Blutrot ist das Schweigen - G.D. Abson - E-Book + Hörbuch

Blutrot ist das Schweigen Hörbuch

G.D. Abson

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Beschreibung

Der spannende zweite Band der Sankt-Petersburg-Serie um die Kommissarin Natalja Iwanowa, die sich keinem System beugt, sondern nur ein Ziel verfolgt, koste es, was es wolle: die Wahrheit. In einer eisigen Januarnacht wird Natalja Iwanowa an eine Landstraße nahe St. Petersburg gerufen. Dort liegt die Leiche einer jungen Frau. Was nach einem Erfrierungstod aussieht, stellt sich als Mord heraus. Bevor die Kommissarin mit ihren Ermittlungen beginnen kann, wird ihr der Fall vom russischen Inlandsgeheimdienst entzogen. Denn die Ermordete war Mitglied einer politischen Protestgruppe. Weitere Aktivisten sollen kaltgestellt werden, befürchtet Natalja. Sie muss die Wahrheit herausfinden. Im Namen der Toten und der Gerechtigkeit. Auch wenn sie ihr eigenes Leben und das ihrer Familie aufs Spiel setzt.

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Zeit:10 Std. 57 min

Sprecher:Sabine Swoboda

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G.D. Abson

Blutrot ist das Schweigen

Sankt-Petersburg-Krimi

Kriminalroman

 

 

Aus dem Englischen von Kristof Kurz

 

Über dieses Buch

Sankt Petersburg ist die schönste Stadt Russlands – und die gefährlichste.

In einer eisigen Januarnacht wird Natalja Iwanowa an eine Landstraße nahe Sankt Petersburg gerufen. Dort liegt die Leiche einer jungen Frau. Was nach einem Erfrierungstod aussieht, stellt sich als Mord heraus. Bevor die Kommissarin mit ihren Ermittlungen beginnen kann, wird ihr der Fall vom russischen Inlandsgeheimdienst entzogen. Denn die Ermordete war Mitglied einer politischen Protestgruppe. Weitere Aktivisten sollen kaltgestellt werden, befürchtet Natalja. Sie muss den Täter finden. Im Namen der Toten und der Gerechtigkeit.

Ein neuer Fall für Kommissarin Natalja Iwanowa, die sich keinem System beugt, sondern nur ein Ziel verfolgt: die Wahrheit.

 

«Ein spannendes, knallhartes Krimidebüt.»FAZzu «Tod in Weißen Nächten»

Vita

G.D. Abson wuchs auf Militärbasen in Deutschland und Singapur auf, bevor er nach Großbritannien zurückkehrte und unter anderem Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Russland studierte. Heute lebt und arbeitet er als selbstständiger Business-Analyst im Süden Englands. Nach «Tod in Weißen Nächten» folgt nun der zweite Fall für Kommissarin Natalja Iwanowa.

 

Kristof Kurz lebt und arbeitet als freiberuflicher Übersetzer und Redakteur in München und hat unter anderem Werke von Robert Galbraith, Harry Bingham und Simon Scarrow ins Deutsche übertragen.

Für Alanna, Benjamin und Oona

Prolog

September 2012

Kurz nach sechs hielt der Zug in Wologda. Die Raucher standen auf, und auch Diana Maritschewa machte sich bereit zum Aussteigen. Sie hielt ihren Schulrucksack fest umklammert und zwängte sich an den Schlafnischen vorbei. Die kleinen Tische waren voll mit Teebechern, Bierflaschen und Spielkarten. Auf dem Bahnsteig verkauften fliegende Händler Kräutertee und Instantnudeln. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie an ihnen vorbeiging.

Diana gab dem Mann, der die Toiletten beaufsichtigte, eine Zwanzigrubelmünze. Sie wollte sich frisch machen, ohne neugierige Fragen der anderen Frauen aus ihrem Wagen zu provozieren. In der Toilettenkabine zog sie das T-Shirt aus, wusch sich die Achselhöhlen und ihre Unterwäsche mit der Seife aus dem Spender und stopfte Schuluniform, Handy samt Ladegerät und Zahnpasta in den Rucksack zurück. Dann stellte sie sich auf den Bahnsteig, wartete, bis die Prowodniza – die Schaffnerin, die ungefähr so alt wie ihre Mutter war – ihre Fahrkarte kontrolliert hatte, und stieg wieder in den Zug.

Sie fuhren weiter. Diana starrte aus dem Fenster, vor dem die nicht enden wollenden Lärchenwälder vorbeizogen, bis sie von der Herbstsonne geblendet wurde. Die Kinder, die im Gang Fangen spielten und über die dort deponierten Koffer und Mäntel kletterten, waren halb so alt wie sie. In der nächsten Vierbettnische saßen rotgesichtige Frauen, die sich Luft zufächelten, und apathische Männer mit nacktem Oberkörper, die sich leise unterhielten. Diana legte den Kopf auf ihren Rucksack und schlief ein.

Der Zug verließ Tjumen, und bald roch es im Wagen nach gekochten Eiern, Knoblauch-Kolbasa und geräuchertem Schinken. Die beiden Chinesinnen auf der Pritsche gegenüber öffneten Plastikdosen mit Reis und Fisch. Eine formte die Handfläche zu einer imaginären Schale, aus der sie mit zwei Fingern löffelte, die Essstäbchen darstellen sollten. Diana schüttelte den Kopf, obwohl sie ihre eigene Reiseverpflegung – zwei Piroschki – längst gegessen hatte.

Gestern hatte ihr Magen noch vor Hunger geknurrt, heute verkrampfte er sich bereits. Doch der Schmerz hatte auch etwas Tröstliches: Die Muskeln quetschten den kleinen Shrimp in ihr zusammen wie eine Faust. Genau so hatte es nämlich im Internet ausgesehen: wie ein rosafarbener, gekrümmter Shrimp, nicht wie ein kleines Baby. Es war ganz einfach: Je weniger sie aß, desto kleiner wurde der Shrimp. Und schließlich würde er vor ihr verschwinden, denn sie war ja viel größer als er.

Der Hunger und die Hitze machten sie müde. Sie hatte die dreitägige Reise in einem matten Halbschlaf verbracht. Gähnend rieb sie sich das Gesicht.

Der Zug hielt ruckartig an. Die beiden Chinesinnen saßen mit ihren Koffern zwischen den Knien auf der untersten Pritsche. Eine hatte sie beobachtet und wandte sich nun schnell ab. Die Platzkartny-Fahrgäste stiegen aus. Diana wartete, bis sie aus dem Zug waren, dann schob sie die Arme durch die Träger des Rucksacks. Sie wollte ebenfalls aufstehen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie fiel auf die Liege zurück.

Als der Schwindel nachließ, hatten die beiden Chinesinnen und die meisten anderen Passagiere den Waggon bereits verlassen. Nur zwei dicke Männer in blau-weiß gestreiften Telnjaschkas waren noch übrig. Sie schleiften ihre Koffer über den Boden und stanken nach Wodka und Schweiß, sodass sie angemessen Abstand hielt, als sie ihnen nach draußen folgte.

Bis jetzt hatte sie sich noch keine Gedanken über das Ziel ihrer Reise gemacht. Sankt Petersburg mit seinen Kanälen und Palästen kam ihr eher wie Hollywood oder Hogwarts vor, aber nicht wie eine wirkliche Stadt. Als ihr Vater noch am Leben gewesen war, hatten sie sich immer zusammen Die Abenteuer von Sherlock Holmes und Dr. Watson mit Wassili Liwanow angesehen. Er hatte ihr auch verraten, dass in der Fernsehserie kein englischer Bahnhof, sondern der von Sankt Petersburg zu sehen war. Dieser Bahnhof dagegen sah gar nicht alt aus, und als sie ihn verließ, war der Himmel voller Baukräne und halb fertiger Gebäude – kaum zu glauben, dass es dieselbe Stadt sein sollte.

Trotzdem zwang sie sich zu einem Lächeln. Sie hatte zwölfhundert Rubel in der Tasche, genug für ein, zwei Nächte in einem Hostel. Die Sonne schien, und sie war in der schönsten Stadt der Welt, auch wenn sie ganz anders aussah als erwartet. Sie kniff die Augen zusammen. Die Faust in ihren Eingeweiden drückte noch stärker zu. Hoffentlich zerquetschte sie den Shrimp. Dann verdrehte sie die Augen und wurde ohnmächtig.

 

Sie saß auf dem schmutzigen Gehweg und sah die blaue Uniform der Prowodniza aus ihrem Abteil. Die Frau war über sie gebeugt und hatte eine Hand auf ihre Stirn gelegt.

«Alles in Ordnung?», fragte sie mit sanfter Stimme.

«Mir ist schwindlig geworden.» Diana setzte sich auf und klopfte sich den Staub von der Jeans. «Es geht schon wieder.»

«Warten Sie auf jemanden?»

«Meine Mutter», antwortete sie trocken. Auf die wartete sie schon, seit ihre liebe Mamatschka beschlossen hatte, diesen Perversen zu heiraten.

«Alles bestens, keine Sorge.» Sie scheuchte die Schaffnerin mit einer Handbewegung davon. «Sie wird jeden Augenblick hier sein.»

Sobald die Prowodniza gegangen war, überlegte Diana, ob es nicht doch besser wäre, gelegentlich Hilfe anzunehmen. Die Frau war nett zu ihr gewesen. Womöglich hätte sie ihr eine Bleibe empfehlen können.

Dann stieg ihr der Duft von warmem Gebäck in die Nase, der aus einem Teremok waberte. Sie ging an dem Schnellimbiss vorbei, obwohl sich ihr Magen protestierend verkrampfte, und setzte sich auf einen Grünstreifen am Straßenrand. Es war kalt. Sie hätte sich ja den Pullover aus ihrem Rucksack angezogen, doch auf dessen Vorderseite war das Wappen ihrer Schule eingestickt. Damit hätte sie nur Aufsehen erregt. Da war es besser, zu warten, bis es in ein, zwei Stunden wärmer wurde.

Sie setzte sich auf eine Bank und putzte sich ohne Wasser die Zähne. Durch den Hunger waren ihre Sinne so scharf wie die eines Hundes. Trotz des Pfefferminzgeschmacks im Mund roch sie das Buttergebäck aus dem Teremok. Nein, der Duft kam nicht aus dem Schnellrestaurant: Etwa drei Meter von ihr entfernt stand ein Mann in einem Trainingsanzug. Er hatte eine Papiertüte mit dem Teremok-Logo – einer mit Gabel und Löffel bewehrten Babuschka – in der Hand und starrte konzentriert auf eine Stelle zu seiner Rechten. Sie folgte seinem Blick, konnte dort aber nichts erkennen.

Dann drehte er sich langsam zu ihr um, als würde er sie gerade erst bemerken.

Wollte er seine Quarkklößchen etwa nicht essen? Heftige Krämpfe zerrten an ihren Eingeweiden. Sie schlang die Arme um den Bauch und beugte sich vor.

«Verzeihung, junges Fräulein. Ich habe Sie vorhin vor dem Imbiss gesehen.»

Sie beachtete ihn nicht.

Er sprach weiter. «Der Zug aus Osten kommt immer zu früh für das Frühstück.»

Die Krämpfe ließen nach. Sie setzte sich auf.

«Sie sehen hungrig aus. Ich habe mir Syrniki gekauft, aber die kann ich niemals alle aufessen … Das ist einfach zu viel für mich.»

Er tätschelte seinen flachen Bauch, stellte die Quarkklößchen auf die Bank und machte einen Schritt zurück, als wäre sie ein schreckhaftes Tier, das er nicht verscheuchen wollte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Gutes gerochen zu haben. «Ein Kuss aus Quark und Zucker», wie ihre Großmutter immer gesagt hatte.

«Erdbeermarmelade bekommt man auch dazu», sagte er.

Diana beugte sich vor, als hätte sie wieder Magenkrämpfe. Die Papiertüte stand an einer Ecke offen, sodass sie die goldenen, dicken Klößchen sehen konnte. Sie stellte sich vor, in ein in Marmelade getauchtes Syrnik zu beißen. Ein himmlischer Geschmack.

Sie griff in die Tüte, stopfte sich ein Klößchen in den Mund und schnappte sich sofort das nächste. Dann riss sie den Deckel von dem Schälchen und schüttete sich die Marmelade in den Mund. Sie war zuckersüß – etwas Besseres hatte sie noch nie gegessen. Diana wischte das Schälchen mit den Überresten des angebissenen Klößchens aus.

Der Mann wartete, bis sie fertig war. «Meine Frau macht auch sehr gute Syrniki», sagte er. «Wenn Sie sonst niemanden haben, kann ich Sie zu ihr bringen. Einverstanden?»

Diana Maritschewa nickte hastig.

1

Juli 2017

Seit Elisaweta Kalinina die Bolotnaja-Prozesse im Fernsehen gesehen hatte, wollte sie etwas unternehmen. Umso mehr, als ein langer Sommer bevorstand, den sie mit Artem und ihrer Mutter zu Hause verbringen würde. Auf der in Lettland gehosteten Website der Dezembristen wurde geraten, ein Prepaid-Handy zu kaufen, bevor man Kontakt aufnahm. Sie folgte den Anweisungen, und als sie anrief, wurde sie von einer Ansage dazu aufgefordert, ihre Nummer zu hinterlassen. Fünf Minuten später klingelte das Handy. Die Frau am anderen Ende der Leitung war kurz angebunden, beinahe unhöflich: «Wer sind Sie? Was arbeiten Sie?» und schließlich: «Was wollen Sie für uns tun?».

Fast zwei Wochen nach diesem merkwürdigen Telefonat erhielt sie eine SMS mit der Aufforderung, sich am Samstagmittag im Moskauer Siegespark neben dem Kreuz einzufinden, das man auf den Überresten der alten Ziegelfabrik errichtet hatte. Sie kam sich vor wie in einem Stierlitz-Roman oder einem James-Bond-Film.

Max kam eine halbe Stunde zu spät. Er fuhr mit ihr durch einen Vorort – angeblich, um mit ihr ein Anwesen aus dem 18. Jahrhundert auszuspähen, in dem ein Verwandter des Gouverneurs wohnte. Sie vermutete jedoch, dass er ihr in Wahrheit auf den Zahn fühlen wollte.

Gregor, der Kameramann der Dezembristen, saß auf dem Beifahrersitz. Seine sorgfältig in Styropor verpackte Drohne lag neben ihr auf der Rückbank. Der bärtige, dickbäuchige Gregor wechselte auf der ganzen Fahrt kein einziges Wort mit ihr, sodass sie sich schon fragte, ob er womöglich an Verfolgungswahn litt. Erst später sollte sie herausfinden, wie nützlich so eine gesunde Paranoia sein konnte.

Max hatte einen mit Hunderten von handschriftlich kommentierten Seiten vollgestopften Ordner dabei, der mit einem ebenfalls handgeschriebenen Schild versehen war: «Grundbuch – 2015».

Er bemerkte ihr Interesse. «Ich mache einen Film über die Häuser, die sich Putins Kumpels unter den Nagel gerissen haben.»

«Einen Film?», fragte sie und wagte es nicht, ihm länger in die Augen zu sehen. Sie waren so blau wie sein verwaschenes Hemd.

«Für das Internet.»

«Haben Sie keine aktuelleren Daten?», fragte sie. «2015 ist doch eine Ewigkeit her.»

Er schüttelte den Kopf. «Mehr habe ich nicht. Diese Drecksäcke haben letztes Jahr die offiziellen Grundbücher bereinigt. Inzwischen sind statt der Namen der Eigentümer nur noch Codes zu finden – wenn die Immobilien überhaupt gelistet sind.»

Sie schwieg eine Weile. «Ist das nicht gefährlich?»

«Ein bisschen.» Er grinste. «Nicht gefährlicher als Rauchen.»

 

Die Fahrt war eine Enttäuschung. Alle Eingänge zum Anwesen waren abgeschlossen, und während die Drohne über das Grundstück geschwebt war, hatten Max und Gregor nur schweigend dagestanden. An diesem Abend fand sie durch eine Internetrecherche heraus, dass Gregors voller Name Gregor Nikolajewitsch Borzow lautete. Er wurde polizeilich gesucht, weil er vor der OMON-Zentrale am Gribojedow-Kanal einen Mannschaftswagen in Brand gesetzt hatte. Außerdem war er Mitglied bei Woinagewesen, einem Künstlerkollektiv, das einen fünfundsechzig Meter langen Penis auf die Liteiny-Brücke gemalt hatte. Die Brücke war hochgezogen worden, bevor ihn die Feuerwehr entfernen konnte, sodass direkt vor dem sogenannten Großen Haus – dem Hauptquartier des Inlandsgeheimdienstes FSB – ein riesiger erigierter Chui zu sehen gewesen war. Sie lud sich ein Foto davon herunter und richtete es trotz der Proteste ihrer Mutter als Bildschirmschoner ein.

Um nicht an Gregors Zigarettenqualm zu ersticken, ließ sie das Fenster herunter. Deshalb konnte sie Max kaum verstehen.

«Letztes Jahr haben wir beschlossen, uns als Dezembristen zu bezeichnen», sagte er. «Nach den Soldaten, die Napoleon in den Arsch getreten und zurück nach Frankreich gejagt haben. Und dann haben sie so verrückte französische Ideen wie Gleichheit und Freiheit mit nach Hause gebracht.»

Keine besonders glückliche Wahl, dachte sie. In der Schule hatte sie gelernt, dass die Dezembristen eine Revolution anzetteln wollten, dann aber auf die halb zugefrorene Newa getrieben worden waren, woraufhin die Truppen des Zaren das Eis mit Kanonenkugeln beschossen hatten.

«Sind die nicht alle ertrunken?»

«Nicht alle … die Überlebenden hat man gehängt. Ihr Schicksal erinnert uns daran, stets wachsam zu sein.»

Je länger Max redete, desto mehr rasselte ihre Stimmung in den Keller. «Letzten Monat wurden zwei Aktivisten zu Tode geprügelt. Wir reden uns nicht mit unseren Nachnamen an und tauschen auch keine Telefonnummern aus. Wir treffen uns nicht privat und nehmen niemals Kontakt in den sozialen Medien miteinander auf … Hier geht es um Leben und Tod.»

Wie schade. Max hatte einen sehr positiven ersten Eindruck bei ihr hinterlassen, und sie hatte gehofft, ihn näher kennenlernen zu können.

Er bemerkte ihre Enttäuschung, deutete sie allerdings falsch: «Wenn in den sozialen Netzwerken auch nur einer von uns auffliegt, leitet das FSB unsere Kontaktdaten an die Straßenschläger weiter, die für den Inlandsgeheimdienst die Drecksarbeit machen. Wenn du Kinder hast, greifen sie zu einem anderen schmutzigen Trick – dann rufen sie das Jugendamt an, und plötzlich ist man eine schlechte Mutter und das Sorgerecht los.»

Beim Gedanken daran, Artem zu verlieren, packte sie die nackte Angst – doch andererseits war er der Grund, weshalb sie mit zwei fremden Männern in einem Auto saß: Sie musste dafür sorgen, dass er überhaupt eine Zukunft hatte. Außerdem würde sie lieber mit Artem das Land verlassen, als ihn fortzugeben.

«Bist du immer noch dabei?»

Ihre Antwort stand fest: «Ja.»

Max fuhr sich mit der Hand durch das dunkelblonde Haar. «Dann willkommen bei den Dezembristen, Elisaweta.»

 

Oktober 2017

Mehrere alte Frauen – Kopftücher, Pelzmäntel, Sonnenbrillen – schoben sich an Elisaweta vorbei in das Restaurant zu ihrer Rechten, dessen Einrichtung eine einzige Hommage an Charlie Chaplin darzustellen schien. Sie klemmte die Hände in die Achselhöhlen. Es war zwar nicht besonders kalt, doch da sie schon seit einer Stunde hier herumstand, fror sie trotzdem. Sie sah aufs Handy: 11:48 Uhr.

Von hier aus konnte sie die vier Dezembristen beobachten, die auf dem Gehweg über die Sampsonjewski-Brücke Position bezogen hatten. Der Verkehr rauschte zu ihren Füßen in einen Tunnel, der unter der grauen Newa hindurchführte. Max und eine attraktive Frau mit schwarzem Haar gesellten sich zu den vier anderen. Er trug seine gelbe Puffa-Wendejacke. Einmal, so hatte er stolz berichtet, war es ihm gelungen, einen dummen Polizisten zu täuschen, indem er die Jacke auf die schwarze Seite gedreht hatte. Der Musor, der ihn verfolgte, war direkt an ihm vorbeigerannt.

Max zog sich eine türkise Sturmhaube über den Kopf und klappte die untere Hälfte nach oben, sodass sie wie eine Wollmütze aussah.

Lisa atmete langsam aus.

Dann versuchte sie sich abzulenken, indem sie sich vorstellte, mit Max zu schlafen. Zweifellos wäre er besser als der besoffene Trottel, den sie vor einem halben Jahr mit nach Hause genommen hatte, während ihre Mutter im Nebenraum schnarchte. Max hatte zwar noch nie mit ihr geflirtet, doch sie war sich sicher, dass sie gut zusammenpassten. Er war nur wenig älter als sie, und im Gegensatz zu den dürren Studentinnen, die ihn förmlich anbeteten, schien er tatsächlich an dem interessiert zu sein, was sie zu sagen hatte.

Sie stampfte gegen die zunehmende Taubheit mit den Füßen auf. Ein Kellner warf ihr einen Blick zu – schwer zu sagen, ob er sie damit ins Restaurant locken wollte oder nur neugierig war, weshalb sie davor herumlungerte. Als ihr Handy klingelte, zuckte sie vor Schreck zusammen. Der Kellner lachte. Sie wandte sich von ihm ab und zog die Handschuhe aus.

Lisa warf einen Blick zu den über dem Tunnel stehenden Dezembristen hinüber. Max hatte das Telefon am Ohr.

«Ich kann dich kaum hören», rief sie.

«In zwei Minuten ist es so weit.» Er legte auf.

Sie klappte den Kragen ihres Wollmantels hoch und ging los. Max telefonierte wieder und winkte Tima zu, der auf der gegenüberliegenden Seite des Finljandski-Prospekt in einem Lieferwagen saß. Nur Sekunden später setzte sich das Fahrzeug in Bewegung.

Wahrscheinlich war der grantige Mudak Tima nur dabei, weil ihm der Lieferwagen gehörte. Lisas Qualifikation dagegen war ihr Beruf. Sie hatte Adelina – der Frau am Telefon – erzählt, dass sie Physik studiert hatte und als Bausachverständige arbeitete. Adelina hatte ihr daraufhin die Logistik für diese Operation anvertraut. Eine Aufgabe, die Lisa sehr ernst nahm. Sie wusste, wie viele Sekunden es dauerte, um das Fass zu leeren, und sie hatte berechnet, wie lange der Mercedes bei jeweils verschiedenen Geschwindigkeiten durch den Tunnel brauchte. Eines Abends hatte sie sogar Kieselsteine von der Brücke geworfen und gestoppt, wie lange es dauerte, bis sie auf dem Asphalt der Unterführung auftrafen.

Eine ganze Weile lang wurde sie das mulmige Gefühl nicht los, dass das Ganze schiefgehen würde. Bevor sie mit den Dezembristen Kontakt aufgenommen hatte, war das Schlimmste, was sie sich hatte vorstellen können, eine demütigende Verhaftung vor Artems Augen und das Ende ihrer beruflichen Laufbahn gewesen. Inzwischen wusste sie, dass viel mehr auf dem Spiel stand – eigentlich hätte sie Todesangst haben müssen. Hatte sie aber nicht. Ihr Herz schlug wie wild, doch äußerlich war sie vollkommen ruhig.

Lisa ging so unauffällig wie möglich den Gehweg zur Sampsonjewski-Brücke hinauf. Als sie die anderen Aktivisten erreichte, hatte Tima bereits eine Fahrspur mit seinem Lieferwagen blockiert. Sie sah, wie schlampig er das schwarze Klebeband auf dem Nummernschild angebracht hatte. Damit würde er wohl keinen Polizisten täuschen. Wütende Fahrer umrundeten den Lieferwagen. Dann flogen mit einem Knall die Hecktüren auf, zwei Männer mit OP-Masken sprangen auf die Ladefläche und lösten die Seile, mit der die Tonne gesichert war.

Sie ging zu Tima hinüber. Er trug eine riesige rote Wollmütze, in die er Löcher für Augen und Mund geschnitten und die er so in eine Sturmhaube verwandelt hatte.

«Was zum Teufel machst du denn hier? Du solltest doch auf der anderen Seite sein», rief er ihr aus der Fahrerkabine entgegen. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu erkennen.

Lisa wandte sich von ihm ab. Das Adrenalin hatte ihre Angst in Leichtsinn verwandelt. Max zog sich die türkisfarbene Sturmhaube übers Gesicht. Er stand nur eine Armeslänge von ihr entfernt mit dem Rücken zu einer niedrigen Betonmauer und sprach in ein Handy, das ihm eine seiner Studentinnen, – eine junge Frau mit einem violetten Schal – an den Mund hielt. Die anderen beiden Frauen trugen bunte Sturmhauben und hielten ein Banner mit drei übereinandergeschriebenen Worten hoch.

Geschenk

zum

Ruhestand

Max sprach so ernst wie ein Priester bei der Predigt.

«Herr Putin, heute werden Sie fünfundsechzig Jahre alt», sagte er. «Aber anstatt in Rente zu gehen, reißen Sie einmal mehr die Präsidentschaft an sich. Im Namen von Mütterchen Russland verlangen wir Ihren Rücktritt.»

Sie bemerkte, dass Max hinter der Sturmhaube grinste. «Hoffentlich werden Ihnen Ihre Schoßhunde, die Geheimpolizisten vom FSB, unser Geschenk auch überreichen.»

Dann wurde er von einem vorbeifahrenden Kipplaster übertönt. Lisa stand in den Dieselabgasen und bemerkte, wie etwas über dem Fluss aufblitzte – es war die Kameradrohne, die wie ein riesiges Insekt über der Großen Newa schwebte. Lisa sah zu Gregor hinüber, der die Drohne in sicherer Entfernung von der Brücke aus steuerte.

Tima stieg aus und kam zu ihr herüber. «Lisa, du darfst hier nicht stehen bleiben. Sie werden dein Gesicht sehen.»

«Keine Sorge, bin schon weg.»

Sie überquerte die Brücke. Es war, als würden ihre Füße den Boden nicht berühren. Ihr Herz raste. Alles kam ihr unwirklich vor. Sie bemerkte den Verkehr kaum. Zwischen den vier Fahrspuren befanden sich die Straßenbahngleise, die die Autos in beiden Richtungen zum Ausweichen benutzten. Sie stellte sich auf dieses gefährliche Niemandsland und beobachtete die beiden Männer mit den OP-Masken, wie sie mit dem Fass hantierten. Es glitt ihnen aus den Händen und fiel auf den Boden, dann hatten sie es in Position gebracht, den Metallverschluss geöffnet und den Deckel abgenommen. Rote Flüssigkeit schwappte auf den Asphalt.

Schon wurden die Autos immer langsamer, als die Fahrer interessiert das Spektakel beobachteten. Sie schlängelte sich durch den zähflüssigen Verkehr, vorbei an einem Mann, der den Unterarm aus dem Autofenster gestreckt hatte und die Aktion mit dem Handy filmte. Sie hätte ihm das Handy aus der Hand reißen können, so nahe war er, doch stattdessen schlich sie sich unbemerkt an seinem Wagen vorbei. Sie trug keine Sturmhaube, also würden die FSB-Agenten in ihren Fahrzeugen keine Notiz von ihr nehmen.

Gregor steuerte die Drohne unter die Brücke, um den Konvoi dabei zu filmen, wie er den Tunnel verließ. Lisa tat so, als wollte sie die Aurora fotografieren, die auf dem gegenüberliegenden Ufer der Großen Newa vor Anker lag. Sie hob das Handy, wie um ein Bild des berühmten Panzerkreuzers zu machen, auf dem die Oktoberrevolution ihren Anfang genommen hatte. Das Blaulicht des Konvois wurde heller. Zuerst erschien ein vor Antennen starrender, wuchtiger schwarzer Geländewagen. Dann folgte ein ebenso schwarzer Mercedes.

Der Konvoi, dem eine Staffel der Motorradpolizei den Weg geräumt hatte, war schneller als erwartet. Seine Geschwindigkeit hatte sie bei ihren Berechnungen nur schätzen können. Als der Geländewagen nur noch zwanzig Meter vom Tunneleingang entfernt war, drehte sie sich plötzlich um. Auf dieses Signal hin warfen die beiden Männer mit den OP-Masken das Fass um. Vierzig Liter Kunstblut – bestehend aus Glyzerin, Öl, roter Farbe und Gott weiß was noch – ergossen sich in den Tunnel.

Die Männer stellten das Fass wieder gerade hin und stießen Jubelrufe aus. Max hob den Daumen: Volltreffer. Unter ihr war das Wimmern eines Rückwärtsgangs zu hören. Dann schepperte Metall und klirrte Glas, als zwei Wagen zusammenprallten.

Eine halbe Minute lang war alles still, dann ertönten Rufe in der Unterführung. Eigentlich hätten sich die Dezembristen laut Plan in alle Richtungen zerstreuen sollen, doch auch sie verfolgten wie gebannt diese unerwartete Entwicklung. Max hob die geöffneten Hände – auch er wusste nicht, was vor sich ging. Nur der übervorsichtige Gregor entfernte sich langsam und überquerte die Brücke in Richtung der Petrograder Insel. Die Drohne folgte ihm wie ein exotisches Haustier über den Fluss hinweg.

Vier FSB-Personenschützer tauchten aus der Tunnelöffnung auf. Sie liefen gebückt, die Pistolen in beidhändigem Griff vor sich ausgerichtet, und nutzten die Schatten und hohen Mauern als Deckung, während sie eine Seite der Brücke sicherten. Das Fass war glitschig vom Kunstblut und entglitt den Männern in den OP-Masken ein weiteres Mal. Erst beim zweiten Versuch konnten sie es auf die Ladefläche des Lieferwagens wuchten. Tima verlor keine Zeit. Er gab Gas, noch bevor die Hecktüren richtig geschlossen waren. Die Türen schwangen wieder auf, das Fass fiel heraus, hüpfte über die Straße und rollte die Böschung zum Finljandski-Prospekt hinunter.

Wie die historischen Dezembristen flohen sie über die Große Newa, diesmal jedoch auf einer zweihundert Meter langen Brücke. Die meisten Aktivisten gerieten in Panik und rannten blindlings los. Sie rissen sich die Masken und Sturmhauben vom Gesicht, um in der Menge unterzutauchen. Die anderen blieben vermummt, damit ihre Gesichter nicht von den Überwachungskameras auf der Brücke erfasst werden konnten. Jetzt sah sie auch Max: Er hatte die Puffa-Jacke gewendet, die türkisfarbene Sturmhaube gegen eine Baseballkappe getauscht und lief zielstrebig über die Brücke. Schon bald war kein Aktivist mehr zu sehen.

Ein FSB-Personenschützer rannte an ihr vorbei, dann blieb er stehen und drehte sich um. Er war nicht viel älter als sie, doch seine Selbstsicherheit verriet ihr, dass er sich seiner Macht bewusst war.

«Ksiwa», sagte er weniger grob, als sie erwartet hatte. Ein gebrüllter Befehl hätte sie wohl eher aufgerüttelt. So war sie starr vor Schreck und brachte kein Wort heraus. Sie konnte den Blick nicht von seiner Pistole nehmen. Ihr Ksiwa – ihr Inlandspass – steckte in ihrem Portemonnaie. Sobald sie ihn vorzeigte, war alles aus. Dann wüsste er nicht nur ihren Namen und die Adresse der Wohnung ihrer Mutter, sondern auch dass sie ein Kind hatte, ohne verheiratet zu sein.

Sie musste fliehen, doch es war zu spät. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Portemonnaie in der Manteltasche. Er riss es ihr aus der Hand, nahm den Ausweis heraus und schlug die Seite mit ihrem Foto und ihrem Namen auf.

«Sie haben uns beobachtet, Elisaweta Dmitrijewna Kalinina.»

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. Ihr wollte keine Lüge einfallen.

Dass sie nicht antwortete, war Antwort genug. Er packte sie am Mantelkragen und trat ihr die Beine unter dem Körper weg. Sie schrie auf, als ihre Knie auf den Asphalt knallten. Der Personenschützer ging in die Hocke und drückte mit einer Hand ihre Wange auf den rauen Asphalt. Sie sah, wie das Fass auf der anderen Straßenseite immer schneller rollte. Es zog eine dünne rote Spur hinter sich her.

2

Januar 2018

Natalja Iwanowa verzog das Gesicht, als ihr das von einer Schneewehe reflektierte, grelle Blaulicht ihres Polizeigeländewagens in die Augen stach. Sie brachte den UAZ Hunter wieder in die Spur und blickte zum schwarzen Himmel auf. Kaum zehn Sekunden später folgte die nächste enge Kurve. Sie rammte den Schaltknüppel in den zweiten Gang, worauf der Motor protestierend aufheulte. Durch die Militärbereifung fuhr sich der Hunter überraschend angenehm. In der nächsten engen Biegung fiel erneut Blaulicht auf den Schnee. Sie beschleunigte aus der Kurve. Eisbrocken fielen von einem über die Straße hängenden Baum auf Motorhaube und Windschutzscheibe. Sie räumte sie mit dem Scheibenwischer beiseite. Sergeant Stepan Rogow saß neben ihr. Sein Kopf steckte tief in der pelzbesetzten Kapuze seines Parkas.

Sie glaubte nicht an Gespenster – die materielle Welt war faszinierend genug. Dennoch war ihr diese Gegend im Nordwesten der Stadt unheimlich. In diesen Wäldern – nur eine Stunde von dem Bett entfernt, in dem ihr Ehemann schlief – befand sich das größte Massengrab des Landes. Von den späten Zwanzigerjahren an hatte Stalins NKVD in einem Jahrzehnt dreißigtausend Männer, Frauen und Kinder aus Sankt Petersburg ermordet. Man hatte sie im Rahmen verschiedener Säuberungsaktionen zusammengetrieben und ihnen am nächsten Schießstand oder direkt im Großen Haus, in dem auch heute noch die Geheimpolizei ihr Hauptquartier hatte, einen Genickschuss verpasst. Niemand wusste, wo ihre Leichen vergraben waren – nur das FSB, doch was hatte das mit den Verbrechen seiner Vorgängerorganisation zu schaffen? Dreißigtausend Menschen, genug, um eine ganze Stadt zu bevölkern. Hätten Stalins Opfer eine Stimme gehabt – wären sie wütend darüber gewesen, dass sich Natalja nur für eine von so vielen Leichen interessierte?

Als Natalja ein vereistes Schild mit der Aufschrift «Kusmolowski-Friedhof» sah, ging sie vom Gas. Etwa hundert Meter vor ihr leuchteten die beiden weißen Reflektorstreifen auf dem Uniformärmel eines Verkehrspolizisten auf. Die Streifen schillerten, als er sie winkend zum Anhalten aufforderte. Natalja schaltete herunter und trat behutsam auf die Bremse. Ihre Vorsicht war unbegründet – die Reifen griffen mit einem satten Knirschen auf dem schneebedeckten Asphalt. Durch den Allradantrieb kam der Hunter ohne das geringste Schlittern zum Stehen.

Ausnahmsweise hatte der Personalmangel an den Feiertagen einen Vorteil – sonst hatte sie nie freie Auswahl im Fuhrpark des Dezernats.

Sie steckte die Makarow ins Holster und vergewisserte sich, dass sie Taschenlampe und Latexhandschuhe in der Jacke hatte. Sergeant Rogow regte sich nicht.

«Rogow! Wach auf, du Arschloch.» Sie boxte ihn gegen die Schulter.

Er wischte sich eine fettige Haarsträhne von der Wange. Sie ließ den Motor laufen, damit das Blaulicht nicht ausging, und nahm das Funkgerät zur Hand, um Verstärkung zu rufen. Als nach dreißig Sekunden immer noch niemand antwortete, gab sie es auf. Sie arbeitete aus Gründen der Effizienz und nicht zuletzt aus Verachtung gegenüber der Einstellung, die gewisse Kollegen an den Tag legten, lieber allein, doch hier hätte sie die Hilfe eines Gerichtsmediziners sowie eines erfahrenen Kriminaltechnikers, der Fotos machte und Beweise sicherte, gut gebrauchen können. Daran war allerdings nicht zu denken. Bei dem kümmerlichen Budget, das der Polizei zur Verfügung stand, würde jetzt, zwei Tage vor dem orthodoxen Weihnachtsfest, wohl kaum jemand auftauchen.

Der Ment kam näher – mit seiner stämmigen Statur und dem grimmigen Gesichtsausdruck entsprach er dem Klischee des russischen Verkehrspolizisten. In einem gefütterten Handschuh schwang er seinen schwarz-weiß gestreiften Signalstock wie eine Keule, mit dem anderen hielt er so selbstverständlich eine Zigarette, als gehörte auch diese zu seiner Ausrüstung. Sie ließ das Fenster herunter. Sofort prickelten Ohren und Nase vor Kälte.

«Sergeant Taniaschwili?», rief sie.

Er schlenderte gemächlich zu ihrem Wagen hinüber.

«Hauptmann Iwanowa vom Dezernat für Schwerverbrechen. Sie haben die Leiche gefunden?»

«Sind Sie nicht ein bisschen zu wichtig für das hier?», fragte er mit der Zigarette im Mundwinkel.

Sie quittierte seine freche Bemerkung mit ausdrucksloser Miene.

«Na schön.» Taniaschwili nickte, sodass seine Pelzmütze auf und ab hüpfte. Dann nahm er mit demonstrativer Langsamkeit die Zigarette aus dem Mund. «Vor zwei Stunden», sagte er. Sie roch einen Hauch von süßem Alkohol.

Das erklärte seinen mürrischen Gesichtsausdruck. «Und seitdem hat Sie niemand abgelöst?»

Taniaschwilis Mundwinkel zuckten. «Ich soll auf Sie warten, haben die Menti gesagt.»

Sie verfluchte die örtlichen Behörden. Solange kein Todesfall unter ungeklärten Umständen vorlag, gab es keinen Grund, das Dezernat für Gewaltverbrechen einzuschalten – es sei denn, sie hatten keine Lust, sich am frühen Weihnachtsmorgen im Wald den Arsch abzufrieren, nur um sich ihre Aufklärungsquote durch einen ungelösten Mordfall zu verwässern. Dies würde sie in ihrem Bericht auf keinen Fall unerwähnt lassen.

«Jetzt bin ich ja hier. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.»

Taniaschwili streckte den Kopf vor, und Rauch waberte in den Wagen herein. Sie widerstand dem Drang, ihn um eine Zigarette zu bitten.

«Wo ist Ihr Wagen?», fragte sie.

Er deutete mit dem Daumen hinter sich. «Den hab ich auf den Kusmolowski-Friedhof gefahren, nachdem ich die Leiche gefunden hatte. Damit mir kein Besoffener reinfährt. Hey, was ist denn mit dem los?» Taniaschwili deutete mit dem Kinn auf Rogow.

«Der hat vergessen, dass er Bereitschaft hat.»

«Wo war er denn?»

«Im Saint Patrick’s in der Uliza Sowetskaja.»

Rogow hatte ihre Nachrichten beharrlich ignoriert. Sie hatte ihn nur aufstöbern können, indem sie ihren Mann Michail dazu überredet hatte, ihn anzurufen und so zu tun, als wollte er mitten in der Nacht mit ihm auf Zechtour gehen.

Rogow grinste im Schlaf, wodurch seine nikotinfleckigen Zähne zum Vorschein kamen.

«Der träumt was Schönes», sagte Taniaschwili.

Natalja rammte Rogow den Ellbogen in die Rippen. Keine Reaktion. Sie formte die Hand vor dem Mund zu einem Trichter. «Oksana ist im Anmarsch!», rief sie.

Rogow riss die Augen auf, glotzte dämlich geradeaus und wischte sich mit der Hand über den Mund. Dann schloss er den Reißverschluss seines Parkas. Seine Finger zitterten – nicht nur vor Kälte, wie Natalja vermutete. «Scheiße, Chefin, ist die Heizung kaputt?»

«Wir sind da.»

Aus unerfindlichen Gründen war Rogow Michails bester Freund, weshalb sie ihn auch nur schwer zurechtweisen konnte. Außerdem gehörten sie alle zum Dezernat für Schwerverbrechen, was die Situation weiter verkomplizierte. Michail war Major, obwohl es gegen die Vorschriften verstieß, dass ein Ehepartner der Vorgesetzte des anderen war. Leider galt diese Regel nicht für sie und Rogow.

«Wer ist denn Oksana?», fragte Taniaschwili.

«Seine Frau. Angeblich will sie der Patriarch heiligsprechen.»

«So ein Zufall, meine auch», grunzte Taniaschwili und trat zurück, damit sie aussteigen konnte.

Sie knallte die Tür des Hunter so laut wie möglich zu, damit Rogow nicht wieder einschlief. «Dann wollen wir uns die Frau mal ansehen, die Sie gefunden haben.»

Taniaschwili klemmte die Zigarette wieder in den Mund und steckte den Signalstock weg. Sie folgte ihm. Hinter ihr öffnete sich die Beifahrertür, dann waren Rogows leise Schritte zu hören. Für einen so dicken Mann war er überraschend flink – was umso bemerkenswerter war, da er sich noch vor einer Stunde kaum auf den Beinen hatte halten können.

Taniaschwili blieb am Straßenrand stehen, drehte sich zu einer Schneewehe um und nahm die Zigarette aus dem Mund. «Da drüben. Auf der anderen Seite ist ein Entwässerungsgraben. Ich hab sie nur gesehen, weil ich mal pissen musste.»

Natalja deutete auf eine ein paar Meter entfernte Lücke in der Schneewand. «Anscheinend hat sich hier jemand einen Durchgang gebuddelt.»

«Ich war das nicht. Aber ich habe angehalten, weil mir die Lücke aufgefallen ist. Ich wollte ja nicht mit meinem Chui in der Hand mitten auf der Straße stehen und über den Haufen gefahren werden. Und da hab ich sie gesehen.»

«Haben Sie ihren Puls gefühlt?»

«Nicht nötig.»

Natalja schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete an der Schneewehe entlang, bis der Lichtstrahl auf eine voll bekleidete, auf dem Rücken liegende Frau traf. Sie war etwa Mitte zwanzig. Von der schmerzverzerrten Grimasse abgesehen, wirkte das Gesicht wie aus Moskowski-Marmor gemeißelt.

«Haben Sie ihren Mund gesehen?», fragte Taniaschwili.

Inzwischen konnte sie so ein Anblick nicht mehr aus der Fassung bringen – zumindest versuchte sie, sich das einzureden. «Leichenstarre.»

«Gott sei Dank.» Taniaschwili schob sich die Zigarette wieder zwischen die Lippen.

Sie richtete den Lichtstrahl auf den mittelblauen Dreiviertelmantel der Frau. Die Knöpfe waren geschlossen, keiner fehlte.

«Keine sichtbaren Verletzungen», rief sie Rogow zu.

«Ich hab sie zuerst für eine Alkasch gehalten», sagte Taniaschwili.

«Nein, dafür ist sie zu gepflegt», sagte Natalja. «Vielleicht Selbstmord oder ein Hirnschlag. Oder ein Auto hat sie erfasst. Womöglich ist sie auch auf dem Eis ausgerutscht.»

Rogow erschien an ihrer Seite. «Chefin, es ist arschkalt hier draußen.» Beim Sprechen stieg sein Atem in Wolken auf. «Vielleicht war sie unterkühlt und deshalb verwirrt. Ist sie überhaupt tot?»

«Das habe ich nicht überprüft.» Taniaschwilis Mundwinkel zuckten wieder. «Aber Sie müssen sie sich doch nur ansehen.»

Rogow schlang die Arme um den Körper. «Vor ein paar Jahren ist eine Frau drei Tage nach Einlieferung im Kühlschrank der Leichenhalle wieder aufgewacht. Hab ich zumindest gehört», sagte Rogow und schlang die Arme um den Körper. «Das war in Tomsk», fügte er hinzu, als würde dies zur Plausibilität seiner Geschichte beitragen.

«Keine Ahnung», sagte sie. «Ich bin ja kein Arzt.»

«Wir sollten uns irgendwie … vergewissern, oder?», fragte Rogow beschwichtigend.

Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so grob zu ihm gewesen war. «Also gut.»

Sie tauschte die gefütterten Handschuhe gegen das Latexpaar und beugte sich über die Schneewehe. Der Schnee sackte unter ihren Füßen etwas ein, und beinahe hätte sie das totenbleiche Gesicht der Frau mit der eigenen Wange berührt. Auf der Suche nach der Halsschlagader fuhr sie mit den Fingern an der Luftröhre entlang. Die beiden Männer unterhielten sich währenddessen.

«Seid mal einen Augenblick still», sagte sie.

Sie tastete nach einem Puls. Ihre Finger schmerzten vor Kälte. Das gehörte nun wirklich nicht zu ihren Aufgaben.

«Ich spüre nichts», sagte sie. Natalja nahm die Taschenlampe aus dem Schnee und leuchtete in die Augen der Frau. Das hübsche Blau der Iris passte gut zu ihrem Mantel.

«Keine Reaktion der Pupillen», rief sie. «Die Hornhaut ist milchig … könnte aber auch gefroren sein.»

Sie atmete intensiven Zigarettengeruch ein, als sich Taniaschwili zu ihr vorbeugte. «Soll ich’s noch mal versuchen?»

Sie drehte sich zu ihm um. «Ja bitte … vielleicht kommen Sie ja durch und können einen Krankenwagen anfordern.»

Er nahm das Handy aus der Brusttasche seiner Uniformjacke.

«Besetzt», sagte er nach einer halben Minute.

«War ja klar», sagte sie. «Aber keine Sorge, ich hab eine Idee.»

Sie steckte die Taschenlampe in die Jacke zurück, nahm ihr iPhone heraus, zog die Handschuhe aus und beugte sich über die Schneewehe. Nun war sie nur noch zehn Zentimeter von der Frau entfernt. Frost bedeckte die Haut wie ein Spinnennetz. Die Lippen hatten sich durch die Zyanose blau gefärbt, das Gesicht war so weiß wie das einer Wasserleiche. Sie bezweifelte, dass diese Frau noch einmal aufwachen würde – weder in Tomsk noch sonst wo.

Natalja roch einen Hauch von Parfüm, der sie brutal daran erinnerte, dass die Frau bis vor Kurzem noch am Leben gewesen war.

Sobald sie den Blitz der Handykamera eingeschaltet hatte, richtete sie sie direkt auf das linke Auge der Frau, hielt den Apparat ruhig und drückte auf den weißen Kreis am unteren Rand des Displays. Nach einer kurzen Pause kämpften mehrere Blitze gegen das Blaulicht des Hunter an. Natalja richtete die Kamera auf das rechte Auge und drückte erneut auf den Auslöser.

Dann stieß sie sich von der Schneewehe ab und blies warmen Atem auf die frierenden Fingerspitzen.

«Was rausgefunden, Chefin?»

Sie rief die Bilder auf und betrachtete sie. Die beiden Männer schwiegen.

«Sie ist tot.»

«Bist du dir da sicher, Chefin?», fragte Rogow. Von ihr unbemerkt hatte er seine Winstons hervorgeholt und klopfte eine Zigarette aus der Schachtel.

«Sie hat auf den Bildern keine roten Augen.»

«Wie bitte?», fragte Taniaschwili.

«Rote Augen», sagte sie. «Hervorgerufen durch durchblutete Netzhaut. Bei einem Leichnam gibt es diesen Effekt nicht.»

Sie beobachtete Rogow dabei, wie er sich mit dem Finger an die Stirn tippte und Taniaschwili damit zu verstehen gab, dass sie entweder sehr schlau oder völlig durchgeknallt war. Dabei hatte sie sich diesen Trick nicht selbst ausgedacht. Sie hatte ihn aus einer amerikanischen Krimiserie, die ihr Leo Primakow, ein Kriminaltechniker des Dezernats, auf DVD geliehen hatte. Doch das hätte sie natürlich niemals zugegeben. Man nahm sie ja auch so schon selten genug ernst.

Sie kehrte auf die Schneewehe zurück und machte weitere Fotos von Gesicht und Körper der Leiche.

«Was hatte sie denn hier mitten in der Pampa verloren, Chefin?», fragte Rogow.

Sie richtete sich auf. Ihr Rücken knackte. «Vielleicht war sie auf einer Weihnachtsfeier, hat zu viel getrunken und ist auf dem Heimweg erfroren.»

«Was für eine Verschwendung», sagte er und zündete die Winston an.

«Hoffentlich hat sie keine Kinder», sagte sie. Da fiel ihr etwas ein. «Rogow?»

Mit steifen Fingern steckte sie das Handy in die Rückentasche ihrer Jacke und nahm die Taschenlampe heraus. Wieder richtete sie den Lichtstrahl auf den Leichnam. Die hohe Schneewehe stürzte halb in sich zusammen, als sich Rogow zu ihr stellte.

«Hier fehlt etwas. Siehst du es auch?», fragte sie.

«Nein», sagte Rogow.

Sie drehte die Taschenlampe so, dass der Lichtstrahl auf die schneebedeckte Straße hinter ihr fiel.

«Und jetzt?»

Ihre Blicke trafen sich. «Ja, Chefin», antwortete Rogow mit plötzlicher Begeisterung.

3

Natalja zog die gefütterten Handschuhe wieder an, und sofort wurde ihr wärmer. «Sie haben doch nichts angefasst, oder? Auch nicht … die Leiche?», fragte sie Taniaschwili mit ausdrucksloser Miene.

Das Gesicht des Verkehrspolizisten wurde in regelmäßigen Abständen in das Blaulicht des Hunter getaucht. «Nein. Sobald ich sie gesehen habe, habe ich Sie angerufen. Ich hab nur eine Stelle zum Pissen gesucht.»

«Und haben Sie …», fragte Sergeant Rogow, «gepisst?»

«Da drüben.» Taniaschwili deutete mit dem Finger auf den linken Straßenrand und warf dann seine Zigarette auf den schneebedeckten Asphalt.

Natalja betrachtete den Ment neugierig. «Wann war Ihre Schicht zu Ende?»

Taniaschwili blickte auf. «Um sechs.»

«Ihr Revier ist in der Innenstadt?»

«Nein, in Toksowo. Ich musste über die Feiertage in Piter aushelfen.»

«Darf ich was sagen, Frau Hauptmann?», fragte Rogow.

«Nur zu.»

Rogow zog an seiner Winston und atmete pfeifend aus. «Frau Hauptmann hier will sich vergewissern, dass Sie die Frau nicht umgebracht haben.»

Natalja hob die Augenbrauen. Seine Direktheit überraschte sie.

Taniaschwili stemmte die Hände in die Hüften. Die Bewegung gab den Blick auf seinen Schlagstock frei. «Unverschämtheit. Ich habe zwei beschissene Stunden lang auf Sie gewartet … Ich habe sie gefunden.»

«Manchmal gibt der Mörder vor, die Leiche entdeckt zu haben», sagte Natalja nüchtern. «So hat er eine gute Erklärung für seine DNA-Spuren und Textilfasern am Tatort. Sergeant, hat es heute Abend geschneit?»

Rogow verstand den Wink und spitzte die Lippen. «In Piter von sieben bis neun Uhr. Und hier auch, wenn man sich die Straße so ansieht.» Er deutete mit einer weiten Armbewegung auf die Straße. Reifenspuren zeichneten sich auf dem frischen Schnee ab.

«Aber auf ihrer Kleidung ist kein Schnee», fügte Natalja hinzu, die nun ihrerseits ihre Rolle in ihrer kleinen Aufführung einnahm. «Sie kann also nicht vor neun Uhr hier gewesen sein.»

Rogow zog nachdenklich an seiner Winston. «Sie haben also zwei Stunden gewartet. Was bedeutet, dass Sie die Leiche gegen zehn Uhr gefunden haben. Stimmt das?»

«Na und?»

«Beantworten Sie die Frage.»

«Als ich zum Pissen angehalten habe, hatten gerade die Nachrichten auf Radio Rossii angefangen.»

«Also hat sie nur eine Stunde hier gelegen, bevor Sie sie gefunden haben?»

«Wenn Sie das sagen.»

«Wahrscheinlich nur ein Zufall», sagte Rogow und warf Taniaschwili einen misstrauischen Blick zu.

Dem Verkehrspolizisten entging die leise Andeutung nicht. «Das ist nicht rechtens … Das können Sie mir nicht anhängen.»

Rogow hielt Taniaschwili beschwichtigend die offene Handfläche hin. «Nichts für ungut, mein Freund, aber wir müssen solche Fragen stellen. Und zwar auf eine ganz bestimmte Art und Weise.»

Taniaschwili sah die beiden Ermittler finster an. «Ich dachte, sie ist erfroren?»

«Wir haben unsere Meinung geändert. In einer Stunde erfriert man nicht … Außerdem hat sie einen Mantel an.»

Rogow gab Natalja zu verstehen, dass er unter vier Augen mit ihr sprechen wollte. Sie entfernten sich ein paar Schritte von Taniaschwili. Die leise rauschenden Kiefernzweige über ihnen zeichneten sich vor dem sternenübersäten, vom Halbmond erhellten schwarzen Nachthimmel ab. Rogow blieb stehen, um den Reißverschluss seiner Jacke bis ganz nach oben zuzuziehen. Sie musste sich nahe an ihn heranstellen, um ihn verstehen zu können.

«Chefin, wie lange ist sie schon tot? Was meinst du?»

«Eine ganze Weile. Ihr Gesicht ist schon ganz steif. Wenn ich raten müsste: seit heute Vormittag oder dem frühen Nachmittag.»

«Was ist mit Taniaschwili?», fragte Rogow.

«Wenn er sie tatsächlich ermordet hat, ist er nicht besonders schlau. Er hätte einfach nur den Mund halten müssen, und sie hätte bis zum Tauwetter im Frühjahr dort gelegen.»

Rogow trat die Zigarette aus. «Wo steht sein Wagen, Chefin?»

«Auf dem Kusmolowski-Friedhof.»

«Wieso das denn?»

«Damit ihm kein Betrunkener reinfährt, hat er gesagt.»

«Vielleicht hat er sie aber auch umgefahren und will nicht, dass wir den Schaden am Auto bemerken?»

«Sieh dir den Wagen mal an, Rogow. Nimm ihn mit … aber sei nicht zu grob.»

«Geht klar, Chefin.»

«Hey, ich habe der Frau kein Haar gekrümmt», rief ihnen Taniaschwili zu.

Rogow kehrte zu dem Verkehrspolizisten zurück. «Sie stehen unter Alkoholeinfluss. Ich auch. Trinken ist keine Sünde.» Er nahm einen Flachmann aus dem Parka und hielt ihn Taniaschwili hin. Der zögerte kurz, dann nahm er ihn entgegen. «Gehen wir ein bisschen spazieren, mein Freund. Dann können Sie mir Ihren Streifenwagen zeigen.»

Taniaschwili nickte betreten.

«Sehr gut.»

Taniaschwili nahm einen Schluck aus dem Flachmann. Kurz darauf klopfte ihm Rogow eine Zigarette aus der Schachtel. Trotz seiner jovialen Art achtete Rogow genau darauf, dem Signalstock des Verkehrspolizisten nicht zu nahe zu kommen.

Nataljas Nasenlöcher brannten vor Kälte. Sie zog den Reißverschluss bis zum Kragen hoch und vergrub die Nase im Futter der Jacke. Die beiden Männer entfernten sich, und mit ihnen verzog sich auch der Zigarettenrauch. Sie war allein mit der toten Frau und den dreißigtausend Opfern Stalins.

Wahrscheinlich war die Frau von der Straßenseite aus in den Graben geklettert. Um den Tatort nicht zu kontaminieren, ging Natalja etwa fünf Meter von der Leiche weg und trat dann gegen das kristallartige Eis auf der Schneewehe, bis sie niedrig genug war, um hinüberzuklettern. Der Entwässerungsgraben war nicht mehr als ein halbes Betonrohr. Durch die Abgase, die aus dem Auspuff des Hunter quollen, wirkte der Leichnam beinahe gespenstisch. Sie kletterte die steile Böschung hinauf, die vom Entwässerungsgraben zum Wald führte.

«Au. Scheiße.»

Sie verlor den Halt, schürfte sich die Schienbeine am gefrorenen Schlamm auf und rutschte in den Graben zurück. Der sengende Schmerz ließ sie laut aufkeuchen. Tränen trübten ihre Sicht. Sie zog einen losen Stein aus dem Boden, rammte die Stiefelspitze in das entstandene Loch und packte mit beiden Händen den Ast einer Kiefer. Sobald sie einen sicheren Griff hatte, zog sie sich zum Waldrand hinauf.

Die Straße war völlig verlassen. Zum Glück hatten Rogow und Taniaschwili ihren Sturz nicht mitbekommen. Sie ging zur Leiche hinüber und streifte sich ein weiteres Mal die Latexhandschuhe über. Dann legte sie sich auf den kalten, steinharten Erdboden und streckte den Arm nach der etwa einen Meter entfernten Hand der Frau aus.

Das Handgelenk ließ sich mühelos bewegen, doch die Kälte verbarg, indem sie die Leichenstarre verlangsamte, nicht nur Lebens-, sondern auch Todeszeichen. Natalja warf einen Blick auf die grässliche Grimasse. Anscheinend war die Frau unter schrecklichen Schmerzen gestorben. In solchen Fällen bemühte sich Natalja um emotionale Distanz und ermahnte sich, dass alles andere keine große Hilfe für das Opfer wäre. Dummerweise konnte sie ohne ein Spurensicherungsteam nicht viel ausrichten. Sie würde die Beweise, so gut es ging, sichern und hoffen, dass die Kriminaltechnik irgendetwas damit anfangen konnte.

Sie robbte bis zum Kopf des Leichnams vor. Die Frau trug keine Mütze – ein weiteres verdächtiges Indiz. Niemand war so dumm, das Haus im Winter ohne Kopfbedeckung zu verlassen. Natalja tastete den Schädel nach Verletzungen ab. Dabei stieg ihr erneut das Parfüm in die Nase. Nach einer Weile ließ sie den Kopf wieder sinken und betrachtete ihre Hände. Sie sah kein Blut daran.

Dann rief sie die Diktier-App ihres Handys auf. «Freitag, fünfter Januar, 11:53 Uhr. Sergeant Taniaschwili von der Verkehrspolizei Toksowo entdeckte gegen zweiundzwanzig Uhr den Leichnam einer Frau im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Der Körper war nicht mit Schnee bedeckt und wurde daher mutmaßlich gegen neun Uhr am Straßenrand abgelegt. Rigor Mortis der Gesichtsmuskeln wahrscheinlich, Handgelenk voll beweglich. Keine Anzeichen einer Kopfverletzung. Das Opfer trug keine Mütze.»

Sie durchsuchte die Manteltaschen. In einer fand sie ein graues Portemonnaie mit zweihundert Rubel in Münzen und Scheinen. In einem Fach des Portemonnaies befanden sich mehrere Kreditkarten, darunter auch eine Debitkarte der Sberbank, ausgestellt auf den Namen «E.D. Kalinina». Auf einer abgelaufenen Mitgliedskarte der russischen Vermessungstechnikerinnung war ein Foto der Frau in einem Trenchcoat zu sehen.

Natalja öffnete die Mantelknöpfe. «Keine sichtbaren Verletzungen des Oberkörpers», sprach sie in ihr Handy.

Der Inlandspass steckte in einer Innentasche. Sie blätterte ihn durch und schaltete erneut die Diktierfunktion ein. «Der Ksiwa ist auf den Namen Elisaweta Dmitrijewna Kalinina ausgestellt.»

Als Geburtsort war Sankt Petersburg angegeben. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt. Auf dem Foto lächelte sie nicht, aber sie war hübsch – auch wenn das jetzt nicht mehr von Bedeutung war.

Dann wurde Natalja flau in der Magengegend. Im Ksiwa war ein weiteres Foto: Elisaweta Kalinina hatte einen Sohn. Natalja starrte das ernst dreinblickende Kleinkind an und hatte sofort Mitleid mit dem Jungen. Nachdem sie beide Bilder mit dem Handy fotografiert hatte, steckte sie den Inlandspass in die Tasche zurück.

Unter dem Mantel trug Elisaweta einen Strickpullover mit Schneeflockenmuster. Er war nach oben gerutscht, sodass die weiße Haut darunter zum Vorschein kam. Natalja legte eine Hand unter Elisawetas Hüfte und hob sie hoch. Auch darunter war die Haut weiß: keine Spur von den Blutergüssen, mit denen sie eigentlich gerechnet hatte.

Natalja robbte weiter, bis sie Elisawetas Stiefel erreichte. Sie öffnete einen Reißverschluss, klappte den Stiefel auf, schob die blaue Leggins darunter nach oben und betrachtete die zum Vorschein kommende Haut. Sie war violett. Natalja kroch zurück und zog Elisaweta einen Fäustling aus. Auch hier war die Haut violett. Sie drückte mit einem Finger in den Handballen, und die violette Haut färbte sich weiß. Natalja wartete einen Augenblick, doch die blasse Stelle blieb.

Der Gürtel war weder zu eng noch zu weit, jeder Knopf der Jeans geschlossen. Natalja suchte die Finger nach Verletzungen ab. Sie konnte keine Anzeichen einer gewaltsamen Auseinandersetzung erkennen. Es war, als hätte sich Elisaweta einfach in den Graben gelegt und das Zeitliche gesegnet.

Natalja tippte ein weiteres Mal auf den Aufnahmebutton der Diktier-App. «Hinweise auf Livor mortis aus sitzender oder stehender Position weist auf einen Transport der Leiche nach dem Tod hin. Keine Anzeichen eines sexuellen Übergriffs.»

Sie hörte eine gemurmelte Unterhaltung, dann leise, knirschende Schritte. Rogow und Taniaschwili tauchten aus den Abgasschwaden des Hunter auf. Beide rauchten und schienen sich in der Gegenwart des jeweils anderen recht wohlzufühlen.

«Rogow, kann ich dich mal einen Augenblick sprechen?», rief sie ihm über den Graben hinweg zu.

Er brauchte ein paar Sekunden, bis er ihre Stimme lokalisiert hatte. «Klar, Chefin.»

Sie stieg vorsichtig durch den Graben und trat durch die Lücke in der Schneewehe.

«Hast du dir den Wagen angesehen?», fragte sie und klopfte den Schnee von ihrer Kleidung.

«Ja, Chefin. Keine Dellen, keine Kratzer – bei dem Streifenwagen eines Verkehrspolizisten eigentlich ein Wunder. Alles klar?», fragte er und deutete auf die roten Flecken, die sich in Höhe der Schienbeine auf ihrer Jeans befanden.

«Ich bin ausgerutscht. Und ich habe etwas gefunden», sagte sie, um so schnell wie möglich das Thema zu wechseln. «Das Opfer weist Totenflecken auf.»

«Was, so wie jede andere Leiche auch?» Rogow stieß eine glänzende Atemwolke aus.

«Auf ihren Händen und Schienbeinen, nicht aber auf dem übrigen Körper», sagte sie und strafte seine sarkastische Bemerkung mit Nichtbeachtung.

«Tut mir leid, Chefin, aber als sie uns das Diplom in Gerichtsmedizin überreicht haben, hab ich wohl gefehlt.»

Nahm er sie auf den Arm? Schwer zu sagen. «Wenn ein Körper nach dem Tod aufrecht sitzt, läuft das Blut in den Unterleib, die Beine und die Hände. Und die färben sich dann violett, während der übrige Leichnam immer blasser wird.»

«Ja, das weiß ich», sagte er.

«Nach ein paar Stunden gerinnt das Blut, und die Verfärbungen bleiben, auch wenn die Leiche bewegt wird.»

«Und so war das bei dem Mädchen?»

Sie wollte ihn schon darauf hinweisen, dass Elisaweta Kalinina kein Mädchen, sondern eine Frau gewesen war, eine lebendige, erwachsene Frau, der die Farbe Blau gut gestanden und die Parfüm und kindische Pullover getragen hatte, doch das wäre sinnlos. Da hätte sie ihm genauso gut ein Gedicht von Anna Achmatowa vortragen können.

«Ja, das heißt, dass dieses Mädchen nicht im Liegen gestorben ist. Sie befand sich nach ihrem Tod mehrere Stunden in stehender oder sitzender Position – wahrscheinlich eher in sitzender.»

«Also hat Taniaschwili sie nicht umgebracht?» Rogow zog so lässig an seiner Winston, als würden sie sich über Fußball unterhalten.

«Nein», sagte sie. «Es sei denn, dass er den Abend damit verbracht hat, mit ihrer Leiche auf dem Beifahrersitz durch Piter zu fahren.»

«Also wurde sie ermordet?», fragte Rogow.

«Oder ist in irgendeinem Sessel an einer Überdosis gestorben und wurde hier abgeladen. Nach der Obduktion sind wir sicher schlauer.» Sie wandte sich dem Verkehrspolizisten zu. «Sergeant, bitte entschuldigen Sie, dass wir Sie so lange aufgehalten haben. Wenn wir noch etwas brauchen, melden wir uns.»

Taniaschwili machte eine Geste, die im flackernden Blaulicht nur schwer zu deuten war, und ging in Richtung Friedhof davon.

«Und was jetzt, Chefin?»

«Versuch noch mal, die Zentrale zu erreichen. Sie sollen so schnell wie möglich die Spurensicherung und einen Gerichtsmediziner herschicken.»

«Sonst noch was?»

«Das ist alles. Ich sehe mal nach, ob Decken im Hunter sind. Wir warten hier auf sie.»

4

Als Natalja aufwachte, war es dunkel. Ihr Genick knackte, als sie den Kopf drehte, um auf das Handydisplay zu sehen – 6:05 Uhr. Die abgestandene Luft stank nach Rogows Ausdünstungen. Sie streckte die Beine auf der Rückbank aus und zog sich die Decke über das schutzlos der Kälte ausgesetzte Gesicht. Die Wärme tat so gut, dass ihr die Augen tränten.

Sie blieb noch ein paar Minuten in ihrem Kokon, dann ließ sie das Seitenfenster herunter, um den Pulverschnee loszuwerden, der die Scheiben des Hunter bedeckte. Es war kurz vor Morgengrauen. Sie sog die süße, bitterkalte Luft in die Lunge. Sirenen heulten in der Dunkelheit, steigerten sich zu einem Crescendo.

Sie zwängte sich zwischen die Vordersitze und griff vorsichtig nach dem Lenkrad, um Rogow nicht zu wecken. Dann schaltete sie durch eine Drehung des Schlüssels die Zündung ein. Die Innenbeleuchtung ging an. Nun konnte sie auch den Schalter für das Blaulicht und die Sirene auf dem Armaturenbrett erkennen. Sie legte den Schalter um und lehnte sich zurück.

Grelles blaues Licht erhellte das Wageninnere. Die Sirene des Hunter plärrte los. Rogow setzte sich kerzengerade auf und starrte belämmert durch die Windschutzscheibe. Ein paar Sekunden später schaltete er mit einem beherzten Fingerdruck Licht und Sirene wieder ab.

«Das hätte es wirklich nicht gebraucht, Chefin», sagte er mit grimmigem Blick in den Rückspiegel.

«Guten Morgen», antwortete sie. «Gut geschlafen?»

Sie stieg aus. Während Rogow langsam wach wurde, prickelten ihre Lippen, als die Kälte die Feuchtigkeit darauf gefrieren ließ. Sie schnappte sich die Decke und warf sie sich um, bevor sie die Wagentür schloss, dann gähnte sie lautstark. Die Bäume rauschten in der Dunkelheit, die Sirenen wurden immer lauter. Schon sah sie Blaulicht, das sich hinter dem Friedhof über die Schnellstraße nach Toksowo bewegte.

Schließlich näherten sich drei Fahrzeuge: ein Streifenwagen, eine zitronengelbe Ambulanz und ein weißer Lieferwagen. Der Streifenwagen signalisierte den Fahrzeugen hinter ihm durch ein kurzes Aufblitzen der Warnlichter, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Der Konvoi hielt an. Natalja zog sich widerstrebend die Decke von den Schultern und warf sie in den Hunter.

Im Streifenwagen saßen zwei männliche Menti in grauen Winteruniformen. Sie trugen fleecegefütterte Mützen, und der Fahrer sah mit seinem teigigen Gesicht und den Hängebacken so ungesund aus wie Rogow. Wie bestanden diese Typen nur ihre Diensttauglichkeitsuntersuchung?

«Hauptmann Iwanowa vom Dezernat für Schwerverbrechen», sagte sie. «Sperren Sie den Fahrbahnrand ab.» Sie deutete mit ausholender Geste auf die vom Blaulicht erleuchtete Schneewehe vor dem Hunter. «Das Opfer liegt auf der anderen Seite in einem Entwässerungsgraben. Sehen Sie die Lücke im Schnee dort?»

Der Fahrer nickte.

«Sperren Sie alles im Umkreis von zehn Metern ab, verstanden?»

«Ja, Frau Hauptmann.» Seine Wangen schlackerten, als er nickte.

Sie vergewisserte sich mit einem Blick auf seine Schulterklappen, dass er der Ranghöhere der beiden Beamten war. «Und sagen Sie Ihrem Vorgesetzten, dass das hier den ganzen Vormittag dauern wird.»

«Ja, Frau Hauptmann», wiederholte er.

Dann wandte sie sich dem anderen Beamten zu. Er war jünger und trank einen Energydrink. «Sie kümmern sich um den Verkehr, damit keine betrunkenen Idioten in uns hineinfahren. Bitten Sie jemanden, Sie einmal pro Stunde abzulösen, damit Sie zehn Minuten Pause machen und sich aufwärmen können.»

Ein Licht fiel auf die Straße, als die Fahrerin des Krankenwagens – eine stämmige Frau in einem blauen Overall – die Hecktüren öffnete. Sie nahm eine Bahre mit ausklappbaren Beinen heraus und legte eine Plastikplane darauf. Ein Arzt erschien hinter Natalja. Er war in den Vierzigern, hatte einen Schnurrbart und allmählich grau werdendes Haar.

«Frohe Weihnachten! Ist sie tot?», rief er scheinbar ohne Ironie und mit einem Funkeln in den Augen: offenbar ein Schwerenöter.

«Frohe Weihnachten», erwiderte sie mit der angemessenen Portion Sarkasmus. «Ich habe Totenflecken festgestellt, außerdem reagieren ihre Pupillen nicht auf Licht.»

«Das ist dann wohl tot genug.» Er gab der Fahrerin mit einer leichten Kopfbewegung zu verstehen, dass sie die Plastikplane weiter auffalten sollte: Es war ein Leichensack.

«Die kriminaltechnische Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.»

«Dann warten wir im Krankenwagen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.»

Der Fahrer des kleinen weißen Lieferwagens hinter der Ambulanz nahm einen farblich zu seinem grausilbernen Parka