Blutmohn - Eliah Korsten - E-Book

Blutmohn E-Book

Eliah Korsten

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Beschreibung

Ein grausames Verbrechen. Eine alte Schuld. Ein Dorf, das sich in Schweigen hüllt. Christian Leverenz, in Ungnade gefallener Kriminalkommissar aus Rostock, bereitet sich darauf vor, auf dem Land zu versauern. Doch kurz nach seiner Ankunft in Rabenhorst wird ein toter Junge in einem Feld gefunden, durchbohrt von einer Sichel. Als einziges Indiz dient eine Mohnblüte auf der Brust des Kindes. Ist es Zufall oder eine Nachricht des Mörders? Während die Dorfgemeinschaft schweigt, erkennt Leverenz bald die Abgründe hinter den beschaulichen Mauern. Eine alte Schuld soll beglichen werden. Gemeinsam mit dem Arzt Halversum macht sich Leverenz auf die Suche nach dem Mörder und stößt dabei auf das tödlichste Geheimnis des Dorfes. Doch ihnen läuft die Zeit davon. Werden sie einen weiteren Mord verhindern können?

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Seitenzahl: 546

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Eliah Korsten

BLUTMOHN

Impressum

Originalausgabe 2018

© 2018 Eliah Korsten

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben und verbreitet werden.

Covergestaltung: Corina Bomann unter Verwendung einer Abbildung von Nella (www.shutterstock.com)

ISBN: 978-3-96353-003-6

Über das Buch

Kurz nach seiner Ankunft in seiner neuen Wirkungsstätte wird der in Ungnade gefallene Kriminalkommissar Christian Leverenz mit einem grausigen Mordfall konfrontiert. Ein Junge wird in einem Kornfeld gefunden – durchbohrt von einer Sichel. Auf seiner Brust liegt eine Mohnblüte. Zufall? Das Dorf hüllt sich in Schweigen. Leverenz erkennt bald die Abgründe hinter den beschaulichen Mauern. Ein altes Verbrechen soll endlich gesühnt werden – und der Rächer scheint nicht zu stoppen … Zusammen mit dem Arzt Halversum macht sich Leverenz auf die Suche nach dem Mörder und stößt auf ein Netz aus Lügen, Verderbnis und tödlichen Geheimnissen.

Der Autor

Prolog

Der Roggen wogte im Morgenlicht wie ein gelber Ozean. Fasziniert beobachtete Philipp, wie der Wind über die noch grünen Ähren strich. Dann schweifte sein Blick zu dem dichten Gestrüpp aus Disteln, Kletten und Kornblumen am Wegrand. Was er wirklich suchte, war jedoch tiefer im Feld verborgen.

Mit einem beherzten Satz übersprang der Junge den schmalen Graben und trat zwischen die raschelnden Halme. Ähren streiften seine Wangen, als wollten sie ihn willkommen heißen. Einige waren vom Tau noch etwas feucht.

Da ihm das Korn bis zu den Schultern reichte, verlor er schon bald den Überblick. Doch er wusste, welche Richtung er einschlagen musste, um die Mohnblüten zu erreichen, die wie Blutflecke im satten Gelb leuchteten: Einfach auf die Weiden zu, deren hohle, verkrüppelte Stämme das Feld auf der anderen Seite säumten.

Vorsichtig strich er die Ähren beiseite. Die Bauern sollten nicht sehen, dass er hier entlanggegangen war. »Geh nicht allein ins Feld!«, hatte einer von ihnen gerufen, als er dem Acker zu nahe gekommen war. »Der Roggenwolf haust dort. Wenn er dich sieht, wird er dich verschlingen!«

Tagelang hatte sich Philipp vor dem Ungeheuer gefürchtet. Doch gestern Abend hatte Mattes, einer der Knechte seines Vaters, zu ihm gesagt, dass es den Roggenwolf nicht gäbe. Die Alten würden so etwas nur erzählen, um Kinder davon abzuhalten, das Korn vor der Ernte niederzutreten.

Daraufhin beschloss der Junge, am nächsten Morgen ins Feld zu gehen und Mohnblumen für seine Mutter zu pflücken. Noch lag sie im Bett. Nach dem großen Streit zwischen ihr und seinem Vater würde sie sich bestimmt freuen, wenn ein Strauß beim Frühstück auf dem Tisch stand.

Ein Rascheln ließ ihn innehalten.

War es ein Wildschwein? Oder vielleicht ein Fuchs?

Sein Herz pochte heftiger.

Füchse hatten Tollwut, das sagte sogar Mattes. Im vergangenen Jahr hatten die Männer des Dorfes Jagd auf sie gemacht und viele erschossen. Doch einige waren in die Tiefen des Waldes geflohen.

Der Junge beschleunigte seine Schritte. Er wollte sich auf keinen Fall beißen lassen! An Tollwut starb man qualvoll: Man wurde zu einem reißenden Ungeheuer mit Schaum vor dem Mund und erstickte schließlich.

Nach einer Weile hörte das Rascheln auf. Der Junge verlangsamte seinen Schritt und blickte sich um. Da sah er etwas Rotes durch die Halme blitzen. Endlich! Mohnblumen! Die ersten waren noch klein, aber die Blüten wurden größer. Schon bald stand er in einem Meer aus Rot.

Er streckte die Hand aus und berührte die Blüten. Er fühlte zunächst nichts und dann – eine unglaubliche Zartheit.

Der Junge pflückte eine Blüte, roch an ihr, stockte. Er spürte etwas, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Das Gefühl eines warmen Körpers? Ein seltsamer Geruch? Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Seine Schultern kribbelten und dann ...

Lauf!, rief ihm eine innere Stimme zu. Lauf und bring dich in Sicherheit!

Doch seine Beine gehorchten nicht. Viel zu langsam drehte er sich um, sah den Mantel und den Riesen darin, ein Mischwesen aus Haaren und Fleisch.

Der Roggenwolf, schoss es ihm durch den Sinn.

Der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Dann rannte er los. Nur knapp entging er damit der Kralle des Ungeheuers.

Der Junge spürte den Luftzug und wimmerte auf. Doch er rannte weiter.

Schwere Schritte polterten hinter ihm her. Rannte der Wolf auf zwei oder vier Beinen?

Der Junge wagte nicht, sich umzusehen. Würde ihm der Wolf ins Dorf folgen? Er wünschte sich, seine Großmutter fragen zu können. Doch sie war nicht hier. Niemand war hier.

Plötzlich stieß sein Fuß gegen etwas Hartes. Er stolperte und stürzte der Länge nach ins Feld. Die Halme umfingen ihn nun wie ein Gefängnis. Rasch rappelte er sich auf und wollte weiterlaufen, doch da sah er den Wolf vor sich. Dessen Kralle schlug in seine Brust ein.

Der Junge schnappte nach Luft. Seine Augen weiteten sich überrascht, doch rasch wich das Leben aus ihnen. Ein dünner Blutfaden rann über seine rosigen Lippen und das kleine Kinn auf sein Hemd, wo rings um den Einstich eine rote Blüte erschien.

*

Der Mann verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, während er den Jungen an der Sichel hochhob. Wie leicht sie doch in diesem Alter waren!

Während er das Blut witterte, fiel ihm wieder die Geschichte ein, die ihm die Muhme einst erzählt hatte. Doch er ließ nicht zu, dass sie ihn übermannte.

Schmatzend löste sich die Sichel aus der Brust des Kindes. Ein Blutschwall spritzte aus der Wunde, dunkle Tropfen rieselten aufs Korn. Der leblose Körper fiel dumpf zu Boden.

Doch er war mit ihm noch nicht fertig.

Blut sickerte in die Spitzen seiner Handschuhe, als er das Hemd des Kindes aufknöpfte. Das Zeichen musste deutlich sein. Alle, die Schuld an dem Unheil trugen, sollten erkennen, dass nichts je vergessen war.

Schließlich knöpfte er das Hemd des Jungen wieder zu. Dessen Gesicht war mittlerweile weiß wie Schnee. Daran änderte auch der Schein der Morgensonne nichts. Er legte ihm eine Mohnblüte auf die Brust, schwarz und rot, als letzten Gruß für die Reise ins Jenseits. Dann erhob er sich, verbarg seine Kralle unter dem Mantel und verschwand im Korn.

 

Kapitel 1

 

Juli 1909

 

Noch nie hatte Christian Leverenz einen so heißen Sommer erlebt. Die Mittagshitze flirrte über der staubigen Straße und die Sonne knallte ihm unbarmherzig auf den Schädel. Der Pferdewagen, der ihn am Demminer Bahnhof abgeholt hatte, bot keinerlei Schutz vor den Elementen.

Stöhnend lockerte er die Krawatte. Schweiß floss aus seinem brünetten Haarschopf in den Hemdkragen.

Der Kutscher, ein schweigsamer Mann mit grauem Haarkranz, kaute unablässig auf einem Priem herum. Hin und wieder spuckte er zur Seite aus. Es schien ihn nicht zu stören, dass er unter den Armen Schweißflecke hatte.

Die richtige Begleitung für mich, dachte Christian und sah sich zu seiner Habe um, die hinter ihm auf der Ladefläche schaukelte. Neben dem Schrankkoffer seines Großvaters stand ein Seesack, den ihm ein Kapitän aus Rostock überlassen hatte. Die Teppichstofftasche hatte seiner Schwester gehört. Sie hatte von einer Reise über den Ozean geträumt, doch weit gekommen war sie nicht …

Leverenz schob den Gedanken beiseite und blickte auf die Felder, die die Hügel wie goldene Teppiche bedeckten.

Der Name Rabenhorst klang nach schwarzen Federn, Friedhof und Langeweile. Christian wusste über den Ort lediglich, dass es hier ein Gut gab, das einer Adelsfamilie gehörte, und dass der Bürgermeister Arno Breitenfeld hieß. Der hatte ein Gesuch an den Polizeipräsidenten geschickt, dass sie einen Polizisten bräuchten. Da er bei seinen Vorgesetzten in Ungnade gefallen war, übertrug man ihm diese Aufgabe.

Christian war sich darüber im Klaren, dass er erledigt war. Er würde in diesem Nest versauern.

Der Pferdewagen fuhr über sandige Wege und bog auf eine Pflasterstraße ein. Das Rumpeln der Räder verscheuchte zwei Katzen, die in der Sonne dösten, und brachten einen Hund dazu, sich wütend gegen den Zaun eines Gehöfts zu werfen.

Rabenhorst war auf den ersten Blick nichts Besonderes. Einfach nur ein kleines mecklenburgisches Dorf. Der Turm einer gotischen Kirche überragte rote Ziegeldächer, Linden und Eichen säumten die Wege. Die Vorgärten der Häuser standen in voller Blüte. Ringelblumen, Gladiolen und Rosen wetteiferten um die Aufmerksamkeit der Bienen. Eine Idylle, wie sie der Hofmaler des Herzogs nicht besser inszenieren konnte.

Christians neuer Wohnsitz lag in der Kastanienallee. Bei dem Namen dachte er an ein Spalier dieser Bäume, doch wie er feststellen musste, waren nur drei versprengte Riesen geblieben, die ihre Kronen ausladend über die Straße spannten.

»Ho!«, brummte der Wagenlenker und brachte die Fuhre zum Stehen. »Da sind wir!«

Das Haus des Dorfpolizisten wirkte mitgenommen. Dem Dach fehlten Schindeln, Farbe blätterte von der Wand. Unter einem der Fenster zog sich ein langer Riss durch das Mauerwerk. Auch die Fensterrahmen hatten den Zahn der Zeit zu spüren bekommen. Ein Wunder, dass die Scheiben noch nicht zerschlagen waren.

»Danke«, sagte er und zog seine Brieftasche hervor. Der Fahrer gab sich mit den fünf Mark, die er ihm anbot, zufrieden, und half ihm, die Gepäckstücke abzuladen. Anschließend kehrte er auf den Kutschbock zurück und trieb die Pferde mit einem Zungenschnalzen an.

Während er davonrollte, blickte Christian zum Hausgiebel. Die Jahreszahl 1805 war mit gelben Ziegeln in das Mauerwerk eingelassen. Rings um zwei Fenster waren die Steine geschwärzt. Wahrscheinlich hatte es hier vor einiger Zeit einen Brand gegeben. Neben dem Haus wucherten üppige Fliederbüsche. Die Blütenpracht war bereits vergangen, aber er konnte sich vorstellen, wie es hier im Mai aussah, wenn das Leben neu begann.

Er zog die Schlüssel aus seiner Hosentasche, ging zur Tür und schloss auf. Muffige Luft strömte ihm entgegen, als er die Tür aufzog. Wie lange stand es schon leer? Ein Jahr? Zwei? Offenbar war es nicht dringend gewesen, die Stelle des Dorfpolizisten zu besetzen. Außer ein paar Streitigkeiten zwischen den Bauern und Diebstähle von Landstreichern passierte hier sicher kaum etwas. Die Versetzung hierher war eine Schmach für einen Kriminalkommissar. Genauso, wie die Uniform eines Wachtmeisters, die man ihm für die Arbeit hier mitgegeben hatte.

Christian seufzte schwer, dann trug er die beiden leichteren Gepäckstücke ins Haus. Der Schrankkoffer verlangte ihm einiges ab, doch er schaffte es, ihn in den Flur zu bugsieren. Seinen Inhalt würde er nach und nach auf das Haus verteilen.

Nachdem er sich im Untergeschoss umgesehen hatte, wurde ihm klar, dass das Haus eigentlich viel zu groß für ihn war. Erwartete man, dass er hier auch die Straftäter einschloss? Wohl kaum, denn an keinem der Räume entdeckte er ein Gitter. Gab es eine eigene Arrestzelle im Dorf?

Er erklomm die knarrende Treppe ins Dachgeschoss. Offenbar hatte sein Vorgänger Familie gehabt. Er hatte nicht danach gefragt und wusste nur, dass der frühere Polizist Alois Stockmann geheißen hatte. Warum war er fortgegangen? Hatte man ihn wegbeordert? War er einer Krankheit erlegen?

Ein heftiges Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.

Er ging nach unten, überlegte kurz, ob er seine Jacke holen sollte, doch das Poltern klang so ungeduldig, dass er sich dagegen entschied.

Als er die Tür öffnete, blickte er in das Gesicht eines etwa zwölf Jahre alten Jungen.

Er war trotz der Hitze leichenblass, das verschwitzte Hemd klebte an seinem Leib. Die Hände auf die Knie gestemmt, atmete er so heftig, dass sein Rücken bebte.

»Sind ... sind Sie der neue Polizist?«, keuchte er, als er sich wieder aufrichtete. »Man sagte mir, dass er heute kommen sollte.«

Christian spürte ein unangenehmes Ziehen unter seinem Zwerchfell.

»Der bin ich«, antwortete er. »Kriminalkommissar Leverenz.«

»Kommen Sie schnell... am Feldrand haben sie einen Toten gefunden ...«

Mehr brachte er nicht über die Lippen. Christian starrte ihn überrascht an.

»Einen Toten, sagst du?«

»Ja, Herr Polizist. Kommen Sie, schnell!« Der Junge zerrte an seinem Ärmel.

Christian schaffte es gerade noch, die Tür hinter sich zu schließen.

 

Das Feld lag auf der anderen Seite des Dorfes. Wie ein gelber Ozean erstreckte es sich hinter der ausgefahrenen Straße.

Eine Gruppe Männer stand im Schatten einer vom Blitz gespaltenen Weide. Das braune Bündel, das sie umringten, wirkte auf den ersten Blick wie ein kleiner Kornsack. Was sich darunter verbarg, ahnte Christian. Gleichzeitig erschreckte es ihn. War von dem Toten nicht mehr übrig geblieben? Oder war es …

»Der Polizist!«, verkündete sein Begleiter wie ein Herold. Sämtliche Köpfe wandten sich Leverenz zu.

Die Bauern trugen alle Arbeitskleidung – blaue Jacken, grobe Hosen und ausgetretene Schuhe. Ihre Gesichter waren von der Sonne gebräunt und von Sorgen zerfurcht.

»Guten Tag, ich bin Kriminalkommissar Christian Leverenz«, stellte er sich vor. Den Zusatz, dass er soeben aus Rostock eingetroffen war, sparte er sich.

Die Männer murmelten einen Gruß und nickten ihm zu.

»Gut, dass Sie hier sind«, sagte ein hochgewachsener, hagerer Mann. »Wir haben den Jungen vorhin auf unserem Rundgang gefunden.« Er ging in die Hocke und zog das grobe Sackleinen von der Leiche.

Der Anblick traf Christian trotz der Vorwarnung wie ein Fausthieb.

Das Kind war vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Sein Gesicht war von der Wärme aufgequollen, das Adernetz auf seiner Haut durchgeschlagen. Der Schreck stand noch in seinen Augen, die jeglichen Glanz verloren hatten. Blut färbte seine Kleider rostrot. Auf der Brust lag eine verwelkte Mohnblüte. Es sah aus, als hätte ihm der Mörder eine gute letzte Reise wünschen wollen. Christian schloss die Augen. Etwas Bitteres stieg in seine Kehle. Vergeblich versuchte er, den Verwesungsgeruch zu ignorieren. In Sekundenschnelle flutete er seine Nase und seine Lungen.

In Rostock hatte er oft vor Toten gestanden: vor Männern, die an den Falschen geraten waren oder Prostituierten, die jemand abgeschlachtet hatte. Er hatte Elend und Typhus in den Arbeiterbaracken gesehen. Mit einem Kind, das so furchtbar zugerichtet worden war, hatte er es allerdings noch nie zu tun gehabt.

»Wissen Sie, wer der Junge ist?«, fragte er und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was er gelernt hatte. Namen. Spuren. Mögliche Motive. Tatort. All das musste er in Erfahrung bringen. Für persönliche Empfindungen hatte er später Zeit.

»Er gehört zu den Kramers«, antwortete der Lange, der wohl sowas wie der Redner der Gruppe war. »Philipp.«

Er war kein Leichenbeschauer, doch so, wie die Blutflecke aussahen, musste der Mord schon eine Weile zurückliegen. Einen Tag, vielleicht zwei?

»Ach ja, ich bin Paul Hagedorn.« Der Bauer reichte Christian die Hand und deutete nacheinander auf die anderen vier Männer.

»Matthias Sievers, Richard Banzkow, Herrmann Vetter und Johann Brackmann. Wir sind die Bauern mit dem meisten Land hier in Rabenhorst.«

»Freut mich«, sagte Christian, machte eine kurze Gedankenpause und schaute dann wieder zu dem Jungen.

»Wurde er vermisst?«

»Das wissen wir nicht«, gab der Bauer zurück.

Christian zog sein Taschentuch hervor, bückte sich und hob die blutbesudelte Blüte von der Brust des Jungen. Eine Weile betrachtete er sie, dann schlug er sie vorsichtig ein und schob sie in seine Hosentasche. Anschließend öffnete er das Hemd des Kindes. Unter all dem getrockneten Blut sah er ein klaffendes Loch in der Herzgegend. Die Waffe musste im Verhältnis zu dem Kinderkörper riesig gewesen sein.

Christian erhob sich wieder. »Wem gehört das Feld?«

»Das ist meins«, rief einer der Männer und trat vor.

»Richard Banzkow, richtig?«, fragte Christian, worauf der Bauer nickte.

»Hat einer ihrer Leute probehalber Korn geschnitten vor ein paar Tagen? Möglicherweise hat sich das Kind im Feld versteckt, wurde übersehen und verletzt.« Und genauso war es möglich, dass der Schuldige schwieg, weil er Konsequenzen fürchtete.

Die Männer schüttelten jedoch einhellig die Köpfe. »Nein, warum sollten wir das tun? Wir wollten doch heute erst schauen, wie weit es ist.«

Christian nahm die Antwort mit einem Nicken hin. »Gibt es im Dorf einen Arzt?«

»Sicher gibt es den«, sagte jetzt ein anderer Mann. Er trug einen grauen Schnurrbart und wirkte leicht gelblich im Gesicht. »Warum fragen Sie? Der Junge wird doch sicher nicht mehr wieder aufstehen, oder?«

Verhaltenes Lachen ertönte im Hintergrund.

»Das nicht, aber ich möchte, dass er sich die Wunde ansieht. Außerdem muss er den Totenschein ausstellen. So halten Sie es hier doch wohl auch, oder?« Zorn regte sich in Christian. Wie konnte sich der Kerl über den Tod des Jungen lustig machen?

»Natürlich.« Der Schnurrbartträger blickte betreten auf seine Stiefelspitzen. »Unser Doktor heißt Halversum. Michael Halversum.«

»Danke. Können Sie eine Bahre auftreiben? Ich kann es wohl keinem zumuten, den Jungen auf seinen Armen zu tragen, oder?«

Einer der Männer wandte sich an einen jüngeren, der wohl sein Knecht war.

»Hinning, hol was, damit wir den Jungen tragen können.« Der Angesprochene nickte und verschwand.

Christian bückte sich erneut, vertrieb die Fliegen vom Körper des Kindes und deckte den Sack wieder darüber.

»Können Sie mir die Stelle zeigen, an der Sie das Kind gefunden haben?«, wandte er sich an die Männer.

Seine Erfahrung sagte ihm, dass der Junge versucht haben musste, zu fliehen. Der Ausdruck, in dem sein Gesicht erstarrt war, sprach dafür, dass er seinen Mörder gesehen haben musste.

»Dort ist es!«, sagte Hagedorn und deutete dann nach vorn. Christian bemerkte, dass er ein wenig hinter ihm zurückgeblieben war. Den Grund dafür erkannte er nur einen Atemzug später.

Die Roggenähren waren dunkelrot gesprenkelt. Mohnblüten reckten dazwischen ihre Köpfe. Ein paar Halme waren abgeknickt, als hätte sich etwas Großes durch das Feld gewälzt. Darunter entdeckte Christian einen Blutfleck, der in den trockenen Boden eingesickert war.

»Eine ziemliche Sauerei, finden Sie nicht?«, fragte Hagedorn hinter ihm. Seine Stimme klang belegt. »Ich höre die Leute schon reden, dass es der Roggenwolf war.«

»Roggenwolf?« Christian kramte in seiner Erinnerung, doch dieses Wort war ihm bisher nicht untergekommen.

»Sie kommen aus der Stadt, Sie können das nicht wissen.«

»Eigentlich stamme ich aus einem Dorf an der Küste. Aber ich gebe zu, ich habe keine Ahnung, was ein Roggenwolf ist.«

»Ein Ungeheuer«, entgegnete Hagedorn. »Eines, das im Roggenfeld wohnt und Kinder frisst, die sich in die Feldmitte wagen.«

»Aha«, machte Christian. Ähnliche Geschichten erzählte man sich wohl überall, um unbändige Kinder im Zaum zu halten. Aber aus Erfahrung wusste er auch, dass man hinhören sollte, wenn einem Einheimische etwas erzählten. »Wie soll dieser Roggenwolf denn aussehen?«

»Unterschiedlich. Die einen sagen, er hat sechs Beine, die anderen behaupten, er hätte zwei Mäuler.«

»Und scharfe Krallen?«

»Natürlich!« Hagedorn grinste schief. »Aber Krallen waren es wohl nicht, die dem Kleinen den Garaus gemacht haben, wie?«

»Das wird sich herausstellen«, gab Christian zurück. »Aber angesichts der Blutmenge kann man wohl davon ausgehen, dass der Junge mit einer Waffe angegriffen wurde. Einer, die tiefe Wunden reißt wie eine Sense.«

»Na ja, der Roggenwolf ist ja auch nur eine Geschichte. Echte Wölfe sind in der Gegend schon seit über hundert Jahren nicht mehr gesehen worden. Und der hätte den Knaben wohl auch eher zerrissen, nicht wahr?«

Die plötzliche Heiterkeit in Hagedorns Stimme gefiel Christian nicht. Es war zu früh, um Mutmaßungen anzustellen, doch er nahm sich vor, Hagedorn ein wenig näher im Auge zu behalten.

»Sagen Sie, diese Geschichte ... Ist der Roggenwolf hier allgemein bekannt?«

»Sicher. Zumindest bei den Eingesessenen.«

»Gibt es denn hier auch Zugezogene?«

»Nicht wirklich. Unser Gutsherr beschäftigt im Sommer immer ein paar schlesische Schnitter. Und hin und wieder kommt Besuch. Aber außer Ihnen ist schon lange niemand mehr von außerhalb hergezogen.«

Christian machte sich ein paar Notizen im Geiste.

»Wenn Sie mich fragen, sollten Sie sich mal bei den Polacken umschauen. Wenn sich wer an kleinen Kindern vergreift, dann die.«

»Sind die Schnitter denn schon hier?«, fragte Christian und versuchte, das unpassende Schimpfwort zu überhören.

»Ja, sie wohnen in der Schnitterkaserne beim Gutshaus«, erklärte Hagedorn. »Am besten gehen Sie noch heute da hin. Vielleicht kriegen Sie dann das Schwein.«

Christian nickte, doch er war weit davon entfernt, nur die Schnitter zu verdächtigen. Solange er es nicht besser wusste, konnte es jeder sein. Jeder, der vielleicht vorhatte, Philipps Vater zu schaden. Oder sich an ihm zu rächen. Und was hatte es mit der Mohnblüte auf sich? Es konnte Zufall sein, dass sie auf der Brust des Kindes gelegen hatte, aber etwas sagte ihm, dass sie ein Zeichen war. Etwas, mit dem vielleicht nur die Familie des Kindes etwas anfangen konnte ...

Als sie zur Straße zurückkehrten, waren die meisten Männer schon wieder gegangen. Doch das machte nichts, er würde sie in ihren Häusern wiedertreffen.

Wenig später kam Hinning mit der Trage und drei weiteren Männern zu ihnen. Es waren dünne, aber kräftige Burschen, deren Alter er nur schwer einschätzen konnte. Sie verzogen keine Miene, als sie den Jungen auf die Trage hoben. So, als wäre das Auffinden einer Leiche ihr alltägliches Geschäft.

»Wo sollen wir ihn hinbringen?«, fragte einer der Männer, als sie die Trage aufgenommen hatten.

»Zur Praxis von Dr. Halversum«, antwortete Christian und erntete erstaunte Blicke. War es bei ihnen nicht üblich, Tote zum Doktor zu bringen? Er konnte das Kind unmöglich zum Haus seiner Familie bringen, um die Untersuchung dort durchführen zu lassen!

»Ist irgendwas?«, fragte Christian, doch die Männer schüttelten die Köpfe.

»Sie wissen doch, wo die Praxis ist, oder?«, setzte er hinzu.

»Natürlich wissen wir das«, brummte Hinning. Dann gingen die Träger voran.

Kapitel 2

Die beiden Frauen im Wartezimmer rissen erschrocken die Augen auf, als die Männer die Bahre an ihnen vorbei trugen.

Christian grüßte, ging zum Sprechzimmer und klopfte.

Eine Antwort bekam er nicht. Wenig später wurde die Tür aufgerissen.

»Was ist los? Ich bin gerade inmitten ...« Der bärtige Mann mit den leicht abstehenden dunkelblonden Haaren stockte, als er Leverenz erblickte. »Wer sind Sie?« Sein Blick wanderte zu den Trägern. »Was hat das zu bedeuten?«

»Mein Name ist Christian Leverenz, ich bin der neue Polizist. Ein Toter wurde in einem der Felder nahe des Dorfes gefunden. Ich möchte, dass Sie die Leichenschau vornehmen.«

Der Arzt musterte Christian, als hätte er eine Erscheinung.

»Sie sind doch Dr. Halversum, oder?«, fragte Christian.

»Der bin ich. Aber ...« Er blickte sich zu seinem Patienten um. Als die Tür etwas weiter aufschwang, erblickte Christian einen älteren Mann, der mit freiem Oberkörper auf der Untersuchungsliege saß.

»Warum kommen Sie mit dem Toten in meine Praxis? Wer ist er überhaupt?«

»Das erzähle ich Ihnen, wenn Sie mir einen Ort nennen, an den wir ihn bringen können.«

Halversum blickte über seine Schulter. Erkenntnis trat in seinen Blick, als er den kleinen Körper sah.

»Herr Martens, Sie können sich wieder anziehen«, wandte er sich an seinen Patienten.

»War das wirklich schon alles, Doktor?«, fragte der Alte.

»Ja, ich schreibe Ihnen ein Rezept und lasse Ihnen die Medikamente aus der Stadt holen.«

»Brauche ich denn so ein starkes Zeug?«

»Nein, nur das, was Sie immer nehmen. Ich habe es nicht mehr hier.«

Der alte Mann brummte etwas, schlüpfte dann wieder in sein Hemd und zog sich die Hosenträger hoch. Halversum wandte sich Christian zu.

»Bringen Sie den Toten zum Friedhof, zur Leichenhalle. Die Männer wissen, wo sie liegt. Ich hole meine Instrumente und bin gleich bei Ihnen.«

Ohne hin noch eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand der Arzt in seinem Sprechzimmer.

»Sie haben den Herrn Doktor gehört«, wandte sich Christian an die Männer. Diese nickten und trugen die Bahre wieder nach draußen. Die beiden alten Frauen im Wartezimmer starrten Christian an. Dieser nickte ihnen grüßend zu und folgte den Trägern.

Zehn Minuten später erreichten sie die Halle, in der die Verstorbenen bis zu ihrem Begräbnis aufgebahrt wurden. Das kleine Ziegelgebäude gehörte der Kirche und lag am Rand des Friedhofs. Als der Pastor gehört hatte, dass sie einen Toten gefunden hatten, hatte er dem Bauern sogleich die Schlüssel ausgehändigt. Er selbst ließ sich nicht blicken, wofür Christian auch sehr dankbar war. Die Trostworte von Pastoren wirkten angesichts der Schrecken, die Gott zuließ, meist deplatziert.

Er sperrte die Tür auf und hieß seine Begleiter, die Trage in den Raum zu bringen. Das Licht, das durch die Fenster fiel, würde nicht ausreichen und soweit er es erkennen konnte, gab es hier auch keine elektrische Lichtquelle. Dafür standen hohe Kerzenständer mit halb abgebrannten Kerzen bereit. Christian zog ein Streichholzbriefchen aus der Hosentasche und entzündete die Kerzen, die auf metallenen Leuchtern steckten. Der schwache Schein beleuchtete zwei Podeste, die scheinbar zur Ablage der Särge gedacht waren. Offenbar kam es hier öfter vor, dass hier zwei Tote gleichzeitig aufgebahrt werden mussten.

Auf eines dieser Podeste betteten die Männer den Jungen. Dann verließen sie zusammen mit Christian das Gebäude.

»Können wir gehen?«, fragte einer von ihnen. »Oder brauchen Sie uns noch?«

»Danke, gehen Sie ruhig«, beschied Christian, und da Halversum noch nicht da war, setzte er sich auf die niedrige Steinmauer, die den Friedhof umgab. Ein Schauer kroch über seinen Rücken. Dabei übten Friedhöfe eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Diejenigen, die hier ruhten, konnten kein Unheil mehr stiften. Es waren die Lebenden, die einander zu fürchten hatten. Was tot war, blieb tot.

»Ich muss schon sagen, Sie haben Nerven, Herr Dorfpolizist«, tönte die Stimme des Arztes über seinen Kopf hinweg.

Christian wandte sich um.

Halversum hatte seinen Kittel gegen ein braunes Jackett mit Lederflicken an den Ärmeln ausgetauscht. Die goldene Uhrkette an der Weste glitzerte im Sonnenlicht.

»Sie schneien einfach so mit einer Leiche in meine Praxis! Die beiden Damen hätten beinahe einen Herzanfall bekommen! Mal davon abgesehen, dass sie sich jetzt die Mäuler zerreißen werden.«

Christian erhob sich von der Mauer und setzte ein schiefes Lächeln auf.

»Tut mir leid, ich bin neu hier. Ich wusste nicht, dass Sie einen anderen Ort haben, um Tote zu untersuchen. In den Städten gibt es ein Leichenschauhaus. Hier, dachte ich, würde der Arzt die Untersuchung in seiner Praxis vornehmen.«

»Auch hier ist eine Arztpraxis ein Ort des Lebens und nicht des Todes«, entgegnete der Doktor und schälte sich aus seiner Jacke. »Letzterer gehört hierher.«

»Eine Leichenschau auf einem Friedhof«, entgegnete Christian entgeistert. »Die Kollegen in Rostock würden sich bedanken.«

»Kommen Sie von dort?«, fragte Halversum, während sie eintraten.

»Ja, bin vor ein paar Stunden hier angekommen.«

»Warum sind Sie von dort weg? Ich kenne niemanden, der freiwillig eine Großstadt verlassen würde.«

»Nun, es mag vielleicht doch den einen oder anderen geben.«

Halversum beäugte ihn prüfend. »Sie sehen nicht so aus.«

»Mag sein. Aber vielleicht schauen Sie sich besser die Leiche an. Das warme Wetter hat ihr schon zugesetzt.«

Der Arzt starrte ihn einen Moment lang mit mahlenden Kiefern an, dann nickte er. »Sie haben recht. Kümmern wir uns um das Wesentliche.«

Er legte sein Jackett über einen der Stühle an der Seite, dann öffnete er seine Arzttasche.

»Ich bin kein amtlicher Leichenbeschauer und schneide die Toten auch nicht auf. Sie müssen sich mit einer oberflächlichen Beschau zufriedengeben.«

»Gibt es denn sonst keine unnatürlichen Tode hier?«, fragte Christian.

»O ja, die gibt es«, entgegnete der Arzt und zog ein paar Instrumente hervor. Die Klingen blitzten im Kerzenschein auf, als er sich dem Sockel näherte, wo die Leiche des Jungen lag. »Männer betrinken sich und ersticken an ihrem Erbrochenen. Manch einer gerät in eine Dreschmaschine. Oder fällt vom Pferd und bricht sich das Genick. Hin und wieder wird auch einer von einer Kuh getreten und stirbt an den Knochen, die dann durch seinen Körper wandern. Alles Todesfälle, die nichts mit einem natürlichen Ableben zu tun haben.«

»Unfälle also.« Christian steckte das Feuerzeug wieder ein. »Keine Morde?«

»Das zu entscheiden ist nicht meine Aufgabe. Ich liefere nur die Fakten, aus denen sich die Ermittlungsbehörden einen Reim machen müssen.« Halversum schlug das Sackleinen zurück. »Du lieber Gott!«, rief er aus, als er den Jungen sah.

»Was sagen Sie dazu?«, fragte Leverenz. »Wenn es Ihr Metier wäre, würden Sie sagen, dass das da Mord ist?«

Halversum wich ein Stück vom Sockel zurück und wischte sich übers Gesicht. »Welche Bestie tut so etwas? Der Kleine ... «

Ihm versagte die Stimme.

Christian trat neben ihn. Die Wärme hatte dem zerschundenen Körper weiter zugesetzt. Der Anblick ließ seinen Magen zusammenkrampfen, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Er ist regelrecht aufgespießt worden«, beendete er den Satz des Arztes.

Halversum atmete zitternd durch und presste sich die Faust vor den Mund. Offenbar kam er nur schwerlich gegen das Grauen an. »Aber er ist noch ein Kind! Niemand tötet ein Kind! Ich ... ich bin von einem Unfall ausgegangen.«

»Hätte der Junge einen Unfall gehabt, wäre es nicht besser, oder?«

»Nein, aber es wäre nicht so ... abscheulich.«

Halversum brauchte noch einen Moment, bis er sich wieder gefasst hatte. Dann öffnete er vorsichtig das blutverkrustete Hemd. Christian wandte sich ab, als der Arzt ein langes Instrument in das Loch schob. Als er es wieder hervorzog, klebte ein Stück Stoff daran.

»Die Wunde ist ihm mit solch einer Wucht beigebracht worden, dass ein Zipfel des Hemdes drinsteckt«, beschrieb Halversum, was er sah. »Es ist ein Wunder, dass das Kind nicht vollständig durchbohrt wurde.«

»Was meinen Sie, war es?«, fragte Christian, während er den Arzt musterte, auf dessen Stirn dicke Schweißperlen standen.

»Der Stichkanal ist leicht gebogen, soweit ich es mit der Sonde fühlen konnte. Das ist eigentlich untypisch für ein Messer. Möglicherweise war es eine Sichel oder ein krummer Dolch. Für ein Sensenblatt ist die Wunde dann doch zu klein.«

Plötzlich stockte Halversum. Er fuhr mit der Hand über die Haut des Kindes, dann rief er: »Wasser! Ich brauche Wasser!«

»Wofür?«, begann Christian.

»Das erkläre ich Ihnen, wenn ich das Wasser habe.«

Christian nickte. »Bin gleich wieder da.«

Er stürmte aus dem Gebäude und blickte sich suchend um. Von einem Grab lieh er sich kurzerhand ein Glas, dann lief er weiter. Er musste den ganzen Friedhof überqueren, bis er die Pumpe schließlich sah.

Sie befand sich unter einem hölzernen Unterstand, der mit Efeu überrankt war. Der Ort wirkte düster, denn die Baumkronen bildeten ein Dach, das kaum Sonnenlicht durchließ.

Unter der Pumpe stand ein altes Fass, das von Zeit und Wetter geschwärzt worden war. Die Wasserlache darin war zu tief, als dass er sie erreichen konnte, also begann Christian zu pumpen. Ein klagendes Quietschen hallte über den Friedhof. Christian beeilte sich, denn der Ton reizte seine Nerven. Nach und nach füllte sich die Wassertonne, bis Leverenz schließlich sein Gesicht im Wasserspiegel sah. Es wirkte verzerrt und irgendwie auch um Jahre älter, als er es selbst in Erinnerung hatte.

Plötzlich raschelte etwas neben ihm.

Er zuckte zusammen und wirbelte herum.

Eine alte Frau stand hinter ihm, legte den Kopf schräg und betrachtete ihn. Sie trug ein Kopftuch und ein schwarzes Kleid, das ihr viel zu weit war.

Durch das Quietschen der Pumpe hatte er ihr Auftauchen nicht mitbekommen.

»Guten Tag«, grüßte Christian, während ihm das Blut in den Ohren pulsierte. »Entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gehört.«

Die alte Frau sagte nichts darauf, sie betrachtete ihn nur weiterhin. War sie vielleicht taub?

»Ich bin der neue Polizist von Rabenhorst«, stellte er sich vor. »Christian Leverenz.«

Noch immer rührte sich die Frau nicht. Doch ihr Blick schien zu glühen. Missbilligte sie, dass er über den Friedhof gerannt war?

Christian schluckte, dann fiel ihm wieder ein, dass er ein Glas in der Hand hielt. Rasch tauchte er es in das Fass. Das Wasser war trüb, aber bei einem Toten war das sicher nicht von Bedeutung.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte er dann, machte kehrt und lief wieder zurück. Der Blick der Frau stach noch eine ganze Weile zwischen seinen Schulterblättern, selbst als er die Pumpe schon weit hinter sich gelassen hatte.

Zurück in der Leichenhalle reichte er dem Arzt das Glas. »Was Besseres habe ich nicht.«

»Das wird gehen«, sagte Halversum und schüttete das Wasser über die Brust des Jungen. »Sehen Sie?«, fragte er dann und deutete auf die Schnitte.

»Ja, ich sehe«, antwortete Christian erschüttert.

Es war unter all dem Blut kaum sichtbar gewesen, doch nun erkannte er, dass der Mörder sein Opfer gezeichnet hatte. Feine Linien, die nur von einem sehr scharfen Gegenstand stammen konnten, bildeten die Ziffer 5.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein bulliger Mann stürmte herein.

»Wo ist er? Wo ist mein Junge?«, rief er und schaute sich mit irrem Blick um. »Sie haben gesagt, dass sie ihn gefunden haben!«

Christian trat dem Mann entgegen und versuchte, ihn wieder nach draußen zu drängen. »Sind Sie Herr Kramer?«

Der Mann überhörte die Frage. »Wo zum Teufel ist er?«, fauchte er.

»Herr Kramer, ich bin Christian Leverenz, der neue Polizist«, stellte sich Christian vor. »Lassen Sie uns draußen reden.«

»Es ist mir egal, wer Sie sind, ich will meinen Jungen sehen!«, gab der Mann zurück und drängte Leverenz beiseite. Als er den Leichnam sah, erstarrte er.

»Verdammt, was machen Sie da mit ihm?«, heulte er auf.

»Ich untersuche ihn«, entgegnete Halversum, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen.

»Sie weiden ihn aus!« Der Mann griff nach dem Arm des Arztes und zerrte ihn zurück. Halversum richtete sich auf und schaute dem Mann in die Augen. Sein Körper spannte sich.

»Herr Leverenz, wären Sie bitte so freundlich?«, fragte er ruhig.

»Herr Kramer, kommen Sie bitte«, sagte Christian und legte seine Hand auf die Schulter des Mannes. Er hatte keinen Zweifel daran, dass der Arzt sich verteidigen konnte, doch soweit wollte er es nicht kommen lassen.

»Nein, ich will meinen Sohn! Sie haben kein Recht, ihm etwas anzutun!« Leverenz fasste fester zu. Halversum verzog das Gesicht und ein zorniges Funkeln trat in seine Augen.

»Herr Kramer, ich sage es Ihnen nicht noch einmal!«, drohte Christian. »Kommen Sie mit nach draußen, ich erkläre Ihnen, was hier vorgeht! Niemand wird Ihr Kind ausweiden!«

Der Körper des Mannes blieb noch einen Moment lang angespannt, doch dann kam er Christians Anweisung nach. Seine Hand glitt vom Arm des Arztes, dann setzte er sich in Bewegung.

Christian bugsierte Kramer zur Friedhofsmauer. Dort setzte sich der Mann und starrte ins Leere.

»Herr Kramer, es tut mir sehr leid, dass Sie Ihren Sohn verloren haben«, begann Leverenz. Momente wie diese hasste er. Nichts fiel ihm schwerer, als mit einem Menschen zu reden, dessen geliebter Angehöriger Opfer eines sinnlosen Mordes geworden war. Die Emotionen des Leidtragenden schwappten ihm wie eine Welle entgegen und hinterließen ihn oftmals ratlos. Er versuchte dann meist, sich auf rationale Fakten zu konzentrieren. »Ich werde alles daran setzen, dass wir diese Person dingfest machen.«

»Das war keine Person!«, heulte Kramer schmerzerfüllt auf. »Es war ein Ungeheuer! Kein Mensch würde ein Kind töten!«

Da konnte Christian ihm nur widersprechen, doch er tat es nicht, denn das war in diesem Augenblick nicht hilfreich.

»Herr Kramer, ich weiß, wie schwer das für Sie ist ...«

»Ach ja?«, brauste der Mann auf. Eine Ader schwoll auf seiner Stirn an, dick wie ein Wurm. »Wissen Sie das? Wissen Sie, wie es ist, seinen Sohn zu verlieren? Den einzigen, den man hat? Wie viele Kinder haben Sie denn schon verloren?«

»Keine Kinder, doch auch ich habe meine Verluste. Jeder hat sie.« Christian fiel auf, dass er sich fast schon wie der Pastor seiner früheren Kirchgemeinde anhörte. »Aber darum geht es nicht. Und es ist auch in Ordnung, wenn Sie meinen Trost nicht wollen. Doch sagen Sie mir, ist Ihre Familie, sind Sie von irgendwem bedroht worden in der letzten Zeit?«

Kramer starrte ihn eine Weile aus tränennassen Augen an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, natürlich nicht!«

»Sind Sie sicher?«, hakte Christian nach.

Kramer schüttelte den Kopf und starrte dann auf seine Hände. Sie waren schmutzig von der letzten Arbeit und schwielig dazu. Bauernhände, die harte Arbeit gewohnt waren.

»Ist in letzter Zeit sonst irgendwas Seltsames vorgefallen? Vielleicht war jemand in der Nähe Ihres Hofes, den Sie nicht kannten.«

»Nein. Wir gehen hier alle unserem Tagwerk nach, was soll da schon sein? Meine Frau hätte es mir schon gesagt, wenn jemand ums Haus geschlichen wäre.«

Nun, der Täter schien schlau genug zu sein, sich nicht erwischen zu lassen. Oder war das Kind wirklich nur ein willkürliches Opfer?

»Und mit den Nachbarn oder irgendwem im Dorf gestritten haben Sie sich auch nicht?«

»Ich weiß nicht, was die ganzen Fragen bringen sollen.«

»Ich will den Mörder Ihres Sohnes finden, Herr Kramer. Das kann ich nicht, wenn ich von Ihnen keine Informationen erhalte.«

»Aber woher soll ich denn wissen, wer das war?«

»Gab es vielleicht Streit mit den Schnittern?«, fragte Christian weiter.

Kramer schüttelte den Kopf. »Nein. Denen geht jeder aus dem Weg.«

»Und sind sonst irgendwelche Fremden hier aufgetaucht? Landstreicher zum Beispiel. Vielleicht nicht direkt bei Ihrem Haus, aber im Dorf.«

»Davon weiß ich nichts.« Kramer seufzte schwer und faltete die Hände vor sich, als wollte er beten.

Christian sah ein, dass es in diesem Augenblick sinnlos war, weiter nachzubohren.

»In Ordnung, haben Sie vielen Dank, Herr Kramer. Wenn Ihnen irgendwas einfällt oder Sie etwas Seltsames bemerken, geben Sie mir Bescheid. Sie finden mich in meinem Haus in der Kastanienallee.«

»Hm«, machte Kramer dazu nur.

»Gut, ich würde Sie bitten, hier einen Moment zu warten. Sie können Ihren Jungen gleich mitnehmen. Allerdings würde ich empfehlen, ihn nicht Ihrer Frau zu zeigen – jedenfalls solange nicht, bis sich die Totenfrauen um ihn gekümmert haben.«

»Der Doktor wird ihn aufschneiden, nicht wahr?« Kramer sah ihn mit einem irren Funkeln in den Augen an.

Christian schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein. Wie Sie selbst gesehen haben, ist die Wunde ziemlich groß und deutlich. Eine andere Todesursache ist auszuschließen.«

Kramer nickte und senkte den Kopf.

»Es tut mir wirklich sehr leid«, sagte Christian und drückte dem Mann kurz die Schulter, dann kehrte er in die Kapelle zurück.

Der Arzt hatte seine Untersuchung inzwischen beendet, der Junge lag vollständig angekleidet unter dem Sackleinen.

»Es tut mir leid, Herr Doktor, dass er Sie angegangen hat«, sagte Christian, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Das ist unter diesen Umständen verständlich. Machen Sie sich keine Gedanken, Herr Leverenz.« Halversum packte seine Instrumente wieder in die Tasche. »Hat er Ihnen wenigstens etwas erzählt, das von Nutzen ist?«

Christian schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Können Sie sich einen Reim auf die Zahl machen?«

»Nein«, antwortete Halversum.

»Und sonst haben Sie keine Spuren gefunden?«

»Der Mörder hat keine Fingerabdrücke auf dem Opfer gelassen – jedenfalls keine, die sichtbar gewesen wären. Es gibt nur die Wunde und die Zahl.«

»Und das hier.« Christian griff in seine Jackentasche und zog die Mohnblüte hervor. Im Taschentuch war sie weiter zerfallen und beinahe schwarz, aber man erkannte noch, zu welcher Pflanze sie gehörte. »Was ist das?«, fragte der Arzt.

»Diese Blüte habe ich auf der Brust des Jungen gefunden.«

Der Arzt streckte die Hand danach aus, zog sie dann aber wieder zurück.

»Eine Mohnblüte?« Halversum zog die Stirn kraus. »Wer sollte dem Kind eine Blüte auf die Brust legen?«

»Das ist doch Brauch bei Beerdigungen, nicht wahr?«

»Ja, aber ...« Halversum stockte. »Ein letzter Gruß des Mörders, nehme ich an.« Christian schlug die Blüte wieder vorsichtig in sein Tuch ein. »Auf jeden Fall ist es ein Anhaltspunkt.«

»Ein ziemlich schlechter, denn Mohn gibt es im Sommer überall hier.«

»Aber möglicherweise hat jemand eine besondere Obsession mit dieser Pflanze entwickelt. Oder er gibt dem Adressaten einen Hinweis.«

»Adressat?«, fragte der Arzt.

»Die Eltern«, entgegnete Christian. »Möglicherweise will der Mörder ihnen etwas damit sagen.«

»Hm«, machte Halversum nachdenklich, dann schüttelte er leicht den Kopf, als wollte er einen Gedanken vertreiben. »Sie sind der Polizist. Sie werden schon wissen, was Sie tun.«

Christian nickte. »Vielen Dank, Dr. Halversum.«

»Nicht dafür.« Der Arzt reichte ihm die Hand. »Und sollten Sie wieder eine Leiche finden, lassen Sie sie bitte gleich hierher schaffen. Meinen älteren Patientinnen bekommt es nicht gut, derart mit dem Tod konfrontiert zu werden.«

»In Ordnung.«

Die Männer verabschiedeten sich voneinander und Christian folgte Halversum nach draußen. Der Arzt ging zu Kramer, der noch immer zusammengesunken auf der Friedhofsmauer saß. Die beiden redeten kurz miteinander, reichten sich die Hände, dann ging der Mediziner. Kramer erhob sich und trat zu Christian.

»Ich hab ihm gesagt, dass es mir leidtut. Der Doktor ist ein guter Mann, ich … ich war nur außer mir.«

»Das versteht er. Kommen Sie. Sie können Philipp mitnehmen.« Kurz überlegte Christian, ob er den Bauer jetzt schon wegen der Blüte und der Zahl ansprechen sollte, doch er entschied sich dagegen. Die Eltern sollten Zeit haben, zu trauern, ehe er begann, die Wunde, die der Mörder in ihre Herzen geschlagen hatte, weiter aufzureißen. »Ich komme wegen meiner Ermittlungen später auf Sie zurück.«

Wenig später trug Kramer seinen kleinen Sohn aus der Kapelle.

Kurz darauf war Christian schon auf dem Weg nach Demmin. Das Pferd hatte er sich beim Bauern Brackmann ausgeliehen, dessen Gehöft in der Nachbarschaft seines Hauses lag. Der Braune war kein besonders schönes Tier, doch es hatte Kraft und war ausgeruht. Während des Rittes tobten die Gedanken durch seinen Verstand. Wenn man ihm bei seiner Abreise aus Rostock gesagt hätte, dass er in diesem Dorf gleich mit einem Mordfall konfrontiert werden würde, hätte er gelacht. Doch jetzt war es geschehen. Und sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Fall anders sein würde als alles, was ihm bisher untergekommen war. Er konnte nur hoffen, dass die Obrigkeit ihm nicht wie in Rostock Steine in den Weg legte.

Glücklicherweise war das Landgericht nicht allzu weit von Rabenhorst entfernt. Zwei Stunden später überschritt er die Stadtgrenze.

Die einst stolze Handelsstadt war ebenso wie die Dörfer im Umkreis vom Dreißigjährigen Krieg verheert worden und anschließend unter schwedische Herrschaft gefallen. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hatte sie fast schon wieder zu alter Pracht zurückgefunden. Dazu hatte wohl auch der Anschluss an die Bahnlinie Stralsund - Berlin beigetragen. Mehr als den Bahnhof hatte er bei seiner Ankunft hier nicht in Augenschein nehmen können. Doch nach kurzem Herumfragen fand er das Gebäude, das er suchte.

Das Amtsgericht war in einem wuchtigen roten Ziegelbau mit spitzem Ziergiebel untergebracht. Rege Geschäftigkeit herrschte hier. Wachleute diskutierten gerade mit einem aufgebrachten Mann und auf den Wartebänken saßen einige Leute, manche mit einer Handschelle an den Arm eines Polizisten gekettet.

Leverenz fragte beim Pförtner nach dem Staatsanwalt und hatte Glück. Der Pförtner schickte ihn zu einem Mann namens Marius Röder.

Im Büro schien die Hitze trotz oder gerade wegen der offenen Fenster zu stehen. Gesetzesfolianten stapelten sich in den Regalen, auf einem Wagen lagen weitere dicke Papierbündel. Auf dem Schreibtisch türmten sich die Akten.

Der Anblick war Christian vertraut. In den Amtszimmern jedes Anwalts sah es ungefähr so aus. Röder selbst war für ihn allerdings eine Überraschung.

Für so ein verantwortungsvolles Amt war der Staatsanwalt noch ziemlich jung. Er schätzte ihn kaum älter, als er selbst war, also Mitte dreißig. Röders Bart war nach Art von Kaiser Wilhelm geschnitten und zum Hemd mit Vatermörderkragen trug er einen grau gestreiften Anzug. Seine Robe hing an dem Kleiderständer neben der Tür.

»Herr Staatsanwalt.« Christian reichte ihm die Hand. »Ich bin Kriminalkommissar Leverenz aus …« Beinahe hätte er Rostock gesagt, doch glücklicherweise fiel ihm rechtzeitig ein, dass das mittlerweile nicht mehr stimmte. »Rabenhorst«, setzte er also hinzu.

»Rabenhorst? Dieses kleine Dorf kann sich einen Kriminalkommissar leisten?«

Röder sah ihn mit ehrlichem Erstaunen an.

»Ich bin dorthin versetzt worden«, gestand Christian unangenehm berührt. Seine Ohren begannen zu glühen. »Strafversetzt?«, bohrte der Anwalt nach.

»Kann man so sagen, ja.«

»Wo haben Sie vorher gearbeitet?«

»In Rostock.«

Ein wissender Ausdruck huschte über das Gesicht des Staatsanwalts. »Ah, dann sind Sie derjenige, der im Fall Hacker suspendiert wurde, weil er die Zeitung informiert hatte.«

Offenbar war Mecklenburg ein einziges Dorf, so schnell, wie sich Geschichten herumsprachen.

»Ja, der bin ich«, gab Christian zu. »Und ich bereue meine Entscheidung nicht. Sonst wäre er wohl kaum vor Gericht gekommen.«

»Sie haben sich mit dem alten Wartenberg angelegt«, stellte Röder beeindruckt fest. »Das erfordert Mut.«

»Ist Wartenberg ein Freund von Ihnen?«

»Eher nicht«, entgegnete der junge Staatsanwalt. »Und deshalb kann ich Ihnen mitteilen, dass ich stets ein offenes Ohr für Ihre Belange habe. Auch wenn der Täter ein Prominenter ist.«

»Dann teilen Sie meine Meinung, dass Hacker hinter Gittern besser aufgehoben ist?«

Ein Lächeln huschte über Röders Gesicht. »Ich habe zu wenig Sachkenntnis von dem Fall. Aber dass jemand seine Karriere wegen einer Meinungsverschiedenheit mit dem Polizeipräsidenten und dem Staatsanwalt aufs Spiel setzt … Entweder sind Sie der beste Polizist, den ich kenne, oder der dümmste.«

»Viele würden auf Letzteres tippen«, gab Christian zurück. »Aber ich stehe zu meiner Überzeugung. Allerdings bin ich nicht wegen Hacker hier. Heute Vormittag wurde in Rabenhorst ein totes Kind gefunden. Philipp Kramer, der Sohn eines Bauern. Dr. Halversum, der Dorfarzt, hat festgestellt, dass der Junge durch einen sichelförmigen Gegenstand zu Tode gekommen ist.«

»Ein Unfall ist ausgeschlossen? Immerhin ist Erntezeit.«

»Die Bauern leugnen, auf dem Feld gewesen zu sein. Und ich habe mir die Stelle angesehen. Da war kein Korn gemäht worden. Außerdem hat der Mörder etwas hinterlassen. Eine Mohnblüte.«

Der Staatsanwalt lehnte sich zurück und ließ die Information einen Moment lang sacken.

»Eine Mohnblüte?«

»Ja. Und ich bezweifle, dass sie zufällig auf der Einstichstelle gelandet war. Der Mörder hatte sie platziert.«

Röder nickte. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein? Benötigen Sie einen Haftbefehl?«

»Noch nicht, ich stehe am Anfang der Ermittlungen. Ich bitte Sie allerdings um die Erlaubnis, in dem Fall ermitteln zu dürfen.«

»Angesichts dessen, was Sie mir erzählt haben, bleibt mir wohl nicht anderes übrig«, sagte Röder. »Ermitteln Sie, Herr Leverenz! Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Das werde ich. Sicher werde ich schon bald einen Durchsuchungs- oder Haftbefehl benötigen. Außerdem gibt es in unserem Dorf kein Gefängnis.«

»Ja, so sind die Dörfer!«, gab Röder amüsiert zurück. »Wenn Sie den Mörder haben, zögern Sie nicht, mich zu benachrichtigen, egal zu welcher Tageszeit. Ich werde Ihnen einen Gefängniswagen schicken.«

»Vielen Dank.« Christian erhob sich und reichte dem Staatsanwalt die Hand. Möglicherweise würde er besser mit ihm zusammenarbeiten können als mit seinem Rostocker Kollegen.

 

Kapitel 3

 

Nachdem er das geliehene Pferd wieder dem Besitzer übergeben hatte, kehrte Christian zu seinem Haus zurück. Er war vollkommen erledigt.

Mittlerweile sank die Sonne dem staubigen Horizont entgegen und die Bauern kehrten von den Feldern heim. Einigen von ihnen begegnete er auf der Straße. Er grüßte und setzte seinen Weg dann fort. Daran, dem Bürgermeister seine Aufwartung zu machen, dachte er nicht mehr. Und es kümmerte ihn auch nicht, ob ihn die Passanten verwundert anstarrten.

An seinem Haus angekommen öffnete Christian die Gartenpforte.

»Entschuldigen Sie bitte«, rief da jemand neben ihm. Als er aufblickte, sah er eine Frau am Zaun des Nachbarhauses stehen, zwischen dem Fliederbusch, dessen Blüten trocken durch die Blätter ragten, und dem verkrüppelten Apfelbaum. Sie mochte vielleicht Ende zwanzig sein, trug ihr rotblondes Haar hochgesteckt und einen sandfarbenen Rock zur weißen Rüschenbluse. Damit wirkte sie eher wie eine Frau aus der Stadt.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Leverenz und ging auf sie zu. Dabei fiel ihm auf, wie hübsch diese Frau war. Ihr Gesicht war bis auf einige Sommersprossen milchweiß und ihre Augen leuchteten in einem satten Grün. Ihre Hände waren sehr fein – zu fein für die schwere Arbeit auf den Höfen. All das verstärkte den Eindruck, dass sie keine Dorfbewohnerin war.

»Mein Name ist Elena Hardenberg«, stellte sie sich vor. »Ich wohne nebenan und habe gesehen, dass der Wagen Sie samt Gepäck hier abgesetzt hat.«

»Das ist mittlerweile fast sieben Stunden her«, entgegnete Christian und reichte ihr die Hand. »Christian Leverenz, freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Sie sind der neue Polizist?«

»Ja, der bin ich. Und ich hätte mir nicht träumen lassen, solch einen Start zu erwischen.«

Die Frau zog ihre feinen Augenbrauen hoch.

»Ist etwas passiert?«

»Neuigkeiten verbreiten sich hier wohl doch nicht so schnell.«

Elena lächelte. »Gibt es denn welche?«

»Ja, heute wurde der kleine Kramer gefunden«, antwortete er und bemerkte selbst, wie müde seine Stimme klang. »Tot. Er lag im Roggenfeld hinter dem Dorf.«

»O mein Gott!«, rief Elena aus und presste sich die Hand vor den Mund. Sie wurde noch um einen Ton blasser. »Wie konnte das geschehen?«

»Das werde ich erst noch herausfinden müssen«, gab Christian zurück.

»Die armen Kramers, Philipp ist ihr einziges Kind. Wer würde dem Kleinen etwas antun? Er war höchstens vier oder fünf Jahre alt!«

»Möglicherweise hatte jemand mit seinem Vater Streit oder ...«

»Oder?«, fragte sie.

Christian schüttelte den Kopf. »Es ist nicht wichtig. Allerdings würde es mich interessieren, ob Sie irgendwas im Dorf gehört haben. Irgendwelche Geschichten.«

»Was meinen Sie damit?« Elena blickte ihn verwirrt an.

»Geschichten über Ungeheuer, die im Korn lauern«, antwortete Christian.

»Hat man Ihnen die Sage vom Roggenwolf erzählt? Der sechsbeinige Wolf, der Kinder frisst? Ich wünschte, die alten Leute würden diesen Unfug vergessen.«

Als sie die Hand hob, um sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen, bemerkte Christian zwei Eheringe an ihrem rechten Ringfinger. Der untere war ihr ein Stück zu groß. Elena war also Witwe, und das offenbar schon lange genug, um die Witwenkleider abzulegen.

Als sie bemerkte, dass er sie musterte, senkte Elena ihre Hand schnell wieder.

Christian blickte ertappt auf. »Sie ...«

»Ich war mal verheiratet, ja«, erriet sie seine Frage und drehte verlegen die Ringe mit dem Daumen, bevor sie die Hand zur Faust ballte. »Von ihm sind mir nur noch meine Kinder geblieben.« Ein trauriger Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Das Leben ist voller Prüfungen, nicht wahr?«

Christian senkte verlegen den Kopf. »Entschuldigen Sie, ich möchte nicht aufdringlich sein, aber wie ...«

Elena schüttelte den Kopf. »Er ist vom Pferd gefallen und hat sich das Genick gebrochen. Damals war ich mit meinem zweiten Kind schwanger.«

»Das tut mir sehr leid.«

»Es ist mittlerweile drei Jahre her. Die Zeit lindert den Schmerz ein wenig.«

»Das stimmt, aber ich weiß aus Erfahrung, dass die Wunde nie richtig heilt.«

Sie sahen einander einen Moment lang an, dann sagte Elena: »Ich muss wieder ins Haus. Hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Polizist.«

»Geht mir genauso«, entgegnete Christian. Sie reichten sich erneut die Hand. »Geben Sie auf sich Acht und wenn Sie etwas Seltsames bemerken, sagen Sie mir bitte sofort Bescheid.«

»Das werde ich.« Ein kurzes, etwas wehmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Passen Sie ebenfalls auf sich auf, Herr Leverenz. Und wenn Sie etwas brauchen, kommen Sie ruhig zu mir.«

Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging.

Christian schaute ihr nach, dann schüttelte er verwirrt den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was los war, doch die Begegnung mit dieser Frau hatten ihn seine Müdigkeit und seine Frustration für einen Moment vergessen lassen.

 

Der Schrankkoffer und der Seesack standen samt der Teppichstofftasche immer noch in der Diele. Christian schulterte den Seesack, nahm die Teppichstofftasche in die Hand und trug beides nach oben. Das Schlafzimmer erschien ihm immer noch zu groß, aber daran ließ sich nichts ändern. Er legte den Sack neben das Bett, dann öffnete er die Tasche. Ein trauriges Ziehen erwachte in seiner Brust, als er den Inhalt hervorzog: Bücher, Papiere, ein paar Briefe ‒ und das einzige Bild, das er von seiner Schwester besaß. Es war anlässlich ihrer Konfirmation aufgenommen worden. Eine zarte dunkelhaarige junge Frau blickte ihn an. Ihre Gesichtszüge waren sehr ernst, fast so, als wüsste sie um das Böse in der Welt. Dennoch hatte sie sich danach gesehnt, das Dorf zu verlassen.

Christian spürte, wie Tränen in seine Augen stiegen. So lange war sie schon tot, doch sie fehlte ihm immer noch sehr. Der Gedanke, dass sie jetzt bereits selbst Kinder oder vielleicht schon Enkel haben könnte, brachte ihn fast um.

Im nächsten Augenblick hörte er, wie unten das Gartentor ging. Er stellte das Bild beiseite, wischte sich übers Gesicht und trat ans Fenster. Ein Mann im dunklen Anzug kam den Weg hinauf. Halversum. Was hatte er auf dem Herzen?

Als Christian die Treppe hinunterstieg, klopfte es.

Er ging zur Tür und öffnete.

»Guten Abend, Herr Doktor, was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde mich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten, wenn ich nicht ungelegen komme.«

Das Letzte, was Christian im Moment brauchte, war ein Gespräch über den Mordfall. Doch die Beziehung zu dem Arzt war wichtig und Halversum schien ein umgänglicher Mensch zu sein, also antwortete er: »Keine Sorge, ich war gerade dabei, meine Sachen auszupacken.«

Er ließ den Arzt ein. So, wie Halversum sich hier umsah, schien er schon lange nicht mehr in diesem Haus gewesen zu sein.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen nur Wasser anbieten kann«, sagte Christian etwas verlegen.

Halversum grinste hintergründig. »Der alte Stockmann hatte eine Vorliebe für Selbstgebrannten. Würde mich nicht wundern, wenn ein paar von seinen Schätzen hier zurückgeblieben wären.«

»Mein Vorgänger hatte es mit dem Alkohol?«

»Er hat gesoffen wie ein Loch!« Halversum lachte auf. »Ich habe versucht, seine Leber stabil zu halten, hatte aber nicht viel Glück damit.«

»Ist er an einer Leberkrankheit gestorben?«

»Ja, ziemlich qualvoll.«

»Und was wurde aus seiner Frau?«, fragte Christian und versuchte sich vorzustellen, wie das Leben in diesem Haus ausgesehen haben mochte.

»Er hatte keine Frau mehr, als er starb«, antwortete Halversum. »Sie hatte irgendwann genug von ihm und ist mit den Kindern in die Stadt zurückgegangen. Aber wir beide könnten nach dem, was heute passiert ist, ein Schlückchen vertragen, oder?«

Christian bedeutete Halversum, mit in die Küche zu kommen.

Er hatte bei seiner Ankunft nur einen halben Blick hineingeworfen, doch jetzt fiel ihm auf, dass sie ziemlich verwahrlost aussah. Die Staubschicht auf den Schränken war fast daumendick und zahlreiche tote Insekten lagen auf dem Fensterbrett. Spinnweben hingen als graue Fäden von der Decke.

»Bitte entschuldigen Sie die Unordnung«, sagte er. »Ich bin sozusagen eben erst zur Tür herein.«

»Wie ist denn der Herr Staatsanwalt?« Halversum ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken, nachdem er den dortigen Staub mit der Hand fortgewischt hatte.

»Scheint ein vernünftiger Mensch zu sein. Mehr kann ich natürlich erst sagen, wenn ich länger mit ihm zu tun hatte.«

Christian öffnete einen Schrank nach dem anderen. Viel war nicht darin zu finden. Offenbar hatte Stockmann vor seinem Tod kaum noch Vorräte eingeholt.

»Schauen Sie hinter dem Ofen nach«, riet Halversum ihm. »Da hatte er für gewöhnlich sein Versteck.«

Christian zog überrascht die Augenbrauen hoch.

»Sie scheinen ihn gut gekannt zu haben«, sagte er, während er seinem Hinweis nachkam und hinter den Ofen schaute. Zwei Flaschen standen dort, wahrscheinlich mit dem Selbstgebrannten, denn das Etikett war längst abgelöst. Eine der Flaschen war nur noch halb voll und die Flüssigkeit sah trüb aus, doch die andere schien in Ordnung zu sein.

»Ich kannte ihn vermutlich besser als alle anderen. Bei meinen letzten Besuchen hier hatte er mich immer wieder gebeten, ihm die Flasche zu holen. Das habe ich natürlich nicht gemacht – aber vielleicht hätte ich es tun sollen. Einem Sterbenden einen Wunsch abschlagen bringt Unglück.«

»Wer brennt das Zeug hier im Dorf?«, fragte Christian, während er die Flasche aufschraubte. Der beißende Geruch stach ihm direkt ins Hirn und er verzog das Gesicht.

»Der alte Kühler. Er hat ein paar Bienenstöcke und brennt so dieses und jenes. Macht sich ein wenig Geld damit, denn allein vom Honigmachen kann er sicher nicht leben. Die Leute mögen das Zeug hier.«

»Was ist mit Ihnen?«, fragte Christian und sah sich suchend um. Ob es hier sowas wie Tassen oder Gläser gab? Viel Hoffnung hatte er nicht, doch er versuchte es in der Anrichte.

Tatsächlich standen dort zwei angeschlagene Tassen. Er nahm sie hervor, pustete den Staub heraus und füllte dann beide zur Hälfte voll.

Halversum lächelte amüsiert.

»Sie trauen sich aber viel zu. Das Zeug brennt einem die Kopfhaut weg, wenn man nicht aufpasst.«

»Ich bin Kummer gewöhnt«, entgegnete Christian und schob Halversum eine Tasse hin.

Der Arzt musterte ihn einen Moment lang. »Sie sagten, Sie kämen aus Rostock.«

»Korrekt«, antwortete Christian und blickte in die Tasse. Ja, das war das Zeug, das Männer blind machte – oder wahnsinnig genug, ihre eigenen Familien zu töten.

»Oh, dann nehme ich mal an, dass Sie mit modernen Methoden der Forensik vertraut sind.«

»Giftnachweise nach Marsh, Fingerabdrücke nach Herschel … Ja, das ist mir vertraut.« Christian betrachtete den Arzt prüfend. Er hätte nicht erwartet, in einem Kaff wie diesem einem Mann zu begegnen, der das Wort Forensik kannte. Diese Wissenschaft steckte ja noch in den Kinderschuhen. »Haben Sie Conan Doyle gelesen?«

»Sherlock Holmes? Natürlich!«, gab Halversum zurück.

»Wussten Sie, dass Dr. Joseph Bell sein Freund war?«, fragte Christian.

»Das wusste ich. Er stand Pate für die Figur des Sherlock Holmes. Und ganz nebenbei gesagt suchte die Polizei Rat bei ihm, als Jack the Ripper sein Unwesen in London trieb.«

Christian war fasziniert. Ein Landarzt, der belesener zu sein schien als manche seiner Kollegen in der Stadt. Wie hatte es gerade ihn hierher verschlagen? Oder verleitete die ländliche Langeweile dazu, sich solcher Themen anzunehmen?

»Bell ist ein wirklich großer Mann«, sagte Halversum. »Ich wünschte, ich würde ihn kennenlernen. Mich interessieren alle Neuerungen im medizinischen Bereich. Jene, die die Lebenden betreffen, aber auch Erkenntnisse über den Tod. Ich sage Ihnen, Bell wäre fasziniert von dem Fall, mit dem wir es hier zu tun haben.«

»Nur dass er sich nicht den weiten Weg ins Herzogtum Mecklenburg-Strelitz machen würde.«

Halversum zuckte mit den Schultern. »Wer weiß … Aber ich glaube, es ist nicht nötig, ihn zu bemühen. Wir beide werden dem Mörder auf die Spur kommen.« In Halversums Augen blitzte es unternehmungslustig, dann hob er seine Tasse.

»Trinken wir auf die Wissenschaft, den leuchtenden Stern, der uns leiten wird.«

»Auf die Wissenschaft!«

Die beiden stießen an und nahmen einen Schluck. Wie glühende Lava floss der Selbstgebrannte durch Christians Kehle. Wenig später explodierte der Hustenreiz.

Halversum lachte auf. »Ja, am Anfang erwischt es jeden! Auch mir wären beim ersten Mal beinahe die Augen aus dem Schädel gefallen, aber man gewöhnt sich daran.«

»Was ist das für ein Zeug?«, fragte Christian, nachdem er seine Stimme wiederhatte. Der Schnaps brannte in seinem Magen.

»Kornbrand. Von der reinsten Sorte.«

»Es ist ein Wunder, dass ich noch sehen kann!«

»Die Blindheit stellt sich erst ein paar Tage später ein«, gab Halversum amüsiert zurück.

»Sie haben das Zeug auch getrunken, also kann es nicht so schlimm sein.«

»Stimmt. Nun ja, ich habe auch noch meine Hände.« Halversum nahm einen weiteren Schluck und runzelte dann die Stirn. »Aber ich glaube, wir werden davonkommen. Blind wird man erst, wenn der Alkohol gepanscht wurde. Manche versetzen das Zeug mit Methylalkohol. Das versengt einem natürlich den Sehnerv. Das hier ist der beste Alkohol, den man in einem Dorf finden kann. Bei zu hohem Konsum verbrennt er einem die Leber, aber in Maßen genossen wirkt er sehr belebend.«

Christian verzog das Gesicht. »Ich ziehe es vor, das Zeug wieder zurückzustellen. Vielleicht brauche ich es noch als Fensterputzmittel.«

»Als Desinfektionsmittel macht es sich auch sehr gut. Ich empfehle der Hebamme hier ständig, dass sie sich die Hände damit abreiben soll, bevor sie sich um die Wöchnerinnen kümmert.«

»Ich nehme an, sie trinkt es lieber.«

»Sie sagen es.«

Halversum machte eine Pause und starrte seinerseits eine Weile in die Tasse. Er schien zu überlegen, ob er um einen weiteren Schluck bitten sollte. Dann stellte er sie wieder auf den Tisch.

»Der Junge … Ich muss gestehen, dass ich etwas Schrecklicheres selten gesehen habe«, sinnierte er, während er mit dem Finger über den Tassenrand fuhr. »Ein Kind, sinnlos ermordet. Ausgeblutet. So etwas hat es hier noch nie gegeben.«

»Das glaube ich gern«, entgegnete Christian. »Und Sie können mir glauben, so etwas habe ich auch in Rostock noch nie gesehen.«

Halversum ließ die Tasse sein, lehnte sich zurück und musterte ihn. »Wie um alles in der Welt hat es Sie hierher verschlagen?«

»Meine Vorgesetzten mochten mich nicht mehr.« Christian verzog das Gesicht.

Der Arzt lachte auf. »Kommt es in der Stadt wirklich drauf an, ob die einen mögen? Ich wohne schon so lange im Dorf, dass ich das gar nicht mehr weiß.«

»In gewissen Kreisen kommt es darauf an«, gab Christian zurück und überlegte kurz, welche Version der Geschichte er dem Arzt erzählen sollte. Dann sagte er: »Der Polizeipräsident glaubte, dass ich mir zu viele Freiheiten herausgenommen hätte. Dass ich mir angemaßt hätte, über seinen Kopf hinweg zu entscheiden. Es ging um einen Mordfall, der Täter war prominent und es wäre allen lieber gewesen, wenn die Sache unter den Teppich gekehrt worden wäre.«

»Aber solch ein Mann sind Sie nicht.«

Christian schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn Sie mich fragen, war es richtig, die Zeitung darüber zu informieren, dass wir den Schuldigen gefunden hatten.«

Halversum schnaufte. »Ich kann mir vorstellen, was für eine Stinkwut Ihr Vorgesetzter hatte.«

»Ja. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie diesen Mann laufen lassen. Doch so konnten sie es nicht mehr, weil die Öffentlichkeit Bescheid wusste. Der Staatsanwalt musste Anklage erheben. Soweit ich weiß, ist der Mörder zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden.«

»Keine Todesstrafe?«

»Nein, soweit reichte sein Einfluss noch. Wenn Sie mich fragen, ist die Haftstrafe zu wenig für ihn. Aber immerhin wird er niemandem mehr etwas antun.«