Blutmahl - Theo Brohmer - E-Book

Blutmahl E-Book

Theo Brohmer

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Beschreibung

Nach einem Einbruch bei einer Unternehmerin aus Hamburg kommen die Detektive Frerichs und Frerichs den brutalen Verbrechen skrupelloser Menschenjäger auf die Spur. Was hat das Rüstungsunternehmen anax military mit diesen Gräueltaten zu tun? Die Detektive tauchen immer tiefer in die Ermittlungen ein und entlarven menschliche Abgründe und grausame Bräuche einer Geheimgesellschaft. Als Onno Frerichs schließlich entführt wird, muss sein Onkel Albertus Frerichs erkennen, dass sie ihren Gegnern zu nahe gekommen sind …

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Ähnliche


Theo Brohmer
Blutmahl
Ein Ostfriesland-Krimi mit Frerichs & Frerichs
Ostfriesland-Krimi

Inhaltsverzeichnis

Blutmahl

Widmung

Ein paar Worte vorab

Scout

Transport

Krankenbesuch

Amüsement

Den Tod gefunden

Aria

Rachepläne

Aus dem Leben gegriffen

Mitgehangen

Geliefert

Blei

Das Sanatorium

Überrumpelung

Das neue Büro

Glasaugen

Bei

Jules Verne

Observation

Hotel Henry, Hamburg

Differenzen

Singularität

Am Vormittag desselben Tages

Wo warst du, als das Licht ausging?

Kaffee und Kuchen

Alte Krieger

Seitenwechsel

Willkommen zurück

Läuterung

Glossar der handelnden Personen

Ein paar Worte zum Schluss

Der Autor

Impressum

Landmarks

Inhaltsverzeichnis

Cover

Für meine Mutter, meinen Vater und Ilse
Für meine Schwestern Anja und Myriam
Für Bee, Carsten, Charlotte, Dagmar und Karsten
Es gibt Träume, für die essich zu leben lohnt.
Frank Reimer

Ein paar Worte vorab

Als Junge wollte ich Polizist werden. Wie lange dieser Berufswunsch anhielt, weiß ich nicht mehr genau. Dass amerikanische Polizeifilme und Batman Einfluss auf mich hatten und haben, weiß ich hingegen genau.
Bekanntlich besitzt die Medaille zwei Seiten und ich begriff, dass die Schattenseite, so will ich sie nennen, unweigerlich ihre Berechtigung hat. Was wäre Batman ohne die Unterwelt von Gotham City? Cops ohne Gangster? Undenkbar! Schlimmer noch, nutzlos!
Dualität macht unsere Existenz aus. Im stockfinsteren Wald verschwinden alle Schatten. Es wird ein Kontrast benötigt. Ein Licht, eine Funzel genügt!
In meinem Leben habe ich unzählige Filme gesehen. Vielleicht hat meine Liebe zu Storys hier ihren Ursprung?
1995 drehte Michael Mann sein Meisterwerk: HEAT.
Al Pacino und Robert De Niro stehen sich als Polizist und Gangster in Los Angeles gegenüber. Dieser Film stellt ein fantastisches Beispiel für die komplizierte Balance zwischen dem Guten und dem Bösen dar. Zur Verdeutlichung dieser Ambivalenz wurden die Rollen mit äquivalenten Charaktermimen besetzt. Als Identifikationsfiguren funktionieren beide Rollen. Mir scheint, dass Michael Mann einen Konflikt mit der moralischen Entscheidung zwischen der einen und der anderen Seite spürte. Ich persönlich mag auch beide Darsteller.
Doch ich neige dazu, Robert De Niro eine gelungene Flucht zu wünschen. Mag dieses Ansinnen an einem Aufbegehren gegen Autorität liegen? So genau habe ich das noch nicht analysiert.
Das Leben machte aus mir keinen Polizisten, was ich jedoch nicht bedauere. Anfangs war es die Liebe zur Botanik, die mein Schicksal besiegelte. Meinen Storys merkt man dies sicher an.
Später nach einer Umschulung wechselte ich die Seiten und wurde zu einem Papiertiger. Heute arbeite ich bei einer regionalen Versicherung im Innen- und Außendienst. Und sicherlich überrascht es niemanden, dass ich täglich Licht und Schatten sehe.
Ich bin kein Polizist. Doch mein Job verlangt oft detektivischen Spürsinn. Undurchsichtige Schadenfälle bereiten mir ein Mordsvergnügen und ich widme mich ihnen mit Akribie. Vielleicht springt dabei eine Story heraus?
Seit jenem Tag, da sich mein Berufswunsch manifestierte, bin ich der Faszination am Bösen und dem Verbrechen auf der Spur.
In meinen Geschichten versuche ich stets ein Gleichgewicht zwischen dem Licht und dem Schatten zu schaffen. Ob mir das gelingt, müsst ihr entscheiden.
Neben dem Schreiben verbringe ich viel Zeit für die Informationsbeschaffung. Deshalb gebe ich einer Kriminalkommissarin a. D. recht, die meinte, die Details in meinem Krimidebüt ELEKTRA könne ich mir nicht alle alleine ausgedacht haben. Das ist zum Glück nicht nötig, denn ich komme beruflich mit vielen Menschen in Kontakt und manchmal entspinnt sich ein fruchtvolles Gespräch, mit dem Ergebnis, dass die Inspiration mir eine böse Idee beschert. So verriet mir ein Installateur seinerzeit die Mordmethode für ELEKTRA. Danach recherchierte ich die restlichen Zutaten. Eine realistische Darstellung ist mein Anspruch. Obwohl ich es bei ELEKTRA etwas übertrieb. Mein Lektor Michael Kracht merkte bei der Überarbeitung der Erstveröffentlichung im Jahr 2018 an, dass einige Stellen gekürzt werden müssten. Denn es sei nicht die Absicht des Buches, Anleitungen zu geben.
Wenn ich eine Tat für einen neuen Kriminalroman plane, begebe ich mich auf die Straße des Bösen.
Doch ich weiß mich in guter Gesellschaft, denn dort werde ich euch, liebe Leserin und lieber Leser, begegnen! Hand aufs Herz, wir sind doch alle vom Bösen fasziniert!

Scout

Donnerstag, 29. Oktober 2015
Lilian strich den schwarzen Samtvorhang zur Seite und tauchte in die Düsternis des Lokals ein. Nicht ein Funken Licht drang zu ihr durch. Wie im leeren Raum des Alls, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Schauder rann ihren Rücken hinab.
Die Vibration eines Schlagzeugs ließ den Fußboden leicht erzittern. Der Bass einer elektrischen Gitarre setzte ein. Lilian erkannte die Nummer. Es war Deliver Us From Evil von Bullet For My Valentine.
Tastend streckte sie die Arme aus, tat vorsichtig ein paar Schritte ins Finstere. Sie verharrte abwartend, als ihre gespreizten Finger wieder über einen Vorhangstoff strichen. Eine Schleuse!
Lilian schlüpfte hindurch. Auch hier herrschte tintige Dunkelheit. Doch nicht völlig. Ein winziger Schwarzlicht-Spot sorgte für spärliche Helligkeit. Unvermittelt leuchtete ihr Tattoo auf ihrem Unterarm bläulich auf. Schnell zog Lilian den Ärmel ihres Pullovers darüber. Das brauchte hier niemand zu sehen!
Lilian erschrak, als der Hauch warmen Atems über ihre Haut strich. Ihr jagender Puls beruhigte sich jedoch rasch, als sie das Timbre einer Frau heraushörte. Sofort richteten sich die Härchen auf ihren Armen auf. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihrer Körpermitte aus. Genießerisch atmete sie das dezente Parfum ein, das in der Luft hing.
»Willkommen, Fremde.« Die Türsteherin beugte sich zu ihr und sprach direkt in ihr Ohr. »Bevor ich dich passieren lasse, musst du dich einer Leibesvisitation unterziehen!«
»Nichts lieber als das«, antwortete Lilian unwillkürlich lächelnd. Was für eine geile Show! Der Abend versprach ein Hit zu werden!
Lilian hob die Hände über ihren Kopf und ließ die Frau ihre Arbeit verrichten. Sie spürte den Druck der Finger unter den Achseln. Von dort strichen sie abwärts, fuhren bis zu den Innenseiten ihrer Waden hinunter. Anschließend tasteten die Hände wieder hinauf. Lilian fühlte ihre Erregung in jeder Zelle des Körpers. Um nicht lustvoll aufzustöhnen, biss sie sich auf die Unterlippe. Die Berührungen der Türsteherin hinterließen eine Gänsehaut auf jedem Zentimeter Haut.
Die geübten Finger der Frau fuhren über die Innenseite ihrer Oberschenkel und verharrten kurz. Mit leichtem Druck massierten ihre Finger diese empfindliche Stelle. Durch das Leder ihrer Hose spürte Lilian den Rhythmus der Impulse.
Widerwillig – wie sie glaubte – nahmen die Finger ihre Reise wieder auf. Sie glitten über ihren flachen Bauch und über die Wölbungen ihrer Brüste. Ihre harten Brustwarzen spannten unter dem Leder ihrer Bluse.
Viel zu früh endete die Leibesvisitation.
»Willkommen in der Fledermaushöhle, Fremde«, hauchte die Türsteherin Lilian ins Ohr. »Später werde ich noch Zeit für dich haben«, schob sie nach und das Versprechen hinterließ ein Prickeln. Lilian erschauderte wohlig.
*
Onno geriet in Panik. Wohin sollte er denn jetzt verschwinden? Er blickte sich suchend nach einem Versteck um. Doch es gab keins!
Dexel noch to! Warum hatte er sich nur von seinem Onkel zu diesem Schwachsinn überreden lassen? So hatte es ja kommen müssen! Nicht genug, dass sie unbefugt ein fremdes Grundstück in Hamburg-Harvestehude betreten hatten. Zu allem Überfluss war sein Onkel Albertus eben von einem Wachmann geschnappt worden!
Sein alter Onkel entwickelte langsam, aber sicher Schrullen. Er war allen Ernstes der Meinung, dass die Eigentümerin des Hauses einen der Köche aus seiner Seniorenresidenz hier versteckte. Tage zuvor hatte Albertus Frerichs ein Abwerbegespräch belauscht. Darin ging es um 50.000 Euro, die der Koch für einen Extra-Job bekommen sollte.
Später fand sein Onkel heraus, wer die Abwerberin gewesen war und wo sie lebte.
Wegen seines Verdachtes hatten sie selbstverständlich nicht geklingelt, sondern waren unerlaubt über die Mauer geklettert. Deshalb waren sie hier! Onno tippte sich an die Stirn. Was sagte das alles über ihn selbst aus? Darüber durfte er überhaupt nicht nachdenken.
Unvermittelt erhob die Eigentümerin wieder die Stimme. »Miller, sehen Sie bitte nach, ob unser Gast allein hierher gefunden hat. Erschießen Sie den Begleiter, wenn nötig!« Die Stimme der Frau verursachte Onno eine Gänsehaut.
Panik überfiel ihn. Onno wurde für eine Sekunde schwarz vor Augen. Die Schärfe in ihrer Stimme machte ihm klar, dass sie nicht scherzte.
Das Bescheuerte an der ganzen Sache war, dass er die Frau kannte. Sie hieß Evelyn Velbert! Onno hatte vor ein paar Wochen ihre Papiere bei einer illegalen Auto-Stopp-Aktion kontrolliert.
An das Erlebte erinnerte er sich nicht gerne zurück. Denn dabei war er dem Sensenmann nur knapp entkommen. Er hatte den Posthof eben mit seinem Motorrad verlassen, als ihr Auto wie aus dem Nichts angeschossen gekommen war.
Wie durch ein Wunder waren die beiden Fahrzeuge nicht kollidiert. Doch Onno war gestürzt. Statt ihm Erste Hilfe zu leisten, war die Frau geflüchtet. Seine ganze Wut über dieses schändliche Verhalten hatte ihm auf die Beine geholfen. Er war ihr gefolgt und hatte sie schließlich angehalten.
Ein Geräusch holte ihn in die Gegenwart zurück. Hatte er das Spannen eines Hahns gehört oder entsprang der Laut seiner überspannten Fantasie? Seine Anwesenheit hier war mehr als ein Abenteuer. Es war wahrhaft gefährlich! Sollte er wirklich so sterben? Dexel noch to! Er saß in der Tinte! Er brauchte ein Versteck! Jetzt auf der Stelle!
Onno stand im dämmrigen Licht inmitten jahrzehntealter Rhododendren. Kein Schlupfloch zu entdecken! Mit dem Fuß stieß er in die Laubstreu. Dieser Urwald war schon lange Zeit sich selbst überlassen. Das dröge Laub reichte ihm bis zum Knie. War es eine gute Idee, sich einzugraben?
Das klassische Dilemma! Sollte er bleiben oder gehen? Onno befiel Angst um seinen Onkel. Dieser Miller war bewaffnet! Wenn er Albertus etwas antäte, würde sich Onno das nie verzeihen!
Andererseits würde es seinem Onkel Albertus und ihren Nachforschungen nichts nützen, wenn Onno sich ebenfalls auslieferte!
Unter Garantie verfolgte der alte Geheimniskrämer seine eigene Strategie und es war kein Zufall, dass er seinen Neffen nicht in seine Pläne einbezogen hatte.
Wenn Onno das richtig überlegte, dann erwartete sein Onkel überhaupt keine direkte Unterstützung von ihm.
*
Tastend schob sich Lilian weiter. Eine Schiebetür fuhr automatisch vor ihr auf. Sie betrat den dahinterliegenden, Raum. Er schien immense Ausmaße zu besitzen. Vereinzelte goldene Lichtinseln erhoben sich aus der Finsternis. Das schwache Kerzenlicht reichte kaum aus, die Umgebung auszuleuchten.
Die Soundkulisse eines tosenden Gewitters brach über sie herein. Maynard James Keenan sang die erste Strophe von 10.000 Days. Lilian blieb einige Augenblicke still stehen, ließ die Umgebung auf sich wirken und gab ihren Augen Gelegenheit, sich an die veränderte Atmosphäre zu gewöhnen.
Die Betreiber dieses Clubs legten offenbar gesteigerten Wert auf Diskretion. Das gefiel ihr. Was ihr jedoch Unbehagen bereitete, waren Überraschungen. In diesem Setting wollte sie keinesfalls überrumpelt werden. Deshalb verließ sie sich nicht allein auf ihre Augen. Lilian setzte auf Hightech-Equipment. Ihre Finger fuhren an ihrem Gürtel entlang, bis sie die Halterung der Nachtsichtgläser ertasteten.
Scheiße! Der Verschlussclip des Futterals war offen, die Gläser fehlten! Ein heißer Schreck durchzuckte Lilian. Verdammt! Ohne ihre Ausrüstung war sie hilflos! Wie sollte sie sich in dieser Düsternis zurechtfinden, wie Beute machen?
Plötzlich spürte sie die Körperwärme eines anderen Menschen. Jemand hatte sich ihr unbemerkt genähert, ihre Schwäche ausgenutzt!
Lilian wandte sich um. Von der anderen Person war kaum etwas zu erkennen. Ihre Fingerspitzen berührten einen fremden Handrücken. Die Türsteherin fiel ihr ein. Dass sie so schnell Zeit für sie finden würde, überraschte sie.
Eine Hand strich ihren Rücken hinab, die andere liebkoste ihre Brust. Die Streicheleinheiten waren eine Spur fester, drängender als vorhin. Doch das war es nicht, was Lilian nicht gefiel. Sie vermisste den verführerischen Duft des Parfums. Dafür hüllte sie ein Odeur ein, das sich wie ein Narkotikum über ihre Empfindungen legte. Lilian empfand eine Leichtigkeit, wie nach gutem Pot. Sie gluckste vergnügt.
Was passiert hier mit mir? Ihre innere Stimme schrie ihr eine Warnung zu.
Scheiße! Wie blöd bist du denn? Sie wusste doch, dass Scouts in der Stadt unterwegs waren! Um ein Haar hätte sie die maskierte Gefahr übersehen.
Anstelle des ätherischen Parfums trug die Duftnote alle Anzeichen einer Bedrohung. Eines männlichen Schreckens! Herb und würzig, Moschus mit einem Hauch von Wolf.
*
»Darf ich mich nach Ihrem Namen erkundigen?«, fragte Evelyn Velbert, nachdem sich der Sicherheitsbeauftragte, Malcolm Miller, in die Büsche geschlagen hatte.
»Oh, verzeihen Sie, Frau Velbert, wie unhöflich von mir, Albertus Frerichs«, sagte der alte Mann und lüftete seinen Stetson. Er deutete eine Verbeugung an.
»Herr Frerichs«, sagte Evelyn Velbert, hakte sich bei Albertus unter und spazierte mit ihm durch den dunklen Park in Richtung der erleuchteten Villa.
»Sie erwähnten eben meinen Onkel. Erzählen Sie mir bitte von ihm«, bat die gut aussehende Frau.
»Mit Vergnügen«, antwortete Frerichs und ließ sich von der Dame des Hauses führen.
»Es gefällt mir, was Sie aus dem Anwesen gemacht haben.«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, lächelte. Ihre Augen glänzten.
»Sie kennen die Villa, Albertus? Es stört Sie doch nicht, wenn ich Sie beim Vornamen nenne?«
»Nein, das ist mir auch sehr lieb, Evelyn. Ja, es muss 1956 oder 1957 gewesen sein, da mich Feliciano einmal übers Wochenende hierher einlud.« Sie nickte ihm aufmunternd zu, weiterzureden.
»Ich war sprachlos, als ich das Haus sah. Ein Werk des Architekten Frank Lloyd Wright hätte mich ebenfalls gereizt. Doch ich bin ein großer Anhänger des Jugendstils.«
»Ich weiß, was Sie meinen, Albertus. Mir persönlich genügt Wright allein nicht. Ich habe mehr Präferenzen.« Sie lächelte den Weißhaarigen an ihrer Seite an.
»Ich erkenne Bauhaus.« Frerichs deutete auf einen ebenerdigen Anbau.
»Ja, das musste einfach sein. So habe ich beides«, sagte die Frau und lachte glockenhell. »Ich liebe das, was die Goldenen Zwanziger hervorgebracht haben.«
Sie hatten das Haus erreicht. Evelyn geleitete den alten Mann die Freitreppe hinauf. Sie öffnete die Glastür und schritt hinein.
Mit einem etwas mulmigen Gefühl folgte ihr Albertus über die Schwelle. Seine Direktheit war manchmal ein Fluch, dachte er. Denn er begab sich in die Höhle einer Löwin. Einer Frau, die einen bewaffneten Leibwächter besaß. Miller hatte seine Gastgeberin ihn genannt. Dieser Mann erweckte den Eindruck, als sei er im Umgang mit Waffen gewöhnt. War er ein Söldner?
Albertus Frerichs rief sich in Gedanken eine Warnung zu. Die Nichte seines alten Freundes Feliciano tat wie ein Lamm, doch davon durfte er sich nicht täuschen lassen. Sie war alles andere als ungefährlich. Das spürte er deutlich. Dass sie sein Eindringen nicht guthieß, verübelte er ihr nicht. Moralisch hatte er eindeutig falsch gehandelt. Denn er hatte sich nicht mit legalen Mitteln Zutritt zum Grundstück verschafft. Dass bei seiner Entdeckung jedoch von Waffen Gebrauch gemacht wurde, war völlig indiskutabel. Verdächtiger konnte man sich in seinen Augen überhaupt nicht machen!
Zweifel regten sich in Albertus. War es eine vernünftige Idee, ohne Rückendeckung hierherzukommen? Ihn befiel eine leichte Gänsehaut. Keine echte Panik. Dafür war es zu früh!
Jetzt mach dir nicht in die Hosen, alter Mann, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Du wolltest Thrill statt tödlicher Routine. Jetzt kannst du dich beweisen!
Bis vor einigen Wochen noch war Gevatter Tod ein regelmäßiger Besucher an seiner Kaffeetafel gewesen. Albertus hatte das schlicht hingenommen, weil ihm die Kraft zur Gegenwehr gefehlt hatte. Den Trott seiner trüben Existenz war er leid gewesen. Er hatte sich regelrecht nach dem Ende gesehnt.
Der Überraschungsbesuch seines Neffen Onno hatte dem ein Ende gemacht. Von einer Minute zur nächsten hatte Albertus wieder den Esprit eines erfüllten Lebens gespürt. Denn sein Neffe brauchte ihn. Das gab seinem Leben wiederum einen Sinn.
Gemeinsam klärten sie den Mord an einer Frau aus der Fehnsiedlung Ölbenfehn auf. Beflügelt von diesem Erfolg beschloss er, mit seinem Neffen und Olgay eine Privatdetektei zu gründen.
Albertus füllte seine Tage wieder mit Leben, statt sein Leben mit Tagen zu füllen.
Den Wert seines neuen Lebens galt es zu erhalten. Er würde hier nicht kampflos die Flügel strecken! Das machte ihm wieder Mut. Aber werde nicht übermütig, meldete sich seine innere Stimme mahnend zu Wort.
Sein Neffe Onno kam ihm in den Sinn. Hatte er unerkannt fliehen können?
*
Die drohende Gefahr mobilisierte bei Lilian verborgene Kräfte. Sie wandte den Kopf ab und atmete tief ein. Dann presste sie sich eine Hand gegen Mund und Nase. Einen effektiven Luftfilter ergab das nicht. Doch vielleicht genügte es. Es war Zeit, zurückzuschlagen!
Der Wolf arbeitete offenbar mit einem enthemmenden Aerosol. Um welches es sich dabei handelte, wusste sie nicht. Doch das war nicht wichtig! Eine Frage jedoch beschäftigte sie: Tat er es um des Vergnügens willen oder verfolgte er andere, speziellere Ziele?
Als der Reißverschluss ihrer Lederhose geöffnet wurde, schritt sie ein. Sie packte das Handgelenk des Wolfs energisch. Deutlich ertastete sie die Behaarung an dessen Armen. Der Gedanke empörte Lilian. Augenblicklich verstärkte sich ihr eiserner Griff. Die Machtdemonstration bereitete ihr Spaß. Sofort suchten die fremden Finger den Rückzug. Vergeblich!
Für einen Moment ließ Lilian nicht locker. Im Gegenteil, sie legte eine Umdrehung ihres fleischgewordenen Schraubstockes zu. Der Mann stöhnte qualvoll auf.
»Bitte …«, ächzte er. »Schon gut … entschuldige. Ich habe dich verwechselt«, kam die lahme Ausrede.
Zaghaft sog Lilian einen kurzen Atemzug ein. Ihre Lungen brannten, schrien nach Sauerstoff. Erleichtert stellte sie fest, dass das Aerosol verflogen schien. Es war keine halluzinogene Wirkung mehr spürbar.
Dafür nahm sie ihre Umwelt wieder klar und deutlich wahr. Ihr wurde von seinem herben Rasierwasser und dem Gestank seines Schweißes übel. Doch sie bezwang ihre Magensäfte, lockerte den Griff. Es war so weit, den Spieß umzudrehen.
Lilian wollte ihr Nachtsichtgerät zurück. Zwar war der Abend noch jung, aber doch endlich. Sie wandte sich ihm halb zu und erkundete ihrerseits das Terrain des fremden Körpers. Ihre Finger fuhren durch den Wald seines Brusthaars. Der Mann trug kein Hemd.
Sie spürte sein hartes Glied an ihrem Oberschenkel. Das veranlasste Lilian, Taktik und Richtung zu ändern. Sie lehnte sich gegen seine muskulöse Brust und strich mit beiden Händen seiner Körpermitte entgegen. Er ließ sie gewähren.
Sie öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Der Mann stöhnte lustvoll auf. Mit ihren Krallen packte sie sein Glied und quetschte das gute Stück, bis sich sein Stöhnen in pure Pein wandelte.
»Her mit meinem Eigentum oder du kannst dich von deinem Gemächt verabschieden!«, zischte sie ihm ins Ohr.
»Hey, nicht so grob, Lady. Ah! Du kannst alles von mir haben.«
Lilian packte kräftiger zu. Der Mann jaulte auf.
»Ich will nicht alles! Ich will nur mein Eigentum zurück. Jetzt! Her damit!«
»Schon gut. Hier.« Der Kerl hielt ihr etwas entgegen. Ihre Finger erspürten die Nachtsichtgläser. Lilian nahm sie ihm wortlos ab. Rasch streifte sie sich diese über. Sie erkannte jetzt, dass er ein ähnliches Gerät vor den Augen trug wie sie selbst. Offenbar war er ein Profi. Dann gehörte er eventuell zu ihrer Gilde? Lilian spielte kurz mit dem Gedanken, nachzusehen, ob er an der Innenseite des Unterarms eine Tätowierung besaß, die im Schwarzlicht glomm. Damit verriet sie allerdings ihr Wissen und ihre Zugehörigkeit zur Firma.
Sie überlegte, ob es ratsam war, ihm seine Gläser ebenfalls abzunehmen, verwarf die Idee aber sofort. Er entsprach nicht ihrem Geschmack. Ohne sein Hightech-Equipment würde er vielleicht nicht einmal den Ausgang finden. Und es war ihr lieber, wenn er verschwände, besser früher als später.
Sie wollte schon weg, als ihr noch etwas einfiel. Sie wandte sich ihm wieder zu.
»Was ist das für ein Zeug, das du versprühst?«
»Hä?« Er mimte den Ahnungslosen. Ganz schlechte Vorstellung, Mann! In seinem Blick lag plötzlich Wachsamkeit.
»Das Aerosol, gib es mir!«
Der Mann verengte seine Augen hinter den Gläsern. Ein Mundwinkel zog sich spöttisch in die Höhe.
»Willst du mir das Spiel erklären, Mädchen?«
Lilian ließ den Blick an ihm heruntergleiten. Sein Gürtel sah aus, als stamme er aus einem Baumarkt. Allerhand Taschen waren daran befestigt. In einem Metallring hing ein kleiner Druckluftbehälter. Er wies keine Beschriftung auf. Doch Lilian dachte instinktiv an Reizgas.
Sie hob eine Hand, so als wollte sie ihm durchs Haar streichen. Er folgte der Bewegung mit seinem Blick. Lilian nutzte die Ablenkung und entwendete ihm mit der anderen Hand den Gasbehälter. Dann versetzte sie ihm mit der Handkante einen Schlag gegen seinen Kehlkopf. Lilian duckte sich weg und tauchte im Dunkel des Clubs ab.
Mithilfe der modernen Technik war es ein Leichtes, Einzelheiten ausmachen. Auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen passierte Lilian zahlreiche Nischen und Abteile. Lilian erhaschte einen Blick durch einen halb geschlossenen Vorhang. Im elektrischen Kerzenlicht wohnte sie für die Dauer von zwei Sekunden dem Koitus zweier Körper bei. Dann war sie vorübergegangen.
Sie ließ den Blick schweifen. Doch die Nischen schienen alle besetzt, sämtliche Gardinen waren zugezogen. Lilian schritt den Gang einmal ab, überlegte.
Sie verspürte keine Lust, sich jetzt schon ihr Nest zu bereiten. Sie wollte Beute machen.
Die Wegweiser glommen im Schwarzlicht. Bereitwillig folgte sie ihnen ins Jagdrevier, dem eigentlichen Dark­room. Instinktiv verlangsamte sie ihr Tempo. Hier gab es allerhand Hindernisse, die es zu umschiffen galt. Menschliche Körper in verzerrten Posen, übereinander, ineinander verschlungen. Das Geld für Nachtsichtgläser war gut investiert, wenn sich dadurch verhindern ließ, in Natursekt oder -kaviar zu treten oder gar auszurutschen.
Wie jedes Mal empfand Lilian gleichermaßen Ekel wie Faszination.
*
Onno hatte sich gegen den Wühlmaustrick entschieden. Es war besser, das Grundstück zu verlassen. Er sprang an der Mauer hoch. Wider Erwarten fanden seine Finger Halt an der Deckplatte. Er spannte die Muskeln an und kam seinem Ziel ein gutes Stück näher. Doch es gelang ihm nicht, sich mit den Füßen emporzuhebeln, weil die Steinwand kaum Vorsprünge bot. Prompt rutschte er wieder ab und fiel zurück auf den Erdboden.
Hinter ihm raschelte es im Laub. Den Mann mit der Pistole, den Evelyn Velbert Miller genannt hatte, zog es in seine Richtung. Onno zögerte nicht länger, sondern lief geduckt am Steinwall entlang. Er musste eine Stelle finden, an der sich die Mauer leichter überwinden ließ.
Onno bewegte sich im zunehmenden Dunkel der Büsche. Es galt, schnell Distanz aufbauen. Dexel noch to! Wie verdammt groß dieses Anwesen war! Mit jeder Sekunde wuchs sein Bedürfnis, endlich von hier zu verschwinden.
Onno sah zu den Wipfeln der alten Buchen hoch. Da der gemauerte Wall bisher keine Schwachstelle offenbart hatte, brauchte er einen anderen Plan. Und zwar fix!
Er sah sich nach einem Baum um, der einerseits nah an der Umfriedung stand und andererseits zu erklettern war.
Beides fand Onno in einer uralten Eibe. Er bestieg die Konifere und erreichte schnell eine Höhe von sieben, acht Metern. Das war weit genug über dem Erdboden.
Unter sich vernahm er Geräusche. Sein Verfolger verharrte unter der Eibe stehend. Onno wagte nicht zu atmen, presste die Zähne auf die Innenseiten seiner Lippen. Jetzt ruhig Blut, sagte er sich.
Vorsichtig lugte er zu Boden. Von dem Mann war nur wenig zu erkennen. Mit seiner Tarnfleckenuniform verschmolz er mit seiner Umgebung.
*
»Legen Sie gerne ab, Albertus. Mir steht der Sinn nach einem Cognac. Wie sieht’s mit Ihnen aus?«
An der Garderobe entledigte sich der alte Mann seines Mantels und Huts. Dann folgte er der Gastgeberin ins Wohnzimmer.
»Die Einladung nehme ich gerne an, Evelyn.« Beeindruckt blieb Frerichs senior in der Tür stehen, sah sich um. Die Möbel entstammten alle der Bauhaus-Epoche und es waren allesamt erlesene Stücke darunter. Das erkannte er, denn er war selbst einmal Sammler von Antiquitäten gewesen.
Die Möbel wirkten für seinen Geschmack ein wenig verloren in der schieren Größe des Raums, der die Ausmaße einer Turnhalle besaß.
Albertus stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Evelyn Velbert lachte auf.
»Gefällt Ihnen mein Wohnzimmer?«
»Ich hätte nicht vermutet, die Unikate von Walter Gropius in Hamburg zu finden. Eher in Dubai, Monaco oder der Schweiz.«
»Sie kennen sich aus, Albertus.« Sie drehte sich zu ihm um und kam ihm mit zwei Cognac-Schwenkern in Händen entgegen. Nun hatte er einen freien Blick auf die Anrichte, an der sie eben gestanden hatte.
Dunkles Walnussholz, zu den Ecken hin runde Türen. Ein wuchtiges und schweres Möbel, das vermutlich der Epoche um 1930 entstammte.
»Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie visionär die Möbelstücke von Bauhaus waren. Zu jener Zeit, meine ich.«
»Ja, man könnte der Meinung sein, Gropius habe eine Zeitmaschine besessen.« Evelyn überreichte ihm einen Schwenker. Albertus nahm ihr das dargebotene Glas aus der Hand. Dabei sog er ihr Parfüm ein. Im Garten hatte er davon nichts wahrgenommen.
Dieses Odeur war ihm niemals zuvor begegnet. Es würde ihn jedoch nicht überraschen, wenn dieses Parfüm exklusiv für sie komponiert worden wäre.
»Albertus, erzählen Sie mir bitte von meinem Onkel Feliciano. Wie und wo haben Sie sich kennengelernt? Erweisen Sie mir diesen Gefallen?«
Der alte Mann musterte ihr Gesicht. Sie verstand es, ihre Wünsche höflich zu formulieren. Dennoch entging ihm ihr Ton nicht. Es schwang etwas Gefährliches mit, das ihm Gänsehaut bereitete. Sie war es gewöhnt, ihren Willen zu bekommen. Besser er vergaß das in den nächsten Stunden nicht!
»Setzen wir uns doch. Es ist eine wortreiche Geschichte«, schlug ihr Gast mit einem Zwinkern vor.
Evelyn Velbert sah ihn einen Augenblick lang ausdruckslos an. Dann wich ihre Erstarrung und wie eingeschaltet war ihre Freundlichkeit wieder da. Die Hausherrin zeigte auf eine Sitzgruppe aus klassischen Swing-Sesseln. Sie nahmen Platz.
»Danke, Evelyn. Wir brauchen ein wenig Zeit. Vielleicht muss ich auch im Oberstübchen kramen. Es ist schon lange her. Ich lernte Feliciano 1955 in Argentinien kennen. Ich war Gaucho auf einer Ranch. Sie wissen, was ein Gaucho ist?«
»So heißen doch die Cowboys in Südamerika, nicht wahr?«
»So ist es«, antwortete Albertus Frerichs schmunzelnd. »Feliciano gehörte die Ranch. Trotzdem begnügte er sich nicht allein damit, diese zu managen. Er begleitete viele Viehtriebe. Dafür war er sich nicht zu schade. Das hat mir imponiert.
Heute würde man das, was wir taten, als Travel and Work bezeichnen. Damals hieß es schlicht Abenteuer.« Albertus lachte glucksend und nahm einen Schluck von seinem Weinbrand.
»Der Tropfen ist wunderbar«, lobte er. Evelyn Velbert schenkte ihm ein herzliches Lächeln und nickte.
»Onkel Feliciano hat diesen Cognac geliebt. Er war weise genug, beizeiten den ganzen Bestand zu kaufen.«
»Er war ein besonnener und kulinarischer Mann. Ich erinnere mich immer gerne an die Asado, die wir auf längeren Viehtrecks bereiteten.« Er sah zu seiner Gastgeberin hinüber. »Hat Feliciano einmal von seinen Asado erzählt? Kennen Sie die Bedeutung des Wortes?«
»Oh, ja, das hat er. Ein Asado bezeichnet in Südamerika eine Fleischmahlzeit, bei der verschiedene Fleischsorten über viele Stunden gegrillt werden.« Einen Moment lang war ihr Blick nach innen gekehrt. An welches Ereignis aus der Vergangenheit sie jetzt wohl dachte? Albertus betrachtete sie aufmerksam. Ihre Züge nahmen einen verträumten Ausdruck an. Das war ein Wesenszug, den Albertus noch nicht an ihr wahrgenommen hatte. Diese Frau besaß viele Facetten.
»Ich stelle mir das Leben eines Gauchos einsam vor. Wie haben Sie das ausgehalten, Albertus?«, fragte sie unvermittelt.
Er schürzte die Lippen, überlegte. »Das war damals eine andere Zeit. Es gab nicht viel Ablenkung. Es war ein einfaches Leben. Aber es hat uns an nichts gefehlt. Wir waren zu fünf, sechs Mann unterwegs. Abends saßen wir am Lagerfeuer. Manchmal starrten wir nur in die Flammen, wie es die Leute heute vor ihren Fernsehern tun. An anderen Abenden zupfte einer der Männer auf seiner Gitarre alte spanische Lieder.
Sonntags oder wenn wir glaubten, dass der Ruhetag sei, schlachteten wir ein Rind und bereiteten ein Asado. Das war stets etwas Besonderes. Es war immer schwer, die Essensdünste auszuhalten. Unsere Versuche missglückten regelmäßig. Es wurde reichlich getrunken und ich verlor ständig beim Schach gegen Feliciano. Derart abgelenkt war ich vom Fleischduft.«
Evelyn schmunzelte. »Die Fähigkeit, ein Asado auszurichten, hat Feliciano an mich weitervererbt. Wenn Sie mal Lust auf ein traditionelles Fleischfest haben, dann rufen Sie mich an. Oder ich lade Sie zu einem Asado ein. Was halten Sie davon?« Ihre Augen blitzten bei diesen Worten.
»Die Einladung nehme ich gerne an, Evelyn. Er fehlt mir, seine Gesellschaft, sein Humor.«
»Es geht mir ähnlich. Ich habe als Kind sehr viel Zeit auf dem Hof meiner Großeltern verbracht. Das prägt.«
»Wuchsen Sie bei Ihren Großeltern auf?«
Seine Gastgeberin schüttelte den Kopf. »Nein, obwohl ich mir nichts Schöneres hätte vorstellen können. Wissen Sie, Albertus, ich war ein kränkelndes Stadtkind. Meine Eltern waren so sehr mit ihren Karrieren beschäftigt, dass sie mich völlig vergaßen. Als mein Onkel davon erfuhr, setzte er durch, dass ich die Wochenenden und die Ferien auf ihrem Hof verbrachte. Mit der Zeit ließen meine Allergien nach und ich wurde wieder gesund.« Evelyn schenkte Frerichs den Rest des Cognacs ein. Sie entschuldigte sich und ging eine neue Flasche holen.
Frerichs senior nutzte die Gelegenheit, sich die Bilder auf einem Bord anzusehen. Feliciano zu erkennen, war nicht schwer. Eine Reihe der anderen Gauchos ebenfalls.
Seine Gastgeberin kehrte ins Zimmer zurück und blieb neben ihm stehen. Sie betrachtete das Foto in seinen Händen.
»Kennen Sie den Mann?«
»Krieger«, antwortete Albertus mit tonloser Stimme. »Wie war doch gleich sein Vorname?«
»Eduard«, ergänzte Evelyn Velbert.
»Richtig! Hat Krieger auf dem Hof von Feliciano gearbeitet?«
»Er hat, soviel ich weiß, Gelegenheitsjobs für ihn erledigt. Ich mochte ihn nicht. Er hat mich immer so seltsam angesehen.«
»Wusste Feliciano von Ihrer Abscheu?«
»Er lachte meckernd, als ich ihm davon erzählte. Feliciano winkte ab und meinte, dass Krieger eine Vorliebe für zartes Fleisch habe. Ich erinnere mich noch, wie mich dieser Gedanke damals erschreckte.«
»Krieger war schon immer ein undurchsichtiger Charakter«, bestätigte Albertus Frerichs. Er sah Evelyn Velbert in die Augen und entschied, noch mehr von der Zeit in Argentinien zu erzählen. »Auf unseren Viehtrecks verschwand Krieger manchmal für ein paar Tage. Feliciano ging dem nie nach. Das verstand ich damals nicht. Er war in solchen Dingen sehr genau. Wenn ein Mann für ihn arbeitete, dann arbeitete dieser für niemand anderen. Ich weiß, dass die beiden Männer eine lange und tiefe Freundschaft verband. Das allein kann jedoch nicht der Grund gewesen sein.« Frerichs ließ den Cognac in seinem Glas kreisen. Er betrachtete die Schlieren, die der Schnaps hinterließ.
»Was glauben Sie, steckte dahinter, Albertus?«
Er tat, als müsse er überlegen. Frerichs senior strich sich über die weißen Haare. Er schürzte die Lippen, ehe er fortfuhr. »Ich vermute, dass sich Krieger auch als Söldner verdingte. Vielleicht wusste Feliciano davon und hieß es insgeheim gut?« Seine feinen Antennen waren auf sein Gegenüber gerichtet. Er war gespannt, wie sie auf seine Worte reagieren würde.
Für seinen Geschmack dachte sie einen Augenblick zu lange nach. Langsam hob sie den Blick. »Krieger ein Söldner?«, echote seine Gastgeberin. »Ich glaube nicht, dass mein Onkel das geduldet hätte.« Täuschte er sich oder wich ihre Selbstsicherheit für einen marginalen Moment? Bevor sich Albertus sicher war, hatte sie ihre Maske wieder zurechtgerückt. Sie stand auf und goss sich ein weiteres Mal nach.
»Vertragen Sie auch noch einen, Albertus?«
»Vielen Dank, ein Schluck wird mich heute Nacht wie einen Stein schlafen lassen.« Nachdem ihre Gläser gefüllt waren, wechselte sie geschickt das Thema.
»Ich erinnere mich, dass Krieger sogar an meinem achtzehnten Geburtstag auf den Hof kam. Er war wieder einmal tagelang unterwegs gewesen und brachte etwas von seiner Reise mit. Feliciano war hocherfreut. Er klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und gab ihm ein paar Geldscheine. Damit zog Krieger dann ab. Ich war heilfroh, dass er verschwand. Am Abend zauberte Onkel Feliciano uns ein köstliches Abendessen. Daran erinnere ich mich sehr gerne«, gestand seine Gastgeberin. Ihre Augen leuchteten begeistert. »Er war ein vorzüglicher Koch. Als Kind verabscheute ich Fleisch. Aber wenn er kochte oder briet, dann schmeckte es sogar mir. Zum Gefallen meiner Eltern aß ich von da an ab und an etwas Fleisch. Doch Feliciano musste es zubereitet haben. Das war die einzige Bedingung. Ich kann nicht sagen, was sein Geheimnis war. Doch wenn er in der Küche stand, dann bereitete er immer etwas Besonderes aus dem Essen. Wenn er Fleisch briet, dann zerging es auf der Zunge. Es war saftiger und zarter.«
»Darf ich mich nach Ihrem Geburtstag erkundigen?«, fragte Albertus.
»Es ist der 18. April«, verriet ihm Evelyn Velbert.
Albertus nickte und dankte ihr. Er erinnerte sich eines Gespräches mit seinem Neffen. Im Oktober waren sich Evelyn Velbert und Onno auf tragische Weise begegnet. Um ein Haar hätte sie seinen Neffen damals überfahren. Sie flüchtete. Onno hatte sie schließlich gestoppt und ihre Papiere kontrolliert. Deshalb kannte Albertus ihr Geburtsjahr.
Albertus rechnete im Kopf nach. Sechs Jahre war Evelyn älter als sein Neffe.
»Lebt der alte Krieger noch?«, fragte Albertus.
»Oh, ja, er lebt in einem Pflegeheim in Liebefeld.«
»Liebefeld? Der Ort existiert doch nicht wirklich, oder?«, versetzte Albertus spöttisch.
»Wenn Sie ihn besuchen möchten, Albertus, dann gebe ich Ihnen gerne seine Adresse.«
Mühsam gelang es ihm, sein Erstaunen zu verbergen. Wieso wusste sie genau über seinen Verbleib Bescheid? Was steckte dahinter?
Albertus schüttelte sich innerlich. Er wollte mit dem alten Teufel überhaupt nichts zu schaffen haben. Doch das behielt er für sich. Stattdessen tat er freudig und dankte Evelyn. Sie nannte ihm die Adresse aus dem Kopf. Das gab Albertus noch mehr zu denken.

Transport

Freitag, 30. Oktober 2015
»Hey, Mac, was ist mit dir?« Lilian zwickte den muskulösen Mann in die haarlose Brust. Dabei fiel ihr Blick auf ein Tattoo. Der Kerl schien ein Australien-Fan zu sein. Er trug Tätowierungen von Kängurus und Koalas. Lilian schüttelte mitleidig den Kopf. Von Romantik hielt sie nichts.
Die Stelle, an der sie ihn gekniffen hatte, blühte rot auf. Doch der Typ gab nicht den kleinsten Mucks von sich. Lilian hob eines seiner Augenlider an. Die Pupille zeigte keine Reaktion, als sie mit ihrer Lampe hineinleuchtete. Der Muskelmann befand sich im Land der Träume.
Zu schade für ihn. Viel hatte er von ihr nicht zu sehen bekommen. Über spärliche Streicheleinheiten im Darkroom waren sie nicht hinausgekommen. Ihr Begleiter hatte den Club verlassen und in einem Hotel weitermachen wollen. Zu seinem großen Vergnügen hatten sie schnell ein Taxi und ein Hotel in der Nähe gefunden. Das Knutschen im Taxi gefiel ihr. Darin war er wirklich gut. Seine Liebkosungen katapultierten sie schnell in die Umlaufbahn.
Während er kurz im Bad verschwand, mischte Lilian K.-o.-Tropfen in seinen Drink. Er trank zwei Schlucke und fiel wie ein gefällter Baum auf das Kingsize-Bett. Schade, dass er jetzt schon hinüber war!
Lilian fuhr ihm zum Abschied einmal mit einem Finger über die Muskelberge und -täler. Traurig betrachtete Lilian ihn einen Augenblick lang.
»Leb wohl«, flüsterte sie. Sie riss sich energisch von seinem Anblick los und wandte sich ab. Aus der Jackentasche fischte sie ihr Mobiltelefon. Die Schlüsselkarte mit der eingravierten Zimmernummer drapierte sie neben seinem Kopf. Dann schoss sie rasch ein Foto von dem Schlafenden. Anschließend tippte sie mit einem ihrer langen Fingernägel eine Nachricht und hängte das Bild an.
Sie streichelte ihm über die glattrasierte Wange und drehte zum Schluss seinen Kopf auf die Seite. Lilian wollte nicht, dass er erstickte, falls er sich erbrach.
Ein letzter Blick durchs Zimmer beruhigte sie. Sie hatte nichts mit hineingenommen. Das tat sie nie. So gab es nichts, das sie zurückließ. Nicht einmal Fingerabdrücke. Ihre Finger steckten in seidenen Handschuhen. Den Nachtportier hatte sie beim Einchecken mit Perücke und Schminke getäuscht. Mit seiner Zeugenaussage ließe sich nur ein süßes Manga-Mädchen finden.
Sie schüttelte ihr Handgelenk. Das Zifferblatt ihrer Swatch zeigte 00:15 Uhr. Zeit zu verschwinden! Lilian lauschte einen Moment den regelmäßigen Atemzügen des Mannes. Dann verließ sie das Zimmer. Rasch lief sie den Weg zum Treppenhaus zurück.
Bevor sie das Hotel verließ, suchte sie noch ein Versteck für die Schlüsselkarte. Doch es fand sich nichts auf Anhieb.
Ihr Blick blieb an einem Detail der geblümten Textiltapete hängen. Sie trat näher heran und betrachtete es. Das könnte funktionieren, überlegte sie schmunzelnd und schob die Schlüsselkarte hinein. Zum Schluss brachte sie einen Fingerzeig an. Durch den Lieferanteneingang verließ Lilian das Hotel und verschwand in der Nacht.

Krankenbesuch

Samstag, 31. Oktober 2015
Ein paar Minuten nach Mitternacht lenkte das Tier den dunkelblauen Kastenwagen auf den verlassenen Parkplatz eines großen Baumarkts. Von diesem zentralen Standort aus waren viele Orte in Hamburg schnell erreichbar.
Bertram stellte den Motor ab. Er tickte beim Abkühlen. Dann sah der Mann zu seinem Mitfahrer hinüber. Die Lider des jugendlich wirkenden Mannes waren geschlossen. In den Ohren steckten seine Ohrhörer. Bevor er sich ächzend aus seinem Sitz quälte, stieß er Jay grob in die Seite. »Ich mache einen kleinen Spaziergang. Willst du mit?«
Jay öffnete schläfrig die Augen. Er spähte durch die schmutzige Windschutzscheibe, hob die mageren Schultern.
»Kann nicht schaden, denke ich.« Jay zögerte. »Ich komme gleich nach.«
Bertram warf ihm einen abschätzigen Blick zu. Dann stieß er ein gehässiges Lachen aus. Gleichgültig zuckte er mit den Achseln. Süffisant grinsend zog er den Zündschlüssel ab und wandte sich desinteressiert ab. »Lass dir nicht zu viel Zeit und mach die Sauerei nachher wieder weg«, spottete der Fette.
Jay zeigte ihm den gestreckten Mittelfinger, griente spöttisch.
»Ich haue schon nicht ohne dich ab, und Bert«, Jay warf dem Dicken einen finsteren Blick zu. »Kauf Papiertaschentücher!« Das Tier kräuselte die Stirn irritiert. Seine Augen verengten sich. »Wieso?«
»Dieses ständige Hochziehen kotzt mich an. Wenn du ohne Taschentücher zurückkommst, steche ich dich ab!«
»Mal sehen«, antwortete Bert. Er sah belustigt aus.
Jay funkelte böse zurück. Der Fettsack warf lachend die Tür ins Schloss und verschwand watschelnd in der Finsternis.
Einen kurzen Moment lang sah Jay dem Tier, wie er den Dicken nannte, nach. Schnell öffnete er ein Seitenfach seines Rucksacks und entnahm ein silbernes Röhrchen.
Er schüttelte es. Ein leises Geräusch drang an sein Ohr. Er drehte den Verschluss auf, warf einen Blick in den schlanken Zylinder.
Bei seinem letzten Bruch in eine Apotheke in Aurich hatte er ein Dutzend Schachteln Codein-Tabletten mitgehen lassen. Dieser Vorrat würde ihn über die Saison retten.
Schmunzelnd dachte er an die Anfangszeit. Noch als Germanistik-Student hatte er in den Semesterferien bei der Firma angeheuert. Wegen der üppigen Verdienstmöglichkeiten brach er sein Studium im zweiten Jahr ab.
Jay ließ drei Pillen in seine Handfläche gleiten und schluckte sie trocken. Einen Moment lang schloss er die Augen und genoss den bitteren Nachgeschmack der Arznei. Nicht so gut wie Smack, aber besser für seine Karriere. Mit diesem chemischen Panzer war er den Anforderungen der Nacht gewachsen.
Er schlüpfte in seine Fleece-Jacke und stieg aus. Fröstelnd schlug er den Kragen hoch. Die Nase hielt er in den Wind. Trotz der Kälte sog Jay die kühle Luft tief in seine Lungen. Die unmittelbare Nähe zum Flughafen war unverkennbar. Das Aroma von verbranntem Kerosin vermischte sich mit dem Gestank von Müll.
Der kurze Fußmarsch weckte seine Lebensgeister. Er schlenderte die Straße hinunter. Jay teilte Berts Meinung. Es war sicherer, den Wagen stehen zu lassen und den Katzensprung zu Fuß zu bewältigen. Besser, man brachte ihre Gesichter nicht miteinander und dem Kastenwagen in Verbindung.
Die Neonreklame eines 24-Stunden-Drugstores leuchtete in der Nacht. Vor dem Kiosk tauchten die Konturen des Tiers auf. Der große Mann stand im Schatten einer Markise und rauchte gierig und hastig eine Zigarette.
Friss die Kippen, dann geht’s schneller!Jay griente gehässig. Er war bis auf zwanzig Meter herangekommen, als Bert die Kippe wegschnippte und in den kleinen Laden watschelte. Diese Vorsichtsmaßnahme entsprach exakt dem Kodex. Jederzeit konnte ein Auftrag schiefgehen! Ihre Chancen standen besser, wenn die Bullen nicht nach zwei Männern und einem dunkelblauen Sprinter suchten.
Jay drückte die Tür zum 24-Stunden-Laden auf und trat ein. Das blendend weiße Neonlicht der Leuchtstoffröhren stach ihm in die Augen. Er zog sich die Baseballkappe tiefer in die Stirn. Es stank nach künstlicher Vanille. Sofort zog sich sein Magen zusammen. Diese Duftbäume fand er zum Kotzen! Da zog er den Mief von draußen vor. Der war wenigstens echt!
Er merkte auf, als er die Klänge eines Liedes erkannte. Aus den Lautsprechern einer billigen Anlage drang Love Me Like You Do von Ellie Goulding. Radio Hamburg jagte auch heute einen Hit nach dem anderen in den Äther.
Jay pfiff die Melodie mit. Desinteressiert schlenderte er an den Regalen mit Frühstücksutensilien vorüber. Ihn zog es zu den gekühlten Getränken im hinteren Bereich des Ladens.
Er packte den Griff der Kühlschranktür. Schmatzend gab die Dichtung nach. Jay griff sich eine Handvoll Getränkedosen. Energie war erlaubt. Im Gegensatz zu Alk. In acht Stunden würde er sich ein paar Drinks genehmigen.
Alk und Drogen waren Gift für diesen Job. Das, was er eben geschluckt hatte, war eine Versicherungspolice für den Fall der Fälle. Er war lange genug im Geschäft und hatte schon zu viel Scheiße erlebt. Bert hielt sich mit kalorienreicher Kost bei Laune. Er hatte mal geprotzt, nicht deshalb so groß zu sein, weil er unter Diabetes oder dem Cushing-Syndrom litt. Es sei seine eigene Entscheidung, seinem Körper die richtige Form zu geben.
In keiner anderen Branche gab es eine solch hohe Fluktuation wie bei ihnen. Viele glaubten nur, ihre Arbeit tun zu können. Allein das schnelle Geld lockte sie! Jedes Jahr fingen neue Anwärter an. Im Schnitt blieb gerade einmal einer von fünfzig. Eine große Anzahl an Helfern hielt nicht mal eine einzige Nacht durch!
Die Einhaltung des Kodex war überlebenswichtig. Deshalb hatten sie nicht auf den dritten Mann ihres Teams gewartet, als der Kerl zur verabredeten Zeit nicht am Treffpunkt erschienen war.
Stattdessen hatten sie den Verbindungsmann Malcolm Miller angerufen und Mike als säumig gemeldet. Das hatte Jay leidgetan, weil er letzte Saison gerne mit Mike gearbeitet hatte. Lieber als mit dem Tier.
Doch im Gegensatz zu Bert war Mike den Anforderungen nicht gewachsen gewesen. Waren ihm Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns gekommen? Wenn ja, war das sein Pech. Aussteigen bedeutete Eliminierung!
Miller hatte sich bestimmt bereits um die Müllbeseitigung gekümmert. Das stellte den einzigen Wermutstropfen dieses Jobs dar. Man verdiente gutes Geld, solange man dabei war! Mikes Leiche würde sicherlich schon bald auf irgendeiner Mülldeponie wieder auftauchen.
Auf dem Weg zur Kasse packte Jay Schokoriegel, Kaugummis und eine Tüte Chips dazu. Mit seiner Beute steuerte er den Kassenbereich an. Er legte seinen Einkauf auf den Tresen. Der Kassierer nannte ihm die horrende Summe von 16 Euro. Jay zuckte mit den Schultern und fischte eine Geldklammer aus seiner Jeans. Aus dem dicken Geldbündel zog er zwei Zehner und reichte sie an den älteren Mann weiter. Statt auf das Wechselgeld zu warten, wünschte er eine gute Nacht.
Jay klaubte seinen Einkauf zusammen und verließ den Laden. Im Hinausgehen blickte er über seine Schulter. Das Tier war auf dem Weg zur Kasse. Er schleppte zwei Einkaufskörbe. Unter Garantie erübrigte sich die Inventur des Artikels: Verdorbene Würstchen in Plastikfolie!
Jay wickelte einen Streifen Kaugummi aus dem Papier und steckte ihn sich in den Mund.
Eine Windböe fegte durch die Häuserschluchten. Jay fror. Er wünschte sich eine warme Kapuze anstatt der Baseballkappe. Nach Feierabend würde er dieses Versäumnis korrigieren und sich einen kuscheligen Kapuzenpullover besorgen. Er joggte zum Kastenwagen zurück.
Am Wagen angekommen, spuckte er den Kaugummi aus und riss die Lasche einer Getränkedose auf. Der penetrante Gestank des Energydrinks betäubte seine Geruchsknospen. Er nahm einen großen Schluck und rülpste.
Bert watschelte ihm entgegen. Er schleppte zwei prall gefüllte Tüten. Offenbar plagte die Qualle schrecklicher Hunger! Atemwölkchen ausstoßend glich er einem Drachen. Schnaufend näherte sich der Wabbelberg dem Wagen.
Jay wünschte sich nichts sehnlicher als das Schichtende herbei. Sollte er Miller begreiflich machen, dass er und das Tier kein perfektes Team darstellten? In Gedanken vervollständigte er seinen Einkaufszettel für morgen um ein Injektionsmesser!
Warten war das Schlimmste. Jay starrte hinaus in die feuchte Finsternis. Er vermied es, regelmäßig mit Bert zu reden. Es war sinnlos. Schon deshalb, weil das Tier sich die ganze Zeit über mit Essen vollstopfte. Für Bert gab es nur wenige Gesprächsthemen, zu denen er etwas beisteuerte: Sexpraktiken, Gewalt und Blut.
Wer sich mit Abschaum wie dem Tier einließ, tat es für eine Menge Scheine. Dass es Ladys gab, die dem Tier zu Diensten waren, weil sie ihn als Menschen schätzten, hielt Jay für schlicht unmöglich. Dass es der Fette schon mit vielen Frauen getrieben hatte, war durchaus glaubhaft. Denn sie verdienten jede Nacht ein ordentliches Sümmchen.
Nach einer Unterhaltung war Jay nicht. Es gab keinen Grund für Konversation. Sogar der Fettklops kapierte, dass Jay nicht reden wollte. Die Ohrhörer in den Ohren ließen keinen Zweifel daran aufkommen. Er lauschte seinem Lieblingstitel: Quitting Smoking Is Much Easier Than Quitting Talking seiner derzeitigen Lieblingsband Ken.
Sein Blick schweifte immer wieder zu dem Mobiltelefon in der Ablagemulde des Armaturenbretts hinüber. Jay konnte es kaum erwarten, dass das Display die erste MMS in dieser Nacht anzeigte. Er hielt das Warten nicht mehr aus. Er wollte endlich loslegen!
Der dunkle Schirm blickte ihm tief in die Seele. Gebannt starrte Jay zurück. Das schwarze Auge hatte etwas Hypnotisches. Es ließ nicht zu, dass Jay den Blick abwandte.
Mit plötzlicher Heftigkeit erkannte er, dass ihm das Auge zublinzelte. Er vergaß für einen Moment zu atmen, weil er meinte, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein.
Doch dann begriff er. Die erste Nachricht war da! Ehe er zu reagieren vermochte, schoss eine Pranke in sein Blickfeld und grabschte nach dem Mobiltelefon. Die Wurstfinger schlossen sich um das kleine Gerät und es verschwand aus seinem Sichtfeld.
Berts Mund bewegte sich. Jay verstand keine Worte. What the fuck! Dann begriff er und zog sich die Ohrstöpsel aus den Ohren.
»Sag’s noch mal«, verlangte Jay.
»Job L. Jungfernstieg. 00:30. R173.«
»Drück auf die Tube«, kommandierte Jay. Adrenalin flutete seine Synapsen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Endlich ging’s los!
*
Sogar hier in den Büschen waren Lampen in den Boden eingelassen. Onno schwitzte und ihm wurde zunehmend unbehaglich zumute, denn es bedurfte nur eines einzigen Blicks nach oben und er war entdeckt!
Er lugte hinunter und machte den Mann aus. Dieser schwenkte seine Waffe von einer Seite zur anderen. Doch er bewegte sich nicht von der Stelle. War Onno ein Fehler unterlaufen?
Er löste seine feuchten Finger vom Stamm, rieb sich die Hand an der Hose trocken. Mit der anderen verfuhr er genauso.
Dabei lösten sich Eibennadeln und segelten hinab. Dexel noch to, fluchte Onno still in sich hinein. Sein Pulsschlag hämmerte schmerzhaft in seinen Schläfen. Doch es gelang ihm nicht, den Blick abzuwenden.
Die grünen Nadeln nahmen direkten Kurs auf den Kopf des Mannes. Bevor sie auf ihn niederregneten, bewegte er sich vom Fleck und verschwand in eine andere Richtung.
Onno seufzte erleichtert auf. Im selben Moment biss er sich entsetzt auf die Lippen.
Diese verdammte Aufregung war er nicht gewöhnt! Er hielt sich an den Zweigen über seinem Kopf fest und balancierte auf dem waagrechten Ast in Richtung Mauer.
Er setzte einen Fuß auf die steinerne Deckplatte. Aus Rücksicht auf seine erst kürzlich verheilte Bauchwunde ließ sich Onno vorsichtig auf der anderen Seite hinab.
Eilig lief er zum parkenden Porsche Panamera zurück. Eric, der Chauffeur, schreckte auf, als er die Tür stürmisch aufriss.
*
Bert ließ den Motor an und lenkte den Sprinter vom Parkplatz herunter. Die miese Stimmung war wie weggewischt. Zwar redete noch immer keiner von beiden, aber jetzt wusste jeder, was zu tun war. Sie bewegten sich in bekannten Fahrwassern.
Die kleine Uhr am Armaturenbrett zeigte zwanzig Minuten nach Mitternacht. Auf der Straße war wenig los, sie kamen gut voran.
Jay griff nach dem Handy im Ablagefach. Er öffnete das MMS-Menü und sah sich den Anhang an. Es war eine Bilddatei. Er tippte die Bestätigung: Team 3. Job L. Rendezvous. Sie nahmen den ersten Auftrag der Nacht an. Das Mobiltelefon piepste. Die Antwort war da. OKAY stand auf dem Display.
Das Tier lenkte den Kastenwagen am Haupteingang des Hotels vorbei, zur Rückseite des Nobelschuppens. Dort gab es einen Zugang für Lieferanten. Der große Mann fuhr den Sprinter langsam zu einer Betonrampe für LKW. Das Licht der Scheinwerfer strich über Müllcontainer und Pressmulden.
Für einen Moment blieben die Männer im Wagen sitzen. Ihre Anwesenheit schien nicht bemerkt worden zu sein, denn niemand kam, um sie fortzujagen. Der Portier schlief im besten Fall.
Jay öffnete die Beifahrertür einen Spaltbreit. Dann schlüpfte er hinaus. Wie ein Schatten huschte er um den Wagen herum. In Windeseile zog er sich auf die Rampe und war in drei langen Schritten an der doppelflügeligen Tür.
Aus der Hüfttasche entnahm er ein Werkzeug. Jay schob den metallenen Fortsatz des elektrischen Dietrichs in die Öffnung des Zylinderschlosses. Er drückte den Abzug. Das Gerät erzeugte eine Reihe klackender Geräusche. Nach Sekunden gab der Riegel nach und die Tür war offen. Jay ließ den Elektropick wieder in seiner Tasche verschwinden. Er huschte in das Gebäude, drückte die Tür zu.
Jay sah sich um. Er stand in einem Flur, von dem drei Gänge in verschiedene Richtungen abzweigten. Ortsunkundigen wiesen Hinweisschilder den Weg. Rechter Hand lagen die Küche, Lebensmittellager und die Kühlräume I bis IV.
Rasch fischte er sein Handy aus der Beintasche seiner Hose. Er schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Statt des grellen Blitzlichts gab das Gerät Schwarzlicht aus. Jay leuchtete damit umher auf der Suche nach Markierungen, die der Scout hinterlassen hatte. Es fanden sich keine. Demnach musste Jay weiter aufwärts. Er wandte sich der linken Seite zu. Denn dort befand sich das Treppenhaus. Er lief zwei Treppen hinauf und stand wenig später vor einer gläsernen Pforte. Sein Dietrich nutzte ihm hier nichts. Um hineinzugelangen, benötigte er eine Magnetkarte. Doch er besaß keine. Er sah sich suchend um.
Wieder schaltete Jay das Schwarzlicht ein. Er richtete den Lichtstrahl auf die Wände. Schmucktapeten waren daran angebracht. Plötzlich glomm ein winziger, heller Punkt auf. Jay hatte das Versteck gefunden! Mit den Fingern befühlte er den Wandbelag. Etwas steckte unter der teuren Textilie.
Mit einem Fingernagel ließ sich die Kante der Tapete leicht anheben. Darunter kam ein Stück Plastik von königsblauer Farbe zum Vorschein. Jay nahm ein kleines Messer zur Hand und schob damit die verborgene Schlüsselkarte heraus.
Mit der Karte öffnete er das Schloss der Glastür. Der Zimmerflur lag verlassen vor ihm. Leise schritt er den Gang entlang. Eine halbe Minute später stand Jay vor einer Zimmertür. Rechts neben der Tür war eine goldene Metallplatte an der Wand angebracht. Eingraviert war die Zimmernummer: 173.
Nachdem er mit der Magnetkarte die Tür geöffnet hatte, trat er ein. Auf dem Bett lag ein Mann. Es handelte sich um den Kerl von dem Bild in der MMS. Wie lange der Kerl noch schlafen würde, wusste Jay nicht. Deshalb agierte er schnell.
Ein Wäschewagen, wie ihn die Reinigungsfrauen benutzten, stand neben dem Bett. Ihr Scout war ein Profi.
»Sehr freundlich, danke«, murmelte er. Jay überprüfte den Puls des Schlafenden. Kräftig und gleichmäßig pochte es unter seinem Finger. Dann packte er den Kerl bei den Schultern und hievte ihn hoch. Kein Fliegengewicht! Jay ächzte.
Er zog den Kerl über die Ladekante des Wägelchens und ließ ihn in die Wäsche plumpsen. Danach riss er das Laken vom Bett und drapierte es locker auf dem Körper des Mannes. Er schob den Wäschewagen zur Tür, schaltete das Licht aus und schloss wieder ab.
Auf dem Flur lugte Jay nach links und rechts. Niemand zu entdecken. Er packte den Griff des Wagens und zog ihn hinaus auf den Gang. Auf dem dicken Teppich mühte er sich, um das Gefährt zu bewegen. Je länger es dauerte, desto nervöser wurde Jay. Der Weg zum Lift erschien ihm endlos. Nach einer Minute erreichte er endlich den Fahrstuhl.
Er betätigte den Rufknopf und wartete. Welch ein sonderbares Bild er wohl abgab? Ein Gast, der einen Wäschewagen zog! Wieder sah er sich verstohlen um. Doch er war allein. Er fragte sich, wie viel Zeit bereits verstrichen war, da er das Hotel betreten hatte. Ein Blick auf seine Armbanduhr beantwortete seine Frage. Sieben Minuten.
Der Fahrstuhl kam. Jay überlegte, was er tun würde, wenn sich ein Gast in der Kabine befände. Er würde improvisieren. Wie immer! Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Mit einem Japsen stieß Jay die angehaltene Luft aus. Gierig sog er seine Lungen voll. Ein herbes Männerparfüm hing in der Kabine. Ansonsten war sie leer.
Er versetzte dem Wäschewagen einen Schubs und machte hastig einen Schritt in den Fahrstuhl. Zusammen passten sie gerade hinein. Jay drückte den Knopf für das Erdgeschoss. Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich die Türen schlossen. Hatte man ihn entdeckt?
Panik griff nach ihm. Endlich gehorchten die polierten Edelstahltüren. Ruckend setzte sich die Kabine in Bewegung und verlangsamte schließlich. Die Türen schoben sich auseinander. Noch zwanzig Meter!Dann war es geschafft!
Jay zog am Griff des Vehikels. Doch es bewegte sich nicht. Seine Hände glitten ab und er verlor das Gleichgewicht. Hart krachte er auf den Boden.
Dank des Codeins, das er eingeworfen hatte, verspürte er keinen Schmerz. Sämtliche Schmerzrezeptoren waren vom Betäubungsmittel geflutet. Jay rappelte sich hoch, packte den Griff des Wäschewagens und zog kräftig. Endlich bewegte sich das Wägelchen wieder.
Jetzt war Eile geboten. Denn das Menschlein regte sich und die K.-o.-Tropfen lagen im Sprinter! Die mitzunehmen, hatte er schlicht vergessen.
Jay nahm Anlauf und lenkte das Gefährt in Richtung Lieferanteneingang. Er stieß den Wagen ins Freie, hechtete zum Kastenwagen und schlug mit der flachen Hand auf die Blechhaut. Das war das Zeichen für das Tier, dass seine Hilfe benötigt wurde.
Die Hecktüren des Sprinters sprangen auf. Bert schwang sich ins Freie. Jay kippte den Wäschewagen um und zerrte den Kerl heraus. Der Hüne packte die Beute unter den Armen und trug ihn zum Kastenwagen.
Jay richtete den Wäschekarren wieder auf und rollte ihn vor die Tür. Damit schuf er eine Barriere, falls sie doch entdeckt würden. Kostbare Sekunden brachte ihnen diese Maßnahme eventuell ein.
Sein Knie gab ein eigenartiges Geräusch von sich, als Jay von der Rampe sprang. Hoffentlich war es morgen nicht dick geschwollen! Aber darüber dachte er jetzt nicht nach. Die Nacht war noch lange nicht vorüber. Er schwang sich auf den Beifahrersitz und schon bretterte der Sprinter los.
*
Onno ließ sich in den Wagen fallen. Eric, der Chauffeur, drehte sich überrascht zu ihm um.
»Fahren Sie bitte los, Eric«, bat er.
»Möchte Ihr Onkel uns nicht begleiten?«
»Nein, er hat sich anders entschieden«, antwortete Onno Frerichs. Sein Onkel hatte sich entschlossen, Gast dieser merkwürdigen Dame namens Evelyn Velbert zu sein. Warum sonst war er auf ihr Grundstück geschlichen und hatte sich ausgeliefert? Noch immer verstand Onno nicht, welchen Plan sein Onkel verfolgte. Denn Albertus hatte ihn nicht ins Vertrauen gezogen. Das schmerzte einerseits und kränkte andererseits.
»Wohin möchten Sie gefahren werden, Herr Frerichs?« Onno überlegte. Aber im Grunde war das unnötig, denn es gab nur einen Menschen, der ihm helfen konnte.
»Bitte fahren Sie mich nach Aurich. Wir müssen zurück zum Internetcafé meines Freundes Amaru.« Onno ließ sich gegen die Sitzlehne sinken und schloss die Augen.
*
Lilian bewegte sich schnell wie ein Leopard. Sie mied das Licht, als befürchte sie, Schaden zu nehmen. Du bist eine Kreatur der Finsternis, sagte sie sich. Der Gedanke hatte nur zum Teil Absurdes, denn die Nacht war ihre bevorzugte Tageszeit. Nie fühlte sie sich lebendiger wie nach Sonnenuntergang.
Sie warf einen Blick auf die Straßenkarte ihres Smartphones. Ein blaues Leuchtfeuer glomm rhythmisch auf. Dorthin zog es sie. Sie musste ihre Kawa holen. Die Maschine hatte sie unweit des Darkrooms abgestellt.
Lilians elektronischer Routenplaner sagte ihre Ankunft in der Helgoländer Allee in 16 Minuten voraus. Damit sie nicht wie eine Touristin wirkte, trug sie ihr Mobiltelefon nicht vor sich her. Sie hatte sich zu diesem Zweck eine Handyhülle mit Schlaufe besorgt und diese war an ihr Handgelenk geschnallt.
*
Lilian fuhr mit ihrem Motorrad auf einen Parkplatz. Sie stellte die Ninja im tiefen Schatten einer Linde ab. Nicht ein einziger Wagen parkte hier. Sie lachte leise. Der Platz war wie für ihr Vorhaben geschaffen. Rasch öffnete sie eine schmale Seitentasche an ihrem Motorrad und zog ein paar Kleidungsstücke heraus. Routiniert entledigte sie sich der schwarzen Stiefel und streifte die Lederhose ab. Sie tauschte ein sexy Outfit gegen ein anderes. Die abgelegten Klamotten verstaute sie wieder in der Motorradtasche.
Es war Zeit für einen zweiten Job. Deshalb schlug sie erneut die Richtung in die City ein. Kühl strich die Luft an ihren Beinen entlang. Die Nylons und der Minirock waren für dieses Wetter zu luftig. Unter der kurzen Lederjacke trug Lilian eine feuerrote Bluse – ein schöner Akzent. Mit ihren Stilettos kam sie weniger schnell voran wie eben mit den Stiefeln.
Doch auf Schnelligkeit kam es Lilian auch nicht an. Die Absätze ihrer Schuhe klackten auf dem Bürgersteig. Die Aufmerksamkeit, die ihr jetzt entgegengebracht wurde, genoss sie. Sie war vorbereitet auf das, was kommen sollte.
Ein dunkler BMW fuhr langsam neben ihr her. Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit, bis er schließlich am Bordstein zum Stehen kam. Die Seitenscheibe sank surrend herab, ein Mann kam in ihr Sichtfeld.
»Hey, Baby, wo willste hin? Möchtest du mitfahren?« Lilian stöckelte aufreizend zu dem geöffneten Autofenster hinüber. Nach Art der Bordsteinschwalben beugte sie sich tief ins Wageninnere. Angst verspürte sie keine. Ein aufgeregtes Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus.
Es war ein junger Mann, der für sie gehalten hatte. Ein muskulöser Kerl. Mhm, ein Bodybuilder! Sein Hemd spannte an Brust und Armen. Sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.
»Hallo, Süßer. Ich habe Zeit. Wollen wir zusammen irgendwo hinfahren?« Lilian zwinkerte ihm zu. Sein Gesicht hellte sich auf. Breit grinsend nickte er.
»Perfekt. Steig ein!«
»Ja, gut.« Sie sprach mit hoher piepsiger Stimme, weil sie wusste, dass manche Männer auf diesen Typ Frau abfuhren. Auch ihrem Fahrer schien diese Tonlage zu gefallen.