem Gemälde von Botticelli. Ein berühmtes Bild, das er vor Jahren in Florenz gesehen hatte. Die Göttin auf diesem Bild hat ähnliches Haar, einen ähnlichen Blick. Sie steht auf einer Muschel und ist nackt. Die Frau im Hof war mit einer grünlich schimmernden Bluse bekleidet und trug dunkle Jeans. Unter ihren Füßen breitete sich keine Muschelschale aus. Die hellen Turnschuhe standen auf kiesigem Boden.

»Herr Pater, bitte hier entlang.« Die Stimme des Beamten riss ihn aus seiner kurzen Versunkenheit. »Ich komme schon.« Er wandte noch einmal den Kopf, versuchte, wieder den Blick der faszinierenden Erscheinung zu erhaschen. Aber die Frau hatte sich schon wieder abgewandt, hörte konzentriert zu, was eine der beiden Polizistinnen zu ihr sagte.

Die Chefinspektorin kam ihm verändert vor. Ihre Augen wirkten müde, aber der Blick schien ihm nicht mehr so verhärmt wie noch vor einem Jahr. Auch die beiden Furchen, die sich links und rechts der kantigen Nase nach unten zogen, wirkten weicher, glichen mehr der Bahn von sanften Regentropfen auf einem Rosenblatt als dem rauen Schnitt einer Harke auf vereistem Ackerboden. Sie streckte ihm die Hand hin, raffte sich zu einem Anflug von Lächeln auf.

»Danke, Pater, dass Sie gekommen sind.«

Sie befanden sich in einem großen Raum mit hellen Holzwänden und hoher Holzdecke, gestützt von Pfeilern und mächtigen Querbalken. Ein ehemaliger, großzügig umgebauter Heustadl, vermutete Gwendal. Was im Raum sofort auffiel, waren die vielen Bilder. Drei der Gemälde waren aufgehängt, die anderen lehnten aneinander gestapelt an den Wänden. Gwendal bemerkte Bilder in unterschiedlichen Größen und Farbschattierungen. Die linke Seite des Raumes beherrschte ein wuchtiger Holztisch, auf dem allerlei Flaschen standen, auch Dosen und Gläser. Die Wandfront an der rechten Seite wies zwei hohe Fenster auf, die bis zum Boden reichten. Auf dem Holzboden neben dem hinteren Fenster entdeckte Gwendal den Körper eines Mannes. Er lag mit dem Gesicht nach unten. Dunkle Flecken hatten das helle Holz zu beiden Seiten des Mannes verfärbt.

»Angelo Stassner.« Die Stimme der Polizistin war leise. Nun kam ihm der Name doch bekannt vor. Die vielen Bilder im Raum brachten ihn darauf. Noch ehe er in seiner Erinnerung weiterkramte, bestätigte die Chefinspektorin seine Vermutung.

»Angelo Stassner. 37 Jahre. Bekannter Galerist und Societypromi.« Irgendwo war ihm dieser Mann schon einmal begegnet. Auf einer Gartenausstellung? Wohl kaum.

»Wenn die Medien von diesem Verbrechen Wind bekommen und hier die ersten TV-Satellitenwagen aufkreuzen, werden meine Vorgesetzten zu rotieren beginnen. Und dann werden Sie mir gehörig Druck machen, vom Polizeidirektor bis zum Innenminister.« Die Polizistin blickte etwas unsicher auf den Pater, als erwarte sie von ihm augenblicklich Hilfe gegen die heraufdräuenden Schwierigkeiten.

Statt einer Erwiderung fragte Gwendal: »Darf ich?« Er deutete zur Leiche.

Sie nickte. Gwendal bewegte sich langsam auf den Toten zu, blieb zwei Schritte vor ihm stehen, um nicht in das Blut steigen. Er verschränkte die Finger und blickte lange auf den Toten. Dann begann er zu beten. Seine Lippen bewegten sich leise. Es war still im Raum. Die anwesenden Polizisten hatten ihre Tätigkeiten eingestellt und schauten auf den Benediktinerpater. Eine junge Beamtin hatte sogar die Kappe abgenommen. Auch ihre Lippen bewegten sich leise.

Nach etwa drei Minuten beendete Gwendal das Gebet. Seine Hand deutete das Kreuzzeichen an. Dann ließ er sich langsam in die Hocke nieder. Er wollte den Toten wenigstens kurz berühren. Als stille Anerkennung, dass dieser Leib vor Kurzem noch Leben in sich getragen hatte.

»Er ist etwa seit sechs bis acht Stunden tot, schätzt der Gerichtsmediziner.« Die Chefinspektorin stand neben ihm. Gwendal richtete sich auf.

»Die Attacke folgte dort drüben.« Die Kriminalbeamtin wies mit der Hand in die Mitte des Raumes. Eine dunkel schimmernde Blutlache war auf dem Boden zu erkennen. »Drei Stiche mit einem Messer. Zwei in den Bauch, einer in die Brust. Er ist zusammengebrochen und über den Boden gekrochen, versuchte wohl seinem Mörder zu entkommen.« Ihr Finger zeigte die verwischte Blutspur, die sich über den Boden zog. Sie endete unter dem toten Körper, der vor ihnen lag. Eines der Bilder, die an der Wand neben dem Fenster lehnten, war offenbar durch die Berührung des Sterbenden auf den Boden gerutscht. Der Rahmen steckte unter dem Kopf des Toten. Der ausgestreckte Arm des Sterbenden hatte noch die Bildmitte erreicht. Gwendal durchfuhr ein leichter Schauder, als er erkannte, worauf die Hand des Toten lag. Auf einem Schädel. Einem abgetrennten Kopf. Der prangte auf einem Tablett, das eine junge Frau vor ihrer Brust hielt. Der Ausdruck im Gesicht der Frau schwankte zwischen Triumph und tiefem Schmerz. Das musste die biblische Salome sein, die den abgeschlagenen Kopf von Johannes dem Täufer hielt.

»Gefunden wurde Stassner gegen acht Uhr. Eine halbe Stunde später sind unsere Beamten eingetroffen.«

Gwendal riss sich vom Anblick der gruseligen Szene auf dem Gemälde los.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Eine Nachbarin. Sie ist noch draußen im Hof.«

»Die Botticelli-Venus?«, rief Gwendal erstaunt.

»Wie?«

Er winkte ab. »Nichts. Ich glaube, ich habe die junge Frau vorhin bei unserer Ankunft gesehen.«

»Ja, sie wohnt mit ihrer Familie gleich in der Nähe. Ihr Mann und sie kümmerten sich um das Haus, wenn Stassner auf Reisen war, und erledigten auch sonst kleinere Aufträge. Die Frau brachte heute die Wäsche vorbei, die sie für ihn gebügelt hatte.«

Gwendal wandte sich vom Toten ab, zeigte mit müder Geste durch den Raum.

»Eine Galerie. Ein toter Mann. Offensichtlich der Besitzer.«

Er entfernte sich von der Leiche, stellte sich neben den Eingang. »Ich kannte weder den Toten noch dessen Geschäfte. Was, um Himmels willen, wollen Sie von mir?«

Er breitete hilflos die Arme aus, versuchte, nicht allzu theatralisch zu wirken.

»Wir zeigen es Ihnen.« Sie gab den Beamten im Raum ein Zeichen. Gleich darauf sah sich Gwendal von sechs Polizisten umringt. Sie hielten ihm Gemälde entgegen, die sie von den Stapeln genommen hatten. Gwendal schaute verunsichert auf die Kunstwerke. Kein Bild glich dem anderen. Sie unterschieden sich im Stil, in der Farbgebung, in Größe und Gestaltung. Zwei wirkten sehr realistisch, üppig und plastisch gemalt, andere bestanden nur aus Strichen, Andeutungen von Geschehnissen, hingeworfenen Figuren. So unterschiedlich die Bilder auch aussahen, sie schienen sich dennoch in einem zu ähneln: Sie zeigten alle Szenen von Gewalt. Auf dem kleinsten der Gemälde, einer Rötelzeichnung mit unruhigen Strichen, die dramatische Hast vermittelten, beugte sich eine Gestalt über eine zweite, die sich auf der Erde krümmte. Der hochgereckte Arm der ersten Figur hielt eine Waffe, bereit zuzuschlagen. Eine Art Keule.

»Das ist Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt. Der erste biblische Mord, wenn ich mich richtig an meinen Religionsunterricht erinnere.« Gwendal wandte sich verblüfft der Chefinspektorin zu. Das hätte er jetzt nicht auf den ersten Blick erkannt. Sie lächelte. Und dieses Mal wirkte ihre Miene tatsächlich freundlich. Oder zumindest nachsichtig.

»Es steht hinten drauf.«

Der Beamte, der das Werk hielt, drehte ihm die Rückseite des Bildes zu. Kain.Abel.Brudermord war auf den oberen Rahmen gekritzelt. Die Chefinspektorin wies in die Runde der Darstellungen.

»Das ist Judith, die gerade Holofernes enthauptet. Hier stirbt Cäsar unter den Dolchstichen der Senatoren. Auf diesem Bild wird John Lennon erschossen. Und hier rammen die gedungenen Mörder eine Lanze in den Körper des Feldherrn Wallenstein.«

Die Stimme der Chefinspektorin klang sachlich, als erkläre sie einer Gruppe von Besuchern die Menüauswahl in der Museumskantine.

»Auf allen Bildern in dieser Galerie sind Szenen zu erkennen, die die Ermordung von Persönlichkeiten aus der Mythologie oder aus der historischen Wirklichkeit zeigen. Wir haben das Attentat auf Abraham Lincoln, den Tod von John F. Kennedy, den von Achilleus abgeschlachteten Hektor, den ermordeten Dumbledore aus der Harry Potter Geschichte und vieles mehr. Und wir haben noch etwas. Auf allen Bildern. Sehen Sie bitte genau hin, Pater Gwendal.«

Er brauchte ein paar Sekunden, bis er erkannte, was die Polizistin meinte. Er wandte sich um, machte rasch ein paar Schritte auf die Leiche zu, umkurvte den leblosen Körper und starrte erneut auf das halb verdeckte Gemälde. Tatsächlich. Auch auf diesem Bild war es zu erkennen. Er hatte es vorhin nicht beachtet. Es erschien ihm auch nicht wichtig. Eine Nebensächlichkeit. Er kehrte zur Gruppe zurück, fixierte wieder die Darstellung des biblischen Brudermordes. Neben Abels Beinen waren etliche zarte, geschwungene Linien zu erkennen. Andeutung einer Pflanze, die dünn und schüchtern ihre kargen Blätter in die Höhe reckte. Ein zerbrechlich wirkender, sanfter Moment, der völlig im Kontrast zur brutalen Tat stand, die eben passierte.

»Das ist Hirtentäschel. Oder soll es zumindest sein.« Dieses Mal kam die Erklärung nicht von der Chefinspektorin, sondern vom Polizisten, der das Bild hielt. Auch er begegnete dem skeptischen Blick des Paters mit einer Andeutung von Lächeln.

»Steht ebenfalls hinten.« Er drehte das Bild um, hielt es hoch, damit Gwendal den winzigen Schriftzug am unteren Teil des Rahmens lesen konnte. Hirtentäschel. Capsella bursa-pastoris.

Sybille Knaus wies auf den Beamten. »Bezirksinspektor Adalbert Rindenborst, stellvertretender Postenkommandant von Dillenberg. Er ist nicht nur ein fähiger Polizist, sondern auch ein begeisterter Hobbygärtner. Ihm sind die Strünke auf den Bildern als Erstem aufgefallen.«

Sie blickte auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass sie einen Schritt weiterkamen. Ihr Arm deutete in den Raum.

»Wir haben ein Mordopfer. Ein bekannter Promi-Galerist. Erstochen. Eine brutale Tat. Auf allen Bildern in der Galerie befinden sich Szenen, die ebenfalls auf eine Gewaltaktion verweisen. Jede Tat wird von einer Pflanze begleitet. Und all diese Pflanzen, sagt unser kundiger Hobbygärtner und Polizeikollege, sind den Kräutern zuzurechnen. Deshalb brauchen wir einen Kräuterexperten. Und der einzige, den ich kenne, sind Sie, Pater Gwendal. Deshalb sind Sie hier.«

Der Benediktinermönch brauchte ein paar Momente, um das Gehörte zu verarbeiten. Er starrte auf ein weiteres der Gemälde, die ihm immer noch entgegengehalten wurden. Es zeigte offenbar den Mord an Wallenstein. Nicht nur die Lanze war deutlich auszumachen, auch die gezackten Blätter mit den violetten Blüten konnte man erkennen. Die Beamtin, die das Bild hielt, las vor, was auf der Rückseite stand. »Ruprechtskraut. Geranium robertianum.«

Bezirksinspektor Rindenborst setzte das Kain und Abel Bild ab und holte einen Zettel aus der Brusttasche.

»Ich habe Ihnen hier alle Pflanzennamen notiert, die wir auf den Rückseiten der Bilder gefunden haben.«

Er schaute auf die Liste. Nicht alle Namen waren ihm auf Anhieb geläufig, die meisten schon.

»Haben Sie eine Idee, Pater Gwendal, warum diese Kräuter ausgerechnet auf Gewaltbilder gemalt wurden? Und was das vielleicht mit dem gewaltsamen Tod des Galeristen zu tun haben könnte?« Die Chefinspektorin drängte, blickte erneut auf die Uhr.

Gwendal schüttelte den Kopf. Er war ein einfacher, unscheinbarer Benediktinermönch. Ja, er liebte Pflanzen, diese wunderbaren Geschöpfe Gottes. Er wusste auch manches über Kräuter, über Wachstum und Wirksamkeit. Aber er war kein Hellseher. Der Bezirksinspektor deutete auf den Zettel in Gwendals Hand.

»Mir sagen viele dieser Pflanzennamen gar nichts, Pater. Sehen wenigstens Sie irgendeine Verbindung zwischen den Kräutern, eine mögliche gemeinsame Auffälligkeit?«

Er sah auch keine, ließ das Blatt langsam sinken. Was machte er hier? Er sollte zu Hause in seinem Kloster sein, sich ausruhen. In wenigen Stunden brauchte er seine volle Kraft und Konzentration für das aufwendige Fest, für Kräutergartenweihe und Mariengottesdienst. Er war müde, fühlte sich ausgelaugt und zu etwas gedrängt, das er nicht leisten konnte.

Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Aber Gott sieht das Herz an.

Warum kam ihm dieser Spruch aus dem Alten Testament ausgerechnet jetzt in den Sinn? Er sah nicht einmal, was vor Augen ist. Er erkannte keinen Sinn darin. Was erblickte er denn? Ein paar kräftige Striche auf einem Gemälde. Einen Mann, der aus Zorn darüber, dass ihn Gott offenbar weniger beachtete als seinen Bruder, sich zu einem blutigen Tag hinreißen lässt. Gleich würde die Keule den Schädel des Bruders zerschmettern. Und in diese grausame Szene war mit zarten Linien ein Kraut hineingewoben. Ein Hirtentäschel sollte es sein.

Hirtentäschel? Plötzlich flammte ein Bild in seinem Innern auf. Er sah dieselbe Pflanze im Kräutergarten des Klosters und zugleich als Abbildung in einem der Kräuterbücher in seiner Bibliothek. Eine ganze Reihe von Namensbezeichnungen tauchte vor ihm auf. Bestand darin der Zusammenhang? Er drehte den Kopf in Richtung Leiche. Erneut eilte er hinüber, stieg behutsam über den Körper und betrachtete noch einmal aufmerksam das Gemälde. Auch wenn Kopf und Arm des Toten einen Teil des Bildes verdeckten, waren die stilisierten gelben Blüten dennoch klar zu erkennen. Sie sprossen aus den Ritzen der eingebrochenen Mauer, vor der Salome mit ihrer schrecklichen Last stand. Gwendal wollte nichts an diesem Tatort berühren. Er konnte das Bild nicht unter dem Kopf des Toten herausziehen, um eine mögliche Bezeichnung auf der Rückseite lesen zu können. Er glaubte auch so zu wissen, welches Kraut hier abgebildet war. Johanniskraut. Er hatte das Gefühl, nun auch mit dem Herzen zu sehen, nicht nur mit den Augen. Er kam rasch zurück, deutete nach hinten. »Auf dem Bild von Salome mit dem Haupt des Johannes blüht Johanniskraut.« Dann verwies er auf die anderen Bilder im Raum.

»Wir finden hier Hirtentäschel, Ruprechtskraut, das auch stinkender Storchschnabel genannt wird. Außerdem Schafgarbe, Schöllkraut, Vogelknöterich und einige andere, die auf dieser Liste stehen.« Er hob den Zettel in die Höhe. »Sie wissen, dass Kräuter meist nicht nur unter einem einzigen Namen bekannt und verbreitet sind, sondern unter vielen. Thymian heißt auch welscher Quendel, Immenkraut oder Zinis. Majoran wird auch Kuttelkraut genannt, Maigramme oder Wurstkräutel. Melisse kennt man als Bienenfang, Eibisch als Schleimwurzel. Aber diese Kräuter hier …«, er wedelte mit dem Blatt, »… die haben alle eine ganz bestimmte gemeinsame Bezeichnung, unter der sie auch in den Büchern aufscheinen. Blutkraut!«

Er schaute erwartungsvoll in die Runde. Verblüffte Gesichter blickten ihm entgegen. Einige der Personen im Raum zuckten mit den Schultern.

»Blutkraut? Noch nie gehört.« Die Chefinspektorin schüttelte ihre blonden Strähnen.

Gwendal nahm dem Bezirksinspektor das Bild von Kain und Abel aus der Hand. Er deutete mit dem Finger auf die zarte Pflanzenzeichnung.

»Die bekannteste heilsame Eigenschaft des Hirtentäschels ist seine blutstillende Wirkung. Früher tranken Frauen nach einer Geburt Hirtentäscheltee, um Nachblutungen zu minimieren. Deshalb wird Hirtentäschel in vielen Kräuterbüchern auch Blutkraut genannt. Auch die Leber- und Gallenpflanze Schöllkraut heißt in Schlesien ›Blutkraut‹, weil sie auch bei Ekzemen und starken Menstruationsbeschwerden hilft. Sogar der Gemütsaufheller par excellence, das sonnige Johanniskraut, trägt manchmal diese Bezeichnung. Seine Verbindung zu Blut verdankt Johanniskraut aber nicht seiner Heilwirkung, sondern der Tatsache, dass beim Zerreiben der Knospen roter Farbstoff austritt, das sogenannte Blut des Johannes.«

»Davon habe ich schon gehört«, pflichtete der stellvertretende Postenkommandant und Hobbygärtner ihm bei. »Die Bezeichnung Blutkraut ist mir neu. Aber ich erinnere mich, dass meine Großmutter das Johanniskraut bisweilen Herrgottsblut nannte.«

»Alles schön und gut.« Die Chefinspektorin hob beschwichtigend beide Arme.

»Wenn Sie sagen, alle Gewächse auf den sonderbaren Bildern heißen auch ›Blutkraut‹, dann glauben wir Ihnen das. Schön, dass der Kräuterexperte diese Verbindung gefunden hat. Aber was könnte das bedeuten?«

Noch ehe der Pater antworten konnte, dass er keine Ahnung habe, erschien ein Mann im Overall an der Tür. Offenbar gehörte er dem Team der Kriminaltechniker an. Der Mann hielt ein Handy in die Höhe.

»Wir haben endlich Stassners Telefon gefunden. Mit einer interessanten Nachricht auf der Mobilbox.« Das verdüsterte Gesicht von Sibylle Knaus wurde eine Nuance heller.

»Lassen Sie hören, Kollege Wildner.«

Der Angesprochene warf einen skeptischen Blick in Richtung Mönch.

»Das passt schon«, beruhigte die Chefinspektorin. »Pater Gwendal gehört quasi zur Truppe.«

Der Kriminaltechniker kam näher, wischte mit den Fingern über den Bildschirm des Smartphones. Plötzlich erklang eine Männerstimme im Raum. Sie war laut. Der Anrufer brüllte.

»Hör zu, du aufgeblasene Arschgeige. So lasse ich mit mir nicht umspringen!«

Die Stimme war trotz des kleinen Handylautsprechers gut zu vernehmen. Nur die Worte klangen verschwommen. Der Mann lallte. Er hörte sich betrunken an.

»Das wird dir noch leidtun! Mit mir nicht, verstehst du? Ich werde dich …« Ein Rumpeln ertönte, dann ein Krachen. Nun klang die Stimme weit entfernt, kaum mehr zu hören. »Wo ist dieses Scheißding hingefallen … Alles zum Kotzen …«Man hörte ein kurzes schabendes Geräusch. Dann war Stille.

»Mehr ist nicht drauf.«

»Wissen wir, wer der Anrufer ist?«

»Nein, die Nummer war unterdrückt. Aber das kriegen wir bald heraus. Soll ich es noch einmal abspielen?«

Noch ehe die Chefinspektoren oder einer der Kollegen antworten konnten, war die Stimme plötzlich erneut zu hören. Der Eindruck war gespenstisch. Verwirrung machte sich breit. Die Stimme kam nicht aus dem Telefon, sondern von draußen.

»Lasst mich durch, ihr Arschgeigen! Bullenschweine!« Die Rufe klangen dumpf, mit gepresstem Atem herausgewürgt. Aber es war eindeutig dieselbe Männerstimme.

»Kollege Rindenborst, schauen Sie nach, was da los ist.« Sybille Knaus hatte noch nicht fertig gesprochen, da war der Bezirksinspektor schon durch die Tür verschwunden. Und keine zehn Sekunden später bekamen die Anwesenden im Raum auch ein Gesicht zur Stimme präsentiert. Eine aufgedunsene Visage mit geröteten Augen. Der Mann in der Tür wurde vom Bezirksinspektor und einem weiteren Beamten gestützt. Er war Anfang 40, trug ein fleckiges T-Shirt über einer zerbeulten Hose. Speichel tropfte ihm aus dem Mund. Er rülpste. Ein Schwall von Akoholdunst erfüllte den Raum.

»Wie heißen Sie?« Die Stimme der Chefinspektorin klang schroff. Ihre Gesichtszüge strafften sich. Die Linien entlang der Nase wirkten wieder hart. Gefährlich hart.

Der Mann, dem das kümmerliche schimmelfarbene Haar schweißnass am Kopf klebte, starrte die Polizistin aus blutunterlaufenen Augen an. Dann erblickte er im Hintergrund den Toten. Ein Ruck ging durch den Körper des Neuankömmlings. Für einen Moment blitzte es in seinen Augen auf. Er wirkte schlagartig nüchtern. Dann begann er zu lachen. Eine Welle aus Drauflosprusten und Kreischen wogte durch seinen schwammigen Körper. Er riss sich energisch von den beiden Polizisten los. Seine Hand schoss nach vor, der Zeigefinger fuchtelte durch die Luft, als suche er einen Fixpunkt. Dieser Fixpunkt war eindeutig der Tote. Der Betrunkene verlor kurzzeitig die Kontrolle über seine Hand. Dann stach er erneut mit dem Zeigefinger in Richtung Leiche. Und gleichzeitig lachte er. Irre. Hysterisch. Die Stimme überschlug sich mehrmals. Es klang, als schüttle ihn eine tiefe, mächtige, alles überbordende Freude.

Es war vier Uhr, als Gwendal endlich wieder im Kloster eintraf. Während der Rückfahrt war er einmal kurz weggedöst, nur ein paar Minuten, dann hatte ihn die Wucht der Eindrücke wieder aus dem Schlummer gerissen. Er sah den Toten auf dem Fußboden. Das viele Blut. Die bizarren Bilder der Gewalt. Und dazu den sabbernden Betrunkenen und sein irres Lachen. Viel hatten die Polizisten aus dem Mann nicht herausgebracht. Er war mit dem Taxi gekommen, wie einer der Beamten aus dem Hof bestätigte. Ausweis hatte er keinen bei sich. Bei wiederholter Frage nach seinem Namen hatte der Betrunkene etwas gelallt, das sich nach »Marinus Bloder« anhörte. Er konnte aber auch anders heißen. Nach seinem hysterischen Lachanfall, der eine gute Viertelstunde dauerte, war er von einer Sekunde auf die andere weggesackt. Wie eine wurzelkranke Föhre, die der Wind umbläst. Er war auch trotz energischem Schütteln und belebenden Schlägen auf die Wangen nicht mehr munter geworden. Die Chefinspektorin hatte ihn ins Krankenhaus bringen lassen.

Als Gwendal das Anwesen verließ, hatte er sich noch einmal kurz umgeblickt. Aber die junge Frau mit dem Gesicht der Botticelli-Venus war nicht mehr zu sehen.

Zu Hause nahm Gwendal eine kalte Dusche und legte sich aufs Bett. Aber an Schlaf war nicht zu denken. In knapp zwei Stunden würde er sich ohnehin erheben müssen. Die Morgenandacht an Feiertagen begann im Kloster Eulenberg um 6.30 Uhr. Um sechs Uhr stellte er sich erneut unter die Dusche und ließ das eiskalte Wasser minutenlang auf seine Haut prasseln. Er sang dazu mit kräftiger Stimme zwei Marienlieder und »In the name of love«von U2. Beim Refrain hüpfte er unter der Dusche und ließ seine Hände auf die Oberschenkel klatschen, wie es auch Bono bei Konzerten oft vormachte. Beides, die Marienlieder und der U2 Song, hatte für ihn eine meditative, fast tranceartige Wirkung. Das half ihm, die grässlichen Bilder der vergangenen Nacht aus dem Kopf fernzuhalten.

Der Andrang zum Fest war riesig. Die Ordensgemeinschaft mit dem Prior an der Spitze hatte schon mit großem Zulauf gerechnet. Stift Eulenberg erfreute sich einiger Beliebtheit. Auch bei Menschen, die mit Kirche und katholischem Ritus wenig am Hut hatten. Die prächtigen Klostergärten und vor allem die Seminare mit dem weitum als Kräuterkoryphäe bekannten Pater Gwendal übten eine große Anziehungskraft aus. Und nun wartete das Stift mit einer weiteren Attraktion auf, einem zusätzlichen großzügig angelegten Kräutergarten! Da mussten offensichtlich alle dabei sein. Und sie kamen in Scharen. Am Ende des Tages zählten die Organisatoren an die 3000 Besucher. Mit knapp 1000 hatte man gerechnet. Natürlich hätte die Ordensgemeinschaft mit ihrer überschaubaren kleinen Mitarbeiterschar einen derartigen Aufwand nie stemmen können. Deshalb waren von Anfang an viele zusätzliche Kräfte aus der Region mit eingebunden worden: Wirtsleute, Feuerwehr, Vereine, die Marktgemeinde und Dutzende Freiwillige. Ein so großes Heer an Helfern braucht einen erfahrenen General an der Spitze. Und Stift Eulenberg verfügte gottlob über einen. Für einen General relativ jung, kaum 25 Sommer alt, und auch nicht mit Uniform und Epauletten geschmückt, sondern mit schlichter Dirndlbluse und Jeans. Aber was strategisches Talent, organisatorisches Know-how und professionellen Weitblick anbelangt, konnte kein lamettabehängter Stabsoffizier der Eulenberger Organisationschefin das Wasser reichen. Irina Stuck hatte schon während ihrer Schulzeit fast im Alleingang jedes Sportfest, alle Theateraufführungen und zwei Maturabälle, den eigenen und den ihres Bruders, organisiert. Im Stift schaukelte sie den Klosterladen, machte die Pressearbeit, entwarf das Layout für die Homepage, organisierte Exkursionen, kümmerte sich ums Marketing, betreute Seminarteilnehmer und verrichtete auch noch Einkauf und Buchhaltung für das angeschlossene Ottilienzentrum. Ihr Tag hatte 48 Stunden. Wenn das nicht reichte, nahm sie noch die Nacht hinzu. Und das stets mit freundlichem Gesicht und übersprudelnder Herzlichkeit. Darüber hinaus besaß sie noch zwei große Stärken: ihre Beharrlichkeit, sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen zu lassen, und ihr Talent, auf unerwartete Ereignisse spontan mit kreativen neuen Lösungsansätzen zu reagieren.

Selbst Pater Gwendal, der bekannt dafür war, Situationen nach eingehender Analyse gut einschätzen zu können, hatte aufgrund der ersten Besucherströme in den frühen Morgenstunden nicht erwartet, was an diesem Tag noch alles an Gästemassen auf die Eulenberger zukam. Die Ordensleute hatten anfangs von »ein paar Hundert« Gästen gesprochen und waren in zaghafte Entzückung geraten, sollte diese Zahl tatsächlich erreicht werden. Irina hatte von Anfang an mit gut 1000 Leuten gerechnet. Und sollten es mehr werden, hatte sie einen Plan B in petto.

Es war den Mienen der Benediktinermönche anzusehen, wie sehr sie sich freuten, dass bereits zur Morgenandacht um halb sieben die kleine Stiftskirche zu gut zwei Drittel gefüllt war. Das hatte man noch selten erlebt, allenfalls zu Weihnachten oder Ostern. Und als man sich nach der Andacht in den Hof hi­naus begab und mitbekam, dass ständig weitere Besucher eintrafen, stimmte der Prior bereits einen inneren Jubelgesang an: Da würden sie wohl im Lauf des Tages tatsächlich einige Hundert Besucher begrüßen dürfen, wie man erhofft hatte. Im Geiste überschlug der Prior die Höhe der Spenden und der zu erwartenden Einnahmen aus der Bewirtung. Auch in Irinas Kopf lief die Rechenmaschine, aber mit ganz anderen Zahlen. Die Morgenandacht endete um sieben Uhr. Zu diesem Zeitpunkt tummelten sich im Klosterareal bereits über 400 Leute. Zwei Stunden vor Beginn der Feierlichkeiten! Wie viele würden es um neun Uhr sein beim Mariengottesdienst im Freien, beim großen Umzug und der Einweihung des Kräutergartens? Und dann erst ab elf Uhr, wenn man zum Fest lud, mit Musikgruppen und Sängern, mit Tanz, Spiel, Kinderprogramm und reichhaltiger Bewirtung? Irina zückte ihr Handy. Sie verschwendete keinen Gedanken an den von ihr verfassten Plan B, der würde jetzt nichts mehr nützen. Es galt, augenblicklich zu improvisieren. Geplant war ursprünglich, die Besucher vor allem innerhalb des neuen Kräutergartens zu bewirten. Doch dieser Platz würde bei Weitem nicht reichen. Sie mussten das gesamte Klosterareal miteinbeziehen. Sie brauchten zusätzliche Tische und Bänke, mindestens das Doppelte an Geschirr, Köchen, Serviceleuten, Würsten, Salaten, Braten, Gemüse, Nudeln, Getränken, eine weitere Bühne, zwei zusätzliche Musikgruppen, eine größere Lautsprecheranlage für die Übertragung des Gottesdienstes, eine aufgestockte Schar an Einweisern, neues Parkplatzgelände, zwei weitere Toilettenwagen und vor allem noch viel mehr Helfer. Und während sie telefonierte, erklärte, organisierte, delegierte, dirigierte, insistierte, hatte sie für jeden, der ihr begegnete einen freundlichen Blick und ein Lächeln. Für manche sogar einen Händedruck.

Von all dem bekam Pater Gwendal nur am Rande mit. Sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Die morgendliche Duschkur mit eisigem Wasser hatte schon eine erfrischende Wirkung erzielt, aber die bleierne Müdigkeit war nicht ganz aus Gwendals Körper vertrieben. Er versuchte, sich auf den Ablauf der Zeremonien zu konzentrieren. Natürlich entging ihm nicht, dass auffallend viele Besucher das Areal und die Wege während der Prozession säumten. Doch wie viele tatsächlich nach Stift Eulenberg gekommen waren, das wurde ihm erst später bewusst, als das große Fest schon längst im vollen Gange war. Er freute sich über das prächtige Bild, das sich ihm beim Gottesdienst, beim Umzug und während der Einweihung des Gartens bot. Viele Besucher brachten eigene Sträuße mit. Für die anderen lagen Kräuterbündel aus den Stiftsgärten bereit, die man gegen eine kleine Spende erwerben konnte. Überrascht war Gwendal, als er Abordnungen aus zwei Gemeinden entdeckte, die von weit her kamen. In dieser Gegend war es Brauch, Ende Juni, rund um das Sonnwendfest, hohe mit Blumen und Kräutern geschmückte Stangen durch den Ort zu tragen, die dann in der Kirche aufgestellt wurden. Am Hochfrauentag, also am heutigen Marienfeiertag, wurden die Blumengebilde dann in der Kirche gesegnet. Die getrockneten Pflanzen wurden abgenommen und als Weihkräuter nach Hause getragen, um in den Raunächten der Weihnachtszeit als Räuchermittel bei der Segnung von Haus und Hof zu dienen. Das passierte alles im Ort, niemals außerhalb. Doch jetzt hatten diese Leute die prächtigen Blumenstangen aus ihren Dorfkirchen nach Stift Eulenberg gebracht, damit sie von ihm gesegnet wurden. Und die beiden Ortspfarrer waren als Begleitung mitgekommen. Gwendal war derart gerührt, dass er feuchte Augen bekam. Er tauchte den Wedel in den Weihwasserkessel, besprengte nicht nur die Blumenstangen, sondern auch deren Träger, und sprach die Segensworte, die er wie immer abwandelte, so wie es ihm sein Herz dirigierte. Die Tropfen des Weihwassers fielen auf die kunstvoll angebrachten Blumengirlanden, auf Margeriten, Enzian, Bergastern, Pfingstrosen, Frauenmantel, Salbei, Mohnblüten und viele andere Pflanzen, die inzwischen längst getrocknet, aber immer noch herrlich anzuschauen waren. Als er an einer der Stangen auch Schafgarbe entdeckte, hatte er kurz mit der Erinnerung zu kämpfen. Wie ein unversehens aktiviertes Display blitzten in seinem Kopf die Bilder aus der vergangenen Nacht auf. Schafgarbe. Achillea millefolium. Blutreinigend, blutstillend, krampflösend. Ein Blutkraut. Die kleinen hellen Blüten begleiteten auf einem der Gemälde die Bluttat der Senatoren, die ihre Dolche in den Körper von Gaius Julius Cäsar bohrten. Er sah kurz den weit aufgerissenen Mund des römischen Diktators, spürte nahezu den Geschmack des Blutes am eigenen Gaumen, aber es gelang ihm, die Vision wieder zu verdrängen. Er schaffte es umso leichter, da der Chor in diesem Augenblick eines seiner Lieblingsmarienlieder anstimmte.

Wunderschön prächtige,

hohe und mächtige,

liebreichholdselige, himmlische Frau.

Der ich mich ewiglich

weihe herzinniglich,

Leib dir und Seele zu eigen vertrau …

Er hielt in der Segnungszeremonie inne und ließ mit geschlossenen Augen den Gesang auf sich wirken. Während der zweiten Strophe richtete er seinen Blick auf die mit Kräutern geschmückte Marienstatue, die neben dem Altar stand. Vier junge Leute aus dem Dorf, zwei Burschen und zwei Mädchen, hatten die Statue beim Umzug getragen, von der Kirche rund um das Klosterareal bis hierher in den neuen Kräutergarten. Gwendal hatte die Statue vor zehn Jahren von einem bekannten Holzbildhauer anfertigen lassen. Dieser Künstler galt als gefragter Spezialist für moderne Skulpturen und produzierte nie Heiligenstatuen. Gwendal wollte auch keine typische Heiligenstatue. Er erklärte dem Bildhauer, worauf es ihm ankam. Er erinnerte sich gut an die Begegnung. Sie waren sich schon nach einer Viertelstunde einig gewesen. Dennoch hatte Gwendal den ganzen Nachmittag im Atelier verbracht. Als er ging, standen zwei leere Rotweinflaschen auf dem Skizzentisch. Er glaubte, sich noch heute an den erlesenen Geschmack des Blauen Portugiesers zu erinnern. Eine Marienstatue hatte es schon vor seinem Eintritt in die Gemeinschaft von Eulenberg gegeben. Aber sie war Gwendal immer ein Dorn im Auge gewesen. Mehr noch. Ein Stachel im Herzen. Eine holprige Arbeit aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine Madonna, die theatralisch händeringend die Augen verklärt zum Himmel richtete. Eine pausbäckige, gehorsame Dienerin, eine ehrfurchtsvoll erstarrte Magd des Herrn, wie sie dem hausmütterlichen Frauentyp des Biedermeier entsprach. Und wohl auch der Vorstellung mancher Kirchenoberen heute noch. Ohne Ausstrahlung, als einzigen Charakterzug vermittelte sie stumme Ergebenheit. Gwendal wollte eine ganz andere Maria. Eine selbstbewusste Frau, deren Schönheit das Licht der Sonne widerspiegelte, deren Ausstrahlung von der wunderbaren Vielfalt der Schöpfung kündete. Ein Wesen, das für sich stand, mit Charakter, mit Kraft. Eine zeitlose Frau, die uns im Heute berührt und an der man gleichzeitig die Verbindung zu den großen Muttergöttinnen früherer Zeiten spürte.

Der Bildhauer hatte ihn sofort verstanden. Er hatte nicht einmal zehn Minuten für den Entwurf einer Skizze gebraucht. Und genau dieser Vorlage hatte er später Gestalt gegeben.

Du makellose

Lilien-Rose,

Krone der Erde,

der Himmlischen Zier.

Himmel und Erde sie huldigen dir.