Blutkuss - Doris Litz - E-Book

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Doris Litz

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Beschreibung

Ein glutheißer Sommer im Westerwald: Elena Steiner, eine bekannte Anwältin mit besten Kontakten zur Unterwelt, wird ermordet in ihrem Schlafzimmer aufgefunden. Der Täter hat sie offenbar tagelang dort festgehalten und gefoltert. Staatsanwältin Lina Saint-George und ihr Team von der Mordkommission der Koblenzer Kriminalpolizei haben kaum Ermittlungsergebnisse in der Hand, als bereits der nächste Mord passiert - wieder dasselbe, grausame Vorgehen. Und es sind weitere Frauen in Gefahr, darunter eine alte Bekannte von Lina. Während die Ermittler versuchen, weiteres Blutvergießen zu verhindern, wird der Fall für Lina und ihre Vertrauten schnell brandgefährlich ...

Psychologischer Thrill vom Feinsten: der dritte Fall für die ermittelnde Staatsanwältin Lina Saint-George!

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Prolog

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Was noch zu sagen bleibt

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Ein glutheißer Sommer im Westerwald: Elena Steiner, eine bekannte Anwältin mit besten Kontakten zur Unterwelt, wird ermordet in ihrem Schlafzimmer aufgefunden. Der Täter hat sie offenbar tagelang dort festgehalten und gefoltert. Staatsanwältin Lina Saint-George und ihr Team von der Mordkommission der Koblenzer Kriminalpolizei haben kaum Ermittlungsergebnisse in der Hand, als bereits der nächste Mord passiert – wieder dasselbe, grausame Vorgehen. Und es sind weitere Frauen in Gefahr, darunter eine alte Bekannte von Lina. Während die Ermittler versuchen, weiteres Blutvergießen zu verhindern, wird der Fall für Lina und ihre Vertrauten schnell brandgefährlich …

DORIS LITZ

BLUTKUSS

DU LEBST, SOLANGEICH ES WILL!

THRILLER

 

Für Andreas.Weil es immer Hoffnung gibt.

Prolog

Später wird sie nicht sagen können, wann sich das Grauen der Realität in ihren Schlaf geschlichen hat. Im einen Augenblick ist noch alles gut. Sie liegt in einem sonnendurchfluteten Raum auf dem Bett, sanfte Arme halten sie fest und sicher. Beschützen sie vor den Gefahren der Welt. Auch wenn sie nichts von dem, was sich vor den langen, wehenden Gardinen abspielt, erkennen kann, weiß sie, dass dieses wundervolle Zimmer in Griechenland sein muss. Ihrem Herzensland. Draußen warten das türkisblaue Meer, blühende Gärten und freundliche Menschen auf sie. Es gibt keine Angst, nichts, das sie bedroht.

Das Gewitter kommt aus dem Nichts. Von einer Sekunde zur nächsten ist es dunkel und kalt, der zerfetzte Stoff vor dem Fenster klatscht ihr unangenehm gegen die Beine. Die Umarmung, die Schutz verhieß, lässt ihr nun kaum noch Luft zum Atmen. Sie wehrt sich, kann sich jedoch nicht befreien.

Schluchzend schlägt sie die Augen auf. Im Dämmerlicht des frühen Morgens erkennt sie einzelne Gegenstände: einen Nachttisch, darauf ihr Wecker, der überdimensionale Kleiderschrank, die halb offen stehende Schlafzimmertür. Vor dem Fenster prasselt der Regen auf die Büsche im Vorgarten. Der Donner ist nur noch eine ferne Erinnerung. Sie ist zu Hause. Es war nur einer dieser Träume. Sie will sich bewegen, aufstehen. Etwas hält sie fest. Dann begreift sie: Die Arme, die sie eisern umklammern, sind noch da. Im Spiegel der Schranktür erkennt sie eine schemenhafte, dunkle Gestalt, die sich über sie beugt. Ihr ins Ohr flüstert. Es dauerte lange, bis die Worte in ihrem Kopf ankommen.

»Du hast geglaubt, dass du allein klarkommst. Aber das tust du nicht. Du lebst, weil ich es will. Und so lange ich will.«

1

Es war erst elf Uhr am Vormittag, aber bereits brütend heiß. Vermutlich würde das Thermostat bis zum Mittag die 30-Grad-Marke knacken. In der Nacht hatte es geregnet, aber statt Abkühlung zu bringen, verwandelten die Gewitter die Welt in eine dampfende Sauna.

Lina Saint-George hatte keine allzu großen Probleme mit Hitze, aber im Moment wünschte sie sich, es wäre tiefster Winter. Eine Leiche, die tagelang unentdeckt in einer Wohnung vor sich hin verweste, war nie ein angenehmer Anblick, vom Geruch ganz zu schweigen. Jetzt, im Sommer, war es beinahe unerträglich.

»Sie müssen nicht hier sein.«

Lina warf Manfred Neuer einen genervten Blick zu. Auch wenn sie sich mittlerweile gut mit dem chronisch missmutigen Kriminalhauptkommissar verstand, war er weiterhin der Auffassung, dass sie als Leitende Oberstaatsanwältin nichts an »seinen« Tatorten zu suchen hatte. Ihr lag bereits eine passende Antwort auf der Zunge, dann ließ sie es bleiben.

Schließlich war sie jetzt da. Wie immer in den letzten beiden Jahren, wenn in ihrer Zuständigkeit verdächtige Todesfälle gemeldet wurden. Und diese Leiche war mehr als verdächtig. Dafür sprach nicht nur, dass die tote Elena Steiner eine bekannte Strafverteidigerin mit vielfältigen Kontakten zur Unterwelt gewesen war. Auch die klaffende Wunde am Hals, die sich von einem Ohr bis zum anderen zog, wies eindeutig auf ein Verbrechen hin.

»Gibt es noch andere Verletzungen?«

Diesmal wandte Lina sich an die große schlanke Gestalt, die selbst im weißen Overall der Spurensicherung nichts von ihrer Anmut einbüßte. Klara Kochhäuser hatte sich tief über die Tote gebeugt, die rücklings auf einem breiten, mit silbergrauen Seidenlaken bezogenen Bett lag. Die Rechtsmedizinerin hob den Kopf und schaute Lina aus unergründlichen blauen Augen an.

»Keine tödlichen, soweit ich das ohne nähere Untersuchung bei dem Verwesungsgrad beurteilen kann. Aber ich würde sagen, dass die Dame vor ihrem Tod einiges aushalten musste.«

»Sie wurde gefoltert?«, warf Neuer ein, dessen Laune durch die offenkundige Vertrautheit zwischen Oberstaatsanwältin und Rechtsmedizinerin nicht besser geworden war. Lina wusste, dass es ihm noch immer schwerfiel, sie als Herrin des Verfahrens zu akzeptieren.

»Sieht so aus«, antwortete Klara Kochhäuser, die sich wieder über die Tote beugte, was den Vorteil hatte, dass sie weder Lina noch Manfred Neuer bevorzugen musste.

»Kannst du …«

»Nein, kann ich nicht, Manni«, unterbrach die Medizinerin den Kommissar sichtlich genervt. »Du siehst doch, in welchem Zustand die Leiche ist.«

»Genau deshalb dachte ich, du könntest was dazu sagen, wie lange sie hier schon liegt.«

Für seine Verhältnisse war Neuer nach der rüden Ansprache außergewöhnlich gelassen, was Klara Kochhäuser nicht zu würdigen wusste.

»Es ist Sommer, und seit drei Wochen haben wir jeden Tag über 30 Grad gehabt. Übrigens wurde die Klimaanlage abgedreht. Sie kann seit zwei Tagen hier liegen oder seit zwei Wochen. Könnt ihr euch nicht ein Mal gedulden und mich in Ruhe meine Arbeit machen lassen?«

Obwohl sie beide angesprochen hatte, funkelte die Rechtsmedizinerin ausschließlich den Kommissar an. Der hob abwehrend die Hände und wich einige Schritte zurück. Hätte Lina nicht gewusst, wie sehr Klara und Neuer sich mochten, würde sie glauben, dass die beiden ein ernsthaftes Problem miteinander hätten. So freute sie sich einfach an der Tatsache, dass es offenkundig Menschen gab, die den Altenkirchener zum Schweigen bringen konnten.

»Vielleicht kann ich helfen.«

Lina und Neuer drehten sich auf dem Absatz um, als hätten sie die Simultan-Pirouette in monatelangen Proben einstudiert.

Der Auftritt zauberte ein Lächeln in Sandra Lachmanns blasses Gesicht. Die junge Oberkommissarin stand in der Schlafzimmertür und hielt einen Notizblock in der Hand, in dem sie eifrig blätterte. Beinahe wirkte sie wie früher. Nur die langärmlige Bluse passt nicht recht zur sommerlichen Hitze. Lina wusste, dass Sandra ärmellose Kleidung mied, um nicht ständig auf die riesige Narbe am rechten Oberarm angesprochen zu werden. Eine Wunde, an der sie im letzten Herbst beinahe gestorben wäre. Lina war dabei gewesen, als die hübsche Polizistin verletzt und in buchstäblich letzter Minute gerettet worden war. »Ich habe mit der Putzfrau gesprochen. Andreja Gonchar arbeitet seit fünf Jahren für Frau Steiner. Es gibt bei beiden einen ukrainischen Migrationshintergrund.«

»Bist du sicher?« Manfred Neuer war skeptisch. »Dass die Steiner keine Deutsche war, meine ich.«

Sandra schaute ihren Kollegen mit ausdrucksloser Miene an.

»Sie war Deutsche. Eingebürgert mit sechzehn. Ihre Familie kam aus der Ukraine, als sie sechs war, sie ist ein Jahr später eingeschult worden, hat eine Klasse übersprungen, mit neunzehn Abi gemacht und dann Jura studiert. Mit Mitte zwanzig hat sie geheiratet, fünf Jahre später wurde sie geschieden. Obwohl sie keine Kinder hatten, musste ihr Mann ihr einen großen Teil seines Vermögens überschreiben. Keine Ahnung, wie sie das gedeichselt hat. Außerdem hat sie seinen Namen behalten. Vermutlich wollte sie nicht für eine Ausländerin gehalten werden.«

Neuer, der aufmerksam zugehört hatte, tat so, als habe er die Kritik in Sandras Vortrag nicht wahrgenommen.

»Sie war also keine Deutsche. Das sollten wir im Blick behalten.«

Sandra schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Aufzeichnungen. Lina verkniff sich ein Grinsen. Ihr waren diese unterschwelligen Zankereien wesentlich lieber als die unnatürliche Rücksichtnahme, der Sandra seit ihrem Wiedereinstieg ausgesetzt war. Und sie vermutete, dass es der Polizistin selbst ähnlich ging.

»Was ist nun mit der Putzfrau?«, drängelte Neuer.

»Frau Gonchar hat die Leiche gefunden, als sie heute Morgen gegen zehn zur Arbeit kam. Sie kommt jeden Tag vier Stunden und ist vorschriftsmäßig angemeldet, was in der Branche mehr als ungewöhnlich ist. Allerdings hatte sie in den letzten beiden Wochen Urlaub.«

»Das bringt uns also nicht weiter.« Neuer klang sichtlich enttäuscht.

»Für sich allein genommen nicht«, bestätigte Sandra ungerührt. »Aber ich habe auch mit der Kanzlei telefoniert. Offenbar hat Elena Steiner sich am Mittwochmorgen krankgemeldet und ist den Rest der Woche zu Hause geblieben. Das hat ihre Sekretärin deshalb verwundert, weil es in den fünfzehn Jahren, die sie für die Steiner gearbeitet hat, noch nie vorgekommen ist. Die Tote hatte entweder eine äußerst robuste Gesundheit, oder sie hat gnadenlos auf die moderne Medizin vertraut und sich im Bedarfsfall entsprechend aufgeputscht.«

»Und hat Frau Steiner ihrer Sekretärin auch verraten, welche Krankheit sie ans Haus gefesselt hat?«, wollte Lina wissen.

»Nein«, sagte Sandra, »hat sie nicht. Aber die Sekretärin hat mehrmals mit ihr gesprochen, und jedes Mal hat die Steiner einen völlig apathischen, fast depressiven Eindruck gemacht. Deshalb hat Jessica Schürg, so heißt die Sekretärin, vermutet, dass ihre Chefin ernsthaft erkrankt war und die Sache nicht weiter infrage gestellt.«

Für mehrere Sekunden herrschte Schweigen. Lina hätte darauf gewettet, dass sie alle das Gleiche dachten. Schließlich sprach sie es aus: »Entweder sie war krank, oder der Mörder hatte sie die ganze Zeit in seiner Gewalt.«

2

»Ihr glaubt also, Elena Steiner könnte tagelang in ihrer Wohnung festgehalten und gefoltert worden sein, bevor sie getötet wurde?«

Maren Maibaum schaute skeptisch in die Runde, die sich in einem der Besprechungsräume des Koblenzer Polizeipräsidiums versammelt hatte, um gemeinsam durchzugehen, was sie bislang über den Tod Elena Steiners wussten.

»Das Ergebnis der Obduktion legt diese These nahe«, bestä-tigte Leo Teichgräber, der der Untersuchung der Leiche in der Bonner Rechtsmedizin beigewohnt hatte. Früher war das meist Marens Job gewesen, doch seit sie zur neuen Leiterin der Mordkommission – im Polizeijargon K 11 genannt – auserkoren war, überließ sie die ungeliebte Aufgabe gern ihren Kollegen.

Neuer betrachtete seine langjährige Mitstreiterin mit nach wie vor gemischten Gefühlen. Zwar hatte er ihr selbst den Weg geebnet, als er den Posten an der Spitze des Kommissariats abgelehnt hatte. Außerdem war er überzeugt, dass sie genau die Richtige für den Job war. Trotzdem plagten ihn Zweifel. Würde sie ihn noch genauso respektieren, wenn sie seine Chefin war? Konnte sie ihm seine Eigenheiten überhaupt durchgehen lassen, ohne die eigene Autorität aufs Spiel zu setzen? Vielleicht würde es ihm ja gelingen, ihr nicht dauernd zu widersprechen. Okay, das war unrealistisch.

»Ist alles okay mit dir?«

Es dauerte eine Weile, bis er registrierte, dass die Frage ihm galt.

»Ja, natürlich. Wieso fragst du?«, brummte er, verärgert über sich selbst.

»Weil ich dich gefragt habe, ob es bereits konkrete Verdächtige gibt.«

»Elena Steiner war mit fast allen Kriminellen im Umkreis von hundert Kilometern bekannt. Die meisten von ihnen hat sie schon mal verteidigt. So gesehen gibt es jede Menge Verdächtige, denen zuzutrauen ist, dass sie ein Opfer erst ein paar Tage quälen, bevor sie es abschlachten. Aber wenn du was Konkretes haben willst: Fehlanzeige. Die Steiner hat ihre Prozesse so gut wie immer gewonnen. Zumindest haben wir bislang nichts gefunden, was ein solches Vorgehen erklären würde. Außerdem …«

Der Kommissar zögerte.

»Was?«, wollte Maren wissen.

»Im Obduktionsbericht steht, dass das Opfer massiv sexuell missbraucht wurde. Irgendwie passt das nicht zu einer Abrechnung in der organisierten Kriminalität. Zumindest nicht, wenn man mit einem in Ungnade gefallenen Anwalt abrechnen will – egal ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.«

Einen Moment lang schwiegen alle.

»Ist das nicht eine etwas … chauvinistische Einstellung?«, warf Sandra Lachmann schließlich ein.

Neuer bedachte sie mit einem zornigen Blick, der jedoch gleich wieder milder wurde, als er in das nach wie vor blasse und ausgezehrte Gesicht der jungen Kripobeamtin blickte.

»Also ehrlich, Sandra. Das ist ja wohl genau das Gegenteil von chauvinistisch. Ich habe doch gerade gesagt, dass es bei einer Hinrichtung im Mafia-Milieu keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Verrätern gibt.«

Sandra schnaufte und schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie sollte sich nicht zu viel rausnehmen, dachte Neuer, sagte aber nichts. Er griff nach der Zigarettenschachtel, die wie immer vor ihm lag, und drehte sie ungeduldig in seiner Hand. Es wurde Zeit, dass er hier rauskam.

»Wie dem auch sei«, sagte Maren und versuchte, die Lage zu entspannen. »Auf jeden Fall müssen wir uns die Klienten von Elena Steiner genauer anschauen. Und natürlich hat Manni recht: Wir dürfen dabei nicht nur die Organisierten im Blick haben. Sucht also auch nach Männern, die wegen Vergewaltigung oder sogar Mord vor Gericht standen und von ihr verteidigt wurden. Ich denke, da wird einiges zusammenkommen. Frau Steiner war offenbar ein echter Workaholic. Sandra, Leo, am besten teilt ihr euch die Fälle. Und du, Manni …«

»Ich werde mal meine Fühler in die Koblenzer Unterwelt ausstrecken und mich umhören, ob jemand unsere Top-Anwältin auf dem Kieker hatte. Oder hast du eine bessere Idee?«

Maren schaute ihm fest in die Augen, dann gab sie nach.

»Nein. Das ist ein guter Plan. Gib mir bitte sofort Bescheid, wenn du was rausfindest.«

»Klar, mach ich.«

»Sofort« ließ schließlich gewisse Spielräume. Und wenn Maren in dieser Hinsicht vernünftig war, könnte es in Zukunft ganz gut mit ihnen klappen. Zumindest dürften sie nicht allzu oft aneinandergeraten.

3

Lina Saint-George war in den vorläufigen Obduktionsbericht von Elena Steiner vertieft, als es verhalten, aber deutlich klopfte. Sie war alarmiert. Melanie Weber, die Göttin des Sekretärinnen-Himmels, klopfte nur an, wenn sie jemanden ankündigen wollte, der ungeplant vor Linas Tür aufgetaucht war und nicht ohne Weiteres auf einen späteren Termin vertröstet werden konnte.

»Entschuldigen Sie, aber der Generalstaatsanwalt …«

Bevor Melanie Weber ihren Satz beenden konnte, schob Horst Schimmelreiter seinen gewaltigen Körper an der jungen Frau vorbei und enterte Linas Büro, das durch die Anwesenheit des massigen Mannes deutlich kleiner wirkte. Kein Wunder, dass er selbst von einem riesigen Saal aus residierte. Normalerweise legte der Generalstaatsanwalt höchsten Wert darauf, seine Untergebenen in dieser Festung zu empfangen. Zumindest hatte er sie in den letzten beiden Jahren kein einziges Mal aufgesucht. Lina musste allerdings einräumen, dass er auch ohne die einschüchternde Kulisse nichts von seiner Autorität einbüßte. Obwohl sie sich ausgesprochen gut mit Schimmelreiter verstand, fragte sie sich unwillkürlich, was sein unerwartetes Auftauchen zu bedeuten hatte.

»Keine Sorge, ich war ohnehin im Haus unterwegs und dachte, ich schaue mal kurz bei Ihnen vorbei, statt Sie nach oben zu zitieren.«

Schimmelreiter lächelte sie breit und beruhigend an. Selbstverständlich konnte er Gedanken lesen. Zumindest bestätigte er Linas frühere Einschätzung, dass er eine außergewöhnlich gute Menschenkenntnis besaß.

»Es geht um den Mord an Elena Steiner. Von Stetten hat durchblicken lassen, dass die Mafia dahinterstecken könnte. Falls man heutzutage überhaupt noch von der Mafia sprechen kann.«

Julius von Stetten war Linas Stellvertreter. Er hatte sich selbst Hoffnungen auf ihren Posten gemacht, dann aber hinter der jüngeren, überaus erfolgreichen Kölner Kollegin zurückstecken müssen. Just als die Leitungsstelle in Koblenz ausgeschrieben war, war Lina auf die Idee gekommen, ihren Mann zu verlassen und in die alte Heimat, den Westerwald, zurückzukehren. Obwohl von Stetten sich ihr gegenüber stets korrekt und freundlich verhielt, wusste Lina aus Erfahrung, dass er sich nur schwer mit der vermeintlichen Niederlage abfinden konnte. Deshalb war sie auf der Hut, wenn sie wusste, dass der blasse Jurist seine Hände im Spiel hatte. Dennoch blickte sie völlig gelassen zu Schimmelreiter auf, der nach wie vor wie ein Eisberg vor ihrem Schreibtisch aufragte.

Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihn zum Sitzen aufzufordern. Zum einen entsprach die erhöhte Position seinem Selbstverständnis, und zum anderen besaß sie keinen Stuhl, der das Gewicht des riesigen Mannes länger als zwei Minuten unbeschadet hätte tragen können.

»Es ist zu früh, um sich in irgendeine Richtung festzulegen, fürchte ich. Ich lese gerade den Obduktionsbericht …«

»Elena Steiner hatte enge Verbindungen zum organisierten Verbrechen, das wissen Sie.«

Schimmelreiters Ton war ein wenig gereizt. Lina fragte sich, was diesen ausgesucht höflichen und überaus fairen Mann so nervös machte.

»Kannten Sie Frau Steiner? Persönlich, meine ich.«

Schimmelreiter sah sie überrascht an.

»Nein. Wie kommen Sie darauf?«

»Ich dachte nur …«

Üblicherweise schätzte der Generalstaatsanwalt ihre offene Art, aber womöglich hatte sie sich diesmal zu weit vorgewagt.

»Sie meinen, weil ich hier bei Ihnen aufkreuze und mich in Ihren Fall einmische?«

Der große Mann lachte so unbefangen und laut, dass Lina fürchtet, die Rigipswände ihres Büros könnten in sich zusammenfallen. Schimmelreiter fing sich, bevor ernsthafter Schaden entstehen konnte. Er griff in die Tasche seiner für diese Konfektionsgröße außergewöhnlich eleganten Hose und zog ein weißes Taschentuch hervor, das Lina für Seide hielt. Damit rieb er sich zuerst die Tränen aus den Augenwinkeln und dann den Schweiß von der Stirn.

»Nein, Lina. Keine Sorge. Es geht mir nicht um Frau Steiner. Und auch nicht darum, mich in Ihre Arbeit einzumischen. Sie wissen, dass ich große Stücke auf Sie halte. Deshalb gebe ich im Allgemeinen nichts auf von Stettens neidisches Geplapper.«

Er zögerte, was nicht seiner Art entsprach.

»Aber …?«, half Lina ihm.

»Ich mache mir Sorgen um Sie, Lina. Ich weiß, dass Sie das nicht gern hören, und ja, ich rede andauernd davon, dass gerade Staatsanwälte sich nicht von Verbrechern beeindrucken lassen dürfen. Aber seit sie bei uns sind, waren sie während ihrer Ermittlungen mehr als einmal in Lebensgefahr. An die junge Polizistin, Sandra Lachmann, darf ich gar nicht denken. Sie hat Ihren letzten gemeinsamen Einsatz nur knapp überlebt. Der Gedanke, dass Sie beide es nun mit der Mafia zu tun haben könnten, behagt mir nicht. Ob Russen, Italiener, Chinesen, Araber oder sonst eine Bande – mit den Leuten ist nicht zu spaßen.«

Er hob die Hand und stoppte Linas Erwiderung.

»Ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Sie leiten die Staatsanwaltschaft, und natürlich dürfen Sie sich nicht aus Angst um sich selbst zurückziehen. Ich bitte Sie auch gar nicht, den Fall abzugeben. Aber vielleicht könnten Sie die Ermittlungen ausnahmsweise mal der Polizei überlassen.«

Lina verkniff sich den Hinweis auf Sandra Lachmann, die schließlich zur Mordkommission gehörte und ganz sicher nicht bereit war, sich zurückzuhalten. Genauso wenig wie sie selbst.

»Wie gesagt lese ich gerade den vorläufigen Obduktionsbericht. Die Auswertung der chemischen Analysen steht zwar noch aus, aber Elena Steiner ist während ihrer Gefangenschaft nicht nur körperlich misshandelt, sondern auch mehrfach brutal vergewaltigt worden. Ich habe den Eindruck, dass das nicht unbedingt nach einer Abrechnung im Mafiamilieu aussieht. Vielleicht müssen wir in eine ganz andere Richtung ermitteln.«

Schimmelreiter schaute sie eine Weile nachdenklich an.

»Mag sein oder auch nicht«, sagte er schließlich. »Zur guten alten italienischen Cosa Nostra mit ihrem Ehrenkodex würde das vielleicht nicht passen. Aber mittlerweile gibt es so viele Nationalitäten und Gesinnungen in diesem Geschäft, dass man sich darauf keineswegs verlassen sollte.«

»Wir könnten einen Profiler hinzuziehen. Ich habe in Köln sehr gut mit einem Therapeuten und Fallanalytiker zusammengearbeitet …«

»Ist das bei einem einzigen Fall nicht ein bisschen voreilig? Ich dachte immer, für diese Art Arbeit braucht man mindestens zwei oder drei Taten, um ein Muster zu erkennen.«

Lina wusste, dass Schimmelreiter grundsätzlich offen für diesen eher modernen Ansatz der Ermittlungsarbeit war – anders als vermutlich Kriminalhauptkommissar Manfred Neuer, der sich lieber auf seine eigene Spürnase verließ. Aber der Generalstaatsanwalt hatte recht: Die Fallanalyse war dann besonders wirkungsvoll, wenn sich Muster erkennen ließen, was bei einem einzigen Mord kaum möglich war. Doch wenn sie es nicht mit einer Abrechnung im organisierten Verbrechen zu tun hatten, war es ziemlich wahrscheinlich, dass Elena Steiner nicht das einzige Opfer blieb. Ein Gedanke, der ihr Unbehagen bereitete.

»Warten Sie einfach noch ein bisschen ab, wie sich der Fall entwickelt«, sagte Schimmelreiter schließlich, und Lina fragte sich, ob er womöglich zum gleichen Schluss gekommen war wie sie selbst. Dass sie es entweder mit einem Mafiamord oder mit einem Serientäter zu tun haben könnten. Die berühmte Wahl zwischen Pest und Cholera.

»So oder so«, sagte der große, schwere Mann, bevor er sich zum Gehen wendete. »Passen Sie einfach ein bisschen auf sich auf!«

Ein Rat, der ihm ohne Weiteres den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit einbringen konnte. Doch Lina wusste, dass Schimmelreiter sich lediglich Sorgen um sie machte. Und nach allem, was während der letzten beiden Jahre geschehen war, konnte sie ihm das nicht übelnehmen.

4

Manfred Neuer hatte den Vormittag damit verbracht, Kontakt zu einigen seiner Informanten aufzunehmen. Sie waren keine V-Leute im eigentlichen Sinne, bestenfalls eine Art Gelegenheitsspitzel. Meist hatte er bei ihnen aus strategischen Gründen hin und wieder ein Auge zugedrückt oder sich bei den Kolleginnen und Kollegen der Drogenfahndung für sie eingesetzt. Und sie waren allesamt dicht genug an der Koblenzer Unterwelt, um die großen Stimmungen mitzubekommen. Davon, dass die bei professionellen Kriminellen überaus beliebte Strafverteidigerin Elena Steiner bei einem ihrer gefährlichen Mandanten in Ungnade gefallen sein könnte, hatte allerdings niemand etwas gehört. Offenbar war sie klug genug gewesen, nie ins Kreuzfeuer konkurrierender Gruppen zu geraten. Allein dafür zollte Neuer ihr Respekt. Koblenz war zwar nicht Köln oder gar Berlin. Brutale Machtkämpfe zwischen verschiedenen Clans gab es aber auch hier in der Provinz.

Von einem seiner Zuträger bekam der Kommissar jedoch eine andere überaus interessante Information. Ein angesehener Koblenzer Geschäftsmann, den Neuer ganz persönlich für keinesfalls respektabel hielt und der gerade wegen eine Steuersache vor Gericht stand, schien regelrecht außer sich vor Wut, weil jemand seine Anwältin getötet hatte.

»Angeblich hat er eine Belohnung ausgesetzt, um den Mörder zu erwischen«, hatte ihm ein kleiner Dealer gesteckt. »Er legt Wert darauf, den Kerl lebend in die Finger zu bekommen. Sie können sich schon denken, warum.«

Das konnte Neuer allerdings. Also musste er sich in diesem Fall auf unliebsame Konkurrenz einstellen. Und darauf, zumindest aus der Szene keine wertvollen Tipps zu bekommen, da die andere Seite deutlich besser zahlte als die Polizei.

»Und? Ist eine der anderen Gangs nervös?«, fragte er, während er im Stillen fluchte.

»Nee. Keiner glaubt, dass jemand von denen dahintersteckt. Die fangen doch wegen so einer Anwaltstusse keinen Bandenkrieg an. Wo es grad mal ruhig ist an der Front.«

Auch Neuer hatte davon gehört, dass es in der Szene einige Vereinbarungen gegeben haben sollte und eine Art Burgfrieden herrschte, der allen ermöglichte, in Ruhe ihren klar voneinander abgegrenzten Geschäften nachzugehen. Zumindest so lange, bis ein ernst zu nehmender neuer Spieler auf der Bühne auftauchte und die brutalen Verhandlungen von vorn begannen. Er wusste, wie schwierig solche Deals zu arrangieren waren. Schließlich waren eine Menge Grüppchen im Spiel, die sich alle für überaus wichtig hielten und ein ordentliches Stück vom Kuchen abhaben wollten. Falls tatsächlich jemand eine offene Rechnung mit Elena Steiner zu begleichen hatte, wäre es sehr viel klüger gewesen, sie durch einen fingierten Unfall auszuschalten. Allerdings musste Neuer einräumen, dass längst nicht alle Gewohnheitsverbrecher auch nur durchschnittlich intelligent waren. Manche von ihnen ersetzten den Mangel an Hirn durch besondere Brutalität. Dennoch sagte ihm sein Instinkt, dass sie nach einem Täter suchten, der nicht im Organisierten Verbrechen zu Hause war. Egal was Maren und die anderen dachten. Nur dumm, dass er nicht mehr derjenige war, der entschied, in welche Richtung ermittelt wurde. Das taten Maren und Lina Saint-George, die nicht müde wurde zu betonen, dass sie die Herrin des Verfahrens war. Falls er sie nicht überzeugen konnte, würden wichtige Ressourcen in eine Ermittlungsrichtung investiert, die in eine Sackgasse führte.

Natürlich hielt ihn das nicht davon ab, seinen eigenen Weg zu gehen. In der Vergangenheit hatte er, trotz aller nach wie vor vorhandenen Vorbehalte, gut mit der Leitenden Oberstaatsanwältin zusammengearbeitet. Fast hatte er sich sogar mit der persönlichen Verbindung abgefunden, die durch Linas etwas undurchsichtige Beziehung zum Sohn seiner Geliebten bestand. Da alle Beteiligten eher dezent mit ihrem Privatleben umgingen und die jeweiligen Verbindungen nicht an die große Glocke hängten, war das sogar unerwartet unkompliziert. Sie begegneten sich fast ausschließlich im beruflichen Umfeld. Und wenn er hin und wieder so etwas wie Zuneigung zur Sehnschorsch, wie er Lina in bester Westerwälder Tradition nannte, verspürt hatte, dann war das meist der Sorge geschuldet, dass sie in der Gefahr umkommen könnte, in die sie scheinbar ständig geriet. Trotzdem war die Aussicht, dass sie in diesem Fall unterschiedlicher Meinung sein könnten und verschiedene Ansätze verfolgten, reizvoll. Gutes Team hin oder her – Kriminalhauptkommissar Manfred Neuer war der typische Einzelgänger. Ein einsamer Wolf. Und genau das wollte er auch bleiben.

5

Martina Herzog zog das große, erstaunlich leichtgängige Scheunentor hinter sich zu. Heute war ein guter Tag. Zumindest was ihre Finanzen betraf. Vier Kundinnen hatte sie in Einzelstunden das Wesen des Hundes an sich und den Charakter ihres persönlichen Exemplars nähergebracht. Oder besser: Sie hatte sich darum bemüht, ihr Wissen und ihre Beobachtungen an die Frauen zu vermitteln.

Drei der Damen waren nach ihrer Einschätzung aussichtslose Fälle. Mit viel Herz und wenig Verstand hatten sie sich verkorkste Tiere aus dem Tierheim besorgt oder ihren Welpen vom Züchter viel zu lange ohne irgendwelche Grenzen aufwachsen lassen.

Die vierte Kundin war zwar ähnlich blauäugig ins Abenteuer Hund gestartet, bemühte sich aber nach Kräften, die selbsterwählte Aufgabe zu verstehen und zu bewältigen. Der Mangel an natürlicher Autorität wurde in dem Fall glücklicherweise durch das lammfromme Wesen ihres gemütlichen Retrievers kompensiert, sodass Martina Herzog berechtigte Hoffnungen hegte, tatsächlich etwas bewirken zu können.

Als sie ihren Job als Verwaltungsangestellte bei der Kreisverwaltung aufgegeben hatte, um Hundetrainerin zu werden, hatten die meisten ihrer Freundinnen sie für verrückt erklärt. Aber sie war überzeugt gewesen, dass sie der Berufung folgen musste. Und dass sie Erfolg haben würde.

Tatsächlich konnte sie sich über ihre finanzielle Lage nicht beklagen, auch wenn sie nicht mehr ganz so sorglos mit ihrem Geld umgehen konnte, seit sie den Aussiedlerhof am Ortsrand des kleinen Dorfes Welkenbach gekauft hatte und monatlich Darlehensraten abzahlen musste. Wenn die Geschäfte so weiterliefen wie bisher, hatte sie die weitläufige Anlage trotz fünfstelliger Investitionen in Renovierung und Ausbau in weniger als zehn Jahren abgezahlt. Sie sollte sich also darüber freuen, dass es so viele Leute gab, die sich Hunde anschafften, ohne sich im Vorfeld im Geringsten damit auseinandergesetzt zu haben, was das für ihr Leben bedeutete. Das Ergebnis waren verhaltensgestörte Tiere und überforderte Besitzer, die verzweifelt, aber oft auch viel zu spät Rat bei Menschen wie ihr suchten. Manchmal kamen ihr die Tränen, wenn sie sah, wie viel Leid diese menschliche Gedankenlosigkeit den betroffenen Tieren bescherte, die durch das in ihren Augen unerklärliche Verhalten ihrer Bezugspersonen völlig verunsichert waren und je nach Charakter mit Ängstlichkeit, Unsauberkeit oder Aggression reagierten.

Deshalb war die Hunde- und Menschentrainerin vor einigen Monaten dazu übergegangen, Seminare an der Volkshochschule anzubieten, die sich an künftige Hundebesitzer richteten. Dass viele der Teilnehmer sich nach zwölf Sitzungen dazu entschlossen, lieber auf einen vierbeinigen besten Freund zu verzichten, verbuchte sie als Erfolg.

Genau wie den Buchvertrag, den sie vor einigen Wochen unterschrieben hatte. Das war eine Aufgabe, die am Abend noch auf sie wartete. Das Buch sollte in einem Monat beim Lektor sein. Sie hatte nicht gedacht, dass es so kompliziert war, aus ihren Seminarunterlagen ein spannendes Manuskript für ihr Sachbuch zu machen.

Bevor sie sich an den Laptop setzte, wollte sie noch eine Runde mit Jack und Tyler drehen, ihren dreijährigen, überaus sozialen Wolfshunden, die sie bei der Arbeit mit verhaltensgestörten Artgenossen so wunderbar unterstützten. Im Grunde genommen teilten sie und ihre Hunde sich die Arbeit auf: Sie kümmerte sich um die Menschen, Jack und Tyler brachten die Vierbeiner zurück in die Spur.

Am Ende dauerte der Spaziergang deutlich länger als geplant. Nach der Hitze am Nachmittag war es zum Abend hin ein wenig abgekühlt, und ein sanfter Wind rauschte durch die Blätter der Bäume. Die riesigen Hunde hatten so viel Freude daran, über die Wiese am Bach zu tollen, dass Martina sie gewähren ließ.

Als sie auf den Hof zurückkamen, war der bereits ins Zwielicht der fortschreitenden Dämmerung gehüllt. Ihre Freundin Sissi hatte mal gesagt, dass sie sich abends auf dem einsamen Gelände fürchten würde. Überall zwischen Haupthaus und Nebengebäuden waren tiefschwarze Schatten, die sich wunderbar für einen Hinterhalt eignen würden. Doch wer sollte sich hier, im friedlichen Welkenbach, auf die Lauer legen? Und wer sollte Interesse an ihr haben, einer Frau, deren Liebe ausschließlich ihren Hunden gehörte und die sich demzufolge nicht gerade viel Mühe mit ihrem Äußeren gab?

Im Haus stellt Martina Jack und Tyler die vorbereiteten Futternäpfe vor die Nase, die sie innerhalb von Sekunden leerten, und legte sich dann für eine halbe Stunde mit ihnen auf die riesige Matratze im Hundezimmer. Dieses Kuschel-Ritual war für alle Beteiligten der Höhepunkt des Tages. Denn auch wenn Wolfshunde allein wegen ihrer Größe äußerst Respekt einflößende Tiere waren, begegneten sie vertrauten Menschen mit ungeheurer Sanftmut und Zärtlichkeit.

Als sie drei Stunden später ihre Manuskriptdatei schloss und nach oben ins Schlafzimmer ging, blieben die Hunde tief schlafend auf ihrer Matratze liegen. Sie würden ihr später nach oben folgen. Das taten sie immer. Martina ließ die Schlafzimmertür einen Spalt offen und löschte das Licht. Nichts an diesem Abend war anders als sonst. Die Hunde hatten sich nicht auffällig verhalten, und auch ihre eigenen Instinkte signalisierten keine Gefahr. Doch als sie eine Stunde später aus dem Schlaf schreckte, war es kein pelziger Körper, der sich an sie presste. Sie brauchte eine volle Minute, um zu begreifen, dass sie wach und nicht allein war. Und dass der Gegenstand an ihrer Kehle sich nicht nur anfühlte wie die Klinge eines Messers.

6

Wie erwartet konnte Manfred Neuer seine Kollegen nicht davon überzeugen, die Koblenzer Unterwelt bei den Ermittlungen außen vor zu lassen und sich stattdessen auf andere Ansätze zu konzentrieren. Das lag zum Teil daran, dass es kaum andere Ansätze gab. Fast alle Fälle, die Elena Steiner übernommen hatte, hatten mehr oder weniger starke Bezüge zum organisierten Verbrechen. Scheidungsfälle – die sowohl Neuer als auch Lina Saint-George für vielversprechend gehalten hätten – hatte die Rechtsanwältin offenbar grundsätzlich nicht übernommen. Ein frustrierter, weil um seine Existenz gebrachter Mann, der sich an der Anwältin seiner Ex-Frau rächen wollte, war demzufolge nicht in Sicht.

Auch der Ex-Mann von Elena Steiner schied als Verdächtiger aus. Der Jurist und Wirtschaftsberater lebte seit der Scheidung in Koblenz, war wieder verheiratet und hatte zwei Kinder. Zur Zeit des Mordes war er mit seiner Familie auf Gran Canaria. Offenbar war er zumindest finanziell auf die Füße gefallen, was daran liegen konnte, dass seine Kundenliste nahezu identisch mit der Klientenliste seiner Ex-Frau war. Das wusste Neuer aus seinen heimlichen Quellen, denn offiziell war es ihnen bislang nicht gelungen, einen legalen Blick auf die Kundschaft des Mannes zu werfen.

Neuer war aber auch deshalb von der Unschuld Torsten Steiners überzeugt, weil er nach seiner Einschätzung längst tot wäre, wenn er etwas mit dem Ableben seiner früheren Frau zu tun hätte. Das Kopfgeld war nach Kenntnis des Kommissars mittlerweile auf hunderttausend Euro angehoben worden. Offensichtlich gab es eine Menge Leute, die stinksauer auf den unbekannten Täter waren.

In einem hatte Manfred Neuer sich allerdings getäuscht: Lina Saint-George stimmte ihm wider Erwarten zu, als er erläuterte, warum er den Mörder eher im privaten Umfeld von Elena Steiner vermutete. Deshalb musste er nicht, wie geplant, gegen irgendwelche Anweisungen verstoßen, um die Spur zu verfolgen, sondern wurde offiziell damit betraut, in diese Richtung zu ermitteln. Damit hatte die Sehnschorsch ihm eine Menge Spaß verdorben. Andererseits hatte es natürlich Vorteile, offen im Privatleben der Toten rumschnüffeln zu können. Das Problem war nur, dass Elena Steiner scheinbar kein Privatleben gehabt hatte.

Auf jeden Fall konnte er nach drei Tagen nicht mehr vorweisen als eine Handvoll Freundinnen, mit denen sich die Anwältin laut ihrer Sekretärin und den Einträgen in ihrem Terminkalender alle paar Wochen getroffen hatte. Bislang war es Neuer nicht gelungen, die Frauen zu identifizieren, die im Kalender grundsätzlich nur mit ihren Initialen auftauchten. Jessica Schürg, die Sekretärin, konnte sich angeblich nicht erinnern, jemals eine der Damen gesehen oder ihre Namen gehört zu haben, und Torsten Steiner war davon überzeugt, dass seine Ex-Frau diese Kontakte erst nach dem Ende ihrer Ehe geschlossen haben konnte.

»Als wir zusammen waren, hatte sie keine Freunde. Da gab es nur ihren Job.«

Wenn er ehrlich war, musste Manfred Neuer zugeben, dass er in den letzten Tagen keinen einzigen Schritt weitergekommen war. Dass es seinen Kollegen an der Mafia-Front ähnlich ergangen war, tröstete ihn kaum.

Er wollte gerade Feierabend machen, als Maren Maibaum den Kopf in sein Büro steckte. Selbst ihm fiel auf, dass sie ziemlich aufgewühlt aussah. Soweit er wusste, kam sie geradewegs aus dem Büro von Kripochefin Hella Baldus. Vermutlich wurde es jetzt ernst, und Marens offizielle Ernennung zur Leiterin der Mordkommission stand unmittelbar bevor. Richtig froh sah sie allerdings nicht aus. Vielleicht hatte sie Lampenfieber und brauchte seinen Zuspruch. Der Gedanke löste gemischte Gefühle in ihm aus.

»Kann ich kurz mit dir sprechen?«, fragte Maren prompt.

»Klar, komm rein.«

Was hätte er sonst sagen sollen?

»Die Baldus wird am Montagmorgen bekannt geben, wer künftig unser Kommissariat leiten wird. Ganz formlos. Aber sie möchte, dass alle da sind. Punkt acht Uhr.«

»Keine Feier? Nachdem du dir so viel Mühe gegeben hast …«

Er machte nur selten Scherze, aber jetzt fiel ihm einfach nichts Besseres ein. Am Montag also. In drei Tagen.

»Es geht nicht um mich.«

Maren klang, als müsse sie Tränen zurückhalten, doch Neuer begriff beim besten Willen nicht, wovon sie redete.

»Unser neuer Chef heißt Ilja Schwärmer. Kriminalrat Schwärmer. Er hat die letzten Jahre im Justizministerium in Mainz gearbeitet. Jetzt soll er zurück an die Front.«

Neuer brauchte einen Moment, um die Information zu verarbeiten.

»Das kann doch nicht wahr sein! Was denkt die Baldus sich dabei?«

Der Kommissar war schon auf dem Weg zur Kripochefin, als Maren ihn am Arm festhielt.

»Hella Baldus hat gesagt, sie habe es versucht, konnte die Entscheidung aber nicht verhindern, nachdem sich der Staatssekretär persönlich eingeschaltet hat.«

Jetzt liefen tatsächlich Tränen über Marens Wangen. Zum Glück klang sie weiterhin gefasst. Neuer war das Ganze peinlich, aber vor allem war er stocksauer.

»Verdammte Politikerbande. Wahrscheinlich schicken sie uns einen von den Idioten, die sie selbst loswerden wollen. Ich könnte kotzen …«

Trotz ihrer Tränen musste Maren lachen.

»Ich wusste, dass es mich trösten würde, mit dir zu sprechen.«

Neuer schaute sie schuldbewusst an.

»Hör mal, Maren. Du weißt doch hoffentlich, dass du die Beste für den Job bist. Und dass wir alle hinter dir stehen. Du bist eine verdammt gute Polizistin. Das weiß jeder. Auch die Baldus. Und wahrscheinlich sogar dieser Vollidiot von Staatssekretär.«

Maren fiel ihm um den Hals und begann hemmungslos zu schluchzen, was Manfred Neuer für mehrere Sekunden in eine Schockstarre fallen ließ. Dann legte er behutsam einen Arm um die bebenden Schultern seiner Kollegin und drückte sie sanft an sich.

»Es wird alles gut, du wirst schon sehen. Am Ende siegen immer die Guten.«

Er wusste natürlich, dass das völliger Blödsinn war, doch Maren schien es zu beruhigen. Nach endlosen zwei Minuten löste sie sich von ihm und wischte sich energisch die Tränen aus dem Gesicht.

»Danke, Manni. Ich bin froh, dass du mein Freund bist.«

Er reichte ihr ein etwas ramponiertes Papiertaschentuch, das er aus seiner Jeans gefischt hatte.

»Ich bin auch froh, dass ich dein Freund bin.«

Erst nachdem er es ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass es der Wahrheit entsprach. Maren war mehr als eine Kollegin für ihn. Sie waren Freunde. Erstaunlicherweise fühlte sich das ziemlich gut an. Dann war der rührselige Moment vorbei.

»Und überhaupt: Was ist denn Schwärmer für ein Scheiß-Name?«

7

»Heut ist wieder keiner zum Hof gefahren.«

Alwine Gebauer stand am Herd und rührte mit stoischer Gelassenheit in dem Eintopf, den sie fürs Mittagessen zubereitete. Es war Samstag, da gab es immer Suppe. Sie hatte vor einer Viertelstunde aus dem kleinen Küchenfenster geschaut, von dem aus sie in etwa vierhundert Metern Entfernung gerade so die Scheune des Altpeter-Hofes erkennen konnte. Nur dass der Altpeter Toni schon lange nicht mehr dort lebte, sondern in einem gemütlichen und vor allem sauberen Zimmerchen in einem Altenheim im Unterwesterwald. Laut Helga Giel, die ihn regelmäßig besuchte, war er kreuzunglücklich. Zuerst war es für Alwine Gebauer und ihren Mann Georg verstörend gewesen, dass der alte Anton seinen Hof verlassen hatte. Zwar hatten ihn sämtliche hundertzwanzig erwachsenen Einwohner des Dorfes jahrelang zu dem Schritt gedrängt. Doch der Toni war selbst für einen Westerwälder außergewöhnlich stur.

»Ich will da sterben, wo ich geboren bin und mein ganzes Leben gelebt habe«, sagte er immer und bedachte jeden, der ihm einen anderen Vorschlag machte, mit einem grimmigen Blick. Wenn er nicht vor ein paar Jahren einen Schlaganfall gehabt hätte, der ihn vorübergehend seiner Stimme beraubte, wäre er vermutlich noch immer in seinem alten, völlig verkommenen Haus.

Doch seine Enkel nutzten die Hilflosigkeit des Alten, um sein Leben zum vermeintlich Besseren zu wenden, verfrachteten ihn ins Heim und verkauften den Hof. Jetzt wartete der alte Mann in der Fremde auf sein letztes Stündlein. Alwine bekreuzigte sich angesichts dieser Tragödie unwillkürlich.

Mit der jungen Frau, die jetzt auf dem Hof wohnte, hatten sie und Georg anfangs ihre Schwierigkeiten gehabt. Wie konnte es sein, dass man mit einer Hundeschule genügend Geld verdiente, um den Hof samt Ländereien zu kaufen und dann noch alles von einer ganzen Batterie von Handwerkern in Ordnung bringen zu lassen? Das musste doch ein Vermögen gekostet haben. Außerdem war Martina Herzog eine Fremde. Sie stammte nicht mal aus der Verbandsgemeinde Hachenburg. Was wollte so jemand in Welkenbach, wo fast nur Menschen lebten, die seit Generationen hier verwurzelt waren oder in diese Wurzeln eingeheiratet hatten?

Wider Erwarten verstanden sie sich nun aber ausgesprochen gut mit der Tina. Klugerweise hatte sie gleich nach der Renovierung ein Dorffest auf ihrem Hof gefeiert, auf dem es jede Menge zu essen und Freibier gab. Jeder Dorfbewohner durfte sich alles anschauen, sogar das Wohnhaus war nicht tabu. Außerdem stellte sich heraus, dass Tina überhaupt nicht arrogant, sondern äußerst hilfsbereit war.

So kam es eigentlich nie vor, dass sie zum Einkaufen nach Hachenburg fuhr, ohne bei ihren betagten Nachbarn nach deren Wünschen zu fragen. Alwine hatte sich angewöhnt, einen Einkaufszettel für Tina bereitzuhalten. Doch die Liste lag seit Tagen auf der Küchenanrichte, ohne dass die junge Frau sie abgeholt hätte. Georg war sogar schon nach Höchstenbach rüber – weiter ließ sie ihn nicht mehr mit dem Auto fahren –, um an der Tankstelle und beim Bäcker Käse, Wurst, Butter und Brot zu holen. Natürlich hatte sie ihren Mann auch zu Tina geschickt. Schließlich lebte sie allein, da konnte einer Frau alles Mögliche zustoßen. Obwohl Tinas riesige Hunde eigentlich jeden Unhold abschrecken sollten. Aber Alwine wusste mittlerweile, dass Jack und Tyler trotz ihres Aussehens kaum gefährlicher waren als junge Lämmer.

Georg hatte mit Tina gesprochen und behauptet, sie sei völlig in Ordnung. Zumindest schien ihr nichts zu fehlen, was ihrem Mann aufgefallen wäre. Aber was hieß das schon? Georg war nicht der Aufmerksamste, wenn es um andere Menschen ging. Alwine eingeschlossen. Er hätte ja nicht mal gemerkt, dass die Hunde nach tagelangem Dauergebell, das eigentlich eher wie ein Wehklagen klang, seit gestern Mittag plötzlich verstummt waren. Außerdem waren seit Tagen keine Kunden auf dem Hof gewesen. Das alles sah Tina überhaupt nicht ähnlich. Alwine schaute zu Georg hinüber, der am Küchentisch saß und über seiner Zeitung brütete. Als würde da jemals was Interessantes drinstehen.

»Hast du gehört, was ich gesagt hab? Dat Tina hat wieder keine Kunden heut.«

Es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis Georg reagierte.

»Ich habe dir doch gesagt, dass alles in Ordnung ist. Sie hat gesagt, dass sie ein paar Tage frei macht, weil sie ihr Buch fertig schreiben muss. Das hat sie uns doch erzählt. Das mit dem Buch.«

Georg hatte früher als Buchhalter in einem Hachenburger Unternehmen gearbeitet, worauf er sich bis heute was einbildete. Nebenbei hatten sie immer ein bisschen Landwirtschaft betrieben. Eine Kuh, ein paar Hühner, ein kleines Feld und einen großen Gemüsegarten zur Selbstversorgung. Doch das war Alwines Aufgabe, dafür war Georg sich zu fein gewesen. Sie würde sich deshalb nie beklagen, schließlich hatte ihr Mann ein gutes Gehalt bekommen, sodass sie das Haus, das ihre Urgroßeltern vor über hundert Jahren gebaut hatten, ordentlich renovieren konnten. Im Dorf waren sie wer. Nur über Georgs Trägheit ärgerte Alwine sich manchmal. Nicht so sehr, dass sie es laut aussprechen würde. Trotzdem konnte sie sehr hartnäckig sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Und jetzt war sie entschlossen, Tinas seltsamem Verhalten auf den Grund zu gehen. Oder besser gesagt: Georg würde das tun, schließlich war sie nicht mehr allzu gut zu Fuß nach all den Jahren der Plackerei.

»Hat sie sonst noch was gesagt, als du drüben warst?«

»Ne.«

»Du solltest noch mal zu ihr gehn. Am Ende fehlt ihr doch was.«

Georg schaute sie genervt an.

»Ich war doch grade erst da.«

»Das ist zwei Tage her. Sie müsste doch wenigstens mal mit den Hunden rausgehn. Mit denen ist sie doch so verrückt.«

Georg faltete seine Zeitung mit einem tiefen Seufzer zusammen.

»Na gut, ich gehe heute noch mal rüber. Aber erst nach dem Mittagessen.«

Am Ende war es bereits später Nachmittag, als Georg sich auf den Weg zum Altpeter-Hof machte. Dafür hatte er seinen Nachbarn Alfred Bauer im Schlepptau, der nach dem Mittagessen plötzlich im Vorgarten stand, weil er ein Problem mit seiner Steuererklärung hatte. Wie jedes Jahr hatte Georg ihm geholfen, die Formulare auszufüllen und wurde dafür mit einer Flasche von Alfreds Selbstgebranntem belohnt. Als Alwine wieder anfing zu meckern, weil er noch immer nicht nach Tina geschaut hatte, bot Alfred sich an, ihn zu begleiten.

Jeder wusste, wie neugierig der alte Bauer war, aber das störte Georg nicht. Er war froh über die Begleitung. Es dämmerte bereits, und dann war es auf dem Hof immer ein bisschen unheimlich. Außerdem musste er sich eingestehen, dass die Tina vor ein paar Tagen, als er an ihrer Tür geklingelt hatte, irgendwie komisch gewesen war. Regelrecht abweisend, doch in ihren Augen war so ein seltsamer Ausdruck gewesen. Als wollte sie ihm etwas klarmachen, was Georg aber beim besten Willen nicht verstand. Sie hätte doch einfach sagen können, was sie auf dem Herzen hatte. So machten es die Leute im Westerwald: Wenn ihnen etwas auf der Seele brannte, dann sagten sie es geradeheraus. Das machte das Leben herrlich unkompliziert, führte allerdings hin und wieder zu einer ordentlichen Prügelei. Aber anschließend war zumindest alles geklärt.

Auf Georgs Klopfen reagierte niemand, obwohl in allen Etagen Licht brannte. Also drückte er auf den Klingelknopf, den Tina hatte anbringen lassen. Er hörte den Gong im Innern des Hauses, sonst regte sich nichts. Georg überlegte gerade, was Alwine wohl sagen würde, wenn er unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehrte, als Alfred beherzt nach der altmodischen Türklinke griff und sie entschlossen nach unten drückte.

Die Tür sprang auf, und die beiden alten Männer prallten zurück. Der Gestank, der ihnen entgegenschlug, war noch schlimmer als das, was einen im Schweinestall von Hartmut Steinebach erwartete. Und das war der schrecklichste Gestank, den Georg kannte. Bis heute jedenfalls.

Angewidert trat er mehrere Schritte zurück und atmete tief durch. Alfred hatte ein riesiges, ehemals weißes Taschentuch aus der Tasche seiner riesigen Cordhose gezogen und presste es sich vor den Mund. Aufgeregt drehte er sich zu Georg um.

»Loss, kumm scho.«

Georg wusste vor Entsetzen zunächst nicht, was er antworten sollte. Wollte Alfred tatsächlich ins Haus gehen? Alles in Georg sträubte sich gegen diese Vorstellung.

»Du willst doch nicht …«

»Na wat dann suss? Is doch klar, dat hej ebbes net stemmt. Orrer wills dau etwa abhaue?«

Genau das hätte Georg am liebsten getan. Abhauen. Nur der Gedanke an Alwine ließ ihn zögern. Alfred schaute ihn verblüfft an. Ihn selbst hatte offenkundig das Jagdfieber gepackt. Jedenfalls schien er fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.

»Also isch giehn jetz do renn. Dat Mädsche bruch Hellf, dat is doch klar. Un isch bin keen Feischling.«

Ein Feigling war Georg ebenfalls nicht. Nur eben vorsichtig. Trotzdem wollte er sich keinesfalls zum Dorfgespött machen, was ganz sicher geschehen würde, wenn Alfred überall rumerzählte, dass er sich nicht ins Haus getraut hatte. Also zog Georg den Pullunder aus, den er trotz der Hitze über seinem Hemd trug, und hielt ihn sich als Schutz vor Mund und Nase. Dann folgte er Alfred.

Zuerst fanden sie die Hunde. Georg hatte immer Probleme gehabt, Jack und Tyler auseinanderzuhalten, obwohl Jack viel größer und dunkler war als sein Bruder. Nun unterschieden sich die Tiere vor allem durch den Grad der Verwesung. Einer von ihnen – er lag auf einer großen Matratze, die Tina extra für ihre Lieblinge angeschafft hatte – war kaum mehr als ein stinkendes, von Fliegen und Maden übersätes braunes Fellbündel. Der zweite lag im Wohnzimmer vor dem Sofa, dort, wo eigentlich ein Tisch hingehörte, und sah zumindest noch aus wie ein Hund. Tot war aber zweifellos auch er. Um ihn herum war alles voller Blut – Boden, Möbel, sogar die Wände waren regelrecht getränkt mit der bräunlichen Flüssigkeit. Selbst in einem Schlachthaus kann es nicht schlimmer aussehen, dachte Georg.

»Ich rufe die Polizei«, sagte er mit zitternder Stimme. Zuerst war er nicht sicher, ob Alfred ihn überhaupt gehört hatte. Sein Nachbar stand wie erstarrt mitten im Raum und blickte auf die albtraumhafte Szene vor ihren Augen.

»Mir müsse dat Tina finne.«

Georg schaute seinen Begleiter entsetzt an.

»Das kann doch die Polizei machen.« Seine Stimme hörte sich an wie ein Heulen, doch das war ihm egal.

»Mir müsse dat Tina finne«, wiederholt Alfred, drehte sich um und stapfte entschlossen auf die Treppe zum oberen Stockwerk zu. Georg wusste, dass dort oben das Schlafzimmer von Tina war. So neugierig er, wie alle Männer im Dorf, beim Hoffest gerade auf diesen Raum gewesen war, so wenig wollte er ihn nun wiedersehen. Schließlich folgte er Alfred doch.

Sein Nachbar stand so steif in der Schlafzimmertür wie zuvor im Wohnzimmer und starrte auf etwas, das Georg zunächst nicht sehen konnte. Dann gab er sich einen Ruck und blickte vorsichtig über Alfreds Schulter.

Auf dem Bett lag Tina. Sie war nackt, doch das hatte nichts Frivoles an sich. Im Gegenteil. Der von unzähligen Prellungen und Schnitten übersäte Körper strahlte eine erschütternde Verletzlichkeit aus. Am liebsten wäre Georg hinübergelaufen und hätte ihn mit irgendetwas bedeckt. Doch da war die Wunde in Tinas Hals, so tief und so entsetzlich. Ihr Haar, das Bett, alles war voller Blut. Braun und getrocknet. Doch das Schlimmste waren die Augen, die voller Entsetzen an die Decke starrten. Die würde Georg nie vergessen.

Minutenlang standen die beiden alten Männer wie festnagelt in der Schlafzimmertür und versuchten, das Offensichtliche zu begreifen.

»Ruf jetz besser de Polezei«, sagte Alfred schließlich. Dann drehte er sich wortlos um, drängte sich an Georg vorbei und stürzte die Treppe hinunter. Draußen übergab Alfred sich in Tinas Hortensien.

Vielleicht kuriert das den alten Kerl von seiner krankhaften Neugier, dachte Georg, der Alfred wie ein Gespenst nach draußen gefolgt war. Mechanisch suchte er in seiner Hosentasche nach dem Handy, das sein Sohn ihm vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte und das er seitdem immer bei sich trug, ohne es je zu benutzen. Entsprechend lange dauerte es, bis es ihm gelang den Notruf zu wählen und zu erklären, was passiert war.

Danach setzte er sich neben Alfred auf die Bank vor Tinas Haus und wartete. Im Kopf das Bild von Augen, die traurig und tot zur Decke starren. Augen, die ihn vor ein paar Tagen noch ganz anders angesehen hatten. Die ihm etwas hatten sagen wollen. Die um Hilfe flehten, das wusste er jetzt. Aber er hatte sie nicht verstehen wollen. Hatte weggeschaut. Aus Bequemlichkeit. Oder aus Feigheit. Warum auch immer. Er hatte Tina im Stich gelassen.

8

Lina hatte es sich mit Elias – ihrem Nachbarn, Vermieter, besten Freund und heimlichen Liebhaber – im Wohnzimmer gemütlich gemacht, als ihr Handy klingelte. Es war kurz vor neun. Eigentlich wollten sie später noch in den Schlosskeller gehen, um ein paar Freunde zu treffen, doch als sie Manfred Neuers Namen auf dem Display erkannte, wusste Lina, dass daraus nichts würde.

»Kommissar Neuer. Was gibt´s?«

Elias blickte von seinem Buch auf. Immerhin war der Polizist seit fast zwei Jahren mit seiner Mutter liiert, was nicht immer einfach für alle Beteiligten war. Mittlerweile herrschte eine Art Burgfriede. Vor einigen Monaten, als Lina und Sandra Lachmann in Gefahr gewesen waren, schienen die beiden Männer sich sogar ernsthaft anzunähern. Trotzdem reduzierten sie persönliche Kontakte auf das Unumgängliche. Genau wie ihr selbst war deshalb auch Elias sofort klar, dass dies kein privater Anruf war.

»Kommen Sie nach Welkenbach zum Altpeter-Hof, Ortsausgang Richtung Winkelbach. Nicht zu verfehlen.«

Neuer war eindeutig ein Gegner vieler Worte. Lina hielt ihm zugute, dass er überhaupt anrief.

»Worum geht´s?«, fragte sie, während sie bereits nach unten lief und in ihre Stiefel stieg.

»Eine tote Hundetrainerin.« Neuer zögerte. »Erinnert stark an den Steiner-Tatort.«

»Ich bin unterwegs.«

Elias, der ihr nach unten gefolgt war, hielt ihr die Jacke entgegen und drückte ihr einen Kuss auf den Nacken.

»Ich grüß die anderen von dir.«

Lina lächelte ihn an.

»Danke.«

Es war wundervoll, eine Vielleicht-Beziehung zu führen, in der geplatzte Verabredungen grundsätzlich nicht zu Vorwürfen führten.