Blutwolf - Doris Litz - E-Book

Blutwolf E-Book

Doris Litz

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Beschreibung

In einer regnerischen Nacht macht sich Staatsanwältin Lina Saint-George auf den Weg zu einem Tatort mitten im Westerwald: Eine Frau wurde anscheinend totgebissen - von einem Wolf! Handelt es sich also um einen tragischen Unfall?

Bald wird klar: Die Tote hatte mit einem Vorfall vor über 30 Jahren zu tun. Damals verschwanden zwei Schwestern nach einer Vergewaltigung spurlos. Die weiteren Beteiligten von damals schweben nun in Lebensgefahr. Aber niemand kennt die ganze Wahrheit ...

Lina setzt alles daran, den Fall aufzuklären. Doch der Killer ist ihr und ihren Liebsten näher, als sie ahnt!

Jetzt neu und noch spannender: Der zweite Fall für Staatsanwältin Lina Saint-George!

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

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101

Was noch zu sagen bleibt

Weitere Titel der Autorin

Blutzeit (erhältlich als E-Book und digitales Hörbuch)

Über dieses Buch

In einer regnerischen Nacht macht sich Staatsanwältin Lina Saint-George auf den Weg zu einem Tatort mitten im Westerwald: Eine Frau wurde anscheinend totgebissen – von einem Wolf! Handelt es sich also um einen tragischen Unfall?

Bald wird klar: Die Tote hatte mit einem Vorfall vor über 30 Jahren zu tun. Damals verschwanden zwei Schwestern nach einer Vergewaltigung spurlos. Die weiteren Beteiligten von damals schweben nun in Lebensgefahr. Aber niemand kennt die ganze Wahrheit …

Lina setzt alles daran, den Fall aufzuklären. Doch der Killer ist ihr und ihren Liebsten näher, als sie ahnt!

Jetzt neu und noch spannender: Der zweite Fall für Staatsanwältin Lina Saint-George!

Über die Autorin

Doris Litz wusste schon als Kind, dass sie Bücher schreiben will. Zuerst arbeitete sie allerdings viele Jahre als Journalistin, heute als Pressesprecherin. Dabei lernte sie viel über das Leben und die Menschen. Dieses Wissen und die Frage nach der Motivation menschlichen Handelns bilden die Grundlage für ihre Thriller. Auch ihre Heimat, der Westerwald, fließt in die Romane ein. Doris Litz ist verheiratet und lebt in Neuwied am Rhein.

DORIS LITZ

BLUTWOLF

Meine Rache wird dich jagen!

Thriller

beTHRILLED

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Die Autorin wird vertreten durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Uwe Voehl

Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © freelanceartist/shutterstock; TatsianaD/shutterstock; Mimadeo/shutterstock

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2036-6

be-thrilled.de

lesejury.de

Für Elke und Herbert,

Prolog

1986

Die schmale Sichel des Mondes erhellte den Weg nur an jenen Stellen, an denen die Buchenstämme weit genug auseinanderrückten, um das silberne Licht durchs dichte Blätterdach sickern zu lassen. Jule hätte der Gruppe, die knapp hundert Meter vor ihr durch den Wald trampelte, auch folgen können, wenn es stockdunkel gewesen wäre. Dafür sorgten nicht nur die Taschenlampen, die vor ihr auf und ab hüpften wie überdimensionale betrunkene Glühwürmchen. Auch der Krach, den die sieben Jugendlichen machten, war ein zuverlässiger Wegweiser. Und eine Zumutung für jeden legalen Waldbewohner. Onkel Hubert würde ausrasten, wenn er das sehen und hören könnte, dachte Jule. Der Bruder ihres Vaters war Revierförster und verstand nicht den geringsten Spaß, wenn es darum ging, das sensible Ökosystem seines Waldes zu schützen. Von ihm hatte Jule alles gelernt, was sie über den Wald rund um ihr Heimatdorf Unnau wusste. Und das war eine ganze Menge. Zum Beispiel, dass viele Tiere nur nachts hervorkamen, wenn nicht die Gefahr bestand, dass sie von lärmenden Menschen gestört wurden. Na ja, die Tiere zwischen Unnau und Bad Marienberg hatten sich womöglich daran gewöhnt, dass sie auch im Dunkeln von unsensiblen jugendlichen Städtern um ihren Schlaf betrogen wurden. Schließlich gab es das Schullandheim des Leverkusener Carl-Duisberg-Gymnasiums seit fast einem halben Jahrhundert, und genauso lange veranstalteten dekadente Stadtkinder nächtliche Schnitzeljagden rund um die beiden Wolfsteine, die zwar nur wenig bekannt waren, dafür auf jeden, der sie entdeckte, eine magische Anziehungskraft ausübten.

Das galt offenkundig auch für die Gruppe vor ihr, denn zweifellos war sie auf dem Weg zum imposanteren der Basalthaufen, dem Großen Wolfstein. Plötzlich zerfetzten schräge Gitarrenriffs die Luft. Sie waren so laut, dass vom Lachen und Kreischen der Jugendlichen nichts mehr zu hören war. Jule hatte nicht gewusst, dass ein batteriebetriebener Kassettenrekorder so viel Lärm machen konnte. Wieder kam ihr Hubert in den Sinn. Er wäre stinksauer. Womöglich war er ja sogar stinksauer, immerhin war das Dorf nur wenige Hundert Meter Luftlinie entfernt, sodass eine realistische Chance bestand, dass dem Onkel tatsächlich ein beträchtlicher Teil von Meat Loafs Bat out of Hell zu Ohren kam. Dann würde die Party schnell zu Ende sein. Kurz war Jule versucht, die Krachmacher zu warnen. Aber was sollte das schon bringen – außer, dass ihr eigener nächtlicher Ausflug abrupt beendet wäre. Caro würde sie garantiert sofort nach Hause zurückschicken. Da würden selbst Drohungen nichts nutzen, ihre Schwester konnte sehr energisch und sehr stur sein. Das hatte sie eindrucksvoll unter Beweis gestellt, als Jule sie bat, beim nächtlichen Treffen mit ihren neuen Freunden dabei sein zu dürfen. Selbst als sie ihrer Schwester in Aussicht stellte, sie zu verpetzen, war Caro hart geblieben und hatte sie nur ausgelacht. Sie sei erst dreizehn und damit noch ein Kind, weshalb die Clique sie ohnehin nicht dabeihaben wolle. Der Ärger über die Demütigung schoss Jule heiß ins Bewusstsein. Sollte Caro doch selbst für mehr Ruhe sorgen. Schließlich waren es ihre Freunde, die wie eine Horde wilder Ochsen durch den Wald trampelten. Wie konnte man so blöd sein?

Trotzdem war Jule froh, als sie den Großen Wolfstein erreicht hatten und die Musik zumindest so leise gedreht wurde, dass sie weder in Unnau noch in Bad Marienberg zu hören war. Vermutlich hatte Caro sich endlich durchgesetzt. Schließlich war Jule nicht von zu Hause ausgebüxt und hatte mehrere Wochen Taschengeldentzug und Hausarrest riskiert, um gemeinsam mit den leichtsinnigen Leverkusenern aufzufliegen. Tatsächlich hatte sie das für sie mehr als ungewöhnliche Maß an Ungehorsam an den Tag gelegt, weil sie unsterblich verliebt war. Peter Hackenbroich, der älter als die anderen war und den alle nur Hacki nannten, war ohne Zweifel der attraktivste Junge, den Jule je gesehen hatte. Als sie Caro und der Städter-Clique vor zwei Tagen zum ersten Mal am Friedhof begegnet war, war sie sicher gewesen, dass Hacki der geheimnisvolle neue Freund ihrer Schwester war, von dem alle Jugendlichen im Dorf redeten. Offenbar wusste jeder besser über Caro Bescheid als Jule. Bevor Caro sie nach wenigen Minuten weggeschickt hatte, war Jule klar geworden, dass nicht der große, schöne Hacki, sondern der zwar sympathische, allerdings eher unscheinbare Tom Caros Herz erobert hatte. Zuerst war Jule enttäuscht, dann hatte sie den Blick bemerkt, den Hacki ihr zugeworfen hatte. Noch nie hatte ein Junge sie so angesehen. Ein bisschen belustigt, unglaublich cool, dabei auf eine besondere Art wohlwollend. Jule war sicher, dass sie Hacki gefiel, obwohl sie im Gegensatz zu ihrer sehr weiblichen Schwester die hagere Figur eines zu groß gewordenen Kindes hatte. Bevor Jule dazu kam, sich in Hackis Bewunderung zu sonnen, ging Caro dazwischen und schrie Jule an, sie solle verschwinden. Vielleicht war sie ja eifersüchtig, dachte Jule jetzt und konnte die ungeheuerliche These selbst nicht glauben. Gegen die schöne Caro war sie ein hässliches Entlein. Außerdem schien Caro total in Tom verknallt zu sein. Warum also sollte sie eifersüchtig sein?

Jule war hinter einigen dichten Sträuchern in Deckung gegangen. Von hier aus konnte sie fast das ganze Plateau überblicken, auf dem mittlerweile ein kleines Lagerfeuer in einer eigens zu diesem Zweck errichteten Stelle brannte. Sie musste nur aufpassen, dass keiner der Jungs über sie fiel, wenn er sich zum Pinkeln in die Büsche schlug, was scheinbar alle fünf Minuten der Fall war. Wieso hatten Jungs eigentlich ihre Blase so wenig unter Kontrolle? Aus dem riesigen Radio lieferte sich Meat Loaf gerade ein Wortgefecht mit einer Dame. Die Gruppe grölte den Text lautstark mit. Es ging um eine heiße Sommernacht, einen Wolf und rote Rosen. Was zum Teufel bedeutete throat? Sie musste im Englischunterricht wirklich besser aufpassen, sonst würde sie sich bei Hacki bis auf die Knochen blamieren. Während die anderen im Schein der Taschenlampen wie die Irren auf und ab sprangen und so taten, als würden sie in ein in Wahrheit nicht vorhandenes Mikro singen, zog Tom Caro mit sich fort. Jule zögerte einen Moment, blickte noch einmal sehnsüchtig zu Hacki hinüber und suchte sich dann einen Platz, von dem aus sie ihre Schwester und deren Freund beobachten konnte. Da die beiden auf eine Taschenlampe verzichtet hatten, erkannte sie im fahlen Mondlicht allerdings nur undeutliche Schemen. Caro und Tom hatten sich in eine kleine natürliche Nische zurückgezogen, die von Felsen, der Abbruchkante und zwei winzigen, dicht beieinanderstehenden Birken begrenzt wurde. Der Platz war gerade groß genug, dass die beiden sich eng umschlungen auf die Decke legen konnten, die Tom mitgebracht hatte. Im spärlichen Mondlicht sah es beinahe so aus, als würde sich dort nur eine Person aufhalten. Dafür war nun ein heiseres Keuchen zu hören, das langsam in tiefes Stöhnen überging. Mein Gott, Caro würde doch nicht … Als Tom, der offensichtlich auf ihrer Schwester gelegen hatte, sich aufbäumte, bestand kein Zweifel mehr daran, was die beiden dort trieben. Ihre sechzehnjährige Schwester hatte mitten im Wald Sex mit einem Jungen, den sie erst seit ein paar Tagen kannte. Jule wusste nicht, ob sie empört oder neidisch sein sollte. Ihre Handflächen waren schweißnass, und sie versuchte angestrengt, mehr Details zu erkennen. Offenbar näherte sich das Liebesspiel bereits seinem Ende, denn das Gestöhne wurde leiser, die Bewegungen waren kaum noch auszumachen. Jule war enttäuscht. In den Filmen, die sie sich heimlich mit ihren Freundinnen angeschaut hatte, dauerte das Vorspiel länger als alles, was Caro und Tom gerade miteinander getan hatten. Hoffentlich hatte es ihrer Schwester wenigstens gefallen. Immerhin riskierte sie für das Abenteuer eine gewaltige Menge Ärger. Sofern es rauskam. Vielleicht war das ja eine Basis, um ihre große Schwester bei künftigen Unternehmungen großzügiger sein zu lassen.

Jule war so in Gedanken versunken, dass sie zuerst gar nicht mitbekam, wie Tom ihre Schwester noch einmal küsste und sich dann erhob.

»Ich hole uns was zu trinken, ja? Warte auf mich.«

Vielleicht hatte er ja wirklich Angst, dass Caro nach der enttäuschenden Vorstellung abhauen könnte. Sie lachte nur.

»Beeil dich. Oder war das schon alles?«

Was provozierend hätte klingen können, hörte sich in Wirklichkeit einfach nur verliebt an. Offenbar war Caro die Sache mit Tom tatsächlich ernst.

Der Junge verschwand in der Dunkelheit. Sekunden später wurde die Musik wieder bis zum Anschlag aufgedreht. Mittlerweile musste die Kassette längst durchgelaufen sein. Offenbar gab es für die Städter nichts anderes als Meat Loaf. Jedenfalls war Jule sicher, dass sie das Lied, das gerade lief, schon einmal gehört hatte.

Tom ließ sich Zeit. Jule spürte, dass auch Caro nervös wurde. Hatte sie sich in dem Jungen getäuscht? Als endlich ein Schatten durch die Steine stolperte, atmete ihre Schwester hörbar auf. Es war allerdings nicht Tom, der sich neben Caro fallen ließ, sondern Hacki. Jules Herz begann wild zu flattern. Caro setzte sich abrupt auf und zog die Decke um sich, obwohl die Juninacht außergewöhnlich mild war. Offensichtlich fühlte ihre Schwester sich in der Nähe des selbstbewussten Anführers der Gruppe nicht wohl. Jule schlich ein wenig näher heran, um mitzubekommen, was zwischen den beiden geschah.

»Wo ist Tom?«, fragte Caro irritiert.

»Er braucht ein bisschen Zeit für sich, glaube ich. Du hast ihm ganz schön zugesetzt. Hätte gar nicht gedacht, dass du so eine Wildkatze bist.« Er griff Caro ins Haar und zog sie zu sich heran. »Kannst wohl gar nicht erwarten, dass es weitergeht, was? Keine Sorge, ich bin eine mehr als würdige Vertretung für unseren Softie, das verspreche ich dir.«

Hackis Stimme klang irgendwie verwaschen. Fast so, als wäre er völlig betrunken. Allerdings hatte Jule nicht bemerkt, dass die Gruppe größere Mengen Alkohol bei sich hatte. Caro versuchte, sich loszureißen. Hacki packte sie fester und zwang sie zu Boden. Dann schob er sich auf sie und drückte ihre Beine brutal auseinander.

Caro schrie jetzt wie verrückt und versuchte ihn von sich zu schieben. Gegen den kräftigen Kerl hatte sie keine Chance.

Jule war wie erstarrt. Sie wollte aufspringen und Caro helfen, aber sie konnte keinen Muskel bewegen. Der Mann, in den sie sich verliebt hatte, vergewaltigte ihre Schwester. Wo war Tom, verdammt? Plötzlich kam Bewegung in die Nacht. Gestalten bauten sich rund um den stöhnenden Hacki und die schreiende Caro auf und strahlten sie mit ihren Taschenlampen an. Wenn Jule gehofft hatte, dass sich irgendjemand auf Hacki stürzen und sein Treiben beenden würde, hatte sie sich jedoch getäuscht. Statt ihrer Schwester zu helfen, trieben die Jugendlichen ihren Anführer zu Paradise by the Dashboard Lights an. Eines der Mädchen, dessen rotes Haar sogar im Dämmerlicht deutlich zu erkennen war, kreischte regelrecht hasserfüllt, er solle die Schlampe richtig fertigmachen.

Jule spürte, wie Tränen von ihrem Gesicht in den Kragen ihrer leichten Sommerjacke tropften. Sie gab sich keine Mühe mehr, leise zu sein, die jungen Leute vor ihr waren in einen regelrechten Rausch verfallen und hätten sie nur bemerkt, wenn sie eine Handgranate gezündet hätte. Caros Schreie waren längst verstummt oder so leise geworden, dass sie bei dem Höllenlärm aus Musik und Anfeuerungsrufen nicht mehr wahrnehmbar waren, als Hacki sich ein letztes Mal aufbäumte und über Caro zusammensackte. Sekunden später richtete er sich auf und grinste Beifall heischend in die Runde.

»Wir sind die Blutwölfe!«, brüllte er und übertönte sogar die Musik. Dann packte er sich das rothaarige Mädchen und knutschte sie vor aller Augen ab.

Jule wurde schlecht. Wie hypnotisiert blickte sie zu Caro hinüber, die sich mühsam aufrappelte. Bevor sie auf die Beine kam, stürzte sich einer der anderen Jungs auf sie und zwang sie erneut zu Boden. Das Gegröle und Anfeuern ging von vorn los. Jule kam sich vor wie in einem Albtraum, aus dem sie einfach nicht aufwachen konnte.

Plötzlich ertönte ein markerschütternder Schrei, der sämtliche anderen Geräusche übertönte. Jule glaubte zuerst, dass Caro ihn ausgestoßen hätte, dann merkte sie, dass sie selbst es gewesen war. Alle drehten sich erschrocken zu ihr um und wichen zurück, als sie aus dem Gebüsch wankte und sich einen Weg zu ihrer Schwester bahnte. Jemand stellte die Musik ab. Nur am Rande nahm sie wahr, dass unter den entsetzten Gesichtern das von Tom fehlte. Der Junge, der auf Caro lag, hatte als Einziger nichts von der Störung bemerkt. Wild fluchend mühte er sich zwischen den Schenkeln ihrer Schwester ab.

»Scheiße, du verdammte Schlampe, jetzt hör endlich auf zu heulen …«

Jemand griff ihm von hinten an die Schulter und zog ihn mit Gewalt von Caro fort. »Hör auf, Mann, es ist genug.«

Verwirrt schaute der hagere Kerl, von dem Jule nur wusste, dass ihn alle Hähnchen nannten, nach dem Störenfried um.

»Was soll der Quatsch, Jojo? Kannst du nicht warten, bis ich fertig bin?« Bevor er sich wieder auf Caro stürzten konnte, fiel Hähnchens Blick auf Jule. Irritiert wich er zurück. Verwirrt schaute er zu Hacki rüber, der die Rothaarige beiseitegestoßen hatte und betont langsam auf Jule zukam. Auf seinem Gesicht breitete sich das gleiche Grinsen aus, in das Jule sich vor nicht einmal zwei Tagen verliebt hatte. Jetzt kam es ihr nur noch teuflisch vor. Wie hatte sie ihn jemals attraktiv finden können? Angewidert drehte Jule sich um und ging weiter auf Caro zu, die sich wie ein Häufchen Elend zwischen den Felsen zusammengekauert hatte. Bevor sie ihre Schwester erreicht hatte, spürte sie eine große, kräftige Hand in ihrem Nacken, die sie zurückhielt und sie zwang, sich umzudrehen. Hacki stand nur Zentimeter von ihr entfernt.

»Sieh mal an, die kleine Schwester unserer Westerwälder Schönheitskönigin ist auch da. Das wird ja eine richtig tolle Party.«

Ohne sie loszulassen, griff seine andere Hand nach Jules Brüsten und tastete sie gierig ab.

»Ein bisschen mager. Und ganz sicher bist du Jungfrau, stimmt’s, Kleine?«

Jule starrte ihn entsetzt an. Er konnte unmöglich … In seinem Gesicht las sie, dass er es tun würde. Bevor sie reagieren konnte, zwang er sie in die Hocke, bis ihr Gesicht auf Höhe seiner noch immer offenen Jeans war.

»Was für eine Nacht«, hörte sie ihn lachen. »Genau das Richtige für geile Blutwölfe. Los, Musik an!«

Niemand regte sich. Flehend schaute Jule sich zu den anderen um. Der Junge, der Hähnchen von ihrer Schwester gezogen hatte, fing ihren Blick auf und kam näher.

»Es ist genug, Hacki«, sagte er und legte dem kräftigen Anführer die Hand auf den Arm, der Jule nach unten drückte. »Lass uns aufhören und nach Hause gehen.«

Hacki schlug den Arm beiseite und schaute den Jungen drohend an. »Na klar, Jojo, unser Prediger, hat Bedenken. Dafür ist es ein bisschen spät, meinst du nicht? Also pfeif dir noch einen Joint rein und kümmer dich um Caro, während ich ihre kleine Schwester klarmache.« Langsam breitete sich wieder das Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Falls es dich beruhigt: Die Kleine ist sowieso total in mich verknallt. Als wir sie am Friedhof getroffen haben, war das ja wohl mehr als offensichtlich. Und warum ist sie heute Nacht wohl hier?«

Jule schaute zu Jojo auf und schüttelte langsam den Kopf. Er durfte nicht nachgeben. In den strahlend blauen Augen des Jungen erkannte sie erste Zweifel.

»Bitte«, flehte sie, ohne ihn aus ihrem Blick zu entlassen.

Jojo zögerte.

»Musik, hab ich gesagt«, brüllte Hacki die anderen an, die noch immer wie versteinert dastanden. Was immer sie sich in den letzten beiden Stunden reingezogen hatten, um in einen derartigen Rausch zu geraten, derzeit schienen sie ziemlich ernüchtert. Gerade als Jojo sich erneut an Hacki wenden wollte, brüllte Meat Loaf wieder los. Die Rothaarige stand am Kassettenradio und warf Jule einen gehässigen Blick zu.

»Los Hähnchen, oder warst du etwa schon fertig?«, schrie sie und reichte dem Zögernden einen frisch angezündeten Joint rüber. Er tat einen tiefen Zug und entspannte sich sichtlich. Dann stapfte er entschlossen auf Caro zu. Die Rothaarige kam zu Jule und Hacki herüber und hängte sich von hinten an ihn.

»Spar dir noch ein bisschen Kraft für mich auf. Ich will nicht leer ausgehen.«

Mit Entsetzen sah Jule, wie das zweite Mädchen, eine kleine, rundliche Blondine, Jojo fortzog. Als der Blickkontakt zu ihrer letzten Chance abriss, verabschiedete sich auch Jules Bewusstsein an einen Ort, der für niemanden außer ihr selbst erreichbar war. Das Letzte was sie hörte, waren Caros Schreie und das Dröhnen eines Motorrades, zu dessen sattem Sound auch Meat Loaf der Welt den Rücken kehrte. Diesmal wusste Jule genau, worum es ging. Und ihre Seele flog der Meat Loafs hinterher. Like a bat out of hell.

1

Es dauerte eine Viertelstunde, bis Lina Saint-George den Platz erreichte, an dem ein provisorisches Zelt die Leiche vor neugierigen Blicken und dem beharrlichen Dauerregen schützte. Der Regen hatte vor knapp zwei Stunden eingesetzt und erweckte nicht den Eindruck, als wolle er sich jemals wieder verabschieden.

Was die neugierigen Blicke betraf, war die Vorsichtsmaßnahme vermutlich unnötig. Immerhin befanden sie sich mitten im Wald, irgendwo zwischen Bad Marienberg und Unnau, in der Nähe der Wolfsteine. Lina war zuletzt als Kind mit ihren Eltern hier gewesen und erinnerte sich gut, mit wie viel Begeisterung sie zwischen den großen Basaltblöcken herumgeklettert war. Wie nicht anders zu erwarten, hatte es Streit zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter gegeben, weil der eine sie in ihrem Wagemut unterstützte, während die andere ohne Unterlass Katastrophenszenarien entwarf, in denen es um Abstürze, gebrochene Knochen und Rettungskräfte ging, die wegen des unwegsamen Geländes nicht zum Ort des Dramas vorzurücken vermochten. Natürlich war nichts passiert, außer dass ihre Eltern tagelang nicht miteinander sprachen.

Gegen ihre kindlichen Kletterabenteuer war der hinter ihr liegende nächtliche Marsch durch den stockdunklen, völlig aufgeweichten Wald ein wahrer Hindernisparcours gewesen. Trotz der Streifenbeamtin, die die Strecke mit einer starken Stabtaschenlampe ausleuchtete. Ihre Schuhe konnte sie vergessen. Und die Frisur sowieso. Ihre dunklen, schulterlangen Locken würden bis zur nächsten Liaison mit Föhn und Rundbürste auf Afro-Look bestehen.

In der Hoffnung auf einige Minuten relativer Trockenheit zwängte Lina sich erleichtert in das winzige Zelt, das sich zwischen zwei Bäume schmiegte. Weit kam sie nicht, weil Kriminalhauptkommissar Manfred Neuer ihr gleich hinter dem Eingang den Weg versperrte. Der kauzige Alt-Hippie hatte nach ihrem letzten und bislang einzigen größeren gemeinsamen Fall, in dessen Verlauf sie einem sadistischen Killer in die Hände gefallen war, zwar seine demonstrative Ablehnung gegenüber der neuen Leiterin der Koblenzer Staatsanwaltschaft aufgegeben. Der Blick, den er Lina zuwarf, ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass er nicht bereit war, sich an ihre Anwesenheit an Tatorten zu gewöhnen.

»Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, dass Sie mitten in der Nacht durch den Wald stolpern«, brummte er prompt. »Es ist ja nicht mal sicher, ob es sich wirklich um ein Verbrechen handelt.«

Lina schaute ihn halb amüsiert, halb erstaunt an. »Was meinen Sie damit, Kommissar Neuer? In der Benachrichtigung hieß es, dass im Wald eine tote Frau liegt, die ein riesiges Loch in der Kehle hat. Da können wir kaum von einer natürlichen Todesursache ausgehen, oder?«

Neuer warf ihr einen seiner geringschätzigsten Blicke zu. »Kaum. Sieht jedoch verdammt danach aus, als hätte kein Mensch nachgeholfen. Bitte, Frau Oberstaatsanwältin, verschaffen Sie sich einfach selbst einen Eindruck, wenn Sie mir nicht glauben.«

Er trat gerade so weit zur Seite, dass Lina sich an ihm vorbeischieben konnte. Bei jedem anderen hätte sie angesichts der körperlichen Nähe, die so zwangsläufig entstand, unlautere Motive unterstellt. Neuer hingegen war über jeden derartigen Verdacht erhaben – nicht zuletzt deshalb, weil Lina seine Angebetete kannte und keinen Zweifel daran hatte, dass es dem alten Zyniker mit der Eroberung bitterernst war.

Als sie endlich vor der Leiche stand, zog Lina Saint-George unwillkürlich die Brauen über den leuchtend grünen Augen nach oben. Vor ihr lag eine füllige kleine Frau in teurer Outdoorkleidung auf dem Rücken, den noch immer fassungslosen Blick aus ihren toten Augen gegen das Zeltdach gerichtet. Die Kehle war regelrecht zerfetzt. Lina hätte geschworen, dass ein Teil des Gewebes sogar fehlte. Das Haar und die Kleidung unterhalb des Halses waren blutgetränkt. Das Gesicht und die Wunde selbst wirkten dagegen regelrecht sauber. Als habe jemand sie gereinigt.

Lina hörte, wie die Plane, die als Eingang diente, erneut zurückgeschlagen wurde und Neuer unter missbilligendem Brummen nach draußen verschwand. Dafür schob sich eine hochgewachsene Person neben sie, die angenehm nach Venezia roch, einem Parfüm, das Lina selbst hin und wieder benutzte.

»Du warst aus?« Lina lächelte die Frau an, unter deren Maskerade nur die ausdrucksvollen, dunkelblauen Augen zu sehen waren.

»Ein romantisches Dinner in einem der teuersten Bonner Restaurants. Zum Glück habe ich immer Gummistiefel im Kofferraum«, antwortete Klara Kochhäuser ohne allzu großes Bedauern.

»Du scheinst nicht in allerbester Gesellschaft gewesen zu sein«, mutmaßte Lina.

»Ein Kollege aus der Pathologie, der sich deutlich mehr von dem Abend versprochen hat als ich.«

»Du gehst mit Pathologen aus? Mein Gott, du musst echt verzweifelt sein.«

Lina lächelte ihrer Freundin zu, die laut auflachte.

»Nun ja, für eine Rechtsmedizinerin ist die Auswahl beschränkt. Er riecht vielleicht ein bisschen streng, aber er ist nicht geizig. Und uns gehen nie die Themen aus. Außerdem ist er nicht sauer, wenn er an einem Freitagabend kurz vor dem Hauptgang sitzen gelassen wird.«

»Wahrscheinlich hast du recht: In deinem Job darf man nicht allzu wählerisch sein«, frotzelte Lina.

»Ganz anders als bei dir …«, revanchierte Klara sich.

»Immerhin rieche ich auch ohne Parfüm ziemlich gut.«

»Der Punkt geht an dich!«

Wie auf Kommando wandten die Frauen sich der Toten zu. Sofort war jeder Humor aus ihrer Miene verschwunden.

»Was kannst du mir verraten?«, fragte Lina gespannt.

»Weiblich, Anfang fünfzig, etwas übergewichtig. Der Kleidung nach zu urteilen, hatte sie keine Geldsorgen. Von ihrem Hals abgesehen konnte ich bislang keine weiteren Verletzungen feststellen. Als Todesursache würde ich Verbluten annehmen. Alles Weitere wie immer nach der Obduktion.«

Lina ließ sich nicht beeindrucken. »Was, meinst du, ist mit ihr geschehen? Könnte das ein Tier gewesen sein?«

Klara Kochhäuser schnaufte. »Dann ein ziemlich großes, würde ich sagen. Kein Marder. Kein Fuchs. Wolf oder Bär vielleicht. Beides ist allerdings mehr als unwahrscheinlich, oder?«

»Also eher ein zweibeiniges Raubtier?« Lina schaute zur Rechtsmedizinerin hinüber.

»Wie gesagt: Vor der Obduktion ist das alles reine Spekulation. Das hilft weder dir noch mir weiter.«

Klara ging in die Hocke und beugte sich über die Leiche. Ihre Freundin, die Leitende Oberstaatsanwältin, war vergessen, das Gespräch offenkundig beendet. Lina fügte sich in ihr Schicksal und trat nach draußen, wo es noch immer wie aus Eimern goss und Hauptkommissar Neuer sich seiner schlechten Laune hingab. Die war augenscheinlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es ihm angesichts der alles durchdringenden Feuchtigkeit offenkundig nicht gelungen war, eine Zigarette anzuzünden.

»Sagen Sie mir, was wir bislang wissen«, forderte Lina ihn auf, ohne auf seinen sauertöpfischen Gesichtsausdruck einzugehen. Neuer knüllte den patschnassen Glimmstängel zusammen und verstaute ihn missmutig in seiner Jackentasche.

»Die Frau heißt Carmen Schönfelder, ist zweiundfünfzig Jahre alt, Rechtsanwältin und stammt aus Leverkusen.«

»Das weiß ich alles schon«, antwortete Lina Saint-George gedankenverloren. »Können Sie mir auch sagen, was eine Leverkusener Strafverteidigerin mitten in der Nacht in einem Wald bei Bad Marienberg zu suchen hat? Noch dazu bei diesem Wetter …«

Neuer schaute sie grimmig an und schnaubte vernehmlich.

»Soll das heißen, dass Sie die Tote kennen?«

Ihm war deutlich anzusehen, dass er nahe daran war, die Fassung zu verlieren. Lina wusste sofort, an was er dachte. Letztes Jahr waren gleich mehrere ihrer Bekannten Opfer grausamer Verbrechen geworden, und auch der Täter stammte aus ihrem Bekanntenkreis. Neuer war fuchsteufelswild geworden, weil sie seiner Meinung nach zu tief in die Sache verstrickt gewesen war. Auch wenn er ihr das nicht ernsthaft vorwerfen konnte – schließlich hatte sie sich das nicht ausgesucht –, hatten die Vorgänge offenbar die Vorurteile ihr gegenüber verstärkt.

»Keine Sorge, Kommissar Neuer. Unsere Bekanntschaft ist, oder war, eher flüchtig. Frau Schönfelder war Rechtsanwältin, ich stellvertretende Generalstaatsanwältin. Natürlich hatten wir in Köln hin und wieder beruflich miteinander zu tun. Aber ich glaube nicht, dass wir je ein persönliches Wort miteinander gewechselt haben.«

Vielleicht wusste ihr Noch-Ehemann Harald mehr über die Frau, allerdings war die Stimmung zwischen ihnen nicht entspannt genug, um ihn einfach anzurufen und zu fragen. Neuer fixierte sie einige Sekunden mit fest zusammengepressten Kiefern, bevor er sich zu einer Antwort herabließ.

»Sie gehörte zu einer Gruppe von Leuten, die eine Art Schnitzeljagd veranstaltet haben. Teichgräber verhört die anderen gerade.«

»Sie haben was veranstaltet?«

»Schnitzeljagd. Ist beliebt bei Städtern, denen ein Ausflug in den Westerwald ähnlich exotisch vorkommt wie ein Trip in den brasilianischen Urwald.«

»Schon gut, Neuer, ich weiß, was eine Schnitzeljagd ist. Ich kann mir nur nicht recht vorstellen, dass Frau Schönfelder sich an so etwas beteiligen würde.«

»Sollte wohl so eine Art nostalgischer Ausflug in die eigene Jugend werden. Die Herrschaften waren früher regelmäßig im Schullandheim in Unnau und haben nachts den Wald unsicher gemacht. Das wollten sie im fortgeschrittenen Alter offenbar wiederholen. Ich nehme an, den Revierförster wird das genauso begeistert haben wie seinen Vorgänger vor dreißig oder vierzig Jahren.«

»Sie reden vom Carl-Duisberg-Gymnasium, oder? Die hatten hier in der Nähe ein Schullandheim. Halb Leverkusen scheint da die Jugend verbracht zu haben.«

Neuer schien alarmiert. »Sind Sie sicher, dass Sie die Tote nur flüchtig kannten?«

»Ganz sicher, Neuer. Aber ich habe einen guten Freund, der ebenfalls aufs CD-Gymnasium gegangen ist. Die Schule hat offenbar Kultstatus, vermutlich weil sie Anfang der 1990er-Jahre geschlossen wurde.«

»Aha.« Neuer schien zumindest vorläufig beruhigt. »Und gab es einen Grund für diese Schließung?«

Lina zuckte mit den Achseln. »Offiziell gab es Überkapazitäten. Dafür, warum ausgerechnet das älteste Leverkusener Gymnasium dran glauben musste, gibt es unterschiedliche Ideen. Eine besagt, dass die Schüler zu aufmüpfig waren, zu viel Hasch geraucht und zu viele Mofas geklaut haben.«

Maximilian Schäfer, Psychotherapeut und einer ihrer engsten Freunde aus der Kölner Zeit, hatte als einer der Letzten sein Abi an der legendären Schule abgelegt. Im Laufe der Zeit hatte er ihr unzählige mehr oder weniger witzige Geschichten aus seiner Schulzeit erzählt. Viele davon handelten von Unnau und den Wolfsteinen. Egal, wie grenzwertig manche der Storys waren, Max, der eigentlich der warmherzigste und pflichtbewussteste Mensch war, den Lina kannte, schien auf jede Verfehlung regelrecht stolz zu sein. Lina hatte immer das Gefühl gehabt, dass ihm die Dumme-Jungen-Streiche mit eindeutigem Hang zur Kriminalität das Gefühl gaben, an einer sagenumwobenen Revolution teilgenommen zu haben.

»Klingt eigentlich ganz sympathisch«, sagte Neuer prompt, während er versuchte, sich im nachlassenden Regen doch noch eine Zigarette anzuzünden. »Wäre mir auch lieber gewesen, als in einem Kloster Abi zu machen.«

Lina wusste, dass er auf das Gymnasium im Kloster Marienstatt anspielte, und hütete sich, ihm zu widersprechen. Sie selbst hatte das deutlich weiter von Hachenburg entfernte Gymnasium in Dierdorf besucht und war noch immer dankbar dafür, dass ihre ansonsten ständig nörgelnde Mutter sie tagtäglich ohne Murren zur Schule gefahren und wieder abgeholt hatte, weil es keine passende Busverbindung dorthin gab.

»Na, dann sollten wir mal nachschauen, was Oberkommissar Teichgräber aus Frau Schönfelders Brüdern im Geiste herausbekommen hat«, beendete Lina das Thema und winkte die Streifenbeamtin heran, die sie zum Fundort der Leiche begleitet hatte. Die beiden Frauen marschierten im Schein der Taschenlampe los. Neuer blieb noch einen Moment stehen und versuchte, die Kippe am Brennen zu halten. Dann hörte Lina ihn fluchen, und eine aufgeweichte Tabakmasse flog an ihr vorbei in die Büsche. Das würde kein guter Tag für Hauptkommissar Manfred Neuer werden. Und für die Menschen, die in den nächsten beiden Stunden mit ihm zu tun hatten, ebenfalls nicht.

2

Als Gabi Lammert endlich bei der Jugendherberge ankam, war es fast Mitternacht und stockdunkel. Kein Wunder, dass sie sich im Ort verfahren hatte und auf einem Waldweg gelandet war, der mitten ins Nirgendwo führte. Zum Glück hatte sie Holgers SUV mitgenommen und nicht ihren Mini, sodass sie in der fortschreitenden Dämmerung auf einer kleinen, gerade noch erkennbaren Lichtung wenden konnte. Kiki wäre ausgerastet, wenn sie gesehen hätte, welche Krater die durchdrehenden Reifen des großen Wagens bei dem Manöver auf der bislang unberührten Wiese hinterlassen hatten. Vermutlich wären der Nichte ihres Mannes Millionen Tiere und Pflanzen eingefallen, für dessen Tod sie Gabi verantwortlich machen konnte. Sie erinnerte sich noch gut an das Theater, das Kiki vor ein paar Wochen veranstaltet hatte, als Gabi die These vertrat, dass Tierversuche durchaus ihre Berechtigung hätten, um Menschen vor unerwünschten Nebenwirkungen von Medikamenten zu bewahren. Oder vor allergieauslösender Kosmetik. Vor allem die Sache mit Mascara und Lippenstift war bei der Neunzehnjährigen nicht gut angekommen. Und wie immer hatte Holger seine arrogante Patentochter unterstützt, statt sich auf die Seite seiner Frau zu schlagen. Gabi verfluchte einmal mehr den Tag, an dem Kikis Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Irgendwie war es typisch für Holgers Schwester, ihr sogar im Tod das Leben schwer zu machen. Denn natürlich war Holger sofort bereit gewesen, Kiki aufzunehmen. Schließlich sei er ihr einziger naher Verwandter und sie schon immer sein erklärter Liebling gewesen, hatte er erklärt. Sie hatte gar nicht erst versucht, sich querzustellen. Sie kannte ihren Mann lange genug, um zu wissen, dass sie auf Granit beißen würde. In gewisser Weise war er durchaus großzügig. Immerhin fragte er weder, wofür sie ihr Geld ausgab, noch machte er Aufhebens um ihre gelegentlichen Affären. Vor allem hatte er noch nie von ihr verlangt, arbeiten zu gehen. Ihr war klar, dass dieses Arrangement keineswegs auf Liebe basierte und ihre Macht über Holger demzufolge klare Grenzen hatte.

Drei Jahre lebte Kiki nun bei ihnen. Das Haus war Gott sei Dank groß genug, dass sie sich aus dem Weg gehen konnten. In letzter Zeit gingen Gabi die Besserwisserei und das Moralgetue des Teenagers zunehmend auf die Nerven. Kiki benahm sich ihr gegenüber so respektlos, dass es unter ihren Freundinnen bereits Gerede gab. Am liebsten hätte Gabi die selbsternannte Tier- und Umweltschützerin aus dem Haus geworfen. Und Holger gleich mit. Aber das ging natürlich nicht. Schließlich verdiente er das Geld und streng genommen gehörte das Haus ihm. Wie alles andere, was sie besaßen. Abgesehen von den im Ehevertrag festgelegten monatlichen Zahlungen auf Gabis Konto. Aber davon war am Monatsende meist nichts übrig. Irgendwie war es ihr einfach nie gelungen, sich etwas beiseitezulegen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als Holgers Launen und Kikis Belehrungen zu erdulden.

Umso mehr hatte sie sich auf dieses Wochenende mit ihrer alten Clique gefreut. Obwohl die meisten von ihnen nach wie vor in Leverkusen wohnten, hatten sie sich mit der Zeit aus den Augen verloren. Sogar Peter hatte sich nicht mehr bei ihr gemeldet, nachdem sie ihm erklärt hatte, dass sie lieber einen Mini statt die aufgemotzte Mercedes-A-Klasse fahren wollte, die er für sie im Auge hatte. Natürlich gab es Mercedes-Modelle, die ihr zugesagt hätten, allerdings überstiegen die bei Weitem das Limit, das Holger ihr gesetzt hatte. Peter hatte ihr angeboten, einen günstigen Jahreswagen zu besorgen, aber sie wollte ein neues Auto, in dem nicht vor ihr bereits andere Leute herumkutschiert waren. Also war sie zu BMW-Karmann marschiert, um sich ihren Wunschwagen konfigurieren zu lassen, und Peter war nach mehr als dreißig Jahren aus ihrem Leben verschwunden. Das hatte sie tiefer getroffen, als sie sich eingestehen mochte. Schließlich war er ihre große Jugendliebe gewesen und der einzige Mensch, an dessen Freundschaft ihr je etwas gelegen hatte. Aber natürlich kam es nicht infrage, sich bei ihm zu entschuldigen. Wofür auch? Trotzdem hatte sie sich riesig gefreut, als Tom sie alle nach Unnau eingeladen hatte. Oder besser nach Bad Marienberg. Im dortigen Wildpark-Hotel hatten sich die anderen am Nachmittag getroffen, um von da aus bei Einbruch der Dunkelheit zu den Wolfsteinen und zum Schullandheim zu wandern. Nachts durch den Wald – wie damals, als sie Kinder waren. Da Gabi am späten Nachmittag einen Termin bei ihrem Personal Trainer im Fitnessstudio hatte, war klar, dass sie zu spät im Westerwald sein würde, um mit den anderen loszuziehen. Tom hatte ihr deshalb eine SMS geschickt und sie gebeten, direkt ins Schullandheim zu kommen. Dort warte eine Überraschung auf sie, hatte er versprochen.

Als Gabi aus dem hohen Fahrzeug kletterte, schaute sie sich irritiert auf dem lang gezogenen Platz vor dem flachen Gebäude um. Selbst im Dunkeln machte das Gelände einen vernachlässigten Eindruck. Auch das Haus selbst schien nicht in bester Verfassung. Nirgends brannte Licht. Zuerst dachte Gabi, dass sie sich womöglich getäuscht hatte. Vielleicht sollte sie doch in Bad Marienberg zu den anderen stoßen. Sie las noch einmal Toms SMS. Er hatte sie eindeutig zum Schullandheim bestellt.

Plötzlich entdeckte sie hinter der Eingangstür einen schwachen Lichtschein. Hatte sie den zuvor übersehen? Entschlossen ging Gabi auf die Tür zu und stellte fest, dass sie nur angelehnt war. Etwas ließ sie zögern. Dann hörte sie wummernde Bässe und kreischende Gitarren. Irgendwo im Haus lief Bat out of Hell von Meat Loaf. Sie grinste, das mulmige Gefühl war verschwunden. Das musste Toms Überraschung sein. Er wollte ihr Angst einjagen. Aber Gabi war noch nie ein Feigling gewesen. Im Gegensatz zu Carmen, die längst das Weite gesucht hätte.

»Na wartet, ihr Blutwölfe. Ich werde es euch schon zeigen«, murmelte sie und betrat das Gebäude, dessen Aufteilung innerhalb von Sekunden aus den Tiefen des Vergessens emporstieg. Rechts konnte sie durch die offene Tür den Speisesaal erkennen, der noch genauso aussah wie vor dreißig Jahren. Davor ging eine Treppe nach unten, wo die Sechsbettzimmer lagen, in denen sie so oft übernachtet hatten. Genau gegenüber dem Eingang führte eine Tür in die ehemalige Hausmeisterwohnung, die für die Jugendlichen stets tabu gewesen war. Von dort kamen Licht und Musik.

»Also«, sagte Gabi diesmal etwas lauter als zuvor, »dann auf ins unbekannte Abenteuer.«

Als sie den Fuß über die Schwelle der Wohnung setzte, hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Lachend schüttelte sie den Kopf, es war offenkundig, dass das Gebäude seit Langem nicht mehr bewohnt war – und dass die anderen sich große Mühe gaben, ihr einen Schrecken einzujagen. Gabi spürte, wie das Adrenalin ihr durch die Adern schoss, was nur zum Teil dem in weitgehender Dunkelheit liegenden, verkommenen, leeren Gebäude geschuldet war. Sie fühlte, wie die Musik sie elektrisierte. Wie lange hatte sie die Platte nicht mehr gehört? Dabei war sie einst ein wesentlicher Teil ihres Lebens gewesen. Verbunden mit Erinnerungen an unbeschwerte, durchkiffte Nächte und Sex, der so intensiv war wie niemals wieder in ihrem Leben. Vielleicht sollte sie das nächste Mal einen Joint rauchen und Meat Loaf aus dem CD-Schrank suchen, bevor sie mit Holger ins Bett ging. Bei dem Gedanken, ihr stets korrekter Gatte könnte sich von Hasch-Zigaretten, wilden Bässen und schmutzigen Texten zu mehr als Kuschelsex hinreißen lassen, lachte sie laut auf. Nein, das hier war etwas, was sie mit Peter teilen konnte. Vielleicht auch mit Jojo oder Tom. Aber nie mit Holger.

Dass jemand hinter sie getreten war, bemerkte Gabi erst, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte. Blitzschnell wirbelte sie herum, darauf gefasst, einen ihrer Freunde zu erblicken, während die anderen um sie herumstanden und sich diebisch darüber freuten, sie überrumpelt zu haben.

Als sie in die Augen der Gestalt blickte, die sich an sie herangeschlichen hatte, war ihr im Bruchteil einer Sekunde klar, dass dies kein Spiel war. Noch niemals hatte sie so abgrundtiefen Hass gesehen. Instinktiv wich Gabi zurück und versuchte, die Hand abzuschütteln. Die schraubte sich umso schmerzhafter in ihren Nacken, je mehr sie sich wehrte. Bevor der Schock nachließ und sie einen gezielten Gegenangriff starten konnte, spürte Gabi ein leichtes Brennen am Hals. Einem Reflex gehorchend griff sie an die Stelle und spürte die feine Nadel, die sich in die Haut gebohrt hatte.

»Was soll das, verdammt?«

Es gab noch so vieles, das sie sagen wollte, doch die Stimme versagte ihr genauso wie die Beine. Während ihre Gedanken immer langsamer wurden, raste der Boden mit unfassbarer Geschwindigkeit auf sie zu. Sie durfte auf keinen Fall mit dem Gesicht aufschlagen, das würde sie für Wochen entstellen.

Sie wollte die Arme ausstrecken, den Sturz abbremsen, konnte aber keinen einzigen Muskel bewegen. Als Nase und Wangenknochen auf dem harten Linoleumboden zertrümmerten, spürte Gabi davon nicht das Geringste. Sie war in einer völlig schwarzen Welt versunken, in der weder Geräusche noch Gedanken noch Schmerz existierten. Und wenn sie gewusst hätte, was sie beim Aufwachen erwartete, wäre sie bis in alle Ewigkeit in dieser reizlosen Dunkelheit geblieben.

3

»Carmen war in meiner Gruppe, genau wie Jojo – ich meine wie Herr Burkhard. Wir haben uns im Dunkeln aus den Augen verloren. Aber sie war höchstens zwei oder drei Minuten weg, als ich ihren Schrei gehört habe. Jojo und ich sind dann sofort losgerannt, haben sie aber nicht gleich gefunden …«

Der Mann, der zusammengekauert vor ihnen saß, war ungesund hager, die grauen Locken waren so dünn, dass die Kopfhaut überall durchschimmerte und Lina ihm am liebsten zu einem radikalen Kurzhaarschnitt geraten hätte. Das Leben hatte sich in tiefen Furchen in sein Gesicht gebrannt, nur die warmen bräunlich-grünen Augen verrieten etwas von der Energie, die er einst versprüht haben musste. Auch wenn er sich bemühte, ruhig und besonnen zu bleiben, stand Thomas Johnen eindeutig unter Schock. Immerhin hatten er und sein Freund Joachim Burkhard die entstellte Leiche ihrer früheren Schulfreundin entdeckt. Auch wenn seine derzeitige Verfassung mehr als verständlich war, war Lina sicher, dass hinter dem ausgezehrten Zustand des sympathischen Krankenpflegers mehr steckte als der Schrecken der letzten Stunden.

»Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Vor oder nachdem Sie Frau Schönfelder aus den Augen verloren haben?«

»Nein. Das hat mich Kommissar Teichgräber auch schon gefragt. Aber ich kann mich nicht an etwas Besonderes erinnern.« Johnen raufte sich das dünne Haar und schaute dann von Lina zu Neuer und wieder zurück. »Na ja, es war dunkel, und wir waren mitten im Wald. Da gibt es natürlich immer Geräusche, die man nicht einordnen kann. Das macht ja den Reiz aus. Aber es war nichts …« Er zögerte, offenbar fehlten ihm die passenden Worte.

Lina ließ ihm Zeit. Neuer hatte sich bislang ohnehin ungewöhnlich bedeckt gehalten. Das war vermutlich seine Art, ihr zu zeigen, dass die Befragung von Zeugen Polizeiarbeit war und nicht Sache der Leitenden Oberstaatsanwältin. Lina dagegen war einfach froh, dass der missmutige Hauptkommissar sich nicht vor den Ohren unzähliger Zuhörer mit ihr stritt.

Schließlich fuhr Thomas Johnen fort: »Ich meine, wenn ein Tier Carmen angegriffen hat, dann hätte man das doch hören müssen, oder? Ein Knurren oder so was. Wir haben aber gar nichts gehört. Und Carmen hat auch nur ein einziges Mal geschrien. Sie war ja nicht mal hundert Meter von uns entfernt.«

»Waren Sie und Herr Burkhard zusammen, als ihnen auffiel, dass Frau Schönfelder verschwunden war?«, fragte Neuer.

»Er war ein paar Meter hinter mir. Wir haben nach den Hinweisen gesucht, die für uns ausgelegt worden waren. Da war es sinnvoll, sich ein bisschen zu verteilen.«

Johnen, der nach eigenen Angaben seit nahezu dreißig Jahren in Schweden lebte, hatte ihnen bereits erklärt, dass es seine Idee gewesen war, sich noch einmal mit seiner Clique an dem Ort zu treffen, der ihnen in ihrer Jugend so viel bedeutet hatte. Seine Nachforschungen hatten schnell ergeben, dass das Schullandheim selbst als Unterkunft ausfiel. Es stand seit Jahren leer und verfiel langsam zu einem jener in letzter Zeit so beliebten Lost Places. Er hatte deshalb das Wildparkhotel als Basis ihres kindischen Abenteuers ausgewählt. Die Schnitzeljagd war vom Eventmanager des Hotels vorbereitet worden und sollte beim alten Schullandheim enden. Geplant war, dass die ehemaligen Schüler des Leverkusener Gymnasiums in zwei Gruppen loszogen, bei jedem Hinweis ein Rätsel lösten und möglichst als Erste beim Schullandheim ankamen. Was sie dort vorgehabt hatten, blieb vorläufig das Geheimnis der angegrauten Abenteurer. Johnen und seine Freunde waren in der Hinsicht vage geblieben. Eine Genehmigung, das Gebäude zu betreten, gab es offenbar nicht. Der derzeitige Eigentümer wolle dort in absehbarer Zeit alles abreißen und ein Hotel errichten lassen, hatte Johnen erklärt.

Lina beschloss, dem später nachzugehen. Bis auf den großspurigen Peter Hackenbroich, der in Leverkusen eine Mercedes-Vertretung leitete, war die Gruppe sichtlich angeschlagen und sehnte sich offenkundig nach etwas Ruhe und einem gepflegten Hotelbett. Da Lina sich kaum wacher fühlte, als die Zeugen aussahen, und auch Neuer langsam seine coole Ausstrahlung einbüßte, musste die weitere Befragung auf den nächsten Morgen vertagt werden. Am besten würden sie das Obduktionsergebnis abwarten, schließlich war bislang nicht einmal klar, ob sie es überhaupt mit einem Gewaltverbrechen zu tun hatten.

Als die Männer sich anschickten, das Restaurant zu verlassen, in dem sie die Befragungen vorgenommen hatten, rief Lina Thomas Johnen noch einmal zurück.

»Sie haben gesagt, dass eine weitere Frau später zu ihnen stoßen sollte, oder?«

Johnen schaute sie irritiert an. Offenkundig hatte er die fehlende Freundin völlig vergessen.

»Stimmt, ja. Gabi Lammert. Sie müsste eigentlich längst da sein.« Er zögerte. »Soll ich sie anrufen? Vielleicht hat sie es ja nicht geschafft und ist in Leverkusen geblieben.«

Lina musterte ihn aufmerksam. »Hätte sie dann nicht Bescheid gesagt?«

Johnen zuckte müde die Achseln. »Ja, vielleicht. Ich habe Gabi seit dreißig Jahren nicht gesehen. Wir hatten damals nicht unbedingt das innigste Verhältnis. Aber vielleicht ist sie ja mittlerweile ein wenig … erwachsener geworden. Ich habe echt keine Ahnung.« Er zückte sein Mobiltelefon und suchte im Speicher nach Gabi Lammerts Nummer. Dann schaute er Lina fragend an.

Lina zögerte, winkte dann aber ab. Es war mitten in der Nacht und damit keine geeignete Zeit, um eine Frau aus dem Bett zu klingeln, die ihnen vermutlich in keiner Weise weiterhelfen konnte. »Rufen Sie sie morgen früh an. Sie soll so schnell wie möglich hierherkommen.«

Thomas Johnen steckte sein Handy in die Hosentasche, drehte sich um und verschwand müde Richtung Fahrstuhl.

Auf dem Parkplatz beobachtete Lina, wie Teichgräber und Neuer auf Teichgräbers Golf zusteuerten. Soweit sie wusste, wohnte der Oberkommissar in der Gegend von Mayen. Wenn er Neuer nach Hause brachte, bedeutete das einen ziemlichen Umweg für ihn.

»Wenn Sie wollen, fahre ich Sie nach Hause, Kommissar Neuer. Ist für mich deutlich näher als für Oberkommissar Teichgräber.«

Neuer blickte missmutig zwischen ihr und dem hoffnungsvollen Gesicht seines Kollegen hin und her. Natürlich wusste er, dass Lina recht hatte und eine Weigerung bedeuten würde, dass Teichgräber frühestens in eineinhalb Stunden in seinem Bett läge. Andererseits behagte es ihm offenbar nicht, Linas Angebot anzunehmen.

»Für Sie ist es ebenfalls ein Umweg. Also danke …«

Lina schüttelte energisch den Kopf. »Jetzt seien Sie nicht so ein Sturkopf, Neuer. Mich kostet das höchstens zehn Minuten. Sie wollen doch nach Müschenbach, oder nicht?«

Eine sanfte Röte, die auf dem gut ausgeleuchteten Parkplatz trotzdem gut zu erkennen war, überzog Neuers Wangen. Lina musste sich beherrschen, um nicht zu grinsen. Der Altenkirchener glaubte offenbar allen Ernstes, dass niemand etwas von seiner Liebschaft mit Barbara Röder ahnte. Der kühle Zyniker hatte eindeutig eine grenzenlos naive Seite, die ihr bislang entgangen war. Dass sich hinter der rauen Schale überdies ein Romantiker verbarg, hatte sie in den letzten Monaten immer wieder von Elias gehört, der nicht nur ihr Nachbar und Vermieter, sondern auch gemeinsam mit ihr in die Fänge eines Killers geraten war und das mit dem Verlust mehrerer Fingerglieder bezahlt hatte. Außerdem war Elias’ Mutter die Angebetete des einsilbigen Kommissars.

»Das ist echt nett von Ihnen, Frau Oberstaatsanwältin«, half Teichgräber dem zögernden Neuer bei seiner Entscheidung. Blitzschnell setzte der Oberkommissar sich ins Auto, startete den Motor und winkte den Zurückgebliebenen im Vorbeifahren lächelnd zu. Neuer sah ihm verblüfft hinterher.

»So ein verdammter …« Wütend warf er seine Zigarette weg, die zischend in einer Pfütze landete. Dann kam er steifbeinig auf Lina zu und öffnete die Beifahrertür.

»Ich muss nach Altenkirchen«, ließ er Lina kurz angebunden wissen, sobald die ihren Gurt angelegt hatte.

»Sicher? Es ist Freitagabend … oder besser Samstagmorgen, Teichgräber hat Bereitschaftsdienst, und vor Ihnen liegt ein freies Wochenende. Wollen Sie das etwa allein in Ihrer Wohnung verbringen?«

Statt zu antworten, presste der Kommissar die Zähne so fest aufeinander, dass Lina vom Zuschauen Kopfschmerzen bekam. Wieder musste sie ein Lachen unterdrücken. Als sie durch Müschenbach fuhren, sah Lina Neuers alten Daimler vor Barbara Röders Haus stehen. Ohne noch einmal nachzufragen, bog sie auf das Grundstück ab und hielt hinter dem Mercedes an.

»Falls Sie heute Nacht tatsächlich in Ihrer eigenen Wohnung übernachten wollen, können Sie den Rest des Weges mit Ihrem Auto bewältigen. Wir müssen es ja nicht unnötig kompliziert machen, oder?«

Neuer warf ihr einen vernichtenden Blick zu, stieg ohne sich zu bedanken aus und schaute sich nicht noch einmal nach ihr um, bevor er im Haus verschwand. Offenkundig besaß er einen Schlüssel. Lina setzte ihren Mini zurück und konnte das Lachen gerade so lange unterdrücken, bis sie wieder auf der Hauptstraße war.

4

Es war kurz nach neun, als Leo Teichgräber, der Wochenenddienst hatte, auf Linas Handy anrief. Sie hatte sich gerade an den Frühstückstisch gesetzt und war dabei, in eines der verlockend knusprig aussehenden Brötchen zu beißen, die Elias besorgt hatte, während sie sich um Tee und Kaffee kümmerte. Ohne mit der Wimper zu zucken, griff Elias nach der Zeitung und vertilgte die Hälfte seines Leberwurstbrötchens mit einem einzigen Biss. Seufzend griff Lina nach dem Telefon, stand auf und zog sich hinter die Theke zurück, die Küche und Essraum teilte.

»Ja, Kommissar Teichgräber. Ist der Obduktionsbericht schon da?«

Elias warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu und vertilgte den Rest seines Brötchens. Selbst Minou, Linas mollige dreifarbige Katze, schien das Thema für wenig angemessen zu halten. Sie stellte jedenfalls abrupt das Schnurren ein und blinzelte mürrisch mit einem halb geöffneten Auge von ihrem mit einem dicken Kissen gepolsterten Stuhl zu Lina hoch. Die verdrehte die Augen und zog sich in den Flur zurück. Falls Klara tatsächlich schon mit der Obduktion fertig war, musste sie die Nacht durchgearbeitet haben.

»Ja«, bestätigte Teichgräber. »Doktor Kochhäuser war ziemlich fleißig, würde ich sagen. Der Bericht lag auf meinem Schreibtisch, als ich gegen acht hier angekommen bin.«

Also konnte auch Teichgräber nicht allzu viel Schlaf bekommen haben, ging Lina auf. Eine Vermutung, die ihr Gesprächspartner mit einem kräftigen Gähnen bestätigte.

»Allzu viel gibt der Bericht allerdings nicht her. Sieht so aus, als wäre Frau Schönfelder von einem Tier angefallen und getötet worden. Könnte theoretisch ein Wolf gewesen sein. Doktor Kochhäuser hat eine Probe an das Senckenberg-Forschungsinstitut geschickt. Das ist das …«, Leo Teichgräber stockte und las den Rest des Satzes offenkundig von einem Blatt oder Bildschirm ab. »… Nationale Referenzzentrum für genetische Untersuchungen bei Luchs und Wolf. Die Auswertung wird allerdings eine Weile dauern.«

»Was bedeutet eine Weile?«, fragte Lina. Zwar sah es nicht so aus, als fiele die Angelegenheit in die Zuständigkeit der Mordkommission. Die Aufregung in Medien und Öffentlichkeit würde aber kaum geringer ausfallen, wenn sich das Gerücht verbreitete, dass ein Killerwolf im Westerwald sein Unwesen trieb. Es gab auch so schon genügend Leute, die das gelegentliche Auftauchen von Wölfen in Deutschland in Panik versetzte. Bislang war Lina immer davon ausgegangen, dass die Ängste unbegründet waren.

»Ich habe im Institut nachgefragt: Die Analyse kann mehrere Wochen dauern. Falls es wirklich ein Wolf war, können die allerdings herausfinden, welches Tier es ist. Es gibt nämlich ein internationales Wolfsregister …«

»Das ist toll, Kommissar Teichgräber. Wirklich. Aber wichtiger ist, dass wir schnell wissen, womit wir es zu tun haben. Ich muss Ihnen sicher nicht erklären, was passiert, wenn sich herumspricht, dass ein Wolf einen Menschen angegriffen und getötet hat. Also rufen Sie noch mal in dem Institut an und machen Sie denen Dampf, bevor im Westerwald zur großen Wolfsjagd geblasen wird.«

»Alles klar, Chefin. Wird sofort erledigt.«

Lina verdrehte die Augen. Teichgräber hatte sich nach ihrer Entführung und dem spektakulären Tod des Killers angewöhnt, sie Chefin zu nennen, sobald sie Anweisungen erteilte. Sie war schon häufiger versucht gewesen, sich die unangemessene Bezeichnung zu verbitten. Schließlich war sie als Leiterin der Staatsanwaltschaft zwar Herrin der Ermittlungsverfahren, aber keinesfalls Vorgesetzte der Polizeibeamten. Allerdings schien sich außer ihr und Hauptkommissar Neuer niemand an der Anrede zu stören. Im Gegenteil: Hin und wieder sprach auch Teichgräbers Kollegin Sandra Lachmann sie so an, wenn auch mit einem Augenzwinkern.

Nach Startschwierigkeiten kam sie mittlerweile ausgesprochen gut mit der jüngsten Beamtin der Koblenzer Mordkommission aus, die ihr nach einer entsprechenden Bemerkung versichert hatte, dass sie und ihr Kollege Lina lediglich ihren Respekt bekunden wollten. Also hatte sich Lina schon um Neuers willen mit der unangebrachten Anrede abgefunden. Denn auch wenn Lina den granteligen Polizisten durchaus mochte, stachelte seine vollkommene Humorlosigkeit sie ständig dazu an, ihn auf die Probe zu stellen. Jetzt war allerdings kein Manfred Neuer in der Nähe, der sich über die Bemerkung ärgern konnte, und Lina sehnte sich zurück an ihren Frühstückstisch.

»Wenn es sonst nichts weiter gibt, sehen wir uns am Montagmorgen. Und danke, dass Sie mich informiert haben, Kommissar Teichgräber.«

»Ähm, da ist noch etwas, das Sie wissen sollten«, beeilte Teichgräber sich zu sagen, bevor Lina das Gespräch beenden konnte. »Thomas Johnen hat vorhin angerufen. Er kann Frau Lammert nicht erreichen. Das ist die Frau, die eigentlich gestern Abend zu der Gruppe stoßen wollte, aber nicht gekommen ist.«

»Ich weiß, wer Frau Lammert ist. Hat Johnen mit der Familie gesprochen?«

»Das habe ich selbst erledigt. Johnen hat mir die Nummer gegeben. Das Seltsame ist, dass Herr Lammert sagt, seine Frau sei am Freitagabend gegen neun Uhr von zu Hause aufgebrochen, weil sie zu dem Treffen im Westerwald wollte. Er war ziemlich sauer, weil sie seinen SUV statt ihren Mini genommen hat, ohne das mit ihm abzusprechen.«

»Und Frau Lammert ist nicht in Bad Marienberg angekommen?«

»Jedenfalls nicht im Wildparkhotel. Und sie hat sich auch bei keinem aus der Gruppe gemeldet.« Teichgräber zögerte. »Soll ich noch mal ins Hotel hochfahren?«

Der Mangel an Begeisterung war ihm deutlich anzuhören. Lina überlegte. »Nein, nicht nötig. Ich fahre nach dem Frühstück selbst da hin und höre mich um. Frau Lammert ist eine erwachsene Frau und bislang besteht kein Anlass, sich Sorgen zu machen. Hören Sie vorsichtshalber mal nach, ob sie womöglich irgendwo auf der Strecke in einen Unfall verwickelt wurde.«

»Wird gemacht, Chefin«, antwortete der hörbar erleichterte Kripomann.

Als Lina in die Küche zurückkehrte, hatte Elias sein Frühstück beendet, die langen Beine auf einem der freien Stühle platziert und war in die Zeitung vertieft. Seine Haltung hatte etwas so Entspanntes, dass man hätte glauben können, sie beide wären schon seit Jahren ein Paar. Manchmal hatte sogar Lina selbst das Gefühl, der große, gut gebaute Typ in Jeans und T-Shirt sei schon immer ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen. Tatsächlich war Elias in den letzten Monaten zu ihrem engsten Vertrauten geworden. Zumindest kam er dicht hinter ihren Jugendfreundinnen Gunda und Evi.

Zuerst hatte Lina ein ungutes Gefühl gehabt, als sie erfuhr, dass Elias in die bis dahin leer stehende Hälfte des von ihr bewohnten Hauses einziehen wollte. Schließlich war er ihr Vermieter und der beste Freund ihrer Jugendliebe Udo. Ihre Befürchtungen hatten sich zum Glück zerschlagen. Elias, von Natur aus eher einsilbig, war Teil ihres Lebens geworden, ohne dass sie sich je in ihrer neu gewonnenen Freiheit eingeschränkt fühlte. Im Gegenteil: Er schien einen sechsten Sinn dafür zu besitzen, wann Lina Gesellschaft brauchte und wann sie allein sein musste. Denn das Letzte, was sie nach einer zwanzigjährigen Ehe, die sie zunehmend als einengend empfunden hatte, brauchte, war eine neue Bindung, die ihr die Luft zum Atmen nahm. Auch wenn es nur eine Freundschaft war. Eine Freundschaft, die darauf aufbaute, dass Elias sich in Lebensgefahr begeben hatte, um sie zu beschützen.

»Hast du heute was Besonderes vor?«, fragte Lina, bevor sie genussvoll in ihr Brötchen biss.

Elias schaute sie mit hochgezogenen Brauen an. »Willst du mich zu einem Ausflug einladen?«

»Warum nicht? Tut dir gut, wenn du mal an die frische Luft kommst, statt immer nur bei dir oder bei mir abzuhängen.«

»Und was schwebt dir vor?«

Während er sie misstrauisch beäugte, faltete Elias demonstrativ die Zeitung zusammen und strich sich die hellbraunen Locken aus der Stirn. Linas Blick fiel auf die fehlenden Fingerglieder seiner linken Hand, und wie immer zog sich ihr bei der Erinnerung der Magen zusammen. Es fühlte sich nach wie vor so an, als sei es ihre Schuld. Energisch wischte Lina den Gedanken beiseite. Sie hatten oft genug darüber gesprochen, und Elias versicherte ihr immer wieder, was sie selbst unzählige Male Opfern von Verbrechen eingetrichtert hatte: Schuld war immer der Täter. Er allein. Nicht seine Opfer oder Angehörigen. Erst seit sie selbst zum Opfer geworden war, konnte sie nachvollziehen, wie schwer es war, an dieses Mantra zu glauben.

»Was ist, hat es dir die Sprache verschlagen?« Elias schaute sie mit dem für ihn typischen unergründlichen Blick an.

»Ich dachte, ich zeige dir mal die Wolfsteine.«

»So, dachtest du. Ich kenne die Wolfsteine. Vorausgesetzt, du meinst die bei Bad Marienberg. Da war ich als Kind ständig.«

»Prima, dann können wir ja gemeinsam unsere Erinnerungen auffrischen. Ich war auch als Kind zuletzt dort.«

»Gut. Ich dachte einen Moment, du wärst womöglich heute Nacht da gewesen. Ich hab gesehen, dass du kurz vor Mitternacht noch mal weggefahren bist.«

»Spionierst du mir etwa nach?«

»Ich passe auf dich auf.«

»Hm. Also kommst du mit? Ich könnte deinen Rat gebrauchen.«

»Ich wusste, dass das kein gemütlicher Wochenendausflug wird. Es ist Arbeit, stimmt’s?«

»Na ja, ein bisschen. Aber ich lade dich hinterher zum Essen ein. Was hältst du davon?«

»Kann ich mich frei entscheiden?«

»Nein.«

»Dachte ich mir. Dann geh ich mal rüber und such die Wanderschuhe raus. Wir sehen uns in einer halben Stunde hinter dem Haus. Du fährst.«

5

Als Gabi Lammert erwachte, fühlte sich ihr Gesicht an, als sei sie mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Wand gelaufen. Außerdem konnte sie nicht einen Millimeter ihres Körpers bewegen. Es dauerte eine Weile, bis ihr Verstand die Ursache für die Einschränkung begriff: Sie war an einen Stuhl gefesselt, der mitten in einem kellerartigen Raum stand und vom grellen Licht einer einsamen Bauleuchte angestrahlt wurde. Dünne Plastikstreifen schnitten ihr so tief ins Fleisch, dass sich die Haut wund und aufgescheuert anfühlte. Sogar um den Hals war eine solche Fessel gezogen und mit einem zweiten Plastikstreifen an der hohen Rückenlehne befestigt worden. Nur mit Mühe bekam sie so viel Luft, dass sie reden konnte. Falls das ein Scherz war, war es ein verdammt schlechter.

»Das ist nicht witzig, Leute. Macht mich sofort los.«

Obwohl sie sicher gewesen war, im Schatten jenseits des hellen Lichts jemanden atmen zu hören, reagierte niemand auf ihre wütende Forderung.

»Hacki? Jojo? Was soll der Mist? Ihr tut mir weh. Und ich habe verdammten Durst. Also hört sofort mit dem Unsinn auf.«

Ihre Stimme war immer schriller geworden, dennoch war sie fest entschlossen, nicht zu betteln. Die Jungs hatten ihr einen Streich gespielt. Wahrscheinlich wollten sie ihr beweisen, was für coole Typen sie waren. Dabei wusste jeder, dass sie, von Hacki abgesehen, immer die Härteste in ihrer Clique gewesen war. Die anderen waren Loser und Weicheier, die nichts auf die Reihe bekommen hätten, wenn sie nicht da gewesen wäre, um sie anzutreiben und ihre Skrupel wegzulachen. Vielleicht war das hier die Rache dafür, dass die Jungs gegen sie immer alt ausgesehen hatten. Blöde Macho-Idioten. Sie würden schon sehen, was sie davon hatten.

Hinter sich hörte Gabi ein leises Scharren. Da war also doch jemand. Eine dunkle Ahnung stieg in ihr auf. Hatte sie nicht jemanden gesehen, bevor sie ohnmächtig wurde? Ihr Verstand weigerte sich, darüber nachzudenken, dass der Urheber ihrer misslichen Lage jemand gewesen sein könnte, der nicht zur Clique gehörte. »Macht mich endlich los, verdammt noch mal!«, schrie sie in einer plötzlich aufwallenden Mischung aus Wut und Panik. Vor allem die Tatsache, dass sie sich nicht rühren konnte, machte sie verrückt. Am liebsten hätte sie auf irgendetwas oder besser noch auf irgendjemanden eingeschlagen. Nichts geschah. Als sie beinahe schon glaubte, sie hätte sich das Geräusch nur eingebildet, hörte sie hinter sich eine schwere Tür ins Schloss fallen. Sekunden später verlosch das Licht. Dann setzte die Musik ein und verschluckte jedes andere Geräusch. Gabi Lammert schrie trotzdem so laut und lange, bis kein Ton mehr aus ihrer ausgetrockneten Kehle kam.

6

Als sie den Großen Wolfstein erreichten, hatte Lina Elias so weit über die Ereignisse der Nacht in Kenntnis gesetzt, wie es ihr angesichts ihrer Pflicht zur Diskretion gerade noch angemessen erschien. Die Wolken türmten sich noch immer bedrohlich am Himmel auf, aber zumindest hatte es in den letzten beiden Stunden nicht mehr geregnet. Das änderte nichts daran, dass sie auf den Waldwegen regelrecht im Schlamm versanken. Das Wasser, das als Nebel in der Luft schwebte und jeden Schirm der Lächerlichkeit preisgegeben hätte, durchtränkte unbarmherzig Kleidung, Haut und Haare.

Elias sah aus wie eine ertrunkene Ratte, und sie hatte keinen Zweifel, dass ein objektives Urteil über sie selbst zu einem ähnlich unschmeichelhaften Ergebnis führen würde. Zum Glück bestand kaum die Aussicht, an diesem feuchten Septembermorgen vielen Spaziergängern zu begegnen. Und wenn, würden die vermutlich kaum besser aussehen.

Lina war bewusst, dass Neuer keineswegs begeistert sein würde, wenn er von ihrem Ausflug mit Elias erfuhr. Der mürrische Kripobeamte war dem Sohn seiner Geliebten gegenüber ungewöhnlich reserviert, fast so, als würde er ihm noch immer irgendeine Missetat unterstellen.

Lina empfand sein Verhalten mehr als ungewöhnlich, schließlich hätte Neuer angesichts seiner falschen Verdächtigungen im letzten Jahr allen Grund gehabt, sich bei Elias zu entschuldigen – vor allem, seit er mit dessen Mutter zusammen war. Soweit sie wusste, war dieser Akt der Demut noch nicht erfolgt. Statt sein Bedauern in Worte zu fassen, wich Neuer Elias lieber aus. Auch deshalb war Lina nicht bereit, Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Kommissars zu nehmen. Außerdem brauchte sie Elias’ Rat. Er war schließlich der Jäger, dem sie das mit Abstand größte Vertrauen entgegenbrachte.

»Du glaubst also, ein Wolf könnte die Frau getötet haben?«, fragte Elias.

Lina hob die Schultern, wohl wissend, dass die Geste ihre Ratlosigkeit perfekt offenbarte.

»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich denken soll. Bislang habe ich geglaubt, dass Wölfe Respekt vor Menschen haben und sie nicht einfach angreifen und töten. Aber irgendetwas hat Carmen Schönfelders Kehle zerfetzt. Wie viele Alternativen gibt es deiner Meinung nach?«

»Wenige, aber mehr als keine.«