Mörderwalzer - Manfred Baumann - E-Book

Mörderwalzer E-Book

Manfred Baumann

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Eine Journalistin wird ermordet. Leona Trill, TV-Star und Aufdeckerin. Ihre Fragen: Energieknappheit, schwindende Ressourcen, explodierende Preise. Wer verdient dabei? Und wer hilft den Menschen, die damit nicht mehr zurechtkommen? Der Mord passiert im malerischen Ambiente von Schloss Leopoldskron in Salzburg bei einer mit Promis besetzten Benefizveranstaltung zugunsten des Überlebens auf diesem Planeten. Ein Vorzeigeprojekt. Das empfindet auch Kommissar Merana. Bei seinen Ermittlungen zeigt sich bald: hinter glänzendem Schein und guten Willen gibt es offensichtlich auch mörderische Abgründe.

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Seitenzahl: 303

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Manfred Baumann

Mörderwalzer

Meranas 11. Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © reimax16 / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7710-2

Prolog

Die Frau war zornig. Wütend. Noch wütender als der schwarze Drache neben ihr, der seinen wuchtigen Hals weit über das Ufer reckte. Ein riesiger Baumstrunk. Seine gezackten Äste spiegelten sich bedrohlich im Wasser. Die Frau hatte keinen Blick dafür. Auch nicht für den mächtigen Berg, dessen majestätisch flackerndes Bild gleichfalls im Wasser des Weihers glänzte. Die Flanke des Berges brannte. Flammend rot leuchtete der Himmel rings um das Massiv, angezündet durch die versinkende Sonne. Flammendes Rot schimmerte auch auf den Wangen der Frau. Lodernde Spuren des Zornes. Die verstohlen herbeischleichende Nacht schickte sich eben an, die Reste des Tages langsam zu verschlucken. Die Frau ließ sich in die Hocke nieder, tauchte die Hände ins Nass. Sie schaufelte Wasser in ihr Gesicht. Sich abkühlen, das wollte sie. Die Wut in ihr mildern. Die Gestalt, die hinter ihr auftauchte, bemerkte sie nicht. Ebenso wenig, wie sie das Abbild des Drachens und der brennenden Bergflanke im Wasser vor ihr wahrgenommen hatte. Ihr entging auch der Schatten, den der emporgereckte Arm aufs Ufer warf. Erst als der Stein gegen ihren Kopf schmetterte, schreckte die Frau jählings auf. Ein Schrei entzündete sich in ihrem Hals. Aber sie schaffte es nicht, ihn herauszupressen. Denn ein weiteres Mal traf sie der Felsbrocken. Und gleich darauf nochmals. Der heftige Aufprall ließ sie vornüber ins Wasser kippen. Wieder fuhr die Hand mit dem Stein nach oben, drosch erneut zu. Schon beim fünften Treffer explodierte eine zerberstende Dunkelheit im Körper der Frau. Die Hand mit dem Stein schlug weiter zu. Auch wenn die Frau nach dem ersten Schlag es geschafft hätte, vor Schmerz und Überraschung zu brüllen, hätte man sie nicht gehört. Die heitere Schar der Feiernden war weit entfernt. Zu weit, um anderes wahrzunehmen als den eigenen fröhlichen Lärm.

Erster Tag: Dienstag

1

Seepferdchen. Tatsächlich. Das waren Seepferdchen. Julia musste schmunzeln. Der pittoreske Weiher, auf dem sich jetzt ein paar Enten tummelten, bestand zweifellos aus Süßwasser. Davon konnte man ausgehen. Dennoch wurde das kleine schmiedeeiserne Tor, das zum Ufer des Weihers führte, von zwei marmornen Skulpturen eingerahmt, die eindeutig an Meerestiere erinnerten. Seepferdchen. Diese Wesen waren in ihrem natürlichen Vorkommen im Salzwasser zu Hause, im Meer, keineswegs in einem Süßwasserteich. Aber dieses harmonische Nebeneinander von scheinbar Widersprüchlichem passte trefflich zum Ambiente, passte zur malerischen, nahezu märchenhaften Umgebung, in der sie sich hier befand. Leopoldskron. Weiher, Parklandschaft, luxuriöses Schloss. Die beiden Fabelwesen auf den Marmorsockeln entlockten Julia erneut ein Lachen. Welch unbeschreiblich prachtvoller Ausblick, der sich hier den Festgästen auf der Rückseite des Schlosses bot. Ausgebreitet wie ein lang gezogenes silbernes Tuch erstreckte sich vor ihnen der Weiher. Auf der anderen Uferseite wurde er abgegrenzt durch eine Kulisse aus stattlichen Bäumen, die in der aufkommenden Dunkelheit schwarz herübergrüßten. Und dahinter prangte in einiger Entfernung das Massiv eines majestätischen Bergrückens. Es kam Julia vor, als sähe man ein riesiges Schiff, das verkehrt herum lag. Als wäre es gekentert und streckte seinen mächtigen Bug in den Himmel. Untersberg. So hieß dieses beeindruckende Bergmassiv. Den Namen hatte sie nicht erst heute im Internet überprüfen müssen, der war ihr bekannt gewesen. Die Sonne war untergegangen. Ganz schwach zeigten sich noch die rötlich schimmernden Streifen in dem von schmalen Wolkenbahnen durchzogenen Abendhimmel.

»Hi, Julia. Ich hole mir noch vom Prosecco. Ich bringe dir ein Glas mit.«

Der fröhliche Zuruf riss sie aus ihren Gedanken. Sie wandte den Kopf. Zugleich spürte sie, wie ihr Röte ins Gesicht schoss. Das war Aaron, einer der beiden Kollegen am Kontrabass.

»Nein, danke, wir müssen ja gleich spielen.« Der He­rankommende lachte.

»Ja, Julia. Aber die paar Takte, die wir spielen müssen, würden wir auch sturzbesoffen hinkriegen. Bei den kümmerlichen Alkoholprozenten, die dieser Frizzante liefert, müsste man ihn schon eimerweise in sich hineinschütten, um wenigstens ein wenig Rauschhaftes zu spüren.«

Auf Julias Wangen begann es stärker zu kribbeln. Mist, ich werde noch mehr rot, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie hatte Aaron Riemann schon einige Male an der Uni gesehen. Aber so nahe wie heute war sie ihm noch nie gekommen. Er grinste sie breit an. »Oder noch besser. Du bringst mir eines mit.« Er streckte ihr demonstrativ sein leeres Glas hin. Sie trat erschrocken einen Schritt zurück. Dann schüttelte sie den Kopf, wusste sie doch nicht, wie sie damit umgehen sollte. »Na gut«, murrte er. »Dann bringe eben ich dir eines mit.«

Er drehte sich um, umkurvte geschickt einige der Festgäste und stapfte in Richtung Schlosseingang, wo die Damen vom Catering die Getränke bereithielten. Julia blickte sich rasch um. Sollte sie davoneilen? Sie könnte sich schnell unter die Gruppe der Festgäste mischen, die sich bereits nahe am Eingang zum Park sammelten. Sie zögerte. Dann gab sie sich einen Ruck. Nein. Warum sollte sie Aaron ausweichen? In seiner Nähe zu sein, gefiel ihr ja. Und dass sie dabei befremdlich starkes Herzklopfen verspürte, damit würde sie schon zurechtkommen.

»Voilà, Madame!« Der Musikerkollege war schon zurück. Er streckte ihr das Glas hin, zeigte dazu eine übertrieben galante Verbeugung. »Ich kann leider nur kurz mit Ihnen anstoßen, Teuerste. Denn seine Hoheit, Maestro Fernando, bedarf meiner Hilfe, wie er mir eben mitzuteilen geruhte.«

Er prostete ihr zu, ließ dabei die Gläser klingen. Dann nahm er rasch einen großen Schluck, verbeugte sich nochmals übertrieben und schwirrte davon. Sie blickte ihm nach. Er eilte auf Ferdinand zu, wie sie mitbekam. Der Ensembleleiter wartete unter einem der großen Rundbögen. Ging es bereits jetzt weiter? Julia hielt zögerlich das Proseccoglas, wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. War es Zeit, die Instrumente zu holen? Als hätte Ferdinand ihre Frage mitbekommen, hob er in diesem Moment die Hand, winkte ihr und auch einigen der anderen beruhigend zu. Julia verstand, worauf er hinwies. Sie konnten offenbar bleiben, wo sie waren. Es würde noch dauern, bis es weiterging. Julia spähte auf ihre Uhr. Wenn man sich an den Zeitplan hielt, so wie er besprochen war, dann dauerte es noch fast eine halbe Stunde bis zur Aufzeichnung des Walzers und der Tanzdarbietungen. Hippocampus. Im selben Moment, da sie sich umwandte und wieder zum Weiher blickte, kam ihr der Begriff in den Sinn. Hippocampus. So lautete die zoologische Bezeichnung für Seepferdchen. Sie war neun Jahre alt gewesen, als sie den Namen zum ersten Mal hörte. Ihr Vater hatte ihn genannt. Sie konnte sich genau daran erinnern. Damals war sie in den Sommerferien erstmals mit den Eltern auf Urlaub. Zuvor hatten immer die Großeltern sie in den Ferien mitgenommen. Aber in diesem Sommer war sie mit Mama und Papa am Mittelmeer. Sie verbrachten zwei Wochen auf Zypern. Und schon am zweiten Tag hatte sie im Sand dieses eigenartige Wesen entdeckt. Vorsichtig hatte sie es mit dem Finger angestupst. Das Wesen war tot, zweifellos. Es war kaum größer als ihre Hand. Von grünlichgelber Farbe. Das ist kein Fisch, war damals ihr erster Gedanke gewesen. Für einen Fisch, wie sie ihn kannte, passte die Form nicht. Der Kopf hatte sie eher an ihr Schaukelpferd erinnert, das sie zum dritten Geburtstag bekommen hatte. »Das ist ja großartig, mein Schatz«, hatte ihr Vater sie angestrahlt, als sie ihm den Fund präsentierte. »Da ist dir ein ganz besonderer Wasserbewohner untergekommen. Offenbar haben die Wellen ihn an den Strand gespült. Das ist ein Seepferdchen.« Den Namen hatte sie damals auf Zypern zum ersten Mal gehört. Pferdchen. Das gefiel ihr gut. Und es passte zum Kopf. Später, als sie sich näher damit beschäftigte, wurde ihr klar, dass sie damals auf Zypern ein Langschnäuziges Seepferdchen am Strand entdeckt hatte. Hippocampus guttulatus. Diese Art findet man im Mittelmeer und auch in Teilen des Atlantiks. Der Großteil der weltweit verbreiteten Seepferdchenarten kommt allerdings bei Australien und Neuseeland vor. Im Pazifik. Auch das lernte sie. In der Oberstufe des Gymnasiums hatte sie sogar ein ausführliches Referat dazu gehalten. Über die Lebensgewohnheiten der Seepferdchen genauso wie über ihre Bedeutung in Kunst und Literatur. Gemäß griechischer Mythologie sind die heutigen Seepferdchen Nachkommen jener imposanten Wesen, die Gott Poseidon, der Beherrscher der Meere, vor seinen Wagen spannte. Der Hippocampus, wie er als Nennung in der Literatur auftauchte, war eine außergewöhnliche Erscheinung. Der vordere Teil des Körpers war Pferd, der hintere Teil Fisch. Das Wesen besaß Flossen und in manchen Abbildungen auch Flügel. Genau wie die beiden possierlichen Gestalten aus leicht verwittertem Marmor, die sich Julia hier in Leopoldskron offenbarten. Ja, die aus Stein gemeißelten Fabelwesen passten hervorragend in diese wundersame Welt von Schloss, Garten und Weiher. Sie befand sich schon seit einigen Monaten in Salzburg, aber nach Leopoldskron war Julia bisher nicht gekommen. Die meiste Zeit verbrachte sie ohnehin an der Musikhochschule. Sie studierte Viola an der Universität Mozarteum. Sie verbrachte viel Zeit im Gebäudekomplex der Hochschule. Hier konnte sie jederzeit üben, lernen, sich auf ihrem Instrument voranbringen. Manchmal bis spät in die Nacht. Etwas anderes zu unternehmen, dafür blieb ihr wenig Ruhe. Sie wollte auch kaum anderes außer üben, üben, üben. Dass sie heute dieses herrliche Ambiente von Leopoldskron erleben durfte, dazu war es nicht aus eigenem Antrieb gekommen. Sie verdankte es purem Zufall, hier zu sein. Sie hatte sich von der ersten Sekunde an wohlgefühlt. Sie löste den Blick von den Steinfiguren und dem Weiher, ließ ihn über die Fassade des Schlosses und den Garten gleiten. Es kam ihr vor, als wäre sie schon seit Tagen hier. Dabei waren es erst wenige Stunden. Am frühen Vormittag hatte ihr Handy geläutet. Sie hatte eben zu einer Übungspause angesetzt, ihr In­­strument beiseitegelegt. »Hallo Julia, mir ist die Bratsche ausgefallen.« Bratsche. Diesen Namen verwendete man in ihrer Familie und auch an der Musikschule in ihrer Heimatregion, wo sie zu lernen begonnen hatte, eher selten. Dort bezeichnete man das Instrument korrekterweise als Viola. »Das ist die große Schwester der Violine«, wie Julias erste Musiklehrerin es auszudrücken pflegte. Aber in Österreich stieß man oft auf die Bezeichnung Bratsche, hergeleitet vom italienischen viola da braccio. Das bezog sich auf die Spielweise. Das Instrument wurde mit dem Arm gehalten. Im Gegensatz zur viola da gamba, der Bein-Viola oder Knie-Geige. Das alles hatte Julia damals natürlich noch nicht gewusst, als sie mit sechs Jahren erstmals ihre um vieles ältere Cousine hörte. Susanna spielte in einem Streichquartett die Viola. Julia war fasziniert gewesen. Dass auch sie dieses Instrument lernen wollte, war ihr von Anfang an klar. Genau dieses. Viola. Etwas anderes kam für sie nicht infrage.

»Rita Berger hat sich heute Morgen an der Hand verletzt«, hatte Ferdinand bei seinem Anruf ausgeführt. »Ich brauche also dringend eine gute Bratschistin.«

Ferdinand Hauser war ihr zumindest dem Namen nach bekannt. Er assistierte in der von Studierenden am meisten gefragten Dirigentenklasse. Gelegentlich stellte Ferdinand kleine Ensembles aus erfahrenen Studenten und Studentinnen für besondere Anlässe zusammen. Davon hatte Julia auch schon gehört. Wie sehr die Zeit drängte, wurde ihr bei seinem Anruf sofort erklärt. Um 14 Uhr sei Probe, hatte Ferdinand betont. Um 17 Uhr müssten sie bereits in Leopoldskron sein. »Könntest du für Rita einspringen, Julia? Geht sich das aus?« Das Ansuchen hatte sie zunächst verwirrt. Warum fragte er ausgerechnet sie? »Von der Zeit her könnte ich mir das schon einteilen«, hatte sie zögerlich geantwortet. »Aber ich weiß nicht, ob ich den Anforderungen gewachsen bin.«

»Das bist du gewiss, Julia«, hatte Ferdinand ihr umgehend versichert. »Da habe ich nicht den geringsten Zweifel. Immerhin hat Professor Tankrath ausdrücklich deinen Namen genannt, als ich ihn fragte. Er hat dich mir wärmstens empfohlen.«

Anselm Tankrath? Ihr Hochschullehrer am Mozarteum hatte als Empfehlung sie angeführt? Das hatte Julia noch mehr verwirrt. Und zugleich gefreut. Sehr gefreut. Also hatte sie schlussendlich zugesagt.

»Na, vielleicht hat Ferdinand dich auch nur wegen deines Namens ausgesucht«, hatte Aaron später während der Probe scherzhaft bemerkt, als sie ihm davon erzählte. Sie hatte nicht gleich verstanden, was der Streicherkollege damit meinte.

»Na, immerhin heißt du mit Nachnamen Reinhard. Das klingt gut. Wir spielen in Leopoldskron. Und dass dir das harte T am Schluss fehlt, hört man ja beim Aussprechen nicht.« Erst da hatte Julia kapiert, worauf Aaron anspielte. Reinhardt. Natürlich war ihr der Name Max Reinhardt ein Begriff. Dass er die Salzburger Festspiele begründet hatte, das wusste sie seit Kindestagen. Immerhin waren ihre Eltern ausgesprochene Theaterliebhaber. Ihr Vater war Arzt. Er interessierte sich neben seiner Tätigkeit als Mediziner nicht nur für Seepferdchen im Mittelmeer, sondern auch für Kunst und Kultur auf der ganzen Welt. Und ihre Mutter war von Berufs wegen mit diesem Metier bestens vertraut. Sie arbeitete in Julias Heimatstadt als Maskenbildnerin am Deutschen Theater. In Göttingen. Aber dass Max Reinhardt in Salzburg einige Jahre lang ein eigenes Schloss besaß, wusste sie erst seit wenigen Stunden. Sie hatte nach Ferdinands Anruf schnell ein paar Interneteinträge überflogen. Und seit sie mit dem Streicherensemble eingetroffen war, kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und das lag nicht nur an den steinernen Fabelwesen, die das Tor zum Weiher flankierten. Dass sie mit dem Streicherensemble bei einer äußerst bekannten Fernsehsendung mitwirkten durfte, grenzte an das nächste Wunder. Bei Veritas! Now! mit der Top-Journalistin und Star-Moderatorin Leona Trill. Dieses international ausgestrahlte News-Magazin hatte sie zwei- oder dreimal angesehen. Julia hatte schnell verstanden, warum die Verantwortlichen ausgerechnet das nahezu magische Flair von Leopoldskron für das TV-Ereignis ausgewählt hatten. Leona Trill war bekannt dafür, dass sie für ihre Sendungen stets die prominentesten Schauplätze wählte. Und das weltweit.

Eine exzellente Persönlichkeit. Das hatte Julia von der ersten Sekunde an verspürt, als die Live-Übertragung begann. Leona Trills Moderation war mitreißend. Tolle Performance. Eine außergewöhnliche Frau. Das Gespräch, das Leona Trill mit Camilla Mitterberg führte, war ebenso spannend wie aufschlussreich und wie immer sehr berührend. Auch die Leiterin von HERA erwies sich als beeindruckende Persönlichkeit. Was die beiden über die Leistungen der Kinder erzählten, ließ niemanden unberührt. Weder unter den Festgästen noch unter den zig Millionen Zuschauern in weit über 20 Ländern. Davon war Julia überzeugt. Den einstudierten Tanz, den die Kinder und Jugendlichen vorbereitet hatten, um ihn den Festgästen vorzuführen, würden sie später erleben. Dieses Mal nicht live, sondern als Aufzeichnung für den zweiten Teil der Sendung. Die bunte Erscheinung der Festgäste hatte Julia von Anfang an gut gefallen. Junge Leute und Erwachsene waren zu sehen, Kinder in Jeans neben Herren im Smoking. Ein belebendes, farbenfrohes, sympathisches Miteinander. Das Streicherensemble hatte zwei Stücke während der Live-Übertragung gespielt. Der extra für das Fest komponierte Walzer käme dann im zweiten Teil zur Aufführung, zusammen mit einem Menuett, einem flotten Saltarello und einem modernen Hiphop-Tanz.

»Aber Julia, dein Proseccoglas ist ja immer noch voll. Hast du nicht wenigstens mal daran genippt?« Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Aaron neben ihr aufgetaucht war. Sie hielt ihm das Glas entgegen. Er nahm es und leerte es in einem Zug.

»Wir sollten uns jetzt allmählich hinüberbegeben«, meinte Aaron. »Magnus wird uns gleich einweisen.« Ihnen die Abläufe genauestens erklären, das hatte Magnus Retzer, der Leiter des TV-Teams, zuvor beim Live-Einstieg gemacht. Wenig Herumgerede. Klare Anweisungen. Präzise und wirkungsvoll. Professionell. Auch das hatte Julia imponiert. Sie folgte Aaron zu den Rundbögen, wo sie ihre Instrumente abgestellt hatten. Dann schlenderten sie hinüber zu der freien Fläche im Park. Das zugewiesene Areal hatten sie beim Eintreffen kurz besichtigt. Hier würden sie das erste Stück, den Walzer, spielen. Und zwar im Stehen. Auch die Kontrabässe und Celli würden sich nicht hinsetzen. Ferdinand hatte das Stück extra so komponiert, dass die tiefen Streicher das bestens hinbekamen. Der Großteil der Festgäste hatte sich längst eingefunden. Julia blickte zu den Fernsehleuten. Sie bemerkte den Regisseur, der intensiv auf eine Frau in Jeans und dunklem T-Shirt einredete. Die Frau zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf. Julia bewegte sich langsam auf die beiden zu. Sie glaubte, sich zu erinnern, die Mitarbeiterin schon vorhin bei den Vorbereitungen zum ersten Live-Einstieg im Einsatz gesehen zu haben. Sie hatte irgendeine Funktion im Bereich Aufnahmeleitung. »Okay, ich bin schon unterwegs«, bekam Julia mit. Dann drehte die Frau sich um, eilte davon.

»Meine sehr geschätzten Damen und Herren, liebe Musici. Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit«, erklang die leicht knarrende, aber deutlich zu vernehmende Stimme des Regisseurs. Augenblicklich wurde es ruhig.

»Das Orchester nimmt gleich zwischen den Bäumen Aufstellung. Sobald die Einleitung zum Walzer ertönt, nehmen die Festgäste einander an den Händen und bilden einen großen Kreis. Wir haben das ja schon besprochen. Die Kinder und Jugendlichen starten an der Seite des Schlosses, formieren sich und kommen mit Beginn des ersten Walzerthemas in den Kreis.« Kurz kam hektisches Gemurmel auf. Der Regisseur hob schnell die Hände. »Ich bitte um Konzentration. Es besteht kein Grund, beunruhigt zu sein. Wir werden die Bewegungsabläufe gleich üben. Zunächst ohne Kamera. Wir machen das so oft, bis es perfekt passt. Sind die Kinder und Jugendlichen innerhalb des von Ihnen geformten Kreises angelangt, kommt der nächsten Teil der Choreografie. Der passt zum zweiten musikalischen Thema. Ich darf an dieser Stelle erneut betonen, dass der Walzer extra für diesen Anlass komponiert wurde. Er erfüllt alles, was für unsere Zwecke notwendig ist. Und das auf großartige Weise. Ein geniales Werk, komponiert vom Leiter des hier anwesenden Orchesterensembles.« Er hob die Stimme an. »Wir sagen Gratulation und Danke an Ferdinand Hauser!« Er streckte die Hand aus, wies zu Ferdinand. Der hob schnell beide Arme, bedankte sich für den jubelnden Applaus. Auch Julia klopfte begeistert mit dem Bogen ihres Instruments gegen einen der Notenständer.

»Zum zweiten Teil des Walzers werden dann vier unserer Jugendlichen zwei Damen und zwei Herren aus dem Kreis der Festgäste lösen und sie zum Mittanzen einladen. Auch das werden wir exakt festlegen und ausführlich üben. Und erst zum Schlussakkord des Walzers, also am Ende des vorgeführten Tanzes, wird Frau Trill in unsere Mitte kommen und mit der Moderation beginnen.«

Der Chefkameramann hob die Hand. Von ihm hatte Julia sich sogar den Namen gemerkt, als er ihnen zu Beginn vorgestellt worden war. »Ja, Magnus, wir können anfangen«, sagte Kai Semmering. »Wir haben die Plätze für die Kameras schon festgelegt. Die exakten Positionen ermitteln wir dann während der Proben.«

»Danke, Kai.« Magnus Retzer klatschte in die Hände.

»Dann ersuche ich alle aus der Schar der Festgäste, zunächst einmal einen Kreis zu bilden und sich dabei an den Händen zu fassen. Die Orchesterleute mögen sich gleichzeitig an ihren Platz begeben.«

Julia spürte ein leichtes Kribbeln. Sie folgte den anderen Musikerkollegen. Sie bezogen den zugewiesenen Platz unter den Bäumen. Inzwischen hatten die Festgäste einen großen Kreis gebildet. Die jungen Leute warteten abseits an der Flanke des Schlosses, wie Julia durch die Bäume und Sträucher von ihrem Platz aus beobachten konnte. Magnus Retzer schritt langsam die von den Leuten geformte Rundung ab. Immer wieder blieb er stehen, bat den einen oder anderen Gast um eine andere Position innerhalb des Kreises, tauschte Leute aus. Dabei blickte er jedes Mal zu seinem Chefkameramann, holte dessen Zustimmung ein. Es dauerte eine Weile, bis beide mit der Aufstellung einigermaßen zufrieden schienen.

»Bitte merken Sie sich exakt die jeweilige Stelle, an der Sie sich befinden. Schauen Sie zur Seite, prägen Sie sich ein, neben wem Sie stehen. Wir werden das gleich üben. Wir beginnen mit zwanglosem Herumschlendern. Sie können miteinander plaudern. Und dann, auf mein Zeichen, setzen Sie sich in Bewegung und beginnen den Kreis exakt so zu bilden wie jetzt. Es muss für die Aufnahme rasch gehen. Es sollte keinesfalls hektisch wirken, sondern ruhig, gelassen. Keine Sorge, meine Damen und Herren, das bekommen wir hin.« Er hob die Hände. »Vorerst bleiben Sie bitte im Kreis stehen. Wir schauen uns jetzt an, wie es wirkt, wenn die Kinder und Jugendlichen näherkommen und sich tanzend innerhalb des Kreises einfinden.«

Er wandte sich ans Ensemble. »Wir können beginnen, Ferdinand. Zunächst spielt ihr noch nicht die Einleitung in kompletter Besetzung. Es geht nur um den Rhythmus.«

»Geht klar, Magnus.« Ferdinand hob die rechte Hand, gab Aaron ein Zeichen. Der begann an seinem Kontrabass zu zupfen, allerdings nur an der D-Saite. Exakt im Tempo, das Ferdinands Hand vorgab. Jetzt wurde Julia klar, was Aaron vorhin gemeint hatte, als er sich mit der Bemerkung »seine Hoheit, Maestro Fernando, bedarf meiner Hilfe« zu Ferdinand unter die Arkaden am Schlosseingang begeben hatte. Aaron sollte für den Einmarsch den notwendigen Rhythmus nur durch das Zupfen einer Saite vermitteln.

»Bitte für die erste Probe das Ganze etwas langsamer angehen«, rief der Regisseur. »Später proben wir es mit dem exakten Tempo durch.«

»Wird gemacht«, rief Ferdinand. Seine Handbewegung wurde um einiges langsamer. Aaron passte sich an.

»Und los!«, rief Retzer zum Schloss hinüber. Die jungen Leute setzten sich in Bewegung. Voran die Kinder, dahinter die Jugendlichen.

»Halt!«, rief der Regisseur laut, als man die Gruppe innerhalb des Kreises auftauchen sah. Die ersten zwei Kinder, es waren Mädchen, bremsten abrupt ab. Die beiden Buben dahinter bekamen das zu spät mit, plumpsten gegen deren Rücken. Einige Erwachsene im Kreis begannen leise zu lachen.

»Was ist denn los mit euch?«, rief Magnus Retzer und drohte gespielt theatralisch mit dem Zeigefinger. »Ich weiß, dass euch das köstliche Essen vorhin ausgezeichnet schmeckte. Und die Säfte waren auch sehr gut. Die Bäuche sind wohlgefüllt. Gut, das soll sein, ihr habt es euch verdient. Aber jetzt darf man es euch nicht mehr anmerken, dass die Wampen voll sind.« Jetzt kicherten auch einige der Kinder. »Also, meine Lieben. Zusammenreißen. Oberkörper aufrecht. Ich will eine Haltung sehen, die Fröhlichkeit ausstrahlt. Verstärkt durch ein munteres Lächeln übers ganze Gesicht.« Er klatschte in die Hände. »Alles zurück. Hurtig, hurtig! Und dann das Ganze von vorn.« Die Truppe machte kehrt, eilte zurück zum Schloss, wartete auf das Zeichen zum Einsatz. Dieses Mal lief es deutlich besser, wie Julia feststellte. Die jungen Leute bewegten sich geschickt, zeigten eifrigen Einsatz bei dem, was sie ausführten. Magnus Retzer war zufrieden. Das sagte er ihnen auch. Dennoch ließ er die junge Truppe den Auftritt wiederholen. »Damit dann, wenn die Kameras dabei sind, auch wirklich alles sitzt!« Dieses Mal brachten sie es noch besser hin. »Perfekt!« Der Regisseur wies auf einige der Älteren unter den Jugendlichen. »Ihr vier holt die Erwachsenen heraus. Ihr bringt sie mit euch in die Mitte, sodass ihr miteinander tanzen könnt.« Wen aus den vielen Erwachsenen würde der Regisseur auswählen? Julia war gespannt. Sie hatte die vielen Gesichter in der Runde gemustert und für sich entschieden, wen sie nehmen würde. Julia beobachtete, wie der Regisseur langsam auf die Runde der Erwachsenen zuschritt. Wählte er etwa als erste Frau die ältere Dame im roten Kostüm? Es sah fast so aus. Die hätte Julia nicht genommen. Die käme für Julia nicht einmal als erweiterte Auswahl infrage. Plötzlich hielt der Regisseur in seiner Bewegung inne. Er stoppte, drehte überrascht den Kopf zur Seite. Auch einige der anderen schauten in diese Richtung. Julia folgte den Blicken und war überrascht. Sie sah die Frau in Jeans und dunklem T-Shirt. Sie kam aus dem hinteren Teil des Parks. Die Mitarbeiterin aus dem Fernsehteam war sichtlich aufgeregt. Mehr noch. Sie wirkte vollkommen aufgelöst. Die Frau hetzte auf Retzer zu, rief ihm, wild die Hände fuchtelnd, etwas zu. Was ging hier vor? Julia hielt den Atem an. Sie erschrak, als sie die Reaktion des Regisseurs mitbekam. Retzers Gesicht wechselte die Farbe. Der Mann wurde kreidebleich. Auch Kai Semmering wurde bewusst, dass etwas nicht stimmte. Der Chefkameramann eilte auf den Regisseur zu. Retzer wandte sich ab, hetzte der Aufnahmeleitungsassistentin hinterher. Kai Semmering folgte ihnen. Jetzt kam Bewegung in die Gruppe der Fernsehleute. Alle rannten in die Richtung, aus der die Frau im dunklen T-Shirt aus der Tiefe des Parks gekommen war. Offenbar war etwas Schreckliches passiert. Und alle anderen, die betreten auf der Lichtung standen, spürten es auch.

2

»Darf ich Ihnen den Radicchiosalat mit acciughe empfehlen, Herr Kommissar? Ich finde, den kann man auch spätabends essen. Er liegt leicht im Magen, ich weiß das. Außerdem achtet Mario sehr darauf, dass der Salat frisch zubereitet wird.« Merana hatte zuletzt zu Mittag etwas zu sich genommen. Eine Kleinigkeit. Ein halbes Gemüselaibchen mit Schnittlauchsoße. Das war mehr als zehn Stunden her. Dennoch verspürte er keinen richtigen Hunger. Aber er wollte vom Salat wenigstens kosten. Die Sardellen sahen verlockend aus. Und der Weißwein, den man ihm serviert hatte, würde sicher gut dazu passen.

»Gern. Aber bitte für mich nur wenig.« Der Journalist drehte sich Richtung Theke, wies auf den Salat. »Mario, prendiamo due. Ma piccole porzioni.«

»Si. Volentieri.«

Das kleine Lokal war erst vor knapp einem Monat eröffnet worden. Merana kannte es vom Vorbeigehen. Aber sein Gegenüber schien bereits Stammgast zu sein.

»Woher kommt Mario?«

»Aus dem Süden.«

»Süditalien?« In den Augen des Journalisten blitzte ein schelmisches Lächeln auf.

»Nicht ganz. Südsalzburg. Genauer gesagt aus dem südlichen Pongau.« Jetzt musste Merana schmunzeln. »Ich habe ein Stammlokal auf der anderen Salzachseite. Da Sandro. Kennen Sie es?«

»Vom Namen her. Eingekehrt bin ich da höchstens zwei- oder dreimal auf einen schnellen Kaffee.«

»Sandro, der Besitzer, ist mit mir befreundet. Er ist echter Süditaliener. Er stammt aus Sizilien.«

»Mario stammt aus Dorfgastein. Ich kenne ihn schon lange. Wir haben vor vielen Jahren denselben Italienischkurs besucht. Für kurze Zeit zumindest. Bei der Società Dante Alighieri. Mario war zwischendurch einige Jahre im Ausland tätig, vor allem in den Niederlanden. Er hat dort gut verdient. Als das Vorgängerlokal vor vier Monaten zusperren musste, bekam Mario das mit. Er bewarb sich sofort um die Nachfolge und erhielt den Zuschlag. Seitdem komme ich mindestens dreimal die Woche her. Und dann parlieren wir und bessern unser kümmerliches Italienisch auf.«

»L’hai detto bene«, grinste der Lokalbesitzer von der Theke mit erhobenem Daumen herüber.

Als der Journalist vorgeschlagen hatte, sich nach Meranas Kinobesuch hier zu treffen, hatte der Kommissar bereitwillig zugestimmt. Bedingt durch seine meist intensive Arbeit als Leiter der Salzburger Kriminalpolizei blieb Merana eher wenig Zeit für Theaterabende oder Kinobesuche. Doch heute hatte er die Gelegenheit ergriffen. In einem Bericht im Fernsehen war der Film mit guten Kritiken vorgestellt und ausdrücklich empfohlen worden. Das Erstlingswerk eines jungen chilenischen Regisseurs über die Familie des ehemaligen Präsidenten Salvador Allende und den Militärputsch 1973. Und da Merana sich ohnehin den heutigen und auch die nächsten beiden Tage freigenommen hatte, passte der Kinobesuch für ihn gut. Am Nachmittag hatte er den Anruf des Journalisten erhalten.

»Das trifft sich gut, Herr Berkal. Ich bin ohnehin heute Abend im Kino. Wenn es für Sie passt, können wir uns danach zu einer Besprechung treffen.«

Und nun saß er mit Konstantin Berkal im kleinen Lokal in der Steingasse, trank Pinot Grigio und genoss dazu Radicchiosalat mit Oliven und Radieschenscheiben. Und vor allem mit Sardellen, mit ausgezeichnet schmeckenden acciughe. Zubereitet von einem Pongauer. Der Journalist hatte ihn am Kinoausgang erwartet und dort auf die großen Plakate aufmerksam gemacht. Auf denen wurde das Festival groß angekündigt. Auch wenn Merana nicht oft ins Kino ging, erlangte er dennoch ab und zu Kenntnis über die präsentierten Filme und Veranstaltungen. So wie er sich generell regelmäßig Überblick zum Angebot der Kultureinrichtungen in der Stadt verschaffte. Vom Rockhaus bis zu den Salzburger Festspielen. Das hatte nicht nur mit Liebhaberei zu tun. Manchmal konnte er Kenntnisse darüber bei seinen Ermittlungen bestens gebrauchen.

»Wir haben noch knapp zwei Monate bis zur Veranstaltung. Unser Abend liegt etwa in der Mitte des Festivals. Ich sagte es mehrmals, möchte es aber gerne wiederholen. Danke, dass Sie sich bereit erklärt haben mitzumachen.« Der Journalist hob sein Glas. Auch er hatte Weißwein gewählt. Allerdings keinen Pinot Grigio, sondern einen Vernaccia. Berkal hatte sich im Frühsommer erstmals gemeldet. Über Vermittlung von Jutta Ploch. Er arbeitete bei derselben Tageszeitung, wenn auch in einer anderen Redaktion. »Ich hoffe sehr, Sie haben am Abend des 19. November noch nichts vor.« So hatte Berkal die Unterhaltung begonnen. Merana hatte für diesen Abend noch nichts geplant, wie er seinem Terminkalender entnahm. Obwohl sich für einen Kommissar, Kripochef und Leiter der Mordermittlung die Ereignisse schnell überschlagen konnten. Und dann waren die Abende bald mit Ermittlungen belegt. »Ich möchte Sie gerne als Experten zu einer Veranstaltung einladen.« So waren sie ins Gespräch gekommen. Natürlich war Merana das Bergfilmfestival, das jedes Jahr im November in Das Kino abgehalten wurde, auch schon vorher ein Begriff. Er hatte sogar den einen oder anderen Film im Rahmen dieser Reihe miterlebt. Zuletzt einen wunderbaren Streifen über den Schneeleoparden in der großartigen Landschaft des Tibetischen Hochlandes. Auch die Musikuntermalung hatte ihn beeindruckt – Musik des australischen Künstlers Nick Cave. An spektakuläre Bilder entsann er sich auch bei einem anderen Film des Festivals. Wilde Landschaft mit extremen Abgründen. Und zugleich die Arbeit von wagemutigen Forschern in der Eislandschaft von Grönland. Vor wenigen Jahren hatte er einen Film über fünf außergewöhnliche, mutige lateinamerikanische Frauen erlebt. Der war ihm besonders im Gedächtnis geblieben. Unter den fünf Frauen aus Bolivien waren ganz schlichte Hausfrauen gewesen. Die fünf Frauen, allesamt Laien, bei Weitem keine erprobten Bergsteigerinnen, hatten es tatsächlich geschafft, einen wahren Riesen unter den Bergen dieses Planeten zu bezwingen. Und das mit Ausdauer, Mut und einer großen Portion Humor. Die fünf waren auf den Gipfel des Aconcagua gestiegen. Der hatte immerhin eine Höhe von knapp 7.000 Metern. Das Bergfilmfestival in Salzburg gab es schon lange, ins Leben gerufen vor rund drei Jahrzehnten. Lange Zeit hatte Merana es nur schwer geschafft, sich Filme oder Dokumentationen über Bergtouren anzuschauen. Weder im Kino noch im Fernsehen. Seine Mutter war in seiner Kindheit bei einer Bergtour abgestürzt und ums Leben gekommen. Da war Merana neun Jahre alt gewesen. Er hatte sich mitschuldig daran gefühlt, was seiner Mutter zustieß. Am Abend vor dem Unglück hatte er mit ihr eine Auseinandersetzung gehabt. Sie hatte ihn für etwas gescholten und bestraft, das er gar nicht getan hatte. Vor allem, dass ihm seine Mutter trotz seiner Beteuerung nicht glaubte, hatte den Neunjährigen zutiefst verletzt. Er hatte ihr noch am selben Abend als Revanche, keinesfalls bewusst, etwas Schlechtes gewünscht. Er wollte nur, dass sie auch einmal erleben sollte, wie es war, ohne Grund bestraft zu werden. Und am nächsten Tag war seine Mutter abgestürzt und nicht mehr heimgekommen. Ein klaffender Riss war wie mit einer mächtigen Faust ins Leben des Neunjährigen gewuchtet worden. Das Trauma der von ihm dabei empfundenen Mitschuld hatte ihn bis ins Erwachsenenalter verfolgt. Erst vor wenigen Jahren hatte er einen Fall aufzuklären, bei dem er über Umwege zufällig auf die Wahrheit stieß, warum seine Mutter tatsächlich vom Berg gestürzt war. Seit dieser Erkenntnis fiel es ihm leichter, an seine Kindheit und an seinen Verlust ohne tiefere Schmerzen und Wehmut zu denken. Und jetzt sollte er sogar bei der Präsentation eines Films über Berge als Referent mitwirken. Er atmete tief durch. Es war bemerkenswert, wie das Leben bisweilen Regie führte und Wendungen bewirkte, an die man nie und nimmer gedacht hätte.

»Ich habe Ihnen einiges kopiert.« Der Journalist hatte gewartet, bis die Teller abserviert wurden. Dann schob er Merana einen USB-Stick zu. »Darauf ist nicht nur der Film zu sehen, sondern auch Filmmaterial, das mit den Dreharbeiten und der Entstehung dieses Films zu tun hat. Ferner finden Sie Auszüge zu früheren Filmarbeiten von Samuel Lange.«

»Danke.« Merana griff nach dem Stick, legte ihn vor sich auf den kleinen Tisch. Ermittlung: Tatort Berg. Wenn er es richtig verstanden hatte, ging es dabei unter anderem um Ermittlungsarbeit im Gebirge, um kriminalistische Aufklärung in oft unwegsamem Gelände.

»In der Dokumentation Ermittlung: Tatort Berg hat Samuel Lange vor allem Ausschnitte aus spannenden Filmen zusammengestellt. Die Szenen werden oft gegenübergestellt, miteinander verglichen. Samuel Lange hat dabei versucht, selbst einen spannenden Film zu gestalten. Die Spielfilmausschnitte reichen von bekannten Literaturverfilmungen wie Die purpurnen Flüsse mit Jean Reno bis zu Kinder-Detektiv-Filmen wie Die Pfefferkörner und der Fluch des Schwarzen Königs. Oder auch Die Kronzeugin – Mord in den Bergen und das Krimidrama Tod in den Bergen. In all diesen Filmen geht es um ein Verbrechen, eine Untat, die sich auf einem Berg zutrug – entweder als Hauptthema oder nur in einer Szene als Nebenhandlung. Auf einer Alm oder im Hochgebirge. Auf einer Gletscherzunge oder einem schroffen Gipfelgrat. Es gab beim Bergfilmfestival auch schon Filme über Gebirgsjagden mit Jägern und Fernsehprofis. Beim kommenden Festival nun also ein Werk über Kriminalfälle. Festivalleiter Martin Hasenöhrl hat mich gebeten, die Moderation dieser Veranstaltung zu übernehmen. Gemeinsam haben wir überlegt, was wir den Zuschauern als Ergänzung zum Film bieten könnten. Da kamen wir schnell auf die Idee, zwei Profis von der Polizei einzuladen. Erstens einen Vertreter der Alpinpolizei. Die Beamten dieser Spezialeinheit werden ja meist zuerst kontaktiert, wenn es zu Unglücksfällen im alpinen Gelände kommt. Aber das wissen Sie ohnehin besser als ich. Und zweitens einen Experten von der Kripo. Denn die Kriminalpolizei muss ja dann am Tatort auf dem jeweiligen Berg die Untersuchung übernehmen, wenn sich herausstellt, es handelt sich bei dem Vorfall nicht um einen Unfall, sondern um ein Verbrechen.«

»Wen haben Sie denn von der Alpinen Einsatzgruppe eingeladen?«

»Es entscheidet sich erst nächste Woche, wer tatsächlich kommen kann. In Kontakt bin ich mit Leutnant Viktor Zadral.«

Merana nickte.

»Sehr gute Wahl. Viktor Zadral ist zwar noch jung, verfügt aber bereits über sehr viel Erfahrung. Außerdem versteht er es, sich gut auszudrücken. Ihn kann auch ich bestens empfehlen.« Er nahm einen Schluck vom Pinot Grigio. »Und was möchten Sie jetzt genau von mir, Herr Berkal?«

Auch der Journalist genehmigte sich Wein, ehe er antwortete.

»Unser Gespräch sollte in zwei Richtungen laufen. Zunächst greifen wir uns einige Szenen aus der Doku heraus, wobei Sie aus Sicht des Kriminalisten erklären sollen, wie richtig oder falsch die polizeilichen Untersuchungen umgesetzt wurden. Ob die Drehbuchautoren und die Regisseure gute Arbeit leisteten oder ob Maßnahmen gezeigt wurden, die in der wirklichen Polizeiarbeit so nie und nimmer stattfänden.«

Merana nahm den Stick auf. »Vielleicht sind bei allen Beispielen überhaupt keine Fehler passiert. Ich weiß, dass heutzutage bei solchen Dreharbeiten Fachkräfte der Kriminalpolizei als Berater hinzugezogen werden.«

Der Journalist lachte.

»Da haben Sie gewiss recht, Herr Kommissar. Heute wird meist bei Filmarbeiten so vorgegangen. Aber früher garantiert eher selten.« Er wies auf den Stick. »Ich bin sicher, Sie werden da viel finden, worüber wir uns unterhalten können. Und zweitens ersuche ich Sie, den anwesenden Besuchern zu erklären, worauf es bei Ermittlungen in den Bergen, am Gletscher und in unwegsamem Gelände aus kriminaltechnischer Sicht speziell ankommt. Worauf man im Vergleich zu einem, nennen wir es, ›normalen‹ Fall bei polizeilicher Ermittlungsarbeit besonders zu achten hat.«

Merana steckte den Stick ein.

»Gut. Ich werde mir das von Ihnen zusammengestellte Material anschauen. Dann können wir in den nächsten Tagen den genauen Ablauf unseres Gesprächs fürs Festival festlegen.«

Er wandte sich dem Mann hinter der Theke zu.

»Signor Mario. Il conto, per favore.«

»Aber Herr Merana«, warf der Journalist schnell ein, »so war das nicht gedacht. Sie sind selbstverständlich mein Gast.«

Merana zögerte, dann nickte er.

»Danke. Ich betrachte das als Entgegenkommen für meinen Auftritt an der geplanten Veranstaltung des Bergfilmfestivals. Für mein Mitwirken will ich aber nichts bekommen. Auch keine Aufwandsentschädigung.«

Berkal streckte ihm die Hand hin.

»Accordato.«

Merana schlug ein. Sie blieben noch eine Viertelstunde, genehmigten sich beide einen Espresso. Dann brachen sie auf. Der Journalist verabschiedete sich in Richtung Platzl und Linzer Gasse. Merana hatte bei der Herfahrt einen Parkplatz in der Nähe gefunden. Also bog er beim Das Kino