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"Eine Welle von Schuldgefühlen überrollte Konstanze und drohte, sie in einen klaffenden Abgrund zu spülen. Die Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu und verursachte tief in ihrem Inneren einen brennenden Schmerz. Dann erinnerte sie sich an die Worte ihrer Freundin: Du musst unbedingt Schlimmeres verhindern." Die ehrgeizige, aber schüchterne Jurastudentin Konstanze lernt auf einer Grillparty den charmanten Robert kennen und versteht sich auf Anhieb mit ihm. Doch nur kurze Zeit später deckt sie seine wahre Identität auf und findet sich in einem Netz aus Gewalt und Intrigen wieder. Ihr Traum, Staatsanwältin zu werden, scheint zerstört zu sein, und ihr Leben liegt in Trümmern vor ihr. Bei dem Versuch, ein schreckliches Attentat zu verhindern, gerät sie schließlich selbst in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Blutrune
Über dieses Buch
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Danksagung
An den Leser
Karina Reiß
BLUTRUNE
Thriller
1. Auflage / Dezember 2014
Über dieses Buch
Die ehrgeizige, aber schüchterne Jurastudentin Konstanze lernt auf einer Grillparty den charmanten Robert kennen und versteht sich auf Anhieb mit ihm. Doch nur kurze Zeit später deckt sie seine wahre Identität auf und findet sich in einem Netz aus Gewalt und Intrigen wieder. Ihr Traum, Staatsanwältin zu werden, scheint zerstört zu sein, und ihr Leben liegt in Trümmern vor ihr. Bei dem Versuch, ein schreckliches Attentat zu verhindern, gerät sie schließlich selbst in Lebensgefahr.
Über die Autorin
Karina Reiß wurde 1976, an einem heißen Sommertag in Thüringen geboren und verbrachte ihre Kindheit im schönen Eichsfeld. Frühzeitig durch die Eltern gefördert, konnte sie ihre kreativen Ambitionen sowohl in die musikalische als auch in die künstlerische Richtung entwickeln.
Heute lebt und arbeitet sie als freiberufliche Musiklehrerin in der von den Kelten gegründeten Stadt Worms und ist glücklich verheiratet.
Da sie auch schon immer eine Leseratte war und am liebsten spannende Krimis und Thriller verschlang, fasste sie im Herbst 2012 den Entschluss, sich ernsthaft mit dem Schreiben zu beschäftigen. Kurz darauf entstanden die ersten Figuren und die Handlung für ihren Thriller Blutrune, den sie nach zweijähriger Arbeit im Dezember 2014 veröffentlichen konnte.
»Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen.«
Edmund Burke (1729 - 1797)
Kapitel 1
Freitag, 5. September 2014; 15:45 Uhr
»Unsere Zeit ist leider um, für heute müssen wir zum Ende kommen«, sagte Doktor Vogler mit einem Blick auf seine elegante Armbanduhr.
»Wie geht es jetzt weiter?« In ihrem Kopf kreisten die Gedanken unaufhörlich und sie war nicht fähig, die vielen Informationen der vergangenen Stunde zu sortieren. Eine bleierne Müdigkeit erfasste ihre Arme und Beine. Das letzte Mal war sie vor acht Jahren bei einem Psychotherapeuten gewesen und hatte sich damals geschworen, nie wieder zu einem Seelenklempner zu gehen.
Sie trocknete ihre feuchten Hände an der Jeans ab. Obwohl sie in einem bequemen Ledersessel saß, empfand Konstanze die Situation als beklemmend. Sie versuchte zu schlucken, ihr Mund war staubtrocken, als hätte sie tagelang die Wüste durchquert. Der würzige Geruch von Kräutertee lag in der Luft und verstärkte den unstillbaren Durst. Sie erinnerte sich, beim Betreten des Raumes eine Teetasse auf dem Schreibtisch gesehen zu haben. Der Therapeut nahm seine Lesebrille vom Glastisch und setzte sie umständlich auf. Er griff nach dem in dunkelbraunen Leder gebundenen Terminplaner und blätterte darin. Das Rascheln der Seiten erschien Konstanze unnatürlich laut.
»Freitagabend hätte ich noch eine Lücke, um Sie vorerst für einen wöchentlichen Termin unterzubringen.« Er wirkte seltsam verloren in dem voluminösen Sessel.
»Ja, das passt mir.«
»Gut Frau Hartenbach, dann sehe ich Sie am Freitag um neunzehn Uhr. Ich denke, in zwei bis drei Wochen haben wir auch Antwort von Ihrer Krankenkasse. Ich habe jedoch keine Zweifel daran, dass Ihnen die Therapie genehmigt wird.« Er stand auf und streckte ihr seine Hand entgegen. Sein Händedruck war warm und kräftig, voller Energie. Konstanze verabschiedete sich und ging nach draußen ins Wartezimmer, wo ihre Tante geduldig auf sie wartete.
»Lass uns irgendwo eine Kleinigkeit essen gehen«, sagte Konstanze und zog den Mantel über.
»Eine gute Idee.« Mit einem warmherzigen Lächeln im Gesicht erhob sich Heidrun und legte einen Arm um Konstanzes Schulter. Die räumliche Nähe zu ihrer Tante war ein Grund dafür, warum sie die Universität von Bayreuth für ihr Jurastudium gewählt hatte. Natürlich vermisste sie ihre Eltern, und sie hätte genauso gut in deren Umgebung studieren können. Doch wenn sie absolut ehrlich zu sich selbst war, musste sie eingestehen, dass sie bewusst diesen Abstand gesucht hatte. Nur war sie im Moment für solch eine bedingungslose Ehrlichkeit noch nicht bereit.
Die Worte von Doktor Vogler hallten dumpf in Konstanzes Schädel nach. Posttraumatische Belastungsstörung
Daran litten Soldaten, die in einem Kriegsgebiet im Einsatz gewesen waren, oder Menschen, die ein furchtbares Erdbeben überlebt hatten. Frauen, die überfallen und missbraucht worden waren, aber doch nicht sie. Sie hatte heftig gegen diese Diagnose protestiert, schließlich lag ihr traumatisches Erlebnis acht Jahre zurück. Doch der Therapeut hatte ihr versichert, dass die Symptome dieser Erkrankung mitunter erst Jahre nach dem Durchleben der Extremsituation auftauchen können. Er hatte sie hauptsächlich von sich selbst erzählen lassen und zwischendurch einige Fragen gestellt, bevor er sie mit der möglichen Diagnose konfrontiert hatte.
Sie sah, in ihre Gedanken versunken, aus dem Autofenster. Die Scheibenwischer kämpften in monotoner Gleichgültigkeit gegen den Regen an. Nach dem, was ihr der Therapeut erklärt hatte, konnte sie mittlerweile ihre Panikattacken und Albträume, die Schlafprobleme sowie die Erinnerungslücken bezüglich der Ereignisse vor acht Jahren besser verstehen.
»Danke«, sagte sie ohne den Blick von der vorbeiziehenden Landschaft zu nehmen. »Wofür?« Heidrun Hartenbach schaute kurz zur Seite.
»Weil du mich überredet hast, deinen Studienkollegen aufzusuchen.«
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, genauso wie deine Eltern.«
»Hast du Papa was erzählt?«
»Nein, aber er hat mich darum gebeten, mit dir zu reden.«
»Hm.« Konstanze beobachtete einen Regentropfen, der vom Fahrtwind quer über die Windschutzscheibe getrieben wurde.
»Magst du mir erzählen, wie die Sitzung mit Doktor Vogler gelaufen ist?«
»Ganz gut. Ich werde vorerst einmal die Woche zu ihm gehen. Er meinte, ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung.« Sie verdrehte gedanklich ihre Augen.
»Das hatte ich bereits vermutet, Liebes. Deshalb wollte ich ja …«
Das Klingeln von Heidruns Handy unterbrach das Gespräch der beiden Frauen.
»Entschuldige, ich muss rangehen, Rufbereitschaft.«
Konstanze nickte. Das war’s dann wohl mit unserem gemeinsamen Restaurantbesuch, dachte sie traurig. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihre Tante eine Verabredung nicht einhalten konnte. Sie arbeitete als Ärztin am Institut für Rechtsmedizin der Universität Erlangen und wurde jedes Mal dann an einen Tatort gerufen, wenn der dringende Verdacht auf einen nicht-natürlichen Tod vorlag und ihr Fachwissen zur Rekonstruktion des Tathergangs beitragen konnte.
Nachdem ihre Tante das Telefonat beendet hatte, fragte Konstanze interessiert: »Musst du arbeiten?«
»Ja, es tut mir so leid. Wir müssen das Essen wohl verschieben.«
»Das macht nichts. Was ist denn passiert?«
»Ich muss zu einem Tatort und dort die Spuren sichern, bevor sie durch den Regen verloren gehen.«
»Kannst du mich noch zu Hause absetzen?«
»Ich fürchte, dafür bleibt keine Zeit mehr, aber bleib bitte dort im Auto. Ich möchte unnötigen Ärger vermeiden.«
»Keine Sorge.« Sie nickte ihrer Tante zu. Diese bog auf die Straße zum Gewerbegebiet Bindlach Süd ab und sie fuhren schweigend zu den Kiesgruben im Norden. Aufgrund des starken Dauerregens waren sie fast allein unterwegs.
Als sie am Tatort eintrafen, brachen gerade ein paar Sonnenstrahlen durch einen winzigen Riss in der Wolkendecke und ließen am Horizont einen purpurfarbenen Streifen entstehen. Heidrun parkte ihren Wagen vor einem Polizeifahrzeug, holte ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum und stieg dann einen leichten Abhang hinunter. Polizeibeamte waren damit beschäftigt, Scheinwerfer am Ort des Geschehens aufzustellen, andere standen gelangweilt daneben, einen Becher Kaffee in der Hand. Von ihrem Platz im Auto, hatte Konstanze freie Sicht nach unten in die Kiesgrube, wo sie innerhalb des mit rot-weißem Polizeiabsperrband gesicherten Bereichs die schemenhaften Umrisse eines menschlichen Körpers auf dem Erdboden erkennen konnte. Die Leiche war mit einer dunklen Plane abgedeckt. Die Polizeihunde, die zusammen mit ihren Hundeführern neben einem der Einsatzfahrzeuge warteten, spitzten aufmerksam die Ohren.
Konstanze verkroch sich tiefer in ihren Mantel und ließ die Hände in den Ärmeln verschwinden. Die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich kerzengerade auf. Einen Moment lang beobachtete sie ihre Tante, wie diese mit den Beamten diskutierte und sich mehrfach zur Leiche hinunter beugte.
Um sich die Zeit zu vertreiben, nahm sie ein Buch aus der Tasche und begann zu lesen. Nach wenigen Sätzen schlug sie es jedoch wieder zu. Im Auto war es zu dunkel, um die Buchstaben zu erkennen. Außerdem war sie viel zu aufgekratzt, um sich auf die verzwickten Hinweise in ihrem Spionagethriller zu konzentrieren. Sie schloss die Augen und ließ das Gespräch mit ihrem Therapeuten noch einmal Revue passieren. Er hatte alte Wunden aufgerissen, sie mit schmerzlichen Wahrheiten konfrontiert und ihr in groben Zügen erläutert, wie die Therapie aussehen könnte. Sie war sich absolut nicht sicher, ob sie dies durchstehen würde. Ein undefinierbares Gefühl von Angst beschlich sie. Angst war in der letzten Zeit ständig ihr Begleiter gewesen. Sie hasste diesen Zustand der Ohnmacht.
Konstanze schreckte aus ihren Gedanken auf, als Heidrun die Fahrertür öffnete und in den Wagen stieg.
»Ich bin fertig hier. Lass uns fahren.« Sie startete den Motor und wendete ihr Auto.
»Ich denke, es ist inzwischen auch zu spät, um noch essen zu gehen«, sagte Konstanze geknickt.
»Tut mir leid. Das war so nicht geplant.«
»Das können wir nachholen, mach dir keinen Kopf. Was war mit dem Opfer? Musst du gleich noch ins Institut?«
»Nein. Morgen früh wird obduziert. Es steht jedoch schon sicher fest, dass es sich um einen Mord handelt. Die Frau wurde mit einem großen Kaliber erschossen, ich vermute entweder Kaliber 38 oder neun Millimeter.«
»Wie furchtbar! Wisst ihr schon, wer sie war? Hoffentlich lässt sie keine Kinder zurück.« Konstanze spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne.
»Konny, ich …« Ihre Tante druckste herum und suchte anscheinend nach passenden Worten.
»Was ist los, Tante Heidrun?«
Diese kramte hektisch in ihrer Handtasche, holte ein blaues Päckchen Gauloises hervor und zündete sich eine Zigarette an, bevor sie antwortete. »Schatz, du weißt, dass ich mit dir nicht über die Dinge vom Tatort reden darf, aber bei deiner derzeitigen Verfassung möchte ich nicht, dass du es aus der Zeitung erfährst, während du allein bist. «
Konstanzes Augen weiteten sich. »Was soll ich nicht aus der Zeitung erfahren?« Ihre Stimme klang schwach und vibrierte.
»Die Frau hatte einen Ausweis dabei ...«, sagte Heidrun und stieß geräuschvoll den Zigarettenqualm zwischen ihren Zähnen hindurch, »Sie hieß Gabi Baumann.«
Konstanze schlug eine Hand vor ihren Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken. »Oh mein Gott, so heißt Sabrinas Mutter. War sie von hier?«
»Ja, sie wohnte laut ihrem Personalausweis in Bayreuth.« Nachdem ihre Tante die genaue Adresse genannt hatte, wusste sie mit Gewissheit, dass es sich bei dem Mordopfer um die Mutter ihrer Freundin handelte.
»Versprich mir, dass du alles, was ich gerade gesagt habe, für dich behältst, bis die Identität von der Polizei offiziell bestätigt wurde«, redete Heidrun ihrer Nichte eindringlich ins Gewissen.
»Ja, natürlich«, antwortete diese abwesend. »Sie wurde erschossen? Warum?« Fassungslos starrte sie aus dem Fenster in die Dunkelheit.
Sie erinnerte sich an einen schwülen Nachmittag im Sommer. Frau Baumann hatte die beiden Mädchen zum Grillen eingeladen. Obwohl ihre Freundin nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte, verbrachten die drei Frauen einen heiteren, ausgelassenen Tag. Sie sah das herzliche Lachen von Gabi Baumann vor sich, die ohne Zweifel auch als die größere Schwester von Sabrina durchgegangen wäre. Die gleichen weichen Gesichtszüge, eingerahmt von dem langen, schwarzen Haar, glänzend wie Seide.
»Einige Aspekte deuten auf einen Serienmörder hin«, unterbrach Heidrun Konstanzes Erinnerungen.
»Wie kommst du darauf?«
»Der Täter hat unter anderem eine Art Signatur hinterlassen.«
»Eine Signatur?« Sie drehte sich zu ihrer Tante um.
»Ja, dem Opfer wurde mit einem Messer ein Symbol auf den Bauch geritzt.«
Plötzlich drehte sich alles um Konstanze herum und ihr wurde übel. »Halt bitte schnell an.«
»Du bist kreidebleich, ist dir schlecht?« Zur Antwort nickte sie leicht, während sie sich mit beiden Händen den Mund zuhielt. Heidrun bremste ab, fuhr auf den Seitenstreifen und stieg sofort aus, um ihrer Nichte aus dem Auto zu helfen.
»Frische Luft wird dir gut tun.«
Mit einer energischen Handbewegung drückte Konstanze ihre Tante von sich weg, beugte sich nach vorn und übergab sich, geschüttelt von heftigen Krämpfen. Heidrun strich sanft über ihren Rücken und versuchte sie zu beruhigen.
»Ich bin vom Tod umgeben, Tante Heidrun«, platzte es unvermittelt aus ihr heraus. »Ich halte das nicht mehr aus. Ich kann das nicht schon wieder.«
Erinnerungen an eine Beerdigung drängten sich jäh in ihr Bewusstsein. Sie stützte ihre beste Freundin, die vor Kummer fast in Ohnmacht fiel. Stumm blickte sie auf die beiden Särge, die vor ihnen aufgebahrt standen. Mit einer fahrigen Geste schob sie die Bilder beiseite.
Heidrun nahm ihre Nichte in den Arm. »Du zitterst ja am ganzen Körper. Lass uns wieder einsteigen.«
Konstanze wehrte sich nicht dagegen und ließ sich teilnahmslos von ihrer Tante auf den Beifahrersitz helfen. Tränen rannen über ihr Gesicht und hinterließen eine schwarze Spur der Wimperntusche auf den Wangen.
»Was ist mit Sabrinas Vater?«, wollte Heidrun wissen.
»Ihre Eltern sind schon lange geschieden. Ihr Dad hat sich vor vielen Jahren nach Frankreich abgesetzt. Näheres weiß ich nicht, sie redet nie über ihn.«
»Ach du meine Güte, dann ist deine Freundin jetzt ganz allein.«
»Ich habe furchtbare Angst, ihr am Montag zu begegnen, Tante Heidrun.«
»Es tut mir sehr leid. Sag mir, wenn ich etwas für dich tun kann.«
»Ich möchte jetzt nach Hause.«
Heidrun startete erneut das Auto und während der restlichen Fahrt sagte keiner mehr ein Wort.
Kapitel 2
Sonntag, 7. September 2014; 14:00 Uhr
Dieses verflixte Brennen im Mund, als hätte er auf Brennnesseln herumgekaut. Seine Lippen waren taub, auf der Zunge spürte er ein Kribbeln und der Gaumen brannte wie Feuer. Karl Schuster ging vor Schmerzen gebeugt in die winzige Küche, um sich einen Kamillentee zu kochen. Er nahm den zerbeulten Teekessel und ließ Wasser hinein laufen. Mit einem Küchentuch trocknete er sorgfältig die Wassertropfen am Kessel ab, setzte ihn zurück auf den Herd und drehte den Schalter der Heizplatte auf die höchste Stufe. Durch die hellbraun karierten Vorhänge am Küchenfenster fielen die warmen Strahlen der Septembersonne und tauchten das Zimmer in ein samtenes Licht. Nach dem ewigen Regen der letzten Wochen war das eine willkommene Abwechslung.
Gestern hatte Karl seit langer Zeit mal wieder einen Tag in seinem Blockhaus am See verbracht. Nach einem ausgiebigen Spaziergang durch den Wald war er auf ein Glas Weinbrand in seine Hütte zurückgekehrt. Er hatte nach Kerzen gesucht und dabei waren ihm Pläne und Aufzeichnungen seines Enkels Robert, dem er dieses Anwesen zur Nutzung überlassen hatte, in die Hände gefallen. Schockiert hatte er die Papiere durchgeblättert und erkannt, was sein Enkel vorhatte. Es war seine Schuld und er musste diesen Wahnsinn stoppen, bevor es zu spät war. Er war umgehend zu ihm gefahren und hatte versucht, auf ihn einzuwirken. Er könne ihn ja verstehen und sähe die Situation genauso, aber dies wäre der falsche Weg. Er würde lediglich direkt ins Verderben führen.
Robert war wütend geworden und hatte seinen Großvater wüst beschimpft. Karl hatte dagegengehalten und die beiden hatten sich in einen fürchterlichen Streit manövriert. Letztendlich hatte er sich zurückgezogen, um eine weitere Eskalation zu verhindern, hatte seinem Enkel jedoch deutlich gemacht, dass er nicht untätig zusehen würde.
Heute Morgen stand Robert dann ganz unverhofft vor seiner Tür, mit duftenden Brötchen, Karls Lieblingsmarmelade und einem Friedensangebot in der Hand. Sie frühstückten gemeinsam und die Atmosphäre war fröhlich und locker, wie immer, wenn er ihn besuchte. Obwohl sie das Thema des Streits nicht mehr ansprachen, keimte in Karl die Hoffnung auf, dass sein Enkel doch noch zur Vernunft kam.
Jetzt dachte er über die schrecklichen Pläne nach und machte sich selbst bittere Vorwürfe, Robert nicht frühzeitig in eine andere Richtung gelenkt zu haben. Er musste ihn auf jeden Fall aufhalten, koste es, was es wolle.
Das Pfeifen des kupferfarbenen Teekessels riss Karl Schuster aus seinen Gedankengängen. Er kämpfte gegen die Übelkeit an und goss das kochende Wasser in die Teekanne. Der aromatische Duft von Kamille strömte durch die Küche. Eine Grippe hat mir gerade noch gefehlt, dachte er und wurde im nächsten Augenblick von einem kräftezehrenden Hustenkrampf geschüttelt.
Vor zwei Stunden hatte dieser Husten fast zeitgleich mit der unbarmherzigen Übelkeit und dem Durchfall begonnen. Seitdem hatte sich ein furchtbares Brennen im Mund bemerkbar gemacht.
Jetzt fror er, obwohl der Thermostat der Heizung auf 23 Grad eingestellt war. Er konnte das kräftige Aufeinanderklappern der Zähne nicht unter Kontrolle bringen, sein Kiefer schmerzte bereits.
Benommen schwankte er den schmalen Flur entlang ins Badezimmer, um sich das Fieberthermometer zu holen. Es lag exakt da, wo es hingehörte, im dritten Fach des linken Spiegelschrankes. Diese rigorose Ordnungsliebe hatte seine Frau von Anfang an besonders an ihm geschätzt.
Er schob das Thermometer unter die Zunge und schlurfte zurück in die Küche. Im Vorbeigehen erhaschte er einen kurzen Blick auf sein Spiegelbild. Trübe braungrüne Augen blickten ihm müde aus einem aschfahlen Gesicht entgegen. Die Falten gruben sich heute noch viel tiefer ins Gesicht als sonst. Du siehst ziemlich fertig aus, sagte er zu seinem Gegenüber.
Zurück in der Küche nahm er eine Tasse aus dem Schrank über der Spüle und füllte sie mit Kamillentee. Den dampfenden Becher in der Hand ging er hinüber ins Wohnzimmer und ließ sich in seinen abgewetzten Lieblingssessel gleiten.
Ein großer gemütlicher Ohrensessel aus echtem Rindsleder, den er vor über fünfzehn Jahren von seiner geliebten Frau zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Er vermisste seine Anneliese mit jeder Faser seines Körpers. Dieses Haus war so leer und still, seit sie vor knapp fünf Jahren bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Es war immer ihr ganzer Stolz gewesen. Ohne Karls besten Freund Jasper hätten sie diesen Umzug in ein eigenes Haus niemals geschafft. Als 1989 die Mauer fiel, fand Jasper dieses schmucke Einfamilienhaus am Rand von Bayreuth und überredete seinen Freund es zu kaufen. Karls Frau war damals so glücklich, Leipzig endlich verlassen zu können. Mit viel Liebe zum Detail hatte sie das neue Heim gemütlich eingerichtet.
Das Fieberthermometer im Mund gab einen Piepton von sich. Karl nahm es heraus und las das Messergebnis ab: neununddreißig Komma vier Grad Celsius. Kein Wunder, dass sein Kopf sich wie in Watte gepackt anfühlte. In kleinen Schlucken trank er von dem heißen Kamillentee und sogleich breitete sich eine wohltuende Wärme im Körper aus. Karl schloss die Augen und dachte über Robert und seine wahnsinnigen Pläne nach. Fieberhaft überlegte er, wie er seinen Enkel von dessen Vorhaben abhalten könnte. Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, so als ob er damit alle Gedanken wie einen bösen Traum wegwischen könnte.
Ein Schwall reißender Bauchschmerzen unterbrach seine Gedankengänge. In seinem Magen rumorte es heftig und ihm wurde übel. So schnell es ihm in seinem Alter möglich war, begab Karl sich ins Badezimmer um die Toilette aufzusuchen. Gerade noch rechtzeitig beugte er sich über die Toilettenschüssel und übergab sich. Wann hatte er sich das letzte Mal so elend gefühlt? Er konnte sich nicht daran erinnern. Seine Haut brannte am ganzen Körper, als hätte jemand Säure über ihn gekippt. Erschrocken stellte er fest, dass sich auch Blut im Erbrochenen befand.
Ich rufe besser Doktor Gürtler an, dachte er, und richtete sich langsam auf. Mit seiner linken Hand hielt er sich am Rand des Waschbeckens fest, um mit der Rechten den Wasserhahn aufzudrehen. Er spülte sich mit einer Handvoll Wasser den widerlichen Geschmack aus dem Mund. Das kühle Nass brachte für einen Moment Erleichterung und das Brennen im Mund ließ nach. Er setzte sich auf den Rand der Badewanne, um einen kurzen Moment zu verschnaufen. Das Fieber war anscheinend noch weiter gestiegen, denn er fühlte sich wie ein Stück Grillkohle.
Nachdem Karl sich das Gesicht notdürftig abgetrocknet hatte, schleppte er sich kraftlos zurück ins Wohnzimmer und hob den Hörer des Telefons ab. Er wählte die Nummer seines Hausarztes, Doktor Gürtler. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich am anderen Ende der Leitung die freundliche Sprechstundenhilfe Elke. Karl machte sich gern einen Spaß daraus, mit ihr zu flirten, wenn er in der Arztpraxis war.
Elke war etwa Mitte 40 und hatte weiches strohblondes Haar, das ihr in großen Locken über die Schultern fiel. Egal wie viel Stress es bei der Arbeit gab, sie hatte immer ein freundliches Lächeln für ihre Patienten übrig. Doch dieses Mal war ihm nicht danach, mit ihr zu schäkern. Karl erklärte ihr, welche Symptome ihn plagten, und sie versprach, dass der Doktor nachher noch vorbeischauen würde.
Er ging langsam zurück zu seinem Sessel und sank erschöpft hinein. Er fiel in einen unruhigen Schlaf, begleitet von Fieberträumen, die ihm seinen Enkel als den Leibhaftigen persönlich zeigten.
Die Klingel seiner Haustür ließ ihn hochschrecken. Benommen sah er sich kurz um, bevor er wieder orientiert war. Er schaute auf die altmodische Standuhr und stellte fest, dass er etwa eine Stunde geschlafen hatte. Mühsam erreichte Karl die Haustür und öffnete sie.
»Guten Abend Herr Schuster.«
»Guten Abend Doktor Gürtler. Kommen Sie bitte herein.« Karl trat einen Schritt zurück, um dem Arzt Platz zu machen.
»Sie sehen aber gar nicht gut aus.« Mit besorgtem Blick trat der Arzt in den Hausflur, stellte seine Tasche auf dem gefliesten Boden ab, um seinen Mantel abzulegen und an der Garderobe aufzuhängen. Während beide in das Wohnzimmer gingen, begann Doktor Gürtler mit der Befragung seines Patienten.
»Wann traten die ersten Symptome auf?« Karl überlegte kurz.
»Etwa Viertel nach zwei heute Nachmittag bekam ich Bauchschmerzen und gleichzeitig Hustenanfälle. Ich fühlte mich dann relativ schnell schwach und müde.«
»Haben Sie erhöhte Temperatur, Herr Schuster?«
»Ja Herr Doktor, fast vierzig Grad waren es vorhin. Übergeben musste ich mich auch. Furchtbar.«
»Das klingt nicht gut, Herr Schuster. Da hat es Sie voll erwischt. War Blut im Erbrochenen?«
»War es, war es. Was sagen Sie dazu, Herr Doktor?«
Der Arzt fühlte den Puls von Karl und runzelte die Stirn. »Ihr Herzschlag ist beschleunigt, Herr Schuster. Ich messe jetzt den Blutdruck und Ihre Temperatur.« Nachdem der Arzt seine Untersuchungen beendet hatte, setze er sich auf das altmodisch geblümte Sofa, um die notwendigen Formulare auszufüllen.
»Herr Schuster, es wäre mir lieber, wenn ich Sie ins Krankenhaus einweisen dürfte. Sie haben hohes Fieber und Ihr Blutdruck ist auch nicht optimal. Zusammen mit dem stark beschleunigten Puls und Ihrem blutigen Brechdurchfall könnte der Norovirus dahinter stecken.«
Wäre Karl in etwas besserer Verfassung gewesen, hätte er sich gegen eine Einweisung in das Krankenhaus gewehrt. Aber instinktiv spürte er die Notwendigkeit, sich dort helfen zu lassen.
»Ich schreibe Ihnen die Einweisungspapiere. Soll ich einen Transport für Sie organisieren, Herr Schuster?«
Karl dachte kurz darüber nach, seinen Enkel Robert zu bitten, schob den Gedanken jedoch energisch beiseite. Der schmerzende Gedanke an den Streit gestern Abend stieg erneut in ihm hoch. »Das wäre überaus freundlich, Doktor Gürtler. Vielen Dank.«
Kapitel 3
Montag, 8. September 2014; 00:24 Uhr
Schreiend schreckte sie aus dem Schlaf hoch. Ihre dunkelblonden Haare klebten auf der schweißnassen Stirn und kringelten sich zu widerspenstigen Locken. Im ersten Moment war sie orientierungslos, doch dann spürte sie eine warme Decke unter sich, ihr Bett. Vertraute Umgebung. Sie befand sich in ihrem Schlafzimmer. Es war nur ein Albtraum gewesen, ein weiterer. Wie sie diese schrecklichen Träume hasste. Seit Jahren verfolgten sie Konstanze und hatten sie schon in unzähligen Nächten um den Schlaf gebracht. Das milchige Mondlicht schien auf den Quarzwecker auf dem Nachtisch. Die Leuchtzahlen zeigten null Uhr vierundzwanzig an. Sie hatte also gerade mal eine Stunde geschlafen. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit.
Ihre Hand tastete seitlich auf der Bettdecke entlang, bis sie den warmen und samtigen Körper von Merlin spürte.
Merlin war ein schwarzer Mopsrüde, den sie vor gut einem halben Jahr angebunden auf einem Autobahnparkplatz gefunden hatte. Sie war unterwegs in Richtung Norden gewesen, um ihre Eltern zu besuchen, als das kraftlose Wimmern des Hundes auf dem Rastplatz ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Völlig ausgehungert und zitternd vor Angst stand er auf dem Gras neben einem Mülleimer, weit und breit war niemand zu sehen. Sie nahm ihn kurzerhand mit zu ihrer Familie, badete und fütterte ihn und telefonierte am nächsten Tag die Tierheime nahe dem Fundort ab. Da der Mops nicht gechipt war und die Tierheimrecherchen auch zu keinem Ergebnis führten, musste sie davon ausgehen, dass jemand das Tier mutwillig ausgesetzt hatte, und entschied sich, ihm ein neues Zuhause zu geben.
Gedankenverloren kraulte sie sein seidiges Fell und versuchte die Bilder ihres Albtraums abzuschütteln.
Ein Haus brannte lichterloh. Fensterscheiben zerbarsten und gewaltige Flammen loderten aus dem Dach heraus. Die sengende Hitze nahm Konstanze den Atem. Sie hörte die verzweifelten Hilferufe, doch das Feuer wütete bereits zu stark, um das Haus noch betreten zu können. Sie stand hilflos auf der Straße und blickte auf die brennende Hölle, ihren Mund weit geöffnet, war sie dennoch außerstande zu schreien. Ihre Freundin klammerte sich schreiend an sie, drohte den Halt zu verlieren und zu Boden zu stürzen.
Warum nur hatte sie damals nicht helfen können? Diese Frage ließ sie nie mehr los und bereitete ihr bis heute enorme Schuldgefühle.
Seit dem schrecklichen Hausbrand vor acht Jahren litt sie unter massiven Schlafstörungen. Entweder lag sie stundenlang wach, unfähig einzuschlafen und gefangen in einem Meer von düsteren Gedanken oder sie wurde von jenen, sich stets wiederholenden Traumbildern gequält. Ihre beste Freundin Astrid und sie hatten das verheerende Feuer damals überlebt. Für deren Eltern kam jedoch jede Hilfe zu spät. Die beiden Mädchen mussten mit ansehen, wie die Eltern von Astrid den Tod fanden. Konstanzes Leben hatte sich seitdem geändert. Sie wollte stark sein für ihre Freundin, konnte das Erlebte jedoch selbst nicht verarbeiten. Neben den ohnehin schon quälenden Schlafstörungen, entwickelte sie außerdem Angst- und Panikattacken, konnte sich plötzlich nicht mehr in kleineren Räumen aufhalten, bekam Schwindelanfälle in großen Menschenmengen. Ihre Eltern hatten sie immer dazu gedrängt, ihre Gesprächstherapie fortzusetzen. Doch die hatte Konstanze bereits nach vier Wochen abgebrochen. Das bringt doch überhaupt nichts, hatte sie entnervt ihrer Mutter entgegnet.
Sie streichelte Merlin über den weichen Kopf und spürte dabei ein wenig Trost. Wenigstens ihm hatte sie helfen können und dem Hund ein neues Zuhause gegeben. Dafür bekam sie von dem kleinen Mops viel Liebe und Dankbarkeit zurück.
Konstanze schlug ihre Bettdecke beiseite und schlüpfte in ihre Hausschuhe. Sie fröstelte. Egal. Auf keinen Fall wollte sie die Augen nochmals schließen, wollte dem Feuer nicht erneut entgegentreten. Sie ging hinüber ins Badezimmer, tastete nach dem Lichtschalter und drehte dann den Wasserhahn der Wanne auf. Diese Badewanne war einer der Gründe, warum sie sich auf den ersten Blick in diese Maisonette-Wohnung verliebt hatte. Sie träumte schon lange davon, in einer dieser üppigen Eckwannen entspannen zu können. Auf dem Rand standen diverse Fläschchen mit Badezusätzen. Sie griff nach dem Lavendelsalz und ließ es in das heiße Wasser rieseln. Sofort stieg der beruhigende Duft ihr in die Nase.
Sie schloss für einen Moment die Augen und genoss die inneren Bilder. Südfrankreich. Vor ihr erstreckten sich ausgedehnte violette Lavendelfelder, soweit das Auge reichte. Am Feldrand fand sich ein malerisches Landhaus, auf dessen Veranda eine weiße Holzbank und ein runder Tisch standen. Dieser war liebevoll gedeckt mit einem Strauß Wildblumen, daneben stand eine bauchige Flasche Pinot Noir zusammen mit einem halb vollen Glas des französischen Landweins.
Während die Wanne sich langsam mit heißem Wasser füllte, ging Konstanze über die Wendeltreppe nach unten in ihre Küche. Sie streckte sich und nahm ein Weinglas aus dem Hängeschrank. Dann durchsuchte sie jede Schublade nach dem Korkenzieher, fand ihn jedoch nicht. Verflixt. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und entdeckte ihn hinter der Dose Gummibärchen. Nachdem der Korken aus der Flasche billigen Rotweins entfernt war, ging sie mit dem Glas und dem Wein zurück ins Badezimmer.
Zarte Schwaden des weißen Dampfes, durchmischt mit dem Duft des Lavendels kamen ihr entgegen. Die Badewanne war inzwischen voll. Sie goss sich den Wein ein, trank einen großen Schluck und füllte das Glas erneut auf. Sie stellte es nebst der Flasche auf dem breiten Rand der Wanne ab und glitt aus ihrem Nachthemd. Fein säuberlich zusammengefaltet legte sie es auf dem Toilettendeckel ab und stieg mit einem Bein in das Wasser. Sie zuckte kurz zurück, denn im ersten Moment schien es viel zu heiß zu sein, doch schnell durchflutete ein wohliger Schauer ihren Körper. Sie zog das andere Bein hinterher und glitt langsam und genüsslich ins Badewasser. Ein Gefühl von absoluter Geborgenheit hüllte sie ein. Mit ihrem rechten Fuß drehte sie geschickt den Hahn zu. Behagliche Stille legte sich über den Raum wie eine dicke, warme Decke. Nur das leise Knistern des Badeschaums, dessen winzige Bläschen nacheinander zerfielen, war noch zu hören. Merlin war in der Zwischenzeit ebenfalls ins Badezimmer gekommen und rollte sich nun auf dem flauschigen Teppich vor der Badewanne zusammen. Der Rotwein und die Wärme des Wassers zeigten ihre Wirkung und benebelten Konstanzes Sinne. Sie entspannte sich und die Bilder des Albtraums zerplatzten wie schillernde Seifenblasen.
Kapitel 4
Montag, 8. September 2014; 21:35 Uhr
Geschwächt und an zahlreichen Schläuchen und Kabeln hängend lag Karl Schuster in seinem Krankenhausbett der Intensivstation und schaute zum Fenster hinaus. Er konnte draußen nichts mehr erkennen. Die Dämmerungsstunde war vorüber und die Finsternis der Nacht legte sich wie ein schwerer Teppich über die Stadt. Dicke Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe und fanden sich zu kleinen Rinnsalen zusammen. In der Luft lag der typische Krankenhausgeruch von Desinfektionsspray und gestärkter Baumwollbettwäsche gepaart mit einem Hauch Pfefferminztee, der überall in den Gängen für Patienten und Besucher zur Verfügung stand. Sicherheitshalber hatte man ihn in einem Extrazimmer, isoliert von den anderen Patienten, untergebracht. Es würde noch dauern, bis die Testergebnisse vorlagen.
»Sobald wir das Norovirus ausschließen können, bekommen sie auch Gesellschaft, Herr Schuster«, erklärte ihm eine Krankenschwester, während sie prüfend auf die Überwachungsmonitore schaute. Karl legte gar keinen Wert mehr auf Gesellschaft. Er fühlte sich elend, entkräftet, nicht mal in der Lage noch seinen Kopf zu heben.
»Möchten Sie noch ein zweites Kopfkissen, damit Sie ein bisschen höher liegen?«
»Nein«, flüsterte er, begleitet von einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung. Die Schwester nahm ein Wattestäbchen, tauchte es in einen Becher mit Wasser und befeuchtete Karls rissige Lippen. »Das tut gut, nicht wahr Herr Schuster?« Er nickte schwach und schloss die Augen.
»Ich schaue gleich noch mal nach Ihnen.« Mit diesen Worten huschte die adrette Krankenschwester wieder durch die Zimmertür.
Auf Karls Stirn hatten sich winzige Schweißperlen gebildet, die nach und nach dem Gesetz der Schwerkraft folgten und im Kissen verschwanden. Karl wollte sich so gern am Kopf kratzen, aber es gelang ihm nicht mehr, seinen bleischweren Arm zu heben. Im Handrücken des anderen steckte eine Infusionsnadel. Gedankenverloren blickte er auf den dazugehörigen Infusionsbeutel über dem Bett. Er bekam Kochsalzlösung, um die massive Dehydrierung auszugleichen. Trotzdem fühlte sich sein Mund schrecklich trocken an, die Lippen waren bereits aufgesprungen und brannten. Er sehnte sich nach dem getränkten Wattestäbchen von vorhin, nach ein wenig wohltuender Feuchtigkeit auf seinen spröden Lippen.
Kurz darauf kam die dunkelhaarige Schwester erneut schwungvoll zur Tür herein und trat neben das Bett von Karl.
»Na Herr Schuster, wie geht es Ihnen? Ich messe jetzt ihren Blutdruck und ihre Temperatur und nehme mir noch etwas Blut von Ihnen. Sie können doch sicher darauf verzichten«, sagte sie mit einem aufgesetzten Lächeln im Gesicht.
Er konnte seinen Mund nicht mehr bewegen und nickte daher kaum merklich. Wie durch einen Schleier sah er, wie die weißgekleidete Frau das Ergebnis des Fieberthermometers ablas und besorgt mit dem Kopf schüttelte. Während sie hektisch auf den Klingelknopf über dem Bett drückte, versank Karl tiefer und tiefer in einen schwerelosen Dämmerzustand.
Kapitel 5
Mittwoch, 10. September 2014; 14:45 Uhr
Seit dem Mord an Sabrinas Mutter hatte Konstanze nur kurz am Telefon mit ihrer Freundin gesprochen. Jetzt stand sie, mit einem flauen Gefühl in der Magengegend, vor deren Appartement und klingelte. Was sollte sie sagen?
Die Tür öffnete sich schwungvoll und Sabrina lächelte sie an. Ihr langes schwarzes Haar fiel in sanften Wellen auf ihre Schultern und bildete einen perfekten Rahmen für ihr engelsgleiches Gesicht. Mit der Stupsnase, den frechen Sommersprossen und den sinnlichen Lippen wirkte sie wie ein süßes Mädchen.
Umwerfend und sexy wie immer, dachte Konstanze.
»Hi, komm rein. Möchtest du ein paar Hausschuhe haben?«
»Ja, danke. Ich bin völlig durchnässt.« Konstanze schälte sich aus ihrer Regenjacke, legte den Schal sorgfältig auf der wackeligen Garderobe ab und brachte den Schirm zum Trocknen ins Badezimmer.
»Ich habe Früchtetee gekocht. Den magst du doch«, rief Sabrina aus der Küche.
»Ja gern. Danke.« Konstanze trat ins Wohnzimmer und wunderte sich, dass noch niemand außer ihr da war.
»Wo sind die anderen?«
»Welche anderen?«
»Ich dachte, unsere Referatsgruppe trifft sich heute hier«, fragte sie.
»Ach … ähm …«, kam Sabrina ins Stottern, »nein! Die haben heute keine Zeit. Es war aber schon zu spät, um dir noch abzusagen.«
Konstanze ging zu ihrer Freundin in die Küche. Einfach das Thema totschweigen wollte sie nicht. Sie schluckte den Kloß im Hals herunter und legte eine Hand auf Sabrinas Schulter. »Es tut mir so leid wegen deiner Mutter. Wie geht es dir?«
»Mir geht es gut. Ehrlich. Du weißt doch, wir haben uns nie besonders gut verstanden. Mach dir keine Sorgen um mich.« Sabrina gab sich erschreckend heiter für jemanden, der vor ein paar Tagen seine Mutter durch einen Mord verloren hatte.
»Setz dich, der Tee kommt gleich.« Völlig perplex ging Konstanze zurück ins Wohnzimmer und fragte sich, warum Sabrina so ungerührt mit dem Tod ihrer Mutter umging. Die Tatsache, dass ihre Freundin völlig anders mit dem Tod umging, als sie erwartet hatte, verunsicherte sie nur noch mehr. Sie trat ans Fenster und schaute nachdenklich auf die Blasen, die der Regen auf dem Asphalt bildete. Es hatte schon den ganzen Sommer über geregnet und der Herbst schien genauso weitermachen zu wollen. Plötzlich stutzte sie. Auf der anderen Straßenseite stand ein hagerer Mann und trat zigarettenrauchend von einem Bein auf das andere. Derselbe Mann war ihr vorhin bereits aufgefallen, als sie ihre Wohnung verlassen hatte. Er stand in der Jahnstraße gegenüber ihres Mietshauses und telefonierte.
»Kennst du diesen Kerl?«
Sabrina kam mit einem Tablett ins Zimmer, stellte es auf dem Tisch ab und trat zu Konstanze ans Fenster. »Wen denn?«
»Da drüben, der mit der Kippe.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die Richtung.
»Nö! Noch nie gesehen. Warum sollte ich den kennen? Komm setz dich.« Sabrina ging zum Sofa und ließ sich fallen.
»Bist du sicher? Den habe ich vorhin schon bei mir vor der Tür gesehen. Ich glaube, der Typ ist mir gefolgt.« Sie drehte sich um und schaute ihre Freundin an.
»Seit wann bist du so paranoid? So ein Unsinn. Warum sollte dir jemand folgen? Vielleicht sehen die sich ähnlich. Jetzt komm schon, der Tee wird kalt.«
»Ich bin mir ganz sicher, dass es derselbe Mann war. Seltsam.«
»Konny, du bist zu gestresst. Du solltest mal kürzer treten, dann siehst du auch keine Gespenster«, sagte Sabrina und schenkte den Tee ein.
»Vielleicht hast du recht.« Sie setzte sich zu ihrer Freundin, doch ein ungutes Gefühl blieb und verankerte sich in ihrem Unterbewusstsein.
Auf dem Tisch standen mehrere Kerzen, die bereits brannten und ein gemütliches, sanftes Licht verbreiteten. Sie nahm den zarten Blumengeruch einer Duftlampe wahr. So viel Romantik hätte sie ihrer Freundin gar nicht zugetraut.
»Ich hoffe, er schmeckt dir! Ich habe ihn vor knapp einer Stunde aus dem Ofen geholt.« Konstanze sah etwas ungläubig auf den dunklen duftenden Schokoladenkuchen vor sich. »Ich wusste gar nicht, dass du backen kannst.«
»Das hättest du nicht von mir erwartet, oder? Ich habe extra noch eine Schokoladensoße dazu gemacht. Du wirst begeistert sein.«
Irgendwie hatte Konstanze das Gefühl, dass Sabrina diesen Kuchen nur für sie gebacken hatte. Sabrina spießte ein kleines Stück davon auf die Gabel und lehnte sich zu Konstanze herüber. »Hier probier ihn.«
»Hm, der ist saulecker. Ich liebe Schokoladenkuchen.«
»Ich weiß.« Sie grinste. »Das hast du mal erwähnt vor einer Weile.«
»Holla! Ich bin ja richtig beeindruckt von deinen Backkünsten.« Konstanze aß genüsslich einen weiteren Bissen von dem köstlichen Kuchen und hatte für einen winzigen Moment das Gefühl, dass Sabrina leicht verlegen wirkte.
»Wo ist eigentlich Merlin?«
»Ich habe ihn bei Oma Wallie gelassen.«
Oma Wallie hieß eigentlich Waltraud Koch und wohnte im gleichen Mietshaus wie Konstanze. Sie selbst hatte keine Enkel und ihr einziger Sohn war nach Kanada ausgewandert. Konstanze besuchte die ältere Dame ab und zu und erledigte kleinere Einkäufe für sie. Im Gegenzug passte diese auf Merlin auf, wenn Konstanze in der Uni und bei ihrem Nebenjob in der Buchhandlung war.
»Magst du Musik hören?«
»Ja klar, was kannst du anbieten?«
»Ich habe Rock und Pop, so querbeet von allem was, aber ich habe auch Queen da.« Sie sah Konstanze mit einem verschmitzten Lächeln an.
»Queen ist gut. Wir haben wohl den gleichen Musikgeschmack.«
»Gute Musik ist nicht zu verachten«, antwortete Sabrina knapp und legte eine CD in die Stereoanlage ein. Wenige Augenblicke später spielte Brian May einige Akkorde auf seiner Gitarre und Freddy Mercury sang Crazy Little Thing Called Love. Konstanze zog ihren Pulli zurecht und trank dann etwas zu hastig den Tee aus. Sie verschluckte sich und ein Hustenanfall schüttelte ihren Körper. Sabrina setzte sich dicht neben sie auf das Sofa und klopfte ihr auf den Rücken. »Geht es wieder?«
»Ja, danke, ich bin in Ordnung.«
Sabrina schenkte für beide noch Tee nach und reichte Konstanze ihre Tasse. Aus den Augenwinkeln heraus sah Konstanze, dass Sabrinas Arm hinter ihrem Rücken auf der Sofalehne ruhte und ihre Freundin keine Anstalten machte, wieder ein Stück wegzurücken. Verkrampft hielt sie sich an ihrem Tee fest und zuckte unwillkürlich zusammen, als sie plötzlich eine leichte Berührung auf ihrer Schulter spürte. »Soll ich dir ein wenig die Schultern und den Nacken massieren? Du bist ja total verspannt.«
»Ich weiß nicht, ach nein, das brauchst du wirklich nicht zu tun.«
»Nun stell dich nicht so an, da ist doch nichts dabei. Das mach ich gern. Und außerdem könntest du mich danach auch massieren.« Sabrina grinste süffisant.
»Gut, einverstanden«, gab Konstanze nach.
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