Tod in Weißen Nächten - G.D. Abson - E-Book + Hörbuch

Tod in Weißen Nächten Hörbuch

G.D. Abson

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Beschreibung

Sankt Petersburg kann tödlich sein. Eine junge Frau verschwindet im Halblicht der Weißen Nächte. Kommissarin Natalja Iwanowa, ebenso bekannt für ihre Integrität wie für ihre scharfe Zunge, wird beauftragt, dem Verschwinden der schwedischen Studentin nachzugehen. Ihr Team ermittelt unter Hochdruck, da der Vater des Opfers extrem vermögend ist und ihre Chefs einen schnellen Ermittlungserfolg wollen. Tatsächlich scheint der Fall gelöst, als eine komplett verbrannte Leiche gefunden wird. Neben den Überresten: Zena Dahls Handtasche, auf der Fingerabdrücke sichergestellt werden können. Doch Natalja ist sich sicher, dass jemand im Hintergrund die Fäden zieht, und sie setzt gegen die Anweisungen ihrer Vorgesetzten alles daran, die wahren Zusammenhänge aufzudecken. Sie bringt damit nicht nur ihre Karriere, sondern auch ihr eigenes Leben in Gefahr…Der atmosphärische, spannende Auftakt der Sankt Petersburger-Serie um die Kommissarin Natalja Iwanowa, die sich keinem System beugt, sondern nur ein Ziel verfolgt, koste es, was es wolle: Die Wahrheit.

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Zeit:12 Std. 40 min

Sprecher:Sabine Swoboda

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Ähnliche


G.D. Abson

Tod in weißen Nächten

Kriminalroman

 

 

Aus dem Englischen von Kristof Kurz

 

Über dieses Buch

Eine junge Frau, verschwunden im Halblicht der Weißen Nächte von St. Petersburg

 

Kommissarin Natalja Iwanowa, ebenso bekannt für ihre Integrität wie für ihre scharfe Zunge, wird beauftragt, dem Verschwinden einer schwedischen Studentin nachzugehen. Ihr Team ermittelt unter Hochdruck, da der Vater des Opfers extrem vermögend ist und ihre Chefs einen schnellen Ermittlungserfolg wollen. Tatsächlich scheint der Fall gelöst, als eine komplett verbrannte Leiche gefunden wird. Neben den Überresten: Zena Dahls Handtasche, auf der Fingerabdrücke sichergestellt werden können. Doch Natalja ist sich sicher, dass jemand im Hintergrund die Fäden zieht, und sie setzt gegen die Anweisungen ihrer Vorgesetzten alles daran, die wahren Zusammenhänge aufzudecken. Sie bringt damit nicht nur ihr eigenes Leben in Gefahr.

 

«Faszinierend.» The Sunday Times Crime Club Star Pick

 

«Abson tut für das zeitgenössische St. Petersburg, was Martin ‹Gorki Park› Cruz Smith für Polizeiarbeit im Moskau der Sowjet-Ära getan hat.» Tom Callaghan

Vita

G.D. Abson wuchs auf Militärbasen in Deutschland und Singapur auf, bevor er nach Großbritannien zurückkehrte und unter anderem Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Russland studierte. Heute lebt und arbeitet er als selbständiger Business-Analyst im Süden Englands. «Tod in Weißen Nächten» ist sein Debüt.

 

Kristof Kurz lebt und arbeitet als freiberuflicher Übersetzer und Redakteur in München und hat unter anderem Werke von Robert Galbraith, Harry Bingham und Simon Scarrow ins Deutsche übertragen.

Für Jenny

Prolog

Sankt Petersburg, Silvesterabend 1999

Juris Männer tranken schon seit Mittag Wodka. Sie warf einen Blick durch die Durchreiche und sah Sascha, der eines ihrer Kristallgläser in der Hand hielt und einen Trinkspruch ausbrachte. Um ihm nicht zuhören zu müssen, zerpflückte sie einen Salatkopf über dem Spülbecken und wusch die Blätter im eiskalten Wasser, bis ihre Finger taub waren. Als sie angestrengtes Grunzen hörte, warf sie die Blätter in die Salatschleuder und kehrte zur Durchreiche zurück. Die beiden Männer saßen an ihrem Couchtisch und vertrieben sich die Zeit mit Armdrücken. Ihre Hemdsärmel waren hochgekrempelt, man sah blasse Haut und angeschwollene Muskeln, der Rauch ihrer abgelegten Zigaretten stieg wie Zirruswolken in die abgestandene Luft. Sie schraubte ein Glas mit eingelegten Tomaten auf, schnitt drei davon auf einem Holzbrett in Scheiben und gab sie zu den fein gehackten Gurken und Zwiebeln in eine Schüssel.

«Hier ist es ja völlig verraucht.» Sie wedelte betont energisch mit der freien Hand durch die Luft, dann stellte sie die Schüssel neben den Rote-Bete-Salat auf den Esszimmertisch.

Sascha hob beschwichtigend die Hand, klopfte die Asche von seiner Zigarette und nahm einen Zug. «Kristina, ist das alles? Ich bin am Verhungern.»

Sie sah ihn an und dann schnell wieder weg, um ihm nicht ins Gesicht lügen zu müssen. «Der Rest kommt gleich, keine Sorge.» Sie durften nicht nüchtern werden.

Sie hob einige Puzzleteile vom Boden auf – Xenija hatte das Puzzle zu ihrem zweiten Geburtstag bekommen, warf es aber meist nur frustriert durch den Raum, anstatt es zu lösen – und legte sie zu den anderen Spielsachen in die Ecke. Dann zog sie die Jalousie hoch. Draußen war es bis auf den gelben Schein der runden Straßenlampen und das Licht in den Fenstern jenseits des Kanals pechschwarz. Eis knackte, als sie das Fenster aufdrückte, frostige Luft strömte in den Raum und vertrieb die Zirruswolken. Sie schloss das Fenster erst wieder, als die Kälte schmerzte, dann ließ sie die Jalousie herunter.

Sascha hatte sein braunes Haar mit Gel zu kleinen Stacheln geformt, sodass es aussah, als hätte er sich ein Otterfell auf den Schädel geklebt. Diese Vorstellung gefiel ihr, sie sorgte dafür, dass er ihr trotz seiner Waffe nicht ganz so bedrohlich vorkam. Normalerweise steckte die mattschwarze Pistole in der Innentasche seiner Jacke, doch heute lag sie neben seinem Ellenbogen auf dem Tisch. Sie nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel auf der Sofalehne. Da das Feuerzeug neben der Pistole lag, wartete sie geduldig, bis Wowa ihr Zögern bemerkte und ihr Feuer gab. Gedankenverloren zupfte sie sich eine Tabakflocke von der Zunge, die sich aus der billigen Zigarette gelöst hatte, und wischte sie am Aschenbecherrand ab.

«Was für eine beschissene Stadt», sagte sie zu niemandem im Besonderen. «Ich werde mich nie an die Kälte gewöhnen.»

Sascha zündete sich ebenfalls eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, dann schenkte er sich und Wowa aus der Stolichnaya-Flasche nach. Sie holte sich ein Kristallglas aus dem Holzschrank. Er füllte es ebenfalls, bis das Glas fast überlief und die Flasche leer war.

Sie kippte den Wodka hinunter und hoffte, dass er ihre Nerven beruhigte. «Hier ist es ja um vier Uhr nachmittags schon dunkel.»

Wowa, der es sich auf ihrem Ledersofa gemütlich gemacht hatte, leerte sein Glas mit einer kurzen Drehung des Handgelenks. «Im Sommer ist es hier eigentlich ganz schön», sagte er, griff nach einer eingelegten Gurke, ließ den Essig am Glasrand abtropfen und steckte sie sich in den Mund.

Sie reichte Sascha den Aschenbecher und wandte sich Wowa zu, der beinahe einen Kopf kleiner als Sascha war. «Ja, aber dann wird es drei Monate lang überhaupt nicht mehr dunkel. Bei diesem schummrigen Zombielicht krieg ich kein Auge zu.»

Wowa leckte sich die Finger ab. «Piter ist entweder schwarz oder weiß. Das war schon immer so.»

Ob sie ihn womöglich falsch eingeschätzt hatte? Bei Tageslicht war es kaum vorstellbar, dass es eine Stadt gab, die heller leuchtete als Sankt Petersburg mit seinem Winterpalast und dem Mariinski-Theater, doch es hatte auch eine dunkle Seite. Diese Stadt fraß junge Männer wie Sascha und Wowa bei lebendigem Leib auf, verwandelte sie in aufgedunsene Leichen, noch bevor sie ihre besten Jahre erreicht hatten. Angeblich waren beim Bau der Stadt einhunderttausend Sklaven ums Leben gekommen und ihre Knochen unter dem Gewicht der breiten, europäischen Boulevards und Prachtstraßen zu Staub zermalmt worden. Manchmal fragte sie sich, ob ihre Geister noch in der Stadt umgingen.

Sascha öffnete eine neue Flasche Stolichnaya. «Wie lange bist du schon hier?»

«Drei Jahre.» Sie zog an der Zigarette. Vom Nikotin wurde ihr schwindlig. «Wir sind direkt nach der Hochzeitsreise hierhergezogen.»

Sascha blickte auf. «Und wann haben sie Juri eingebuchtet?»

Das solltest du doch wissen, dachte sie. «Vor drei Monaten.»

 

Es war Ende September gewesen, in der letzten sonnigen Woche des Altweibersommers – oder Bauernfrauensommers, wie es hier hieß. Sie hatten Juri in die Strafkolonie nach Krasnojarsk gebracht, gleichzeitig waren Sascha und Wowa aufgetaucht. Sie waren ihr und Xenija vom ersten Tag an beständig und überallhin gefolgt und hatten es innerhalb von zwei Wochen geschafft, die wenigen Freunde zu vergraulen, die sie in Sankt Petersburg – oder Piter, wie sie mittlerweile sagte – gefunden hatte. Zuerst hatte sie sich bitter und empört bei Sascha über dieses Eindringen in ihr Privatleben beklagt, doch das hatte lediglich eine noch intensivere Überwachung zur Folge gehabt. Mit jeder Beschwerde wuchs der Verdacht der beiden Männer, dass sie etwas zu verbergen hatte. Sie misstrauten ihr, und das völlig zu Recht.

Also hatte sie es mit einem anderen Ansatz versucht. Bisher waren sie nur Alexander und Wladimir gewesen, jetzt nannte sie sie bei ihren Spitznamen. Als sie ihr einmal ins DLT, das schicke Kaufhaus in der Innenstadt, gefolgt waren, hatte sie sie prompt gebeten, ihr beim Aussuchen eines Kleides für Xenija zu helfen. Unter der Woche kaufte sie ihnen Kekse und Kuchen, am Wochenende Wodka und Zigaretten. Manchmal flirtete sie sogar ein wenig mit Sascha, berührte ihn leicht, wenn sie an ihm vorbeiging, oder bewunderte seine Mus keln.

«Wo kommt ihr beiden eigentlich her?», hatte sie gefragt.

«Kuptschino», hatte Wowa mit unangebrachtem Stolz verkündet.

«Also südlich von der Stadt, ja?»

«Genau», murmelte er und konnte ihr dabei kaum in die Augen sehen.

«Ich bin aus Wolgodonsk», hatte sie gesagt. «Aus einem beschissenen Chruschtschowka-Plattenbau, genau wie ihr.»

Ende Oktober hatte ihr Sascha dann erlaubt, das Haus ohne Begleitung zu verlassen. Selbstverständlich waren sie ihr und Xenija trotzdem gefolgt, waren hinter ihnen auf dem Gehweg hergetrottet wie zwei verwaiste Bären. Sie hatte den Kinderwagen geschoben und so getan, als würde sie sie nicht bemerken. Als sie dann eine Minute nach ihr zu Hause ankamen, reagierte sie mit gespielter Überraschung auf diesen vermeintlichen Zufall. Im November, als es dunkel und kalt wurde, stellten sie dann auch die Beschattung ein.

«Hallo, jemand zu Hause?» Sascha sah sie mit glasigen Augen an.

«Ich war ganz in Gedanken.» Sie zwang sich zu einem Lächeln, dann sah sie den beiden Männern dabei zu, wie sie sich zu einer erneuten Partie Armdrücken über den Tisch beugten. Saschas Bizeps zuckte vor Anstrengung bei dem Versuch, Wowa zu überrumpeln und einen schnellen Sieg zu erringen. Wowa hielt dagegen. Die Tischbeine ruckelten.

Sie drückte die Zigarette aus. «Ich gehe zum Produkti, bevor er zumacht.» Sie hatte diesen Satz in einem unbeobachteten Augenblick immer wieder in ihrem Schlafzimmer geübt, doch nun war sie so nervös, dass sie einfach weiterplapperte. «Ich brauche noch Frühstücksflocken – ich meine, Xenija braucht welche.»

Sascha drehte sich zu ihr um. «Kannst du mir eine Schachtel Marlboro mitbringen? Die roten.» Dann wandte er sich wieder dem Armdrücken zu.

Sie warf einen Blick auf die geöffnete «Peter der Große»-Schachtel. Zigaretten hatte er noch reichlich, er wollte sie nur ausnutzen, aber in diesem Moment war ihr das egal.

«Wodka?»

«Nein, davon ist genug da», sagte Sascha, ganz darauf konzentriert, sich nicht von Wowa überrumpeln zu lassen. «Ich hab auch Wein gekauft, falls du mit uns trinken willst», fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.

Hätte ihr Ehemann diesen Blick gesehen, er hätte dem Idioten glatt den Schwanz abgeschnitten. «Später vielleicht», sagte sie mit einem koketten Schulterzucken.

«Warte.» Er löste sich aus Wowas Griff, streckte mehrmals die Finger aus und ballte sie wieder zur Faust, als hätte er einen Krampf. «Ich komme mit.»

Panik stieg in ihr auf. «Nein, bleib lieber hier. Draußen ist es eiskalt.»

«Und was ist mit …?», fragte er besorgt.

«Xenija? Keine Sorge, die schläft tief und fest.» Dass es ein Riese wie Sascha bei der Vorstellung, sich um eine Zweijährige kümmern zu müssen, mit der Angst zu tun bekam, ließ sie schmunzeln.

Sie zog ihren Wintermantel an und klopfte mit einstudierten Bewegungen die Taschen ab. «Wo ist denn nur mein verdammtes Portemonnaie?»

Anstatt in ihrem Schlafzimmer nachzusehen, ging sie ins Kinderzimmer und spähte durch einen Schlitz in der Jalousie. Der Schiguli parkte immer noch auf der anderen Straßenseite. Sie hatte ihn schon vor fünf Tagen bemerkt, als er noch völlig mit Schnee bedeckt gewesen war. Inzwischen hatte er den Schnee abgeräumt, der nun als Matsch auf dem Asphalt lag. Im gelben Schein der Natriumdampflampe erschien der Wagen beige. Es war ein altes Modell; ein so eckiges, kastiges Auto gab es wohl nur in Kinderzeichnungen – oder auf dem Reißbrett eines sowjetischen Ingenieurs. Auf der Fahrerseite regte sich nichts, kein Schatten, keine Silhouette ließ darauf schließen, dass er darin saß. Es wäre auch viel zu riskant gewesen, die ganze Zeit so nahe an ihrer Wohnung im Wagen auf sie zu warten.

Sie sah sich auf der Straße um. Drei Pärchen hatten sich zeitig zu ihrer Neujahrsparty aufgemacht. Die Frauen trugen Pelz, die Männer modische Dreiviertelmäntel und Uschankas. Er war sicher auch irgendwo in der Nähe; eine vermummte Gestalt, die vor dem beißend kalten Wind Schutz gesucht hatte. Wahrscheinlich hatte er sich in der schmalen Seitengasse versteckt, die ein paar Meter hinter seinem Wagen abging. Sie führte zum Gribojedow-Kanal, wo sie oft stand und das kleine Loch anstarrte, an dem das schwarze Wasser zuletzt zufror. Vor ihrer Schwangerschaft, als sie erkannt hatte, was für ein Mensch Juri war, hatte sie gelegentlich die Versuchung gepackt, mehr zu tun, als nur auf dieses Loch zu starren.

Sie hatte eine von Xenijas dicken Strumpfhosen, zwei dünne Decken, Felix – Xenijas Lieblingsteddy – und mehrere Wegwerfwindeln in die Einkaufstasche aus Nylon gestopft. Ihr wurde das Herz schwer, wenn sie daran dachte, was sie in der Wohnung zurückließ – ganz besonders tat es ihr um die selbstgehäkelten Spitzendeckchen leid, die sie von ihrer Großmutter zur Hochzeit bekommen hatte.

Xenija gab ein leises Murmeln von sich, als sie ihr die Schaffellmütze auf den Kopf setzte und sie fest in eine Decke wickelte. Juri hätte seiner leiblichen Tochter niemals etwas zuleide getan, aber sie war nicht sein Fleisch und Blut. Wenn Sascha und Wowa sie erwischten – nun, Juri würde sich ganz sicher nicht nachsagen lassen, es zuzulassen, dass man ihm Hörner aufsetzte. Zweifellos hatten sie ihre Befehle, und dann konnte Sascha endlich seine Pistole zum Einsatz bringen. Die beiden taten ihr fast leid. Wenn ihr die Flucht gelang, war es das Beste für Sascha und Wowa, sich ebenfalls aus dem Staub zu machen. Kristina wusste, wie solche Männer tickten: Sie klammerten sich an ihre Loyalität wie Ostseematrosen an ihre Schiffswracks und gingen damit unter, obwohl sie auch einfach hätten an Land schwimmen können.

Der Griff der Nylontasche schnitt in ihre Hand, als sie sich vorbeugte, um Xenija hochzuheben. Mit dem Kind auf dem Arm ging sie langsam durch den Flur.

Xenija öffnete die Augen. «Mama?»

«Pssst», flüsterte sie. «Wir gehen zu einem Zauberschloss, aber nur, wenn du ganz, ganz still bist.»

Xenija nickte ernst. Sie war noch im Halbschlaf. Ihre Lider flatterten kurz und schlossen sich dann wieder.

Aus dem Wohnzimmer drang ein Siegesschrei. «Vergiss die Zigaretten nicht», rief der triumphierende Sascha kurz darauf mit wodkaschwerer Stimme.

Sie schlich sich die Treppe hinunter und öffnete die stählerne Haustür. Sofort brannten ihre Wangen vor Kälte, und die eisige Luft raubte ihr den Atem. Beim Schließen der schweren Tür verlor sie beinahe das Gleichgewicht. Dann ging sie die Straße hinunter. Ihre Schritte knirschten laut auf dem Splitt, mit dem der Bürgersteig gestreut worden war. Xenija vergrub den Kopf im Pelzrevers ihres Mantels.

Sie verschnaufte eine Minute vor einem geschlossenen Zeitschriftenkiosk. Ihre Arme, in denen sie Xenija und die Einkaufstasche hielt, brannten vor Anstrengung. Da sie keinen Schal trug, spürte sie bereits ein Stechen in Nase und Ohren. Als Nächstes würde die Taubheit folgen, dann Erfrierungen. Sie machte kehrt und ging wieder in Richtung Wohnung. Als sie den Schiguli erreichte, ging sie in die Hocke und setzte Xenija auf dem Boden ab.

«Bleib hier stehen. Mama zuliebe, ja?»

Das Kind nickte langsam und richtete sich auf.

Kristina nahm die Decken aus der Tasche und wickelte sie Xenija um.

«Nicht bewegen, mein Schatz.»

«Zauberschloss?»

«Ja, da gehen wir jetzt hin.»

Schwarze Lederstiefel erschienen in ihrem Blickfeld. Sie machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu heben.

«Alles klar?»

Die leicht lallende Stimme war ihr völlig unbekannt. Sie nickte eifrig, ohne Blickkontakt herzustellen. «Alles bestens.»

Sie rührte sich nicht und wartete, bis der Fremde weiterging. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie endlich seine auf Eis und Schotter knirschenden Schritte. Die Kälte schmerzte auf ihrer ungeschützten Gesichtshaut wie tausend Nadelstiche. Auf Xenijas Wangen hatten sich kreisrunde rote Flecken gebildet. Sie zog die Strickdecke noch fester um sie, bis nur noch die Augen herausguckten.

«Sei brav und bleib hier. Mama zuliebe, ja?»

«Ich will ins Bett.»

«Bald, mein Schatz.»

Sie griff mit der behandschuhten Hand in den vorderen Radkasten des Schiguli und fuhr an der Innenseite entlang, bis sie den kleinen magnetischen Metallkasten ertastete, den er dort wie angekündigt deponiert hatte. Sie stützte sich am Reifen ab, packte den Kasten und zog. Ihre Hand rutschte ab – das verdammte Ding war festgefroren. Sie versuchte es noch einmal. Vergebens. Schließlich ballte sie die Hand zur Faust und schlug auf das Kästchen ein. Sie spürte, wie die scharfe Metallkante durch die Wolle des Handschuhs hindurch ihre Knöchel aufkratzte. Die Tränen, die ihr daraufhin in die Augen schossen, froren sofort fest und stachen wie Nadeln. Wieder machte sie eine Faust und schlug gegen den Kasten, blinzelte, bevor sich neue Tränen bilden konnten und hielt sich die schmerzende Hand. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Dann bemerkte sie, dass das Kästchen geräuschlos in den Schnee gefallen war.

Ihr rechter Handschuh war steif von Blut. Sie zog ihn aus und hob den Kasten auf. Ihre Finger klebten an dem eiskalten Metall fest. Sie drückte gegen die Oberkante, woraufhin sich das Kästchen mühelos aufschieben ließ. Ein einzelner silberner Schlüssel kam darin zum Vorschein.

Sie probierte ihn am Schloss der Beifahrertür aus, hatte jedoch kaum die Spitze hineingesteckt, als er schon klemmte.

«Herr Jesus Christus.» Sie lief zur Fahrerseite hinüber, die man von ihrer Wohnung aus deutlich sehen konnte.

Dort setzte sie ihr Gebet fort: «Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder. Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder. Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder.» Die Worte konnten sie kaum beruhigen. Irgendwann würden sich Sascha und Wowa fragen, wo sie so lange blieb, und dann würden sie unweigerlich aus dem Fenster sehen.

«Mama, ich will nach Hause!», rief Xenija, die noch auf dem Gehweg stand.

«Pssst! Sonst gibt’s kein Zauberschloss.»

«Neeeeeein!», heulte Xenija. «Ich will nach Hause!»

Kristina kämpfte gegen die Versuchung an, zu ihr zu gehen und sie zu beruhigen. Der Schlüssel ließ sich in das Schloss der Fahrertür schieben, doch auch das war eingefroren. Sie warf einen Blick zu ihrer Wohnung im zweiten Stock hinauf. Die Jalousien lagen im Schatten, es war unmöglich zu erkennen, ob sie sie in diesem Augenblick beobachteten. Sie schlug mit der Handfläche auf den Schlüssel, um ihn weiter ins Schloss zu treiben.

«Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder. Herr Jesus Christus, Sohn Gottes …»

Xenija kreischte los.

Eilige Schritte nahten.

Eine behandschuhte Hand nahm ihr den Schlüssel ab. «Lass mich mal versuchen.» Er stieß seinen Atem aus wie eine Fabrik Rauchwolken.

Sie sah zu ihm auf. «Verdammte Scheiße, wo hast du denn gesteckt?», wollte sie wissen.

«Ich musste mal pinkeln.»

Er roch nach Alkohol. «Ist das hier etwa ein Spiel für dich?»

«Mir war kalt.»

Seine Wangen waren wie kühler Lehm. Sie schüttelte den Kopf. «Mach schnell, das Schloss ist eingefroren.»

Er hielt ein Feuerzeug unter den Schlüssel. Sie lief um den Schiguli herum und hob Xenija hoch. «Pssst, jetzt fahren wir zum Zauberschloss. Da gibt’s Pferde und Elefanten.»

«Ich will nach Hause», heulte Xenija.

Er steckte den Schlüssel ins Schloss. Diesmal ließ er sich herumdrehen. Er beugte sich über den Sitz, um ihr die Beifahrertür zu öffnen.

Mit Xenija in den Armen stieg sie ein. Dann nahm sie die Einkaufstasche vom Gehweg.

Xenijas Gebrüll verstummte, als sie den Mann neben sich bemerkte. Neugierig kniff sie die Augen zusammen.

Er ließ den Motor an. «Scheiße. Ich hab keinen Kindersitz dabei.»

«Nicht so wichtig. Fahr einfach los.»

Die in Decken eingewickelte Xenija wimmerte kurz in ihren Armen und schlief schnell ein. Dann wurde ihr leises Schnarchen vom Motorlärm übertönt.

 

Auf der Alexander-Newski-Brücke staute sich der Verkehr.

«Meine Güte, so viele Autos.» Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und starrte die auf drei Fahrspuren verteilten Bremslichter vor sich an. «Werden sie uns folgen?»

Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass er Sascha und Wowa meinte. «Zumindest werden sie inzwischen Bescheid wissen.»

«Und was sollen wir jetzt machen?»

Zwei Feuerwerkskörper wurden verfrüht von einem Lastkahn auf der Newa abgeschossen. Schillernd wie Phosphorfackeln erleuchteten sie die Menschen in den Autos. Sie sank tiefer in den Sitz – sie waren auf der vorhersehbarsten Route aus der Stadt hinaus unterwegs und immer noch keine zweihundert Meter von ihrer Wohnung entfernt.

«Hoffen und beten.»

Bremslichter verloschen und leuchteten wieder auf, als sich die Autos vor ihnen langsam in Bewegung setzten und erneut anhielten. Sie versuchte, sich auf Xenijas leichten Atem zu konzentrieren.

Das Trommeln seiner Finger auf dem Lenkrad riss sie aus ihrer Versunkenheit. «Sollen wir zur Polizei gehen?», fragte er.

Sie schnaubte ungläubig. «Glaubst du, dass die Miliz dir hilft, mit einer verheirateten Frau durchzubrennen? Die bringen mich nach Hause zurück und nehmen dir dein Geld ab.»

«Wird er nach dir suchen?»

«Juri? Der wird niemals aufhören … er weiß, dass ich ihn verlasse. Das hab ich ihm geschrieben.»

«Du hast was?»

«Nur die Ruhe – ich hab ihm einen Brief nach Krasnodar geschickt.» Sie genoss das Entsetzen auf seinem Gesicht. «Keine Sorge, die Post dort ist beschissen. Bis er den Brief zu Gesicht bekommt, sind wir längst über alle Berge.»

«Und was hast du ihm geschrieben?»

«‹Hey, Ehemann, du altes Arschloch. Wir sind abgehauen. Such nicht nach uns, du findest uns sowieso nicht›.» Sie grinste ihn an. «Tja, nicht gerade Tolstoi.»

 

Sie hatten die Stadt vor zwei Stunden hinter sich gelassen. Kristina zitterte immer noch, obwohl die Heizung auf Hochtouren lief. Die Straße weg vom Meer und nach Norden in Richtung Finnland wurde zu beiden Seiten von bedrohlichen Wäldern flankiert. Im Winter fielen die Temperaturen hier bis auf dreißig Grad unter null. Xenija bewegte sich im Schlaf, und Kristina nutzte die Gelegenheit und rutschte herum, bis wieder Blut in ihren eingeschlafenen rechten Arm floss. Als Gegenmaßnahme gegen die bedrückende Stille, die im Schiguli herrschte, schaltete er das Radio ein, und als er außer Rauschen nichts hereinbekam, wechselte er auf Langwelle. Sie hörte die Stimme des Präsidenten, und was er zu sagen hatte, verschlug ihr die Sprache.

Erst war der Tschetschenienkrieg mit seinen Schrecken gekommen, dann hatte der Rubel einen Sinkflug hingelegt, sodass alle ihre Ersparnisse verloren hatten. Und dennoch hielt sich Jelzin – unterstützt von Beresowski und den anderen Oligarchen – im Amt. Während eines Amerikabesuchs hatte man ihn betrunken und in Unterwäsche vor dem Weißen Haus aufgegriffen. In der satirischen Gummipuppenshow Kukly wurde Jelzin so oft verspottet, dass sie es nicht mehr hatte mitansehen können.

«Er schmeißt hin», sagte sie schockiert. «Boris Jelzin tritt zurück.»

Sie drehte lauter, bis sie die Ansprache über den Lärm des Schiguli etwas besser verstehen konnte.

«Ich möchte Sie um Vergebung bitten. Um Vergebung dafür, dass viele Ihrer Erwartungen enttäuscht wurden … Dem Schmerz eines jeden von Ihnen fühlte ich als Schmerz in meinem Herzen nach … Zum Abschied möchte ich Glück wünschen. Sie haben Glück verdient. Sie haben Glück und Ruhe verdient.»

Der alte Narr brachte sie doch tatsächlich zum Weinen. Sie beugte sich vor und tupfte ihre Tränen am Jackenärmel ab.

Jetzt war ein KGB-Mann namens Putin kommissarischer Präsident. Er versprach Meinungsfreiheit und Gewissensfreiheit, und sie fragte sich, ob er beim Reden wohl höhnisch grinste. Wenigstens trank er nicht, und womöglich war ein ernsthafter und nüchterner Mann genau das, was das Land gerade brauchte.

Die Straße war leer, und er beschleunigte auf hundert Stundenkilometer. Im kegelförmigen Scheinwerferlicht tanzten Schneeflocken. Einerseits wollte sie ihn ermahnen, langsamer zu fahren, andererseits wollte sie, genau wie er, so schnell wie möglich weit weg von hier. Es folgte eine Liveübertragung vom Platz vor dem Kreml. Schweigend lauschten sie den Glocken des Erlöserturms.

«Frohes neues Jahr, Liebster.» Sie drückte seine Hand. «Auf dass wir Glück und Frieden finden.»

«Ich liebe dich», sagte er.

«Ich liebe dich auch.» Sie kaschierte die Notlüge mit einem Lächeln.

Er riss seine Hand aus ihrem Griff.

Verwirrt sah sie ihn an. Er umklammerte mit weit geöffnetem Mund das Lenkrad.

Der Schiguli schlitterte leise über die vereiste Straße. Er trat aufs Bremspedal. Das Auto brach nach links aus. Sie drückte Xenija fest an ihre Brust. Der Schiguli geriet auf die Gegenfahrbahn, dann prallte Stahl auf Stahl, und sie wurde nach vorne geschleudert. Schreiend flog sie durch die klare Nachtluft.

1

Die Weißen Nächte, Juni 2017

Zena Dahl versuchte, die Nevskoe-Flasche zu fixieren, doch es wollte nicht klappen. Das verdammte Ding schien ein Eigenleben zu führen. Dahinter tanzten die Reste vom eingelegten Hering, dem Lachs in Dill und dem Rote-Bete-Salat in grellen Neonfarben auf ihren Tellern. Sie kniff die Augen zusammen, um ihr verschwommenes Spiegelbild auf dem verchromten Serviettenhalter besser sehen zu können. In der Bar war es so feucht, dass sich ihr dickes blondes Haar kräuselte.

«Das darfst du nicht sagen, Zena.»

Sie blickte auf. Julijas Gesicht verschwamm, dann sah sie das geglättete braune Haar und die korallenroten Lippen gleich mehrfach. Sie kniff die Augen zusammen, bis sie Julija nur noch in einfacher Ausführung vor sich hatte. Diese machte ein finsteres Gesicht, zog an ihrer E-Zigarette, legte den Kopf in den Nacken und blies den Dampf zur Decke.

Ach, Mist. Sie hatte laut über Korruption gesprochen und eigentlich nur die dämlichen Argumente ihres Vaters wiederholt – und das hatte sie jetzt davon.

«Tut mir leid, ich hab wohl ein bisschen zu viel getrunken.» Sie blies die Wangen auf und atmete aus.

Julija steckte die E-Zigarette in ihre falsche Gucci-Handtasche und nahm die Bierflasche in die Hand. «Übrigens hast du recht.»

Zena grinste und ließ ihre Flasche gegen Julijas Budweiser Light klirren.

«Sdorowje.» Sie lallte leicht.

Julija trank ihr Bier aus und sah sich um. «Gehen wir, hier ist es stinklangweilig.»

Draußen war es von der Hitze des Tages noch so warm, dass sie von der sanften Brise, die über ihre bloßen Arme strich, noch nicht einmal Gänsehaut bekam. Beim blassen Schein der Sonne warf sie unwillkürlich einen Blick auf die Uhr: Es war tatsächlich schon kurz nach elf. Abends. Die Straße war voller Touristen. Sie holte ein paarmal tief Luft, um einen einigermaßen klaren Kopf zu bekommen. Julija bahnte sich bereits einen Weg durch eine kleine Menschenmenge, die einem Feuerschlucker zusah. Zena folgte ihr und bog nach links auf die Hauptstraße. Eine Reihe SUVs parkte am Straßenrand, die Fahrer standen daneben und rauchten. Auf dem Gehweg hatte sich eine Schlange gebildet, so lang wie sechs der riesigen Fahrzeuge. Sie gingen an den wartenden Menschen vorbei Richtung Eingang.

Julija wandte sich zu ihr um. «Der Club ist neu. Ich hab nur Gutes darüber gehört.» Dann senkte sie die Stimme. «Das solltest du übernehmen.»

Zena begriff, das machten sie nicht zum ersten Mal. Ausländer waren ständig in den Nachrichten: Die Kasachen und Usbeken nahmen den Russen die Arbeitsplätze weg, die Chinesen annektierten heimlich Sibirien, und wie immer schmiedete die NATO Pläne zu Russlands Vernichtung. Doch wenn es darum ging, in die Bars und Clubs der Stadt gelassen zu werden, waren Ausländer klar im Vorteil.

Der Türsteher kam auf sie zu. Er trug eine Jodhpurhose, ein braunes Hemd mit roten Kragenspiegeln und eine rote Schirmmütze und wirkte trotz seines Aufzugs unverschämt selbstsicher. Allerdings passte der Ohrhörer mit dem Spiralkabel, das seinen Hals entlang und in den Kragen führte, nicht ganz zur historischen Anmutung der Uniform. Sie sah sich nach dem Namen der Bar um: Cheka, in lateinischen Buchstaben.

«Hey, die Geheimpolizei», sagte sie auf Englisch und versuchte dabei, freundlich oder zumindest nicht so betrunken zu klingen, wie sie sich fühlte.

«Netter Versuch», erwiderte er auf Russisch, sah an ihr vorbei und musterte Julija von oben bis unten. Dann schüttelte er beinahe unmerklich den Kopf und verscheuchte die beiden mit einem eindeutigen Blick.

Zena griff nach dem schwedischen Personalausweis in ihrem Portemonnaie, doch die Aufmerksamkeit des Türstehers galt bereits einem schwarzen Porsche Cayenne. Der Fahrer, der auch als Bodyguard fungierte, stieg aus. Die beiden Männer, denen er mit unauffälliger Professionalität die Türen öffnete, schienen um Jahrzehnte älter als die übrigen Clubbesucher zu sein.

«Bisnismen», murmelte Julija verächtlich, während sie sich am Ende der Schlange einreihten.

Zena lächelte, doch das Verhalten des Türstehers schmerzte immer noch. Sie erinnerte sich an einen Flohmarkt in Udelnaja, wo ihr eine Frau in einer Batikbluse ein altes Propagandaposter hatte andrehen wollen.

«Das sind Sie», hatte die Frau gesagt und ihr ein gerahmtes Bild von einer rotwangigen, strohblonden jungen Frau am Steuer eines Traktors gezeigt.

Sie hatte das Poster nicht gekauft. Die Ähnlichkeit war zwar verblüffend, aber trotzdem nicht besonders schmeichelhaft gewesen, und sie konnte gut darauf verzichten, ständig an ihr drahtiges Haar und ihre stämmige Figur erinnert zu wer den.

 

Nach dreißig Minuten in der Schlange betraten sie endlich das Cheka. Julija bestellte Wodka. Der Kellner, der eine kakifarbene Zweiter-Weltkriegs-Uniform trug, hielt ihr die Flasche hin, damit Zena das Etikett lesen konnte. Weil er eine Ausländerin vor sich hatte, sprach er langsam und betont.

«Putin-ka», verkündete er. «Ein Witz. Ein alkoholisches Getränk zu Ehren unseres abstinenten Präsidenten.» Er lächelte freundlich. «Woher kommt ihr beiden?»

«Ich von hier und sie aus Schweden», sagte Julija mit flirtendem Unterton.

«Woher genau?»

Zena beobachtete schweigend, wie er ihre Gläser füllte. Der Kellner tat ihr leid. Wenn Julija nett zu jemandem war, dann nur, um ihn kurz darauf zu beleidigen oder zu demütigen. So war es immer, wenn sie gemeinsam ausgingen.

«Sie kommt aus einer kleinen Stadt, die du ganz bestimmt nicht kennst.»

«Vielleicht ja doch», sagte er.

Normalerweise folgte hier der Tritt in die Eier, und Julija würde etwas wie «Sie heißt ‹Zurück an die Arbeit›» sagen – oder, wenn sie noch eine Weile mit ihm spielen wollte: «Das verrat ich dir, wenn du mir einen Drink spendierst.» Eine nicht besonders sympathische Angewohnheit.

«Wie wär’s, wenn du …?»

«Östermalm», fiel ihr Zena ins Wort. «Das ist ein Stadtbezirk von Stockholm. Ich bin Zena.» Sie hielt ihm die Hand hin und bereute es sofort. Noch so eine altmodische Marotte, die sie von ihrem Vater hatte.

Der Kellner schüttelte ihre Hand mit einem Lächeln. «Ich bin Gavril. Sag einfach Bescheid, wenn du was brauchst. Hat mich gefreut, Zena.»

Julija machte eine Miene wie eine Katze, der man die Maus weggenommen hatte. «Sie ist reich», sagte sie, um die Unterhaltung wieder an sich zu reißen. «Ihr Vater kennt die Königin von Schweden.»

«Nur ein Scherz», sagte Zena überflüssigerweise. Der Kellner lächelte höflich.

«Dann noch einen schönen Abend.» Er schlug in einem gespielten Salut die Hacken zusammen.

«Was für ein Loser», sagte Julija, sobald er sich entfernt hatte.

«Ich fand ihn ganz nett.»

Julija warf den Kopf in den Nacken und hob das Glas. «Egal. Auf die Gesundheit.»

Sie kippten den Wodka, woraufhin Zena das Blut aus dem Gesicht wich. Sie stand auf. «Ich muss mal aufs Klo.»

Als sie nach weiterem Schlangestehen zurückkam, war ihr Tisch verlassen, doch sie musste nicht lange nach Julija suchen. Sie war auf der Tanzfläche, die langen, schlanken Arme in die Höhe gereckt – was den zweifellos beabsichtigten Effekt hatte, dass ihr rotes Minikleid hochrutschte und ein paar Zentimeter ihrer schmalen Oberschenkel über den halterlosen Strümpfen zum Vorschein kamen. Der junge Mann, der mit ihr tanzte, sah mit seinen markanten Wangenknochen und den schmalen slawischen Augen aus wie ein junger Gott. Er trug ein blütenweißes Hemd, dessen oberste Knöpfe offen standen, und warf die Arme hin und her wie ein Bär beim Dirigieren eines unsichtbaren Orchesters. Säure brannte in Zenas Magen.

Auch als Zena auf die podiumsähnliche Tanzfläche stieg und sich durch eine Gruppe von fünf, sechs Männern mit glattrasierten Köpfen zwängte, bekam Julija nichts davon mit. Die Männer lachten, bildeten einen Kreis um Zena und klatschten im Takt. Einer von ihnen trat in den Kreis und ging in die Hocke.

«Steh auf, steh auf, du Riesenland, heraus zur großen Schlacht!» Halb sangen, halb schrien sie über die jammernde Power-Ballade hinweg, die der DJ aufgelegt hatte.

Der hockende Mann legte die Hände auf die Hüften und vollführte gar nicht ungeschickt einen Kosakentanz. Sie stieß gegen sein ausgestrecktes Bein, und er fiel auf den Rücken.

«Den Nazihorden Widerstand!»

Zena wollte ihm aufhelfen, als sie bemerkte, dass er ihr unter den Rock sah. Sie drängte aus dem Kreis, stolperte und streckte den Arm aus, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

«Tod der Faschistenmacht!»

«Scheiße, bin ich besoffen», murmelte sie.

Der junge Mann im weißen Hemd sah sie mit belustigter Miene an. Mit Entsetzen fiel ihr auf, dass sie ihre Hand auf seine Brust gelegt hatte. Ihre Fingerspitzen waren durch den dünnen Stoff des Hemds gerutscht und ruhten auf seiner nackten Haut. Julija war nirgendwo zu sehen. Sie standen einfach wie erstarrt da, bis sie den Kopf zurücklegte und lächelte.

«Es breche über sie der Zorn wie finstre Flut herein», brüllten die Männer, ohne noch länger irgendeiner Melodie zu folgen.

Er ist bestimmt betrunken, dachte sie. Sie ließ die Finger auf seiner Brust liegen, dann zupfte sie an einem losen Faden. «Du hast einen Knopf verloren.»

Er lächelte zurück, und in einem irren Augenblick drückte sie den Mund auf seine Brust. Er schmeckte salzig, seine Haut fühlte sich so glatt an wie Plastik. Er legte die Hand auf ihre Hüfte.

«Das soll der Krieg des Volkes.»

Dann nahm er den Arm wieder fort, löste sich von ihr und trat einen Schritt zurück.

«Zena, was soll das denn?» Julijas schrille Stimme hallte in ihrem Ohr.

«Der Krieg der Menschheit sein.»

Zena zwängte sich durch den Kreis aus Reservisten, die aufhörten zu singen und ihr hinterherjohlten, als sie die Tanzfläche verließ. Sie schnappte sich die Putinka-Flasche vom Tisch, lief hinaus in das helle Sonnenlicht und drängte sich an den Touristen vorbei, die über den Ligowski-Prospekt flanierten.

«Hey!»

Der Türsteher mit der dämlichen Uniform rannte hinter ihr her. Sie kramte in ihrer Handtasche und warf mehrere Geldscheine auf den Boden.

«Bitch», rief er ihr auf Englisch hinterher.

Sie wartete, bis sie in sicherer Entfernung war, dann drehte sie sich um und ertappte ihn dabei, wie er seine Jodhpur-Hose hochzog, in die Hocke ging, die Geldscheine aufhob und sie sich in die Tasche steckte.

 

Mittlerweile hatte sie Gänsehaut auf den Armen. Erst war sie stundenlang ziellos umhergelaufen, bis ihre Wut darüber verraucht war, dass sie sich wie eine Schlampe aufgeführt hatte. Dann hatte sie sich in Selbstmitleid über den Verlust der einzigen richtigen Freundin gesuhlt, die sie in den neun Monaten in Sankt Petersburg gefunden hatte. Sie sah auf ihr iPhone, dann fiel ihr ein, dass sich der Akku irgendwann während ihrer Wanderung zwischen den hohen Bürogebäuden, die an beiden Seiten der Straße aufragten, verabschiedet hatte. Sie wollte weitergehen, als plötzlich etwas an ihrem linken Fuß zog.

«Verdammt.» Sie sah an sich herab. Ein Absatz steckte im Gehweg zwischen zwei Betonplatten fest.

Sie zog den Fuß aus dem samtenen Sechshundert-Dollar-Pumps, balancierte nur noch auf einem Absatz und verlor prompt das Gleichgewicht.

Eine graue Wand kam auf sie zu. «Oh Scheiße.»

Sie drehte sich noch rechtzeitig zur Seite, um den Aufprall mit der Schulter abzufangen. Dabei fiel ihr die Putinka-Flasche aus der Hand, landete klirrend auf dem Asphalt, rollte weiter und kam einen Meter von dem eingeklemmten Schuh entfernt zum Liegen. Sie glitt mit dem Rücken an der Wand herunter und dachte erst an ihr Kleid, als es vor statischer Aufladung knisterte. Sie hatte es in weniger als einem Tag ruiniert. Die vielen kleinen Seidenraupen hatten ganz umsonst gearbeitet. Sie ging in die Hocke, befreite den Absatz aus dem Spalt und griff nach der Flasche. Sie schraubte sie auf und setzte sie an die Lippen.

Dann hallte ein Knall durch die Stadt. Im ersten Augenblick dachte sie, die Kanone auf der Peter-und-Paul-Festung wäre abgefeuert worden, bis ihr einfiel, dass das nur um Punkt zwölf Uhr mittags geschah. Sie reckte den Hals und konnte hinter den Bürogebäuden rosafarbenes und weißes Feuerwerk erkennen. Die leuchtenden Kugeln am Himmel verblassten, sodass nur weißer Rauch in der Luft hängen blieb. Sie hörte den entfernten Jubel der Menge, bis er vom traurigen Tuten eines Nebelhorns übertönt wurde. Als sie einen etwas vorsichtigeren zweiten Schluck nahm, sah sie die Reflexionen weiterer Feuerwerkskörper auf dem Glas.

Früher, in Stockholm, hatte sie mit ihrem Vater die Paraden zur Konstens Natt angesehen. Das Festival mit seinen Tänzerinnen und Blaskapellen hatte sie jedes Mal tödlich gelangweilt, und sie schämte sich noch heute für die übertriebene Begeisterung, mit der er die Östermalmer in ihren selbstgebastelten Kostümen beklatscht hatte. Diese wiederum hatten sich die Hälse verrenkt, um einen Blick auf den prominenten Geschäftsmann werfen zu dürfen. Nach der Konstens Natt, die immer am Sommeranfang stattfand, ging die Sonne drei Monate lang nicht unter. Aber dieses Fest war geradezu erbärmlich im Vergleich zum Belye-Nochi-Festival, mit dem die Russen die Weißen Nächte von Sankt Petersburg feierten.

Julija hatte ihr erzählt, dass jedes Jahr zum Höhepunkt der Feierlichkeiten ein großes Schiff mit scharlachroten Segeln zu klassischer Musik die Newa hinunterfuhr. Dabei wurde so viel Feuerwerk abgebrannt, dass die chinesischen Fabriken, die es produzierten, bis zum Jahresende ausgelastet waren. Das alles fand erst in zwei Tagen statt, doch den Leuten, die ihre Raketen jetzt schon abschossen, hatte das offenbar niemand gesagt. Auf den Motorbooten tanzten die Feiernden in trunkener Ekstase, und im aufgewühlten Wasser der Kanäle spiegelte sich das bunte Licht der Feuerwerkskörper. Sie seufzte – das alles würde noch wochenlang so weitergehen, und sie war jetzt schon erschöpft.

Sie spitzte die Lippen. «Pu-tin-ka», sagte sie mit übertrieben tiefem, russischem Tonfall.

Schließlich schraubte sie die zur Hälfte geleerte Wodkaflasche zu, lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen.

 

Instinktiv schreckte sie aus dem Schlaf. Zwei Gestalten, deren Silhouetten sich undeutlich vor den Schatten der Bürogebäude abzeichneten, kamen auf sie zu. Einer blieb in einem Hauseingang stehen, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte, der andere kam immer näher. Er trug eine rote Adidas-Jogginghose und ein schmutziges gelbes T-Shirt. Seine ruinierten Zähne waren selbst aus zehn Metern Entfernung nicht zu übersehen, und unwillkürlich fiel ihr der Ausdruck Gopnik ein. Julija hatte ihn beim Anblick eines auf der Straße lebenden Jugendlichen gebraucht.

«Blöde Arschlöcher mit einem grauenhaften Modegeschmack», hatte Julija geantwortet, als sie nach seiner Bedeutung gefragt hatte.

Als der Gopnik noch näher kam, zog sie ihr Kleid herunter. Sie war sich ihrer nackten Beine deutlich bewusst. Möglichst beiläufig sah sie sich nach einem Fluchtweg um. Auf der Straße war weit und breit niemand zu sehen. Automatisch verkrampfte sich ihr Zwerchfell, und sie rieb sich fröstelnd die Arme. Der Junge sah sie nun direkt an. Er hielt eine Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen, der Rauch brannte ihr in den Augen.

«Willst du mal probieren?»

Sie schüttelte den Kopf.

Er ging in die Hocke, bis er auf Augenhöhe mit ihr war. Er nahm einen Schluck Jaguar, und sie roch seinen ekelhaft süßen Atem. Dann legte er die Hand auf ihren Hinterkopf und hielt ihr die Dose mit dem Alkopop an den Mund.

«Fass mich nicht an.»

Sie sprach schnell und mit scharfem, barschem Akzent, dann schlug sie seine Hand von ihrem Kopf weg. Die klebrige Flüssigkeit lief ihr Kinn hinunter.

«Du hast dich schmutzig gemacht.» Er stellte die Dose ab, griff nach dem Riemen ihrer Handtasche und beobachtete dabei genau ihre Reaktion.

Wieder verkrampfte sich ihr Zwerchfell.

«Tu …», begann sie, dann hielt sie inne, bevor sie ihn noch auf falsche Ideen brachte: Tu mir nicht weh.

«Lass mich in Ruhe», sagte sie stattdessen.

Er ignorierte sie einfach und öffnete die Handtasche. Eine Feuerwerksrakete explodierte in vielen gelben Blüten mit weißem Schweif. Wie ein Kind sah er ihnen mit offenem Mund hinterher, bis sie hinter den Gebäuden verschwanden.

Dann kehrte das Zwielicht zurück. Er senkte den Kopf und drehte sich um. «Scheiße, Stas, sieh dir das mal an», rief er in den Hauseingang hinein.

Sie hatte auf den Boden gestarrt, um keinen Blickkontakt herzustellen, doch jetzt wandte sie sich um. Er hielt ein Bündel mit Geldscheinen in der Hand und zählte. Allein der Gedanke an Flucht war lächerlich: zwei junge Männer gegen eine halbbetrunkene Frau. Ihr Zwerchfell verkrampfte sich ein weiteres Mal, und diesmal übergab sie sich.

Der Gopnik warf einen beiläufigen Blick auf das Erbrochene. «Du hast dich schmutzig gemacht», wiederholte er und schnalzte tadelnd mit der Zunge, als wäre er durch ihre Trunkenheit automatisch in der moralisch überlegenen Position. Er wippte auf den Fersen. «Amerikanische Dollar, Stas.»

Der andere Junge kam aus den Schatten und ging neben ihm in die Hocke. Sie zitterte, als ein Windstoß über ihre nackten Beine fuhr.

«Lasst mich in Ruhe!» Ihre Stimme hallte durch die verlassene Straße.

Stas’ Gesicht streifte ihres. Sie roch bitteren Zigarettenrauch und abgestandenen Schweiß, als er ihre Oberschenkel packte.

Sie funkelte ihn böse an. «Nimm deine Scheißfinger weg.»

Er grinste, wobei er braune Zähne entblößte. Fauliger Atem wehte sie an.

«Oder was, Prinzessin?» Voller Sarkasmus sah er sich in der menschenleeren Straße um.

Dann griff er nach ihrer Unterwäsche. Sie legte ihm die Hände auf die Handgelenke, bohrte ihre Nägel in seine Haut. Er riss kräftig an dem dünnen Stoff.

«Finger weg, hab ich gesagt!» Sie holte mit dem rechten Fuß aus und stieß mit dem Absatz nach seinem Gesicht.

Der Gopnik hielt ihr Bein mühelos fest. Seine Finger schlossen sich um ihren Knöchel.

«Nicht hier, Stas.»

Er drehte sich um. Während er abgelenkt war, schlug sie die Beine übereinander und spannte die Muskeln an. Er hob ihren Rock, sie holte mit der Hand aus und zerkratzte ihm mit den Nägeln die Wange. Seine Faust krachte gegen ihren Kiefer, ihr Kopf wurde gegen die Wand geschleudert. Da er kaum Kraft in den Schlag gelegt hatte, verspürte sie nur eine leichte Benommenheit.

Der Gopnik zog die Trainingshose herunter. Blasse, haarlose Beine kamen zum Vorschein. «Beine breit, du dreckige Schlampe», sagte er, ohne dem Blut auf seiner Wange Beachtung zu schenken.

Ein heftiges Zittern überkam sie, und ihre Beinmuskeln verkrampften sich.

Ganz in der Nähe ertönte eine Autohupe. Er zögerte.

«Dima?», zischte er. «Dima, du Pussy, wo bist du?»

Er zog mit einer Hand die Jogginghose über seinen steifen, zuckenden Penis, dann nahm er ein Handy aus der Tasche. Er drehte es herum, und sie hörte mehrere Klickgeräusche, als er sie damit fotografierte. Es war ihr egal – sollte er seine Pornofotos machen, solange er nur wieder dahin zurückkroch, wo er hergekommen war.

«Stas», zischte Dima aus den Schatten. «Da kommt jemand.»

«Ja, schon gut.» Er trottete davon.

Sie zog die zerrissene Unterhose hoch und griff nach ihrer Handtasche.

«Scheiße», sagte sie und legte die Handflächen auf die Backsteinwand, um sich abzustützen.

«Alles klar?», fragte eine Stimme.

Ruckartig zog Zena das Kleid nach unten und blickte auf. Jeans, dann eine schwarze Lederjacke über einem weißen Arbeitshemd.

«Alles prima», erwiderte sie barsch und fragte sich, wie lange er da schon stand.

Sie hob die Tasche auf und sah hinein.

«Oh nein», sagte sie laut.

Bis auf ihren Ausweis und die Wohnungsschlüssel war sie völlig leer. Wahrscheinlich hatte ihr der Gopnik beides gelassen, damit sie nicht zur Polizei ging. Immerhin war er nicht auf die Idee gekommen, ihr die Uhr abzunehmen – die TAG Heuer war genug wert, um ihn bis zum Rest seines erbärmlichen Lebens mit Jaguar zu versorgen.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, den Sommer in der Stadt zu verbringen. Eine dumme Idee, denn jetzt bedauerte sie, dass der nächste Mensch, der sich für ihr Wohlergehen interessierte, mehrere hundert Kilometer entfernt war. Obwohl sie einigermaßen ausgenüchtert war, brauchte es einen Augenblick der Konzentration, bis sie die winzigen Zeiger auf dem ziffernlosen Zifferblatt erkennen konnte. Viertel nach zwei; spät, aber nicht zu spät. Sie konnte immer noch in ihre Wohnung zurückkehren, sich ausschlafen, den Abendflug nach Stockholm buchen und ihren Vater mit einem nächtlichen Anruf vom Flughafen Arlanda überraschen. Dann würde sie darauf bestehen, dass sie die Ferien an einem vertrauten Ort, wie zum Beispiel Cap Ferrat, verbrachten, und sich fest vornehmen, nie wieder so verflucht dämlich zu sein.

«Soll ich Sie mitnehmen?»

Sie hatte den Mann ganz vergessen. Wieder blickte sie auf, sah sein bereits leicht ergrautes Haar und die Falten in seinem breiten Gesicht. Er wirkte nicht unbedingt wie der Typ, zu dem man sich ins Auto setzte, aber was wusste sie denn schon? Außerdem hatte sie keine andere Wahl. Dank des beschissenen Gopniks stand sie ohne einen einzigen Rubel da.

«Ja, bitte.»

Der Mann zückte einen Autoschlüssel und drückte auf den Knopf. In etwa zehn Metern Entfernung leuchteten die orangefarbenen Blinklichter und die Innenbeleuchtung eines schwarzen Range Rover Sport auf, sodass die hellgrünen Ledersitze zu erkennen waren. Sie schleppte sich darauf zu, bemühte sich, einigermaßen geradeaus zu gehen. Nach ein paar Schritten fiel ihr auf, dass er nicht an ihrer Seite war. Sie stützte sich mit der Hand an der Wand ab und drehte sich um. Er bückte sich und hob die halbvolle Flasche Putinka auf.

Dann kam er auf sie zu. «Du bist nicht von hier, schätze ich. Kein Einheimischer ließe so guten Wodka verkommen.»

Sie beschloss, die angedeutete Frage nicht zu beantworten. Erst letzten Donnerstag hatte sie zufällig das Ende einer Diskussionsrunde über den Beitritt Schwedens zur NATO im hiesigen Fernsehen gesehen. Das gekaufte Publikum hatte voller Empörung und mit unüberhörbarem Hass Vernichtung und nukleare Auslöschung gefordert.

Dieser Mann dagegen war äußerst zuvorkommend. Er ging an ihr vorbei und öffnete ihr die Tür, eine Geste, die sie mit einem dünnen Lächeln quittierte. Um diese Uhrzeit in den Wagen eines Fremden zu steigen war nicht nur dämlich, es war scheißdämlich, wie sie sehr wohl wusste – aber auch nicht schlimmer, als allein durch die Straßen zu ziehen.

Er warf die Wodkaflasche auf den Sitz hinter ihr und ging zur Fahrerseite hinüber. Mit zitternden Händen legte sie den Sicherheitsgurt an.

«Hier», sagte er, beugte sich vor und schloss den Gurt für sie. Als sich ihre Finger berührten, zog sie schnell die Hand weg.

«Scheiße», murmelte sie, als er den Motor anließ.

Eine Weile fuhren sie schweigend dahin. «Vielen Dank», sagte sie schließlich, als sie daran dachte, dass sie nur knapp einer Vergewaltigung entgangen war.

«Gar kein Problem, Zena», antwortete er.

2

Natalja Iwanowa war fest davon überzeugt, dass die Frau mit dem weiß-lila karierten Kopftuch ihr etwas verschwieg. Sie musterte sie gründlich mit den Augen einer erfahrenen Vernehmungsbeamtin. «Was soll das heißen?»

Die Frau zuckte mit den Schultern. «Na weg, meine ich», sagte sie mit unergründlicher Miene.

«Alles?»

«Ja.»

«Der ganze Parmesan? Original aus Italien? Angeblich haben Sie noch welchen da.»

Natalja betrachtete das Gemüse und die Konserven am Ende des schmalen Bands an der Kasse. Sollte sie Borschtsch statt weißer Bohnensuppe machen? Oder einen anderen Käse nehmen? Sie war keine Köchin und hielt sich für gewöhnlich an das Rezept. Außerdem war es ein ganz besonderer Anlass – einfach nur Pizza zu bestellen, kam nicht in Frage.

«Nein, alles weg.»

Natalja holte ihre Geldbörse heraus. Dabei kam versehentlich ihr Ausweis zum Vorschein.

«Sie sind bei den Menti?»

Sie nickte. Der Slangausdruck für Polizeibeamte war zwar respektlos, aber auch allgemein gebräuchlich.

«Was denn für eine Polizistin?», fragte die Frau. «Bei der Miliz?»

Natalja sah das Spiegelbild ihres müden Gesichts in der Glasscheibe vor der Fleischtheke. Sie hatte den ganzen Nachmittag auf dem Bolschoi-Prospekt mit der Befragung einer gewissen Swetlana Alkimowitsch verschwendet. Man hatte die Frau mit einem gebrochenen linken Jochbein ins Pokrowskaja-Krankenhaus eingeliefert. Der mutmaßliche Täter, ihr Mann Arkadi, war Nataljas Aufforderung, vom Bett seiner Frau zurückzutreten, nur mit äußerster Feindseligkeit nachgekommen. Durch einen Spalt im Plastikvorhang hatte ihn Natalja dabei beobachtet, wie er mit einer unangezündeten Zigarette zwischen den gelbfleckigen Fingern an einer Sauerstoffflasche lehnte und eine Krankenschwester angaffte. Am liebsten hätte sie ihm Feuer gegeben und ihn damit in die Luft gejagt, doch dieser Unmensch war es nicht wert, für ihn zu sterben. Stattdessen hatte sie Swetlana Alkimowitsch die Adresse eines der wenigen Frauenhäuser der Stadt gegeben. Ihrer Erfahrung nach würde die arme Frau noch ein, zwei Abreibungen kassieren, bis die Gewalt so unerträglich wurde, dass sie sich in Sicherheit brachte – wenn es dann nicht bereits zu spät war.

Die Verletzungen waren nicht schwer genug, um eine Polizeiermittlung anzustoßen. Den Ehemann zu verhaften war der Mühe nicht wert, da ihre Vorgesetzten darauf bestanden, die Verdächtigen in Fällen häuslicher Gewalt nach der obligatorischen dreistündigen Ingewahrsamnahme wieder freizulassen – um ein Strafverfahren einzuleiten, musste die Frau schon schwer verletzt oder tot sein. Die ganze Angelegenheit deprimierte sie.

«Die Miliz finden Sie auf dem nächsten Revier. Sie wurde vor fünf Jahren in die reguläre Polizeibehörde integriert.»

Die Frau scannte die Einkäufe. «Und zu denen gehören Sie?»

Natalja unterdrückte ein Gähnen. «Nein. Ich bin bei der Kriminalpolizei. Wir sind in ganz Piter im Einsatz und kümmern uns um Schwerverbrechen.»

«Interessant.»

«Das dachte ich auch immer. Jetzt will ich einfach nur Bohnensuppe kochen, bevor die Regierung auch noch die Bohnen verbietet.»

Die Frau lachte nervös und rief einem Mann mit struppigem Bart in einer fremden Sprache – Usbekisch oder Kirgisisch, vermutete Natalja – etwas zu. Der Mann verließ den kleinen Laden durch die mit einem Perlenvorhang versehene Hintertür und kehrte kurz darauf mit einem Parmesanrad von der Größe eines kleinen Mühlsteins zurück. In die Rinde war «Parmigiano-Reggiano» gestempelt. Der «Hergestellt in Weißrussland»-Aufkleber auf der Plastikhülle machte sie allerdings etwas misstrauisch.

«Wie viel wollen Sie?», fragte die Frau.

«Wie viel kostet er denn?»

«Achttausend das Kilo.»

Natalja stieß einen leisen Pfiff aus. «Na, so eine Polizistin bin ich nun aber auch nicht.»

Die Frau schüttelte den Kopf, woraufhin der Mann unter erneutem Klimpern des Perlenvorhangs wieder verschwand.

Ihr Mann Michail, ebenfalls hochrangiger Ermittler bei der Kriminalpolizeidirektion, machte sich des Öfteren über ihren Idealismus lustig. Er hätte den Parmesan zweifellos als Schmuggelware beschlagnahmt und ihn ihr dann stolz präsentiert. Reumütig dachte sie, dass diese Methode manchmal viel effektiver war – und der Lautstärke seines Schnarchens nach zu urteilen schien er deswegen auch keine Gewissensbisse zu haben, die ihm den Schlaf raubten.

Sie betrat ihr Wohnhaus, stellte die Einkäufe auf dem Mosaikboden des Aufzugs ab, drückte den Knopf für den dritten Stock und verließ die Kabine wieder. Wie in so vielen Gebäuden aus der Zeit vor der Revolution war der Lift erst nachträglich eingebaut worden und wenig vertrauenswürdig. Wer an seinem Leben hing, ging lieber zu Fuß.

Sie nahm die Marmortreppe in Angriff. Die große Wohnung mit den hohen Decken und dem Ausblick auf die Steinskulpturen, denen die Löwenbrücke ihren Namen verdankte, hätten sie sich mit ihren mickrigen Kriminalbeamtengehältern niemals leisten können. Das alles hatten sie Michails Mutter Wiolka zu verdanken, die an einer von einer Frühform der Alzheimerkrankheit verursachten Lungenentzündung gestorben war. Sie hätten sich nie träumen lassen, von der alten Schachtel ein solches Vermögen zu erben, immerhin war sie zu Lebzeiten genügsam wie ein Spatz gewesen. Von den fünfzehn Millionen Rubel hatten sie sich eine Fünfzimmerwohnung leisten können, deren Wert dank der Immobilienblase um eine Summe gewachsen war, die ihre beiden Einkommen zusammengenommen überstieg.

Ein Zimmer gehörte Anton, Nataljas Stiefsohn. Mit Michails Ex-Frau Dinara war vereinbart, dass er jedes zweite Wochenende zu ihnen kam. Allerdings war er gerade achtzehn geworden und so berechenbar wie eine Katze, weshalb er oft spät oder unangekündigt vorbeischaute. Ein weiteres Zimmer stand leer. Die Lebenserwartung des russischen Durchschnittsmannes war nicht besonders hoch – Michails biologische Uhr tickte also. Er wollte ein Kind mit ihr, bevor es zu spät war. Und auch sie kam mit achtunddreißig allmählich in ein Alter, in dem sich das Kinderkriegen nicht mehr ganz so einfach gestaltete. Nach zwei Jahrzehnten im Polizeidienst hatte sie gelernt, ihren Mutterinstinkt zu unterdrücken und sich in der Kinderlosigkeit einzurichten. Und so war sie selbst erstaunt von der Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit der Anton ihr Herz gewonnen hatte. Ein Therapeut hätte zweifellos eine Erklärung dafür gefunden, doch manchmal war eine Zigarre nur eine Zigarre und Anton nur ein intelligenter, netter und witziger Junge, den sie zu lieben gelernt hatte.

Sie stellte die Taschen auf dem Küchenboden ab und ging ins Bad, um kurz zu duschen. Dort betrachtete sie ihren Körper in der verspiegelten Tür und bemerkte weitere graue Haare im Rotbraun, die sie entweder färben oder mit Nichtbeachtung strafen würde. Wenn sie die Hände in die Hüften stemmte und die Bauchmuskeln anspannte, wurden ein paar kleine Falten sichtbar. Dass sie immer noch so schlank war, lag wohl eher an ihrer schlechten Ernährung als an dem Fitnessstudio, dem sie für ihr Nichterscheinen jeden Monat neunzehntausend Rubel bezahlte. Sie schlüpfte aus der Unterwäsche und stellte sich unter die Dusche.

Danach zog sie sich schnell an. Ihr Haar war noch feucht, als sie in die Küche ging. Sie entdeckte eine alte Parmesanrinde im Gefrierfach und warf sie mit einem kleinen Freudentänzchen im Ganzen in die Bohnensuppe. Dann holte sie eines der wenigen Stücke hervor, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte: ein Nudelholz aus Stahl. Sie nahm den kalten Teig aus dem Kühlschrank, riss ihn in zwei Hälften und rollte eine davon flach aus.

Die Tür fiel ins Schloss, jemand zog seine Schuhe im Flur aus, dann erschien Michail in der Küche. Gewohnheitsmäßig öffnete er den Kühlschrank, nahm eine Flasche Ochakovo heraus, schraubte sie auf und leerte sie zur Hälfte.

«Und ich?»

«Entschuldige, mein Engel.» Er legte den freien Arm um ihre Hüfte und küsste sie auf den Mund.

Michail schmeckte nach Bier, doch das war nicht so schlimm.

«Wie war dein Tag?», fragte er.

«Zum Glück ist jetzt Wochenende. Heute Morgen habe ich zufällig mitbekommen, wie mich Rogow vor ein paar neuen Rekruten als ‹die Deutsche› bezeichnet hat.»

Michail grinste. «Frech ist er – das muss man ihm lassen.»

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte Nataljas Vater eine Stelle bei einem Kulturaustauschprogramm in Hannover angenommen. Natalja selbst hatte Deutschland von Anfang an gemocht, ihrer Mutter dagegen gefiel es überhaupt nicht. Schon bald hatte sie an allem etwas auszusetzen gehabt, angefangen von der Sprache über die vielen verschiedenen Zahnpastasorten im Supermarkt bis hin zu der Offenheit, mit der man über jedes Thema – sogar über Sex und Religion – sprechen durfte. Vier Jahre später, Natalja war bereits sechzehn, beschloss ihre Mutter, dass es Zeit war, in die Heimat zurückzukehren. Ihr Vater weigerte sich. Ihre Schwester Klawdija, die mit achtzehn alt genug war, um selbst über ihr Leben zu bestimmen, ebenfalls. Die unglückliche Natalja dagegen kehrte auf das Drängen beider Elternteile mit ihrer Mutter nach Russland zurück, und die Familie zerbrach in zwei Teile. Heute waren ihr Vater und Klawdija deutsche Staatsbürger. Sie waren in Kontakt geblieben und versuchten, sich zumindest einmal pro Jahr zu treffen. Natalja war also nicht deutscher als Rogow, doch ganz unrecht hatte er nicht. Jedes Mal, wenn sie aus Hannover zurückkehrte, kam ihr ihr eigenes Land fremd vor.

Er deutete mit dem Flaschenhals auf sie. «Willst du auch eins?»

«Nein, danke. Ich hab Bereitschaft.»

«Okay. Ich zieh mich um.»

Erst jetzt sah sie ihn richtig an. Der graublaue Anzug passte perfekt zu seiner Augenfarbe und betonte sein schwarzes Haar. Michail hatte ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, doch das sah man nur, wenn er nackt war. Der Anzug und nicht zuletzt sein stämmiger Körperbau kaschierten seinen Bauch.

«Gut siehst du aus.»

«Ich war bei Gericht.» Er nahm noch einen Schluck.

«Wie war’s?»

«Langweilig. Hast du das von Oberst Wassiljew gehört?»

«Ja, er geht in Rente. Das ist ja wohl ein offenes Geheimnis in der Abteilung.»

Michail zuckte mit den Schultern. «Rogow hat mir erzählt, dass ein neuer Major bei uns angefangen hat, irgendein Arschloch namens Dostojnow. Und bevor du fragst, woher ich weiß, dass er ein Arschloch ist: Er war beim FSB … Wassiljew hat ihn zu mir ins Büro gesteckt.»

«Was hat das zu bedeuten?»

Erneutes Achselzucken. Sie vermutete, dass er damit nicht ausdrücken wollte, dass es ihm egal war, sondern vielmehr seine Gefühle verbergen wollte. Genau wie der Präsident war Oberst Wassiljew bekannt dafür, seine Untergebenen gegeneinander auszuspielen und den Sieger zu belohnen. Und in diesem Fall war der Siegespreis die Leitung der Kriminalpolizeidirektion. Michail war der Einzige, dessen Rang hoch genug war, um dem neuen Major den Posten streitig zu machen. Allerdings hatte die Sache einen Haken – wenn Michail zum Leiter der Polizeidirektion aufstieg, würde man sie in eine andere Abteilung versetzen; es war gegen die Vorschriften, dass ein Ehepartner der Vorgesetzte des anderen war.

Er nahm noch einen Schluck Ochakovo. «Und wie war dein Tag – von Rogow mal abgesehen?»

Er warf ihr einen kurzen Blick zu, der ihr verriet, dass ihn das eigentlich nicht besonders interessierte. Sie beschloss, ihn nicht zu langweilen. «Frag nicht.»

Sie legte den ausgerollten Teig auf das Formeisen.

«Was gibt’s denn?»

«Bohnensuppe und Pelmeni.»

«Warum kochst du überhaupt? Wir können uns doch was holen.»

«Anton.» Sie nahm einen Teelöffel und gab damit Rind- und Schweinehack aus einer Pfanne in die Vertiefungen des Formeisens.

«Was ist mit ihm?»

«Er bleibt heute Nacht hier.» Sie füllte die nächste Vertiefung mit Fleisch aus der Pfanne. Dreißig weitere würden noch folgen.

«Und? Deshalb machst du doch sonst keine solchen Umstände.»

«Er hat seine neue Freundin eingeladen – ich hab’s letzte Woche in den Kalender geschrieben. Das hast du doch wohl nicht vergessen, oder?»

Michail presste in gespielter Reue die Lippen aufeinander. «Trotzdem weiß ich nicht, was der Aufwand soll.»

Sie wusste es sehr wohl – aller Wahrscheinlichkeit nach würde Anton die Person für sie bleiben, die einem leiblichen Kind am nächsten kam, und sie hatte sich fest vorgenommen, ihre stiefmütterlichen Pflichten ernst zu nehmen.

Sie wandte sich vom Formeisen ab und stemmte die mehlbedeckten Hände in die Hüften. «Na schön. Wenn du mir sagen kannst, wie sie heißt, lasse ich dich ungeschoren davonkommen.»

«Wie war das?» Er nahm noch einen Schluck, um seine Verlegenheit zu verbergen, doch er konnte sie nicht täu schen.

«Falsch. Sie heißt Anna.»

Er nickte nachdenklich. «Stimmt.»

«Wieder falsch. Sie heißt Tanja. Sie kommen bald, also zieh dir was Ordentliches an», rief sie ihm hinterher.

Sie widmete sich wieder den Pelmeni. Hätten sie doch einfach nur Pizza bestellt. Ein Schlüssel klapperte im Schloss der Wohnungstür.

«Anton?»

«Ja, ich bin’s.»

Sie wartete auf eine zweite Stimme.

«Nur ich, ohne Tanja.» Antons Kopf erschien in der Tür. Er war schlank und gutaussehend, und sein Haar war gerade so lang, dass er nicht mehr als Skinhead durchging. Er sah sie mit den braunen Rehaugen an, die er von seiner Mutter geerbt hatte; Dinara war leider Gottes sehr attraktiv.

«Aber sie kommt doch noch, oder?»

Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und trat von einer Socke auf die andere. «Bei ihr zu Hause ist ziemlich viel los. Ihre Eltern lassen sich scheiden … Was gibt’s denn zu essen?»

«Bleib beim Thema, ja? Seit wann weißt du, dass Tanja nicht kommt?»

«Wird das jetzt ein Verhör?»

Sie funkelte ihn an. «Wie lange? Damit ich weiß, mit welchem Gegenstand ich dich verprügeln muss.»

«Warte! Ich kann meine Unschuld beweisen.»

«Okay», sagte sie, nahm das Nudelholz in die eine Hand und ließ es lautstark in die Fläche der anderen klatschen. «Aber wenn du mich anlügst, mach ich dich kalt.» Sie machte eine gespielt bedrohliche Miene. «Du wärst nicht der Erste.»

Anton nahm den Arm hinter seinem Rücken hervor. «Die hat sie mir für dich mitgegeben – elf rote Rosen. Ich soll dir ausrichten, dass es ihr sehr leidtut.»

Michail, der die leere Flasche in die Küche zurückbrachte, kam an ihnen vorbei. Er trug weiße Boxershorts und ein frisches, nicht zugeknöpftes Hemd. «Um wessen Unschuld geht’s?»

«Tanja kommt nicht.»

«Schön, dass ich das erfahre, bevor ich mir die Krawatte umbinde.»

«Eine Hose wolltest du dir aber auch anziehen, oder?» Sie wandte sich an Anton. «Dir zuliebe hab ich gekocht, deshalb wirst du jetzt mir zuliebe essen, bis du platzt.» Sie sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an.

Anton stöhnte und fuhr sich mit der Hand über den stoppeligen Kopf. «Ich muss euch was sagen. Was Schlimmes.»

«Ist sie schwanger?», fragte Natalja. «Ihr verhütet doch, oder?»

Michail starrte Anton an. «Was ist los?», knurrte er.

Sie beobachtete ihren Stiefsohn genau, spürte sein Unbehagen. «Darüber können wir doch später reden», schlug sie vor. Nach dem Essen war Michail üblicherweise ruhiger und versöhnlicher.

«Wessen Sohn ist das jetzt?», blaffte Michail, begriff aber sofort, dass er damit zu weit gegangen war. Er blickte zerknirscht drein.

Anton sah Natalja an. «Sollen wir es ein anderes Mal besprechen?»

«Was guckst du mich an? Anscheinend gehöre ich nicht zur Familie.» Sie hob die Augenbrauen und sah Michail herausfordernd an. «Trotzdem will ich wissen», sagte sie und zupfte Teig von ihren Fingern, «ob Tanja schwanger ist.»

«Nein», sagte Anton verstört. «Am besten zeige ich es euch. Es kam heute Morgen mit der Post, aber ihr wisst ja, wie Mama ist. Letzte Woche ging es ihr ganz gut, aber sie regt sich über jede Kleinigkeit immer so furchtbar auf. Könnt ihr euch drum kümmern?»

Sie hatte den verdammten Teig sogar unter den Fingernägeln. «Worum geht’s denn?»

Anton legte die Rosen neben die Flasche und ging in den Flur, um den Rucksack zu holen, in dem er offenbar sein ganzes Hab und Gut aufbewahrte – er legte großen Wert auf einen nomadischen Lebensstil.

«Hier.» Anton öffnete den Reißverschluss einer Seitentasche, nahm einen verknitterten Umschlag heraus und hielt ihn, wie um die Neutralität zu wahren, in ungefähr gleichem Abstand zu beiden in die Höhe.

Sofort riss ihm Michail den Umschlag aus der Hand und öffnete ihn. «Scheiße», sagte er, sobald er das Schreiben darin rausgeholt und überflogen hatte.

«Was ist?», fragte sie. «Vorausgesetzt, ich bin noch Teil der Familie.»

Michail blickte finster drein. «Von Professor Litowkin, dem Leiter des Immatrikulationsamts.»

Er las schweigend. «Mehr oder weniger teilt er uns damit mit, dass Anton Michailowitsch Iwanow nicht das Zeug zum Studenten hat.»

Natalja runzelte die Stirn und starrte die Pelmeni an, die noch etwa eine Stunde Vorbereitung brauchten. Dann nahm sie Michail den Brief ab. «Ich dachte, du hättest dich darum gekümmert?»

Anton wirkte verlegen. «Ist doch egal, Natalja. Ich finde auch ohne Studium einen Job.»

«Ich rede mit deinem Vater.»