Blutsommer - Rainer Löffler - E-Book + Hörbuch

Blutsommer Hörbuch

Rainer Löffler

5,0

Beschreibung

Die Presse nennt ihn den "Metzger": Ein Serienmörder tötet seine Opfer auf geradezu bestialische Weise. Die Kölner Polizei tappt immer noch im Dunkeln, als bereits das fünfte Opfer des Killers entdeckt wird: die stark verweste Leiche eines Rechtsanwalts. Hauptkommissar Greiner braucht einen Profiler - und zwar den besten! Und keiner kann sich so gut in die Gedankenwelt von Serienmördern hineinversetzen wie Martin Abel vom Stuttgarter LKA - eine Gabe, die einsam macht. Abel glaubt, an Schrecklichem schon alles gesehen zu haben. Doch das hier - das ist eine neue Dimension. Und dieser Fall wird ihm alles abverlangen, vielleicht sogar sein Leben ...

"Rainer Löffler bereichert die deutsche Thriller-Szene um eine aufregende Stimme." Kölner Stadt-Anzeiger

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Zeit:7 Std. 9 min

Sprecher:Thomas Wenke

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Zitat

Prolog

Erster Tag

Zweiter Tag

Vergangenheit

Dritter Tag

Vergangenheit

Gegenwart

Vierter Tag

Fünfter Tag

Vergangenheit

Sechster Tag

Siebter Tag

Vergangenheit

Gegenwart

Achter Tag

Neunter Tag

Zehnter Tag

Letzter Tag

Nachwort des Autors

Danksagung

Über den Autor

Weitere Titel des Autors

Impressum

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Über dieses Buch

Die Presse nennt ihn den »Metzger«: Ein Serienmörder tötet seine Opfer auf geradezu bestialische Weise. Die Kölner Polizei tappt immer noch im Dunkeln, als bereits das fünfte Opfer des Killers entdeckt wird: die stark verweste Leiche eines Rechtsanwalts. Hauptkommissar Greiner braucht einen Profiler – und zwar den besten! Und keiner kann sich so gut in die Gedankenwelt von Serienmördern hineinversetzen wie Martin Abel vom Stuttgarter LKA – eine Gabe, die einsam macht. Abel glaubt, an Schrecklichem schon alles gesehen zu haben. Doch das hier – das ist eine neue Dimension. Und dieser Fall wird ihm alles abverlangen, vielleicht sogar sein Leben ...

Rainer Löffler

Blutsommer

Thriller

Jeder ist ein Mond und hat eine dunkle Seite,

die er niemandem zeigt.

Mark Twain

Prolog

Lautlos bewegte er sich auf den dunklen Wagen zu. Wie ein Raubtier auf der Jagd näherte er sich vorsichtig seinem Opfer.

Schon konnte er durch ein offenes Fenster das Knistern der Glut einer Zigarette hören, der Wartende vertrieb sich die Zeit mit Rauchen. Der herbe Duft von verbranntem Tabak wurde von dem Geruch zu lang getragener Kleidung begleitet. Der Auserwählte war zweifellos nicht gut auf ihr Treffen vorbereitet, sein Mangel an Respekt war nicht zu leugnen.

Warte noch ein paar Stunden, dann wird Schweiß noch die angenehmste deiner Ausscheidungen sein, dachte der Herr der Puppen.

Aber noch saß der Mann entspannt rauchend in seinem Wagen und ahnte nicht, welche Veränderung ihm bevorstand. Stattdessen dachte er vermutlich über Dinge nach, die ihm momentan wichtig erschienen. Seine langweilige Arbeit in der Kanzlei. Ein unnötiger Streit mit seiner Frau. Vielleicht sogar an das Treffen mit der Geliebten ... Es gab vieles, mit dem man sich beschäftigen konnte, wenn man die wahren Prioritäten nicht kannte, dachte der Herr der Puppen.

Auch ich habe mich viel zu lang an der Oberfläche meiner Möglichkeiten bewegt, anstatt meiner wahren Berufung zu folgen. Ärger überkam ihn, als er an die vielen verschenkten Jahre dachte. Ich könnte schon viel weiter sein, wenn ich früher begriffen hätte.

Doch sein Unmut verflog so schnell, wie er gekommen war. Vergiss die Vergangenheit!, ermahnte ihn die Stimme in seinem Herzen. Es ist die Zukunft, die zählt.

Plötzlich warf der Auserwählte seine Zigarette aus dem schmalen Spalt des geöffneten Wagenfensters. Nur Zentimeter von den Fußsohlen seines Beobachters entfernt, fiel der glimmende Stumpen auf den feuchten Asphalt, wo er noch zwei-‍, dreimal umherwirbelte und seine glühende Asche in die Dunkelheit versprühte, bis er schließlich zischend in einer kleinen Pfütze landete. Dann war Stille.

Stille.

Der Herr der Puppen liebte dieses Wort wie kein anderes. In einer lauten Welt ohne Liebe für Details suchte er geradezu diese Momente, in denen außer seinem Herzschlag und dem des Auserwählten nichts zu hören war. Auch später, wenn die Arbeit vollbracht war und die Reste seines Opfers ihren Platz in der Galerie eingenommen hatten, herrschte eine Stille, die seine zum Zerreißen gespannten Sinne auf angenehme Art beruhigte.

So wie in diesem Augenblick. Der Mann in dem Auto öffnete das Handschuhfach, um etwas herauszunehmen. Vielleicht eine Straßenkarte, vielleicht eine neue Schachtel Zigaretten. Was immer es auch war, es spielte keine Rolle mehr. Denn noch während der Mann sich tiefer zur Seite beugte, um besser an das Handschuhfach heranzukommen, spürte der Jäger mit jeder Faser seines Körpers, dass jetzt die Zeit des Handelns gekommen war.

Lautlos machte der Herr der Puppen den entscheidenden Schritt auf sein Opfer zu.

*

14. Juli, 8.50 Uhr; Köln-Klettenberg, Fort Deckstein

Der Rollsplitt knallte im Takt eines Maschinengewehrs gegen den Unterboden des Minivans, als Wolfgang Lerch, ohne zu blinken, über die durchgezogene Linie in den Waldweg abbog.

»Du bist mir ja ein schönes Vorbild!« Martina Lerch klang halb belustigt, halb ernst. »Was glaubst du, was die Kinder daraus lernen, wenn sie einen Geisterfahrer zum Vater haben?«

»Was sollen sie daraus lernen? Wahrscheinlich bewundern sie meine Fähigkeit, mutige Entscheidungen zu treffen. Nicht wahr, ihr drei?«

»Was ist ein Geisterfahrer, Mami?«, wollte Louisa vom Rücksitz aus wissen.

»Das ist jemand, der in die falsche Richtung fährt«, erklärte ihr Anna. »Wenn so einer einen Unfall baut, dann zahlt die Versicherung nicht. Außerdem kommt er ins Gefängnis und kriegt fünf Jahre lang nur Wasser und Brot.«

»Nur Wasser und Brot?« Martina Lerch zwickte ihren Mann in seinen stattlichen Bauch. »Okay, fahr weiter, Wolfgang.«

Als sie die Lichtung mit dem Parkplatz erreichten, standen nur zwei weitere Autos dort, ein dunkler Jeep und ein roter Honda. Wolfgang Lerch parkte am anderen Ende des Platzes, direkt neben der Abzweigung des Waldweges, den sie einschlagen mussten.

»Siehst du, es war doch eine gute Idee, so früh aufzubrechen. Jetzt können wir uns in aller Ruhe den schönsten Grillplatz im Wald aussuchen, während die Leute, die heute Nachmittag kommen, ihr Fleisch in der Sonne braten müssen. Bin ich nicht ein guter Organisator?«

»Der beste. Jetzt musst du den Kindern nur noch erklären, warum es notwendig ist, dafür an einem Samstag um sieben Uhr aufzustehen.« Martina gab ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich losschnallte und ausstieg.

Obwohl es noch so früh war, fühlte sie sich von einem Moment auf den anderen wie im Vorraum einer Sauna, bei der jemand vergessen hatte, die Tür zu schließen. Die schwüle Luft kroch in Sekunden unter ihre Kleidung, wo sie für unangenehme Feuchte sorgte. Martina wusste, dass dies nur ein Vorgeschmack dessen war, was ihnen am Nachmittag blühte, wenn sich die Tür zur Sauna endgültig öffnete. Dann half nur noch trinken und still sitzen, so wie schon seit Wochen in fast ganz Deutschland.

Während ihr Mann zum Kofferraum ging, um den Bollerwagen auszuladen, zog Martina die Schiebetür auf. Erst half sie ihrer Jüngsten aus dem Kindersitz, dann stieg Anna und zuletzt Lena aus dem Auto, die Louisas Teddy fest in der Hand hielt. Die Achtjährige wusste genau, dass ihre kleine Schwester ohne Winnie keinen Schritt aus dem Haus gemacht hätte und schon gar nicht aus dem Auto. Deshalb hatte sie sich persönlich zu Winnies Aufpasserin erklärt. Zur Freude aller, denn jeder wusste, was los war, wenn das Stofftier versehentlich irgendwo liegen blieb.

»Scheiße! Hat jemand an den Spiritus gedacht?« Wolfgang Lerch hielt die Trageschlaufen einer Jutetasche auseinander und blickte hinein. »Ich glaube, ich hab ihn vergessen!«

»Der Fusel ist da, wo er hingehört, nämlich bei der Holzkohle im Grill«, erklärte ihm seine Frau.

»Scheiße sagt man nicht«, beschwerte sich Louisa. »Frau Aßmann sagt, wer das Sch-Wort sagt, ist dumm wie Bohnenstroh.«

»Deine Kindergärtnerin hat vollkommen recht, mein Schatz. Aber dein Papa hat sich nur versprochen. Er wollte eigentlich schade sagen.« Martina Lerch blickte ihren Mann warnend an.

»Stimmt das, Papa?«

»Natürlich. Du musst dir keine Sorgen machen. Dein Vater ist nicht dumm.«

Als alles umgeladen war, schloss Wolfgang Lerch den Wagen mit der Fernbedienung ab. Louisa lachte zufrieden, als die Blinker kurz aufleuchteten und die Hupe ertönte. Dann rannte sie zu Lena und Anna, die bereits einige Meter vorausgelaufen waren.

»Du bist dran«, rief sie, als sie ihre älteste Schwester erreichte und mit der Hand abklatschte.

»Ich bin doch kein Baby mehr«, maulte Anna, während sie die Mailbox ihres Handys kontrollierte. Sie hatte es nach einem halben Jahr schwerster Überzeugungsarbeit zu ihrem zwölften Geburtstag geschenkt bekommen. Seitdem drehte sich ihre ganze Freizeit um das Gerät, auch wenn heute kein Mensch außer ihr zu wissen schien, dass sie es besaß.

»Doofie!« Lena streckte Anna die Zunge heraus und lief hinter Louisa her.

»Lauft nicht so weit in den Wald, Kinder! Hier gibt es jede Menge Bären und Wölfe.«

»Aber doch nur im Märchen!« Unbeeindruckt verschwanden die beiden Mädchen mit Winnie im Schlepptau in einem Gebüsch. Fröhliches Geschnatter begleitete ihren Weg durch den Wald, sodass sich ihre Eltern keine Sorgen zu machen brauchten, sie könnten verloren gehen.

In gemächlichem Tempo folgten die Lerchs mit ihrer Größten dem schmalen Schotterweg in Richtung des kleinen Waldsees, der ihr Ziel war. Er lag von mehreren Feuerstellen umgeben nur einen knappen Kilometer vom Parkplatz entfernt und war bequem in einigen Minuten erreichbar. Die beiden Erwachsenen gingen voraus und diskutierten darüber, warum man das nervige Quietschen des Bollerwagens eigentlich mit schöner Regelmäßigkeit eine Sekunde nach dem Einladen in den Van wieder vergaß und sich beim nächsten Mal wunderte, dass man es nicht beseitigt hatte.

»Was für ein herrlicher Tag!« Martina Lerch warf den Kopf in den Nacken und streckte die Arme aus. »Ich verspreche dir, dass ich heute nichts, aber auch gar nichts tun werde, was anstrengt. Nur essen, schlafen und ...«, fügte sie flüsternd hinzu, nachdem sie sich mit einem Blick über die Schulter vergewissert hatte, dass ihre Älteste mit dem Handy beschäftigt war und ihnen nicht zuhörte, »... wenn es unbedingt sein muss, heute Abend auch noch ein bisschen Sex.«

Ihr Mann grinste. »Es muss sein, mein Schatz. Du weißt genau, dass ich immer einen Hormonschub bekomme, wenn ich Fleisch esse. Das sind vermutlich meine Urinstinkte – aus der Zeit, als Männer ihre Frauen noch mit der Keule erlegten.«

»Träum weiter, du Halbwilder! Ich werde dir heute Abend zeigen, was eine Frau mit einer Keule alles machen kann.«

Lachend zog Wolfgang Lerch den Bollerwagen weiter in Richtung des Grillplatzes. Der Weg zog sich über eine kleine Kuppe und fiel dann zu einem trockenen Bachbett ab, das sich durch den Wald schlängelte.

»Lena! Louisa! Kommt her!«, rief Martina Lerch, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie die beiden Mädchen schon eine Weile nicht mehr gehört hatte. In etwa hundert Metern Entfernung glaubte sie für einen kurzen Moment plötzlich Lenas rotes Kleid aufblitzen zu sehen, das schnell wieder hinter einem Gebüsch verschwand.

»Lena! Wenn ihr nicht sofort herkommt, werde ich böse!« Ihre Stimme klang streng, und doch machte sich bereits Unruhe in ihr breit. Die Kinder hielten oft die Spielregeln nicht ein. Eine der wichtigsten war, sich nicht aus der Sicht- und Rufweite der Eltern zu entfernen. Doch ihre Töchter wussten genau: Wenn ihre Mutter diesen Ton anschlug, war mit ihr nicht zu spaßen.

»Lena! Louisa!«

Alles blieb ruhig.

Martina Lerch blickte ihren Mann an. Angst schnürte ihr plötzlich die Kehle zu. Man wusste ja, was heutzutage alles passieren konnte. Und wie schnell so etwas ging ...

»Wir sollten lieber mal nachschauen«, sagte nun auch ihr Mann.

»Ja. Ich ...«

Im nächsten Moment drang ein markerschütternder Schrei durch den Wald. Eine Sekunde später schrie noch jemand. Den Lerchs gefror das Blut in den Adern.

»Louisa! Lena!«, brüllte Wolfgang Lerch.

»Anna, du bleibst mit deiner Mutter hier! Ich sehe nach, was los ist.«

»Wir kommen mit!« Ein kurzer Blick in die Augen seiner Frau machte ihm klar, dass jede Diskussion zwecklos war. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rannte er los, die beiden anderen folgten.

Martina Lerch blieb dicht bei Anna, sodass Wolfgang Lerch schnell einen Vorsprung vor den beiden gewann. Dabei scherte er sich nicht um die Dornen, die seine nackten Beine zerkratzten, er nahm den kürzesten Weg dorthin, wo er seine Töchter vermutete.

»Louisa! Lena! Ich bin gleich bei euch!«

Wolfgang Lerch versuchte, noch schneller zu laufen. Sein Herz klopfte wild, und seine untrainierten Lungen brannten. Während er mit bleiernen Beinen durch das Gebüsch stolperte, trieb ihn nur ein einziger Gedanke an: Er musste zu seinen Töchtern und ihnen helfen.

Eine Sekunde später taumelte er in das trockene Bachbett hinunter. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn erstarren.

Louisa lag ein paar Meter von ihm entfernt auf einem Haufen Erde und schien wirres Zeug zu plappern, Wolfgang konnte kein Wort verstehen. Gerade unternahm sie den hilflosen Versuch, sich aufzurappeln, doch nach wenigen Zentimetern sank sie auf den Waldboden zurück.

Wolfgang Lerch blinzelte irritiert, als er neben dem Erdhaufen einen weiteren aus Kleidungsstücken entdeckte.

Dann blickte er zu Lena, die mit nach vorn gebeugtem Oberkörper ein paar Meter vor ihrer Schwester stand und aussah, als würde sie nach Luft ringen. Wolfgang Lerch eilte zu ihr und streckte eine Hand nach ihr aus, um sie zu beruhigen. Als seine Finger nur noch Zentimeter von ihrer Schulter entfernt waren, entdeckte er zu ihren Füßen eine matschige Lache.

»Lena, was ...?« Seine Stimme erstarb, als er den flehenden Blick seiner Tochter sah.

»Papa, ich kann nichts dafür. Ich konnte doch nicht wissen, dass es da liegt ...!« Ein weiterer Schwall ihres Mageninhalts landete im Laub.

Durch Wolfgang Lerch ging ein Ruck. Er musste seine Kinder so schnell wie möglich hier wegbringen. Alles andere war unwichtig.

Er kniete sich neben Louisa und schob seine Hände unter ihre Achseln. Ihr Herz pochte wild. Vorsichtig zog er sie von dem Erdhügel weg, jede Sekunde damit rechnend, dass seine Tochter vor Schmerzen aufschreien könnte und er in seiner Bewegung innehalten musste. Doch Louisa keuchte nur stoßartig und lehnte sich kraftlos an ihn, als er sie auf seinen Schoß setzte. Wolfgang Lerch spürte, wie sie zitterte.

»Ganz ruhig, meine Kleine! Papa ist bei dir, jetzt kann dir nichts mehr geschehen.«

Angewidert scheuchte er die Fliegen beiseite, die sich auf Louisa niedergelassen hatten – und hielt plötzlich inne.

Aus dieser Entfernung sah es aus, als wären dünne weiße Wurzeln in dem schmierigen Brei auf Louisas Kleid, und für einen Moment glaubte Wolfgang Lerch tatsächlich, dass es welche waren. Doch dann erkannte er, dass sie sich bewegten, und begriff entsetzt, dass es kleine Maden waren.

»Oh mein Gott!«

Fieberhaft suchte er seine Hose nach Papiertaschentüchern ab. Als er endlich eines gefunden hatte, entfernte er mit zitternden Händen einige der Maden und tupfte anschließend mehrmals die Stelle ab, wo die Tiere gewimmelt hatten. Dann warf er das Taschentuch angeekelt weg.

Verdammter Mist! Er hatte wie immer nur eins eingesteckt. Aber er konnte die Maden unmöglich auch nur eine Sekunde länger auf seiner Tochter herumkriechen lassen. Kurz entschlossen zog er sein T-Shirt aus und begann vorsichtig, den immer noch von Fliegen umschwirrten Brei zu entfernen.

»Es wird alles gut, meine kleine Prinzessin. Papa bringt dich gleich nach Hause!« Besorgt lauschte er Louisas Atmung, es schien, als bekäme sie kaum Luft.

Während er die Hände seiner Tochter abwischte, fiel sein Blick auf den Haufen, von dem er sie vor wenigen Sekunden heruntergezogen hatte.

»Oh Gott!« Eine eiskalte Hand griff nach seinem Herzen.

»Papa!« Annas Stimme kam aus unmittelbarer Nähe.

Wolfgang Lerch fuhr herum. »Bleib, wo du bist!« Seine Älteste und seine Frau waren gerade an derselben Stelle in das Bachbett heruntergestiegen wie er kurz zuvor.

»Aber Papa! Was ist denn mit Louisa?« Anna kam langsam näher.

»Ich sagte, du sollst bleiben, wo du bist!«, sagte Wolfgang scharf. »Martina, geh mit Lena und Anna zurück zum Wagen. Ich trage Louisa.«

»Tragen? Warum um alles in der Welt tragen?« Panik stieg in Martina Lerch hoch. »Wolfgang! Was ist mit ihr?«

»Tut einfach, was ich sage, verdammt!«

Martina Lerch wollte ihren Mann zurechtweisen. Doch dann sah sie die Angst in seinem Blick. Schnell machte sie einen Schritt nach vorn und hielt Anna an der Schulter fest. »Du rührst dich nicht von der Stelle!« Sie ging an ihrer ältesten Tochter vorbei zu Lena, die sich immer noch übergab.

Wolfgang Lerch bettete Louisa vorsichtig auf seine Arme und hob sie hoch. Er ließ sein T-Shirt achtlos liegen und ging mit ihr das Bachbett zurück. Gleichzeitig gab er damit den Blick auf den dunklen Haufen frei.

»Was ist das, Wolfgang?«

»Nur ein totes Reh«, murmelte er, schaute aber seiner Frau dabei nicht in die Augen.

»Oh Gott!«

Schnell drehte sie Lena zur Seite. »Los, mein Schatz! Wir müssen zum Wagen. Anna nimmt dich an der Hand.«

Lena wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides den Mund ab. Dann hob sie Winnie auf und ging langsam zu ihrer großen Schwester, die sie die Böschung hinaufführte.

Als Wolfgang Lerch seine Frau erreichte, dankte er Gott, dass er vor ihr bei Louisa gewesen war und sie hatte reinigen können. Speichel rann aus dem Mund ihrer Tochter und hinterließ helle Bahnen auf dem kleinen verschmierten Gesicht, doch er wollte sich nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn Martina auch noch die Maden gesehen hätte.

»Ist sie verletzt?«, fragte Martina Lerch ängstlich.

»Ich hab keine Ahnung, verdammt! Ich sehe nur, dass sie offenbar keine Luft bekommt.«

»Wir müssen ins Krankenhaus, schnell!«

»Das weiß ich! Und wir müssen die Polizei rufen, aber das ist nicht so dringend. Der ... Haufen liegt morgen auch noch da.«

Als sie kurz darauf wieder auf dem Schotterweg standen, war die Vierjährige völlig verstummt. Ihr Kopf war dunkel angelaufen und hing kraftlos nach unten. »Schnell, zum Auto«, rief Wolfgang Lerch.

»Anna, du ziehst den Bollerwagen«, befahl Martina Lerch. »Wenn du nicht mehr kannst, lass ihn stehen. Lena, schaffst du es allein?«

Seine mittlere Tochter nickte tapfer.

»Gut, dann zurück zum Parkplatz!«

Während sie mit schnellen Schritten kehrtmachten, legte Wolfgang Lerch zwei Finger an Louisas Halsschlagader, so wie er es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Nach wenigen Sekunden versuchte er es einige Zentimeter daneben.

»Mein Gott, Martina! Ich kann ihren Puls nicht spüren!«

Martina biss sich auf die Lippen. Dann fuhr sie zu Anna herum und rief: »Gib mir dieses gottverdammte Handy!« Mit zitternden Fingern wählte sie die Notrufnummer. In ihrer Panik verwählte sie sich zweimal, bevor sie jemanden erreichte. Als sie ihre Stimme einigermaßen unter Kontrolle gebracht und die Situation geschildert hatte, wurde sie angewiesen, zum Kinderkrankenhaus in Köln-Riehl zu fahren. Gleichzeitig wurde die Polizei alarmiert, ein Einsatzfahrzeug loszuschicken, das sie zum Krankenhaus eskortieren und den Weg frei halten sollte.

»Los, schnell!« Wolfgang Lerch begann, mit Louisa auf den Armen zu laufen.

»Ich kann nicht mehr!«, rief Anna, die den Bollerwagen ziehen musste.

»Lass den verdammten Wagen stehen! Wir holen ihn später!«

Anna ließ die Zugstange los. Dann rannte sie hinter ihrer Familie her.

Auf dem Parkplatz angekommen, half Martina ihren zwei älteren Töchtern in den Minivan. Anna hielt wieder die Hand von Lena, die noch immer kein Wort sprach und sich unterwegs zum Auto noch einmal übergeben hatte.

Während Martina Lerch sich ans Steuer setzte und mit verschwitzten Fingern das Lenkrad festhielt, nahm ihr Mann vorsichtig auf dem Beifahrersitz Platz. In seinen Armen hielt er seine Jüngste, deren Kopf inzwischen eine bläuliche Färbung angenommen hatte.

»Gib Gas, verdammt! Gib Gas!«

Die Fahrt ins Krankenhaus wurde für sie alle zur Hölle.

*

15. Juli, Kölner Express

Wie das Kölner Polizeipräsidium meldete, wurden gestern Morgen beim Fort Deckstein in Klettenberg die verwesten Überreste einer männlichen Leiche aufgefunden. Ausflügler, die auf dem Weg zu einem Grillplatz waren, entdeckten den zerstückelten Körper in einem ausgetrockneten Bachbett. Laut Konrad Greiner, Erster Hauptkommissar des Kriminalkommissariats 11, handelt es sich dabei mit großer Wahrscheinlichkeit um Hartmut Krentz, der vor fast vier Wochen von seiner Frau als vermisst gemeldet wurde. Der schreckliche Zustand des Toten und die Art der Verletzungen lassen darauf schließen, dass zwischen ihm und den in den letzten Monaten im Stadtgebiet aufgefundenen Opfern des Metzgers ein Zusammenhang besteht.

Zitat Greiner: »Das war der gleiche Perverse, und ich schwöre bei Gott, wir kriegen ihn!«

*

Erster Tag

Es gibt Tage, an denen man bereits morgens weiß, dass etwas Entscheidendes passieren wird.

Tage, an denen man in dem Moment, wenn man die Augen aufschlägt, eine Warnung verspürt, die wie ein schwerer, unverdaulicher Klumpen im Magen liegt.

Zuerst ist es nur eine undefinierbare Ansammlung unangenehmer Gefühle, die wie eine düstere Wolke über einem schwebt und von der man nicht weiß, ob sie von schlechten Träumen oder irgendwelchen Ereignissen des Vortags stammt. Doch schließlich beginnt man zu ahnen, dass es aus dieser dunklen Wolke bald regnen wird.

Für den Mann im Bett war heute ein solcher Tag.

Mühsam öffnete er seine Augen und begriff, dass er immer noch existierte. Nicht, dass er viel darum gegeben hätte, denn ihm wollte beim besten Willen nichts einfallen, was diese Existenz erstrebenswert erscheinen ließ. Aber er konnte auch nicht leugnen, dass er auf irgendeine Weise immer noch war und einen Teil dieser Welt darstellte, die sich täglich neue Grausamkeiten für ihn ausdachte.

Der Mann im Bett merkte, dass er sich in einem verdunkelten Raum befand. Mit der rechten Hand ertastete er eine Decke, die weit zurückgeschlagen den größten Teil seines Körpers freigab. An den Füßen verspürte er den Druck zu enger Schuhe, während seine Brust größtenteils freilag. Sein schmerzender Rücken signalisierte ihm, dass er schon viel zu lange in derselben Position ruhte. Irgendwo in seinem benebelten Hirn bimmelte ganz leise ein Glöckchen der Erinnerung. Diese Erfahrung war nicht neu für ihn.

Die Kälte in dem Raum war mörderisch. Der Mann wusste nicht, ob sie von außen in seinen Körper drang oder aus seinem Innersten kam. Er wusste nur, dass er erbärmlich fror und wahrscheinlich von seinem eigenen Zittern geweckt worden war. In einem hilflosen Versuch, die Kälte aus seinen Knochen zu vertreiben, zerrte er mit klammen Fingern die Decke hoch.

Mühsam drehte der Mann den Kopf nach links. Im Dämmerlicht erkannte er eine große Zahl glänzender Polaroidfotos, die ihn wie ein Heiligenschein umgaben. Ohne das Licht einzuschalten, wusste er, was auf den Bildern zu sehen war.

Leichen.

Entsetzlich verstümmelte Leichen, die ihn mahnten, sich aus dem Bett zu schwingen und etwas gegen ihren Mörder zu unternehmen. Er wusste es, weil er den ganzen letzten Abend damit verbracht hatte, jedes Detail auf den Bildern in sein Gedächtnis zu brennen.

Keine schöne Art einzuschlafen, dachte der Mann. Aber die einzige, die ich kenne.

Als er seinen Kopf zur anderen Seite drehte, erkannte er an den leeren Wodkaflaschen aus der Minibar, die auf dem Nachttisch standen, dass er sich in dem Hotelzimmer befand, das er vor fünf Tagen bezogen hatte. Und er wusste, dass sich diese überreizte Müdigkeit immer dann breitmachte, wenn er auf auswärtigen Einsätzen mit Alkohol und Beruhigungsmitteln versuchte, seine chronische Schlaflosigkeit zu überlisten.

Die dunkelroten Leuchtziffern des Radioweckers zeigten an, dass es fast vier morgens Uhr war und der Betäubungsversuch genau zweieinhalb Stunden von Erfolg gekrönt gewesen war. Aus seinem Mund drang ein Ächzen. Noch ein paar solcher Monate, und er brauchte sich keine Gedanken mehr über seinen Gesundheitszustand zu machen. Dann würde er, mit Medikamenten ruhiggestellt, in irgendeiner Klapse vor sich hin vegetieren und wirres Zeug brabbeln.

In die schmerzende Stille hinein schrillte direkt neben seinem Kopf das Telefon.

»Martin?«

Der Mann erkannte die Stimme sofort. Sie ließ ihn für einen Moment den Atem anhalten.

»Hallo, Frank!«

»Wie geht es dir? Hab ich dich geweckt?«

»Würde das etwas ändern?«

»Wohl kaum.« Der Mann hörte, wie Frank an einem Zigarillo zog und durch die Nase ausatmete. »Was tust du gerade?«

»Ich schaue mir ein paar Bilder an. Ich muss hier morgen ... heute einen Bericht abgeben. Aber ich nehme nicht an, dass du deshalb anrufst.«

»Leider nicht. Wir haben ... Schwierigkeiten.«

Ich weiß. Würdest du mich sonst anrufen? Würde mich sonst irgendjemand anrufen?

»Ich höre.«

»Es gibt da ein Problem in Köln, das du dir ansehen solltest. Je schneller, desto besser.«

»Köln? Bist du sicher, dass es ein Fall für die OFA ist?«

»So sicher wie nur irgendetwas. Der zuständige Ermittlungsleiter hat mir einen Kurzbericht geschickt. Ich will nichts vorwegnehmen, aber ich glaube, es ist ernst.«

»Wie viele Opfer?«

»Fünf bestätigte. Alles innerhalb von etwa sechs Monaten.«

Abels Kehle war wie zugeschnürt. »Ich werde noch heute mit den Leuten hier in Wien reden. Wenn ich mich beeile und sie mich entlasten, kann ich mich vielleicht schon nächste Woche darum kümmern.«

»Du verstehst mich nicht, Martin. Köln braucht deine Hilfe sofort.«

»Blödsinn! Du weißt doch am besten, was hier los ist. Ich kann jetzt unmöglich alles stehen und liegen lassen.«

»Das hier hat Vorrang. Ich möchte, dass du heute noch nach Köln fliegst. Zuerst zu mir nach Stuttgart und dann nach Köln.«

»Bist du verrückt? Wir können über nächste Woche reden, vorausgesetzt, du schaffst es, das den Leuten hier klarzumachen.«

»Das wurde bereits erledigt. Du fliegst um halb neun.«

Abel verschlug es für einen Moment die Sprache. »An welchen Fäden hast du gezogen?«

»An keinen. Jemand hat an meinem Faden gezogen.«

Tiefes Luftholen. »Keine Chance, dich umzustimmen?«

»Tut mir leid, in diesem Fall geht es nicht anders. Ich brauche deine Hilfe. Deine spezielle Art, die Dinge zu sehen. Du wirst alles verstehen, wenn du die Akten gesichtet hast. Ich erwarte dich heute Vormittag in Stuttgart, wir müssen vor deinem Einsatz noch ein paar Dinge besprechen. Und wenn ich dir einen Rat geben darf, Martin: Schlaf jetzt endlich. Du wirst in Köln nicht viel Gelegenheit dazu haben.«

Klick!

Abels Zittern wurde heftiger. Von einem Moment zum anderen fühlte er sich von einer großen Faust gepackt und aus dem Hotelzimmer in arktische Treibeisfelder geschleudert. Für eine Sekunde glaubte er sogar, das Eiswasser um sich herum klirren zu hören, doch dann stellte er fest, dass es nur seine Zähne waren, die klapperten.

Als er es nicht mehr aushielt, zwang Abel sich, aus dem Bett aufzustehen. Wie an jedem Morgen seit dem Tag vor zwei Jahren, an dem sein Innerstes gestorben war.

Er tastete sich mit halb geschlossenen Augen ins Bad vor, wo er seine Blase entleerte. Anschließend taumelte er zum Kühlschrank, um mit einem großen Schluck Milch den schalen Geschmack der vergangenen Nacht herunterzuspülen. Er seufzte. Worüber regte er sich auf? Eigentlich war doch alles so wie immer.

Doch obwohl ihn die Magie der vertrauten Rituale hätte beruhigen sollen, wollte der Stein aus seiner Magengegend nicht weichen. Im Gegenteil. Selbst sein Bauch spürte, dass dieser Tag Dinge bringen würde, die seine Kraft bei Weitem überstiegen.

Auch heute würde er wieder mehr Blut sehen, als ein gesunder Mensch ertragen konnte. Wenn er Glück hatte, dann nur auf Fotografien, doch Glück hatte er in den letzten Jahren nur selten gehabt.

Mit einem Ächzen beugte sich Abel nach vorn.

Es wird regnen heute, dachte er, während er zitternd nach der Wodkaflasche griff. Verdammt, und wie es regnen wird!

*

Martin Abel krallte sich an den Armlehnen fest, als das Flugzeug abhob.

Frank Kessler hatte Germanwings gebucht, weil diese angeblich fünf Minuten weniger in der Luft war als Lufthansa und Austrian Airlines.

Fünf Minuten!

Was war das gegen die Stunde, die er in einem stählernen Gefängnis eingepfercht war? Eine fliegende Bombe, die jederzeit abstürzen und einen zweiten 11. September auslösen konnte.

Nichts.

Er saß bleich und zitternd in seinem Sitz und versuchte, das panische Klopfen seines Herzens unter Kontrolle zu bringen. Obwohl er ständig in der Angst lebte zu erfrieren, rannen ihm Schweißperlen von der Stirn.

Nach einer Stunde, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, erreichten sie Stuttgart. Dort musste der Airbus vor der Landung zwei Warteschleifen über dem Süden der Stadt drehen. Wie zur Vorbereitung eines schnellen Absturzes legte sich die Maschine in die Kurve, und Martin Abel blickte, einem masochistischen Zwang folgend, auf das von der Autobahn eingerahmte Flughafengelände hinunter.

Eine Sekunde später übergab er sich.

Die Stewardess, eine nicht mehr ganz taufrische Frau um die vierzig, hatte offenbar schon mehr Leute wie ihn über den Wolken gesehen. Jedenfalls holte sie in aller Ruhe das Putzzeug und wischte den Sitz und sein Sakko sauber und verlor kein Wort darüber, dass er nicht mehr rechtzeitig zur Spucktüte hatte greifen können.

»Wollen Sie den Platz wechseln? Dort drüben ist noch ein Sitz frei«, bot sie ihm an.

»Sind Sie verrückt?« Mit zitternden Fingern zog Martin Abel den bereits zum Zerreißen gespannten Sicherheitsgurt noch fester an und versuchte so ruhig wie möglich ein- und auszuatmen.

Am Ende flog er zehn Minuten länger als mit Lufthansa und durchlitt in jeder einzelnen Sekunde davon Höllenqualen.

*

Abel fuhr die wenigen Kilometer vom Flughafen in Leinfelden-Echterdingen zum Landeskriminalamt in Stuttgart mit dem Leihwagen, den man ihm bei seiner Ankunft zur Verfügung gestellt hatte.

Nachdem er den Wagen in einer Seitenstraße der Innenstadt abgestellt hatte, zog er ein sauberes Sakko aus einer seiner beiden Reisetaschen. Das alte, nach Erbrochenem stinkende Jackett warf er achtlos in den Kofferraum. Mit seinem Lederkoffer in der Hand überquerte er einen vernachlässigten Spielplatz und gelangte zum Haupteingang des Landeskriminalamtes, das in einem ehemals modernen, jetzt aber ein wenig heruntergekommenen Betonklotz inmitten von Bad Cannstatt untergebracht war.

Er quetschte sich am Pförtner vorbei durch die Sicherheitsschleuse. Anschließend ging er durch die geschmacklos eingerichtete Eingangshalle zu den Aufzügen, wo bereits einige andere Leute warteten. Als er einen der Aufzüge betrat und den Knopf zur OFA drücken wollte, schob sich eine schlanke Hand vor seine eigene und kam ihm zuvor.

»He!«, protestierte Abel. Dann drehte er den Kopf zur Seite und schaute in das Gesicht einer jungen Frau.

»Ein einfaches ›Danke‹ hätte genügt.« Die Stimme der Frau klang ziemlich forsch. Gleichzeitig klammerte sie sich an eine Tasche aus hellbraunem Leder, als hinge ihr Leben davon ab.

Der Aufzug füllte sich schnell, wodurch Abel nach rechts und die Frau nach hinten gedrängt wurde. Bereits wenige Sekunden nachdem sich die Türen geschlossen hatten, konnte er ihr süßes Parfüm nicht mehr riechen. Umso mehr roch er dafür das Haargel seines Vordermanns. Abel bewunderte ihn. Er hätte bei einer solchen Ammoniakkonzentration auf dem Kopf niemals arbeiten können.

Fünf Minuten später saß er in seinem kleinen Büro in der Abteilung für operative Fallanalyse. Frank Kessler, der Leiter des Bereichs, hatte ihm ausrichten lassen, dass er noch ein wenig brauchen würde, bis er sich um ihn kümmern konnte. Also hatte sich Abel einen Kaffee besorgt, öffnete seinen Koffer und zog den Ordner mit dem Fall aus Österreich heraus.

Er nahm die Fotos der gerichtsmedizinischen Untersuchungsberichte und breitete sie vor sich auf dem Tisch aus. Die zwei Leichen von Wien links, die von Schwechat rechts und die von Stockerau in der Mitte.

Während Abel nach dem Kaffeebecher griff, blieb sein Blick an den Fotos hängen. Es handelte sich um zwei Dutzend gestochen scharfer Farbbilder, die das zeigten, womit er sich während der letzten Tage beschäftigt hatte. Vier sauber aufgeschlitzte junge Mädchen, ermordet innerhalb weniger Monate. Sein Magen begann zu revoltieren, als er an die vielen Stunden im Leichenschauhaus dachte, die hinter ihm lagen.

Allein schon deshalb werde ich dir in den Arsch treten! Ich hoffe, du hast die Koffer für den Knast schon gepackt!

Abel bekam keine Antwort von seinem Gegner, doch das war für ihn nur eine Frage der Zeit. Irgendwo auf den Fotos verbarg sich ein Zusammenhang, eine gemeinsame Handschrift, die in ihm die Stimme des Mörders zum Klingen bringen würde. Zumindest hoffte er das.

Plötzlich ging die Tür auf, und Frank Kessler kam herein. Er stellte sich vor den Schreibtisch und starrte auf Abel herab, so wie nur er es konnte. Durchdringend, ausdauernd, schmerzhaft. Schließlich zog er einen zweiten Stuhl an den Schreibtisch und setzte sich.

»Hattest du einen guten Flug, Martin?«

Abel sah Frank so abweisend an, wie er nur konnte. »Wenn du unter gut verstehst, dass ich gekotzt habe, dann ja.«

Frank Kessler schüttelte den Kopf. »Wenn du so weitermachst, kann ich dich irgendwann nur noch in Süddeutschland einsetzen.«

Martin Abel konzentrierte sich wieder auf die Fotos. »Ich hatte nicht um den Flug gebeten.«

Frank Kessler beobachtete stumm, wie Abel weitere Fotos inspizierte und dabei lautlos die Lippen bewegte. »Irgendwann wirst du darüber reden müssen, Martin«, sagte er schließlich. »Und als dein Freund rate ich dir, es möglichst bald zu tun. Solange du dazu noch in der Lage bist.«

Abel hob den Kopf und starrte seinen Vorgesetzten an. Er kannte Frank, seit sie zusammen in Wiesbaden gewesen waren. Frank als Ausbilder, er als Polizeischüler. Er wusste fast alles über ihn. Zum Beispiel, dass er, wie es sich für einen lang gedienten Kriminalhauptkommissar gehörte, eine Ex-Frau und zwei inzwischen erwachsene Kinder hatte. Vielleicht hatte gerade das ihren Kontakt intensiviert, denn als Abel vor einiger Zeit dasselbe Schicksal ereilte, ergaben sich genügend Gelegenheiten, um sich gegenseitig aus diversen Stuttgarter Bars nach Hause zu helfen, wenn sie zu betrunken waren, um noch selbst ein Taxi zu rufen. Ja, Frank war Abels bester Freund, was allerdings nicht viel heißen wollte.

Bei aller Freundschaft hatte es jedoch nie Zweifel daran gegeben, dass Frank der Boss war. Daher verfügte er auch über eine fast unerschöpfliche Geduld, wenn es darum ging, einen Sieg über Abels Einsilbigkeit zu erringen. Er hatte den Verdacht, dass Frank diese kleinen Triumphe sogar genoss.

»Ganz wie du meinst«, sagte Abel eisig.

Frank Kessler nickte. Dann stand er auf und klopfte ihm auf die Schulter.

»Würdest du in einer halben Stunde mal in mein Büro kommen? Ich möchte mit dir über die Sache sprechen, wegen der ich dich angerufen habe.«

Martin Abel war sich nicht sicher, ob er das auch wollte. »In einer halben Stunde dann also.«, antwortete er trotzdem, weil er wusste, dass jeder Widerstand zwecklos war.

Mit schnellen Schritten verschwand Frank Kessler nach draußen. Dabei machte er den Eindruck eines Mannes, der viel zu erledigen hatte.

Ganz im Gegensatz zu Abel. Bedächtig schlürfte er den inzwischen auf eine erträgliche Temperatur abgekühlten Kaffee. Dabei ruhte sein Blick auf den Fotos der toten Mädchen aus Österreich. Er überlegte, welche Überraschungen ihm Köln zu bieten haben würde.

Auf alle Fälle unangenehme!, dachte er.

Nachdem er den letzten Schluck der bitteren Brühe zu sich genommen hatte, verstaute er die Bilder mit den übrigen Unterlagen in seinem Pilotenkoffer und machte sich auf den Weg zu Kesslers Büro.

*

Frank Kessler musterte Martin Abel ausdruckslos, als er seinen Koffer in die Ecke stellte und sich auf einen der beiden abgewetzten Holzstühle vor dem Schreibtisch setzte.

Für einen Moment führte er die Fingerspitzen seiner Hände vor der Brust zusammen und schien etwas zu überlegen. Schließlich griff er nach einer dünnen roten Plastikmappe, die rechts von ihm auf seinem Schreibtisch lag und holte dann aus einer Schublade ein Feuerzeug und ein Zigarillo. Er steckte sich das Zigarillo an und betrachtete stirnrunzelnd dessen glühendes Ende, als ob damit etwas nicht in Ordnung wäre. Als er schließlich den ersten Zug genommen hatte, schlug er die Mappe auf. Unvermittelt schaute er Martin Abel an.

»Kennst du in Köln den Ersten Hauptkommissar Konrad Greiner?«

»Sollte ich?«

»Vermutlich nicht. Aber ich habe gestern einen Anruf von ihm bekommen, in dem er mich um Rat gefragt hat. Das allein ist eigentlich schon ungewöhnlich genug, denn ich kenne keinen, der seinen Laden so gut im Griff hat wie Greiner das Kriminalkommissariat 11. Konrad braucht normalerweise keinen Rat, er ist der personifizierte polizeiliche Erfolg. Wir haben zusammen die Polizeiausbildung gemacht, musst du wissen, und er hat mich schon damals in praktisch allen Fächern geschlagen. Nur im Sport war ich besser, denn der Schnellste ist Konrad nun wirklich nicht!« Frank Kessler schien an irgendetwas Amüsantes zu denken, jedenfalls grinste er kurz.

»Mit der operativen Fallanalyse hat Konrad allerdings so seine Probleme«, fuhr er schließlich fort. »Er hält das immer noch für Hokuspokus, etwas, das von ein paar amerikanischen Scharlatanen erfunden wurde, um die Ermittlungen der Polizei noch mehr zu erschweren. Er bevorzugt saubere polizeiliche Handarbeit.«

»Und was hat das Ganze mit mir zu tun?« Martin Abel versuchte vergeblich, den Inhalt der roten Mappe auszumachen, indem er sich nach vorne beugte. »Wenn er meint, ohne die OFA zurechtzukommen, dann umso besser. Ich habe genug andere Fälle am Hals, um die ich mich kümmern muss. Zum Beispiel den in Wien.«

Frank Kessler nahm einen weiteren Zug und blies einen makellosen Rauchring, der schwerelos Richtung Decke schwebte. »Konrad hat momentan ein paar Probleme und hat deshalb seine Meinung notgedrungen ein wenig geändert«, erklärte er und hob die Mappe hoch. »Wobei Probleme wohl die Untertreibung des Jahrhunderts sein dürfte. Ich sagte dir ja schon heute Morgen am Telefon, dass es in Köln brennt. Sogar das LKA von Nordrhein-Westfalen hat sich eingeschaltet, was die Arbeit nicht gerade vereinfacht.« Er schaute Abel in die Augen. »Du hast das heute Morgen am eigenen Leib gespürt.«

»Und warum wendet Greiner sich nicht an das LKA in Nordrhein-Westfalen? Die haben doch genug eigene Leute.«

Kessler neigte den Kopf. »Du hättest eben nicht so viele Schlagzeilen machen dürfen. Konrad sagt, wenn er sich schon auf diesen Fallanalytiker-Mist einlassen muss, dann nur mit dem besten Mann, den wir haben. Und das bist nun einmal du.«

Abel lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »So einen Mist redest du jedes Mal, wenn du mir einen besonders beschissenen Fall andrehen willst.«

»Das bildest du dir ein, Martin. In Wirklichkeit hat Greiner die Medienberichte über Uwe Schuckler verfolgt und war ziemlich angetan davon, wie du dem Irren auf die Schliche gekommen bist. Die Sache mit der Überprüfung aller Lehrer an der Schule hat ihn beeindruckt.«

»Das hätte jeder andere genauso gut gelöst. Eigentlich lag es von Anfang an auf der Hand, dass es Schuckler nur um das Mädchen ging. Der Mord an der Besitzerin des Schrebergartens, wo die beiden Leichen gefunden wurden, war eine reine Verdeckungstat, um eine Zeugin aus dem Weg zu räumen. Und da die Kleine zuletzt in der Schule gesehen worden war, musste man doch nur eins und eins zusammenzählen.«

»Blödsinn!«, widersprach Kessler. »Um auf so eine bescheuerte Idee zu kommen, muss man verstehen, wie so jemand denkt.«

Er lehnte sich zurück. »Aber wenn du es genau wissen willst – und um meine Seele reinzuwaschen –, habe ich Greiner sogar davon abgeraten, ausgerechnet dich anzufordern. Ich habe ihm erzählt, was für ein ...« Kessler breitete die Arme aus. »Entschuldige, Martin! ... Arsch du manchmal sein kannst. Aber er lachte nur und sagte, da könne er ganz gut mithalten. Und als er mich fragte, wen ich ihm auf Ehre und Gewissen für einen solchen Fall empfehlen könnte, musste ich ihm wohl oder übel deinen Namen nennen. Jetzt will er eben dich oder keinen. Wir ... du musst also bei den Kollegen in Köln ein wenig Amtshilfe leisten.«

Abel starrte den Chef der OFA Baden-Württemberg schweigend an. Er mochte Frank, wirklich. Aber dummerweise kannte der ihn in- und auswendig und schaffte es daher immer wieder, ihm in Gesprächen einen Spiegel vorzuhalten und ihn mit gewissen Realitäten zu konfrontieren.

Abel hasste Spiegel, und das hatte gute Gründe.

»Was ist das für ein Fall?«, wollte er wissen.

Kessler lehnte sich wieder nach vorne und drückte sein Zigarillo in dem großen Aschenbecher zu seiner Rechten aus. Dann drehte er die Plastikmappe um und schob sie auf die andere Seite des Schreibtisches.

»Ziemlich üble Sache, mach dich auf einiges gefasst, Martin. Innerhalb weniger Monate wurden fünf verstümmelte Leichen – oder was man mit viel gutem Willen noch als solche bezeichnen kann – gefunden. Die letzte, ein ziemlich bekannter Rechtsanwalt, vorgestern. Das Ganze wird von solchen Merkwürdigkeiten begleitet wie etwa dem Waschen der Kleidung der Opfer. Die Presse nennt den Mörder schon den Metzger. Wenn du die Berichte liest, dann verstehst du, warum.«

Abel wog prüfend die Akte in der Hand. »Ein bisschen dürftig für den Anfang. Findest du nicht?«

Kessler hob die Schultern. »Konrad meinte, es sei sinnvoller, einen zwei Zentner schweren Fallanalytiker zu ihm zu schicken, als eine Lkw-Ladung Akten nach Stuttgart zu transportieren.«

»Und was hast du außer meinem aktuellen Gewicht sonst noch über mich ausgeplaudert?« Martin Abel ließ die Seiten der Mappe zwischen Daumen und Zeigefinger durchrauschen. Sein geübter Blick erfasste die vielen Fotos, die darin abgebildet waren. Die dominierende Farbe auf allen war ein intensives Rot.

»Ich habe tunlichst den Mund gehalten, den Rest dürft ihr persönlich miteinander ausmachen. Aber versprich mir um alles in der Welt bitte, dass du dich in Köln zusammenreißt! Konrad ist nicht nur mein Freund, er hat auch Beziehungen bis in den Landtag. Wahrscheinlich hat er mal einem der hohen Herren bei einer Alkoholkontrolle den Hintern gerettet oder so. Also verdirb es dir nicht völlig mit ihm. Ich möchte nicht, dass er mir, nur weil ich dich empfohlen habe, die Freundschaft kündigt!«

»Sonst noch was?« Abel blätterte weiter in dem Ordner und versuchte dabei, so desinteressiert wie möglich auszusehen. Keine einfache Sache angesichts der darin enthaltenen Grausamkeiten.

»Nur noch eins.«

Abel blickte hoch. Etwas in Franks Stimme ließ ihn aufhorchen.

»Und das wäre?«

»Nun ja. Ich habe es heute schon einmal gesagt: Du bist vermutlich der beste Mann, den die deutsche Kriminalpolizei in Sachen operative Fallanalyse zu bieten hat. Du sagst zwar, du wüsstest nicht, woran das liegt, die Ergebnisse deiner Arbeit sprechen aber für sich. Auf deine ganz besondere Art und Weise kannst du dich offenbar besser in die Psyche unserer Kundschaft hineinversetzen als andere.«

Abels Nackenhaare begannen sich aufzurichten. »Schmier mir keinen Honig ums Maul, sondern komm zur Sache!«

Der Chef der OFA blickte zur Decke und schien seine nächsten Worte genau abzuwägen.

»Du weißt auch, dass ich dir bei deiner Arbeit bisher immer alle Freiheiten gewährt habe, Martin. Wenn du Unterstützung brauchtest oder Probleme mit unserer Chefetage hattest, habe ich dir immer den Rücken frei gehalten.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Zu meiner Unterstützung gehörte auch«, fuhr Frank unbeirrt fort, »dass wir seit ein paar Jahren nicht mehr über ein bestimmtes Thema geredet haben, obwohl es eigentlich meine verdammte Pflicht gewesen wäre.«

»Welches Thema? Du meinst doch nicht etwa die Sache mit diesem Blödmann von Polizeipsychologen? Vergiss es!«

»Den Bericht von Dr. Müller habe ich in der Schublade verschwinden lassen, sonst wärst du längst im Innendienst. Nein, Martin, ich meine die Tatsache, dass jeder erfahrene Fallanalytiker sein Wissen an Neulinge weiterzugeben hat.«

Abel hielt unwillkürlich den Atem an. Dann lehnte er sich wieder mit verschränkten Armen zurück und starrte Frank an. Der Begriff feindselig wäre eine schamlose Untertreibung für seinen Blick gewesen.

»Soll das etwa heißen, du willst mir irgendeinen Grünschnabel ans Bein binden, dem ich dann ständig das Händchen halten darf, damit er sich nicht in die Hosen macht, wenn es mal zur Sache geht? Sorry, Frank, aber das kommt nicht infrage!«

Kessler deutete mit dem Zeigefinger auf Abel. »Und ob das infrage kommt! Du gehst nach Köln, weil du der Beste bist, und aus dem gleichen Grund wird es auch allerhöchste Zeit, dass du unserem Nachwuchs beibringst, was du kannst.«

»Das sollen andere tun. Ich habe keinen Bock auf diesen Kindergartenmist.«

Frank lehnte sich wieder zurück und beobachtete Martin Abel genau. Dann sagte er ruhig: »Ich nenne dir jetzt drei gute Gründe, warum du es trotzdem tun wirst, und dann beenden wir die Diskussion. Erstens: Es liegt eine dienstliche Anweisung vor, es so zu machen, wie ich sage. Vielleicht hast du es vergessen, aber du bist Mitglied einer Landesbehörde und kein Einzelkämpfer.

Zweitens schadet es dir mit Sicherheit nicht, wenn du mal wieder mit anderen Menschen als nur mit Leichenbeschauern zusammenarbeitest. Wir haben alle auf die eine oder andere Art an unserem Job zu knabbern, aber du musst zugeben, dass du dich seit der Sache mit Lisa in ein ziemlich winziges Schneckenhaus zurückgezogen hast, aus dem du nur noch zum Arbeiten herauskommst. Das solltest du dringend ändern.

Und drittens, und jetzt hör mir bitte genau zu, Martin: Ich stelle dir nicht irgendeinen Grünschnabel oder verblödeten Sesselpupser aus der Verwaltung zur Seite, sondern mit das Beste, was die deutsche Kripo in den letzten Jahren hervorgebracht hat und deshalb deinen höchsten Respekt verdient.«

»Tatsächlich? Und wer zur Hölle soll dieses Genie sein?«

Frank Kessler drückte die grüne Taste an seiner Sprechanlage. »Heike, schick mir bitte den Besuch rein.«

Er beobachtete Martin interessiert, als wäre dieser das Objekt eines wichtigen wissenschaftlichen Experiments. Irgendwie stimmte das ja auch. Man brauchte ihm nur einen unangenehmen Brocken hinzuschmeißen, schon konnte man darauf wetten, dass es in ihm gewaltig zu brodeln begann. Und dieser Brocken, das wusste Frank Kessler, war ein verdammt harter.

Wenige Augenblicke später ging die Tür auf. Martin Abel konnte nicht gleich sehen, wer eintrat, denn die Tür befand sich genau hinter ihm. Seine Nase nahm jedoch praktisch im selben Moment einen Duft wahr, den er zu kennen glaubte. Bevor er dieser Spur weiter nachgehen konnte, erschien auf seiner rechten Seite ein schlanker Schatten in seinem Blickfeld. Abel schaute widerwillig und neugierig zugleich auf – und blickte in das angespannte, aber dennoch sehr selbstsichere Gesicht einer jungen Frau.

Sie war hübsch, ohne Zweifel. Auf eine etwas spröde Art zwar, aber auf diese besondere Weise sogar ziemlich attraktiv. Mit Make-up schien sie auf Kriegsfuß zu stehen, jedenfalls hatte sie es äußerst sparsam aufgetragen. Das bisschen Rouge und der dunkle Kajalstrich reichten jedoch vollkommen, um ihren Zügen etwas Katzenhaftes zu geben.

Das Parfüm hatte sie offenbar frisch aufgetragen, denn es roch jetzt stärker als noch vor einer halben Stunde im Aufzug. Die lederne Aktentasche presste sie dagegen immer noch wie ein Schutzschild an ihre Brust, und so, wie es aussah, würde man sie wohl nur unter Vollnarkose von ihr trennen können.

Frank Kessler stand auf und reichte ihr mit einem knappen Kopfnicken die Hand. »Darf ich vorstellen? Martin, das ist Hannah Christ. Sie ist deine Partnerin bei diesem Fall.«

*

Als Hannah Christ und Abel das Büro von Frank Kessler verließen, fiel kein einziges Wort. Das Brummen der allgegenwärtigen Kopierer und Drucker war das einzige Geräusch, das sie umgab.

Hannah Christ wusste nicht, was sie hätte sagen können, ohne die Laune ihres neuen Kollegen noch weiter zu verschlechtern, während dieser sich offenbar dazu entschlossen hatte, sie mit kaltem Schweigen für das Verbrechen ihrer Existenz zu bestrafen.

Als sie beide so den Flur bis zur nächsten Gabelung nebeneinanderher gelaufen waren, ging es jedoch nicht mehr anders. Jemand musste etwas sagen.

»Wo und wann treffen wir uns?«, durchbrach sie die Mauer des Schweigens.

Martin Abel blieb stehen. Anstatt sie jedoch anzusehen, blickte er mit anscheinend nachdenklich gerunzelter Stirn auf die Tickets, die Frank ihm in die Hand gedrückt hatte. »Der ICE fährt um zwölf.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, ging er weiter und bog in den nächsten Gang ab.

Hannah Christ sah ihm nach und biss sich auf die Unterlippe. Frank Kessler hatte ihr viel über diesen Mann erzählt. Dinge, die sie zwar nachdenklich gestimmt, aber nicht davon abgehalten hatten, auf einer Zusammenarbeit mit ihm zu bestehen. Schon in der Schule war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass man immer dann am meisten lernte, wenn man sich den größten Problemen stellte. Und dass Abel ein Problem darstellte, stand außer Frage.

Sie war seit frühester Kindheit süchtig danach zu lernen. Während ihre Mitschüler artig die ihnen gestellten Hausaufgaben erledigten, büffelte sie mit ihrem älteren Bruder für dessen Abiturprüfungen. Das Ergebnis war, dass sie auf dem Gymnasium eine Klasse übersprang und bis zu ihrem Abschluss immer Jahrgangsbeste blieb.

Es gab allerdings noch einen weiteren Grund für Hannahs Lerneifer. Den sie sich jedoch nicht so offen eingestand. Die Wahrheit war nämlich, dass sie nichts mehr hasste, als irgendwo im unbeachteten Mittelmaß zu versinken. Eine Beurteilung, die nicht mindestens eines der Wörter »exzellent«, »perfekt« oder »hervorragend« enthielt, stürzte sie in tiefe Depressionen. Die Meinungen ihrer Mitschüler, Kommilitonen und Kollegen über sie schwankten dementsprechend zwischen krankhaft ehrgeizig oder einfach nur bescheuert. Doch sie war nicht in der Lage, ihren Ehrgeiz auf ein gesundes Maß herunterzufahren, obwohl sie genau wusste, warum sie sich so bescheuert verhielt.

Sie musste einfach ständig darum kämpfen, etwas Besonderes zu sein.

Etwas Besonderes für ihren verdammten Vater.

Martin Abel war wahrscheinlich auch so eine Art Prüfung, die sie unbedingt bestehen wollte. Es hätte andere Möglichkeiten gegeben, beim LKA durchzustarten, aber nein, sie wollte es wieder aller Welt und vor allem ihrem Vater beweisen. Obwohl Abel der Ruf eines eigenbrötlerischen Kotzbrockens meilenweit vorauseilte, hatte sie deshalb alle anderen Optionen in den Wind geschlagen und darauf bestanden, ihm zugeteilt zu werden.

So ein verdammter Mist!, fluchte sie in Gedanken. Zur Hölle mit allen Abels dieser Welt! Und allen Vätern!

Mit steifen Schritten ging sie zum Aufzug, um sich auf den Weg zum Bahnhof zu begeben. Ihr neuer Partner mit dem eisigen Lächeln wartete dort vielleicht schon auf sie.

*

16.00 Uhr, Polizeipräsidium Köln-Kalk

Kriminalhauptkommissar Konrad Greiner saß regungslos in dem platt gedrückten Ledersessel und hatte die Daumen in seinen Gürtel gehakt. Dabei hatte er es geschafft, sich so weit zurückzulehnen, dass sein Bauch nirgendwo den Schreibtisch berührte. Keine leichte Übung für einen Mann, der drei Zentner wog und dessen Umfang seiner Körpergröße entsprach.

Greiner blieb sitzen und musterte seinen Besuch von oben bis unten. Er nahm sich Zeit dafür, und er konnte es sich leisten. Als Erster Hauptkommissar des KK11 war er schließlich einer der wichtigsten Polizisten der Stadt. Ohne vorherige Anfrage bei ihm lief gar nichts. Na ja, zumindest würde es niemand wagen, ihn schief anzuschauen, nur weil er ein bisschen länger sitzen blieb, als es irgendwelche Höflichkeiten vorschrieben. Und schon gar nicht zwei Fremde, die eben erst angekommen waren und wahrscheinlich gerade von der auf fremdem Terrain unvermeidlichen Unsicherheit aufgefressen wurden.

Außerdem – der erste Eindruck war der wichtigste, und deshalb achtete Greiner bei Menschen, die er erst kennenlernte, ganz besonders auf Details.

So bemerkte er natürlich den süßen Geruch, den die Frau verströmte, und entdeckte sowohl die Unsicherheit als auch die Entschlossenheit in ihrem Gesicht. Ihm entging auch nicht der verbissene Blick des Mannes, geschweige denn seine eher für einen kühlen Spätherbsttag angemessene Kleidung. Und er bemerkte natürlich die dicke Wand aus Panzerglas, die unsichtbar zwischen den beiden stand.

Dabei rief er sich ins Gedächtnis, was ihm Frank von ihnen erzählt hatte. Gemäß den Versprechungen seines Freundes war der Mann der beste Fallanalytiker und die Frau die beste Fallanalytikerschülerin, die das LKA Baden-Württemberg und vielleicht sogar ganz Deutschland momentan zu bieten hatte. Doch nach dem zu urteilen, was er gerade sah, handelte es sich bei ihnen eher um eine gerade flügge gewordene Polizistin und einen Hauptkommissar, der Probleme mit dem Temperaturausgleich hatte. Was für eine vielversprechende Mischung!

Aber dann dachte Greiner daran, was der Grund für seinen Anruf bei Frank Kessler gewesen war, und beschloss, nicht seinem ersten Impuls nachzugeben und die beiden gleich wieder nach Hause zu schicken. Stattdessen investierte er zwanzig oder mehr Kilokalorien, stemmte seinen massigen Körper aus dem Sessel und reichte seinen Besuchern nacheinander die Hand.

»Es freut mich sehr, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte er, nachdem die beiden sich gesetzt und er sich wieder in seinen Sessel gezwängt hatte. Er drückte eine Taste auf seiner Sprechanlage. »Judith, mein Schatz, bring unseren Gästen doch bitte etwas zu trinken.« Er blickte zu den beiden. »Wäre Eistee recht?« Beide nickten. »Eistee, bitte.«

Greiner lehnte sich zurück und entlockte seinem Sessel dadurch ein furchtsames Ächzen. »Es tut mir leid, dass wir uns unter so unangenehmen Umständen kennenlernen. Das Ganze hier hält uns ziemlich auf Trab, müssen Sie wissen. Das einzig Gute an dieser Misere ist, dass ich dadurch gezwungen war, mal wieder mit Frank zu telefonieren. Das machen wir nämlich viel zu selten, trotz unserer guten Vorsätze nach der Ausbildung. Aber Frank ist in Stuttgart natürlich ganz schön beschäftigt, sodass ich ihm diese Vernachlässigung verzeihen muss. Er hat es wirklich zu etwas gebracht, der Hund, das muss der Neid ihm lassen.«

Hannah Christ lächelte. »Dasselbe erzählt er von Ihnen. Und er sagt, dass Sie ihn damals in fast allen Fächern geschlagen haben.«

»Stimmt, in fast allen.« Greiner tätschelte seinen Wanst, um dem Offensichtlichen die Spannung zu nehmen. »Nur meine Vorliebe für Schokolade hielt mich davon ab, ihm auch beim Laufen die Fersen zu zeigen. Aber so hat eben jeder Mensch seine Schwächen.«

»Ich weiß. Wenn das nicht so wäre, hätte die Polizei nichts zu tun.« Abel verzog keine Miene, und Greiner konnte auch nicht die Spur einer Andeutung heraushören, dass er das scherzhaft gemeint haben könnte.

»Ich kann Sie beruhigen, Herr Abel. Im Moment haben wir in Köln sogar sehr viel zu tun. Wir machen das durch verstärkten Einsatz wett, jeder hier kämpft bis zum Umfallen. Deshalb bin ich auch sicher, dass wir den Scheißkerl finden werden, der uns diesen Mist eingebrockt hat. Bis jetzt hat er es uns, wie ich zugeben muss, aber nicht gerade leicht gemacht.«

Während Hannah Christ einen Schreibblock aus ihrer Tasche zog, schaute sich Abel in aller Ruhe in Greiners Büro um. Als er mit seiner Inventur fertig war, fiel sein Blick wieder auf den Kommissar.

»Frank sagte uns, dass vorgestern die fünfte Leiche einer Serie gefunden wurde. Er sagte auch, Sie seien verzweifelt, weil Sie zum ersten Mal in Ihrer Laufbahn keine Ahnung hätten, wie Sie dem Mörder auf die Schliche kommen könnten. Stimmt das?«

Hannah Christ schaute mit gerunzelter Stirn von Abel zu Greiner. Greiner war nahe dran, ebenfalls die Stirn zu runzeln, denn er war es nicht gewohnt, in seinem Büro solche Fragen gestellt zu bekommen. Ihn überkam das dringende Bedürfnis, etwas klarstellen zu müssen.

»Herr Abel. Wir kennen uns noch nicht, deshalb formuliere ich gerne noch mal die Rahmenbedingungen Ihres Einsatzes in Köln. Langsam und zum Mitschreiben, damit Sie nachblättern können, falls Ihr Gedächtnis Sie mal im Stich lassen sollte.«

Greiner stemmte beide Fäuste auf den Schreibtisch und fixierte Martin Abel scharf. »Wir sind nicht auf die gnädige Hilfe des LKA Baden-Württemberg angewiesen, und ich habe Frank auch nicht angerufen, weil ich nicht mehr weiterweiß. Unsere Aufklärungsquote hier ist der Traum vieler Polizeidienststellen, vermutlich auch der von Stuttgart. Deshalb bin ich absolut sicher, dass wir den Metzger auch ohne Sie finden würden.«

Er holte tief Luft. »Wegen der aktuellen Ereignisse und des öffentlichen Drucks darf aber keine noch so kleine Chance ausgelassen werden, um die Ermittlungen zu beschleunigen. Ich halte es deshalb für sinnvoll, wenn uns jemand von außerhalb zu dem einen oder anderen Punkt ein paar Fragen beantwortet und gegebenenfalls auf zusätzliche Strategien hinweist. Nicht mehr und nicht weniger. Glauben Sie, Sie sind dazu in der Lage?«

Martin Abel erwiderte Greiners Blick ruhig, und für einen Moment kam es auf halbem Weg zwischen den beiden Männern zu einem unsichtbaren Kräftemessen.

Das unsichtbare Duell wurde beendet, als sich die Tür öffnete und Judith Hofmann eintrat. Sie stockte kurz und schien zu überlegen, ob sie wieder gehen sollte. Dann gab sie sich einen Ruck und stellte das Tablett mit dem Eistee wortlos auf Greiners Schreibtisch ab. Sie schenkte die drei mitgebrachten Gläser voll, wobei sie darauf achtete, dass in Greiners Tee genügend Eiswürfel landeten. Nachdem sie jedem ein Glas hingestellt hatte, zog sie sich geräuschlos wieder zurück, nicht ohne noch einen Blick auf die Miene ihres Chefs zu werfen. Was sie sah, ließ sie schnell die Tür schließen.

»Wir ziehen alle an einem Strang«, sagte Martin Abel ruhig.

»Davon gehe ich aus.« Greiners Haltung entspannte sich leicht. »Aber ich hoffe, wir ziehen auch alle in dieselbe Richtung. Um Ihnen meine Richtung klarzumachen, werde ich Ihnen jetzt noch ein bisschen genauer erklären, warum ich Frank angerufen habe. Nur damit Sie keine falschen Schlüsse ziehen und Köln für ein fallanalysefreies Hinterwäldler-Kommissariat halten.«

Er nahm einen Stapel Papier von seinem Schreibtisch und reichte ihn Abel. »Gut, also, wo stehen wir? Letzten Dezember verschwand eine Frau in Poll und wurde erst drei Wochen später wieder aufgefunden. Sandra Maybach hieß die Gute, aber sie sah gar nicht gut aus, als man sie unter einem Laubhaufen wiederfand. Jemand hatte ihr die Brüste abgeschnitten und mit einem Skalpell ihre Vagina bearbeitet. Aber okay, so was passiert in einer großen Stadt wie Köln nun mal, da kann man als gut aussehende Frau leicht unter die Räder kommen. Zunächst haben wir uns also nichts weiter dabei gedacht.«

Greiner zeigte auf die Blätter in Abels Händen. »Zwei Monate später erwischte es dann einen Unternehmer namens Hannes Küskens. Hatte Geld wie Heu, war nicht besonders beliebt und wurde mausetot beim Forstbotanischen Garten aufgefunden. Auch ihm fehlten ein paar Körperteile, genau genommen sogar alle wichtigen, die man zum Leben so braucht. Professor Kleinwinkel aus der Gerichtsmedizin war ziemlich platt, als er die Autopsie vornahm.«

Er faltete die Hände. »Ja, und so ging das munter weiter. Anfang April war es Kristin Hanke, Ende April Martin Findling und Mitte Juli eben Hartmut Krentz. Bei jeder Leiche fehlten andere Körperteile und Organe, aber der Zusammenhang wurde langsam eindeutig. Fünf Menschen also, die nicht das Geringste verbindet, bis auf die Tatsache, dass sie von jemandem auf eine Weise mit einem Messer bearbeitet wurden, wie sogar ich es noch nicht erlebt habe.«

Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und zerkaute mit den Zähnen einen der Eiswürfel. »Das letzte Opfer wurde von einer Kölner Familie gefunden. Der Mann, seine Frau und ihre drei Töchter zogen frühmorgens von einem Parkplatz zu einer nahe gelegenen Grillstelle, wo sie sich einen schönen Tag machen wollten. Zwei der Mädchen stöberten unterwegs im Unterholz herum. Dabei stolperte die Kleinere von beiden und landete in dem, was heute im Gerichtsmedizinischen Institut liegt. Wenn Sie einen Blick auf die Fotos im Bericht geworfen haben, dann können Sie sich ausmalen, was das in dem Kind ausgelöst hat.«

Greiner hielt sich das Glas an die Stirn und genoss die Kälte, die es verströmte. Nach ein paar Sekunden stellte er es zurück auf den Tisch und blickte abwechselnd von Hannah Christ zu Martin Abel.

»Okay, das Leben als Polizist ist kein Ponyhof. Irgendjemand läuft also in meinem Revier herum und schlachtet Leute ab. Aber mit diesem letzten Mord habe ich zwei Dinge begriffen: Der Kerl legt es darauf an, ganz Köln in Angst und Schrecken zu versetzen. Und er denkt gar nicht daran, damit aufzuhören. Und genau das ist der Grund, warum ich letzte Woche die Ermittlungen selbst übernommen und nun Frank angerufen habe. Ich will diesen Mistkerl haben, damit sich die Leute wieder auf die Straße trauen können, ohne jeden Moment damit rechnen zu müssen, von einem Killer aufgeschlitzt zu werden oder über eine ausgeweidete Leiche zu stolpern.«

Greiner hielt das Glas gegen das Licht und zählte die restlichen Eiswürfel. »Wie gesagt, meine Leute reißen sich für diesen Fall hier jeden Tag den Arsch auf, irgendwann kriegen wir den Scheißkerl sowieso. Aber wenn es auch nur den Hauch einer Chance gibt, dass wir mit Ihrer ... Vorgehensweise die Suche abkürzen können, dann werde ich auch diese nutzen. Deshalb und nur deshalb habe ich Frank angerufen und nicht, weil ich mich plötzlich überfordert fühle. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Seine kleinen Augen fixierten Abel.

»Ich bin ganz bei Ihnen.« Wenn sich Abel angegriffen fühlte, dann ließ er es sich nicht anmerken. Sein Ton blieb derselbe, und sein verschlossener Gesichtsausdruck ebenfalls. Entweder bist du ein guter Schauspieler oder ein verdammt harter Hund, dachte Greiner. Er war dadurch aber nicht ernsthaft beunruhigt. Er ging davon aus, dass er in beiden Punkten mithalten konnte.

»Gut. Ich habe von einem Profi nichts anderes erwartet.«

»Wir werden früher oder später nicht darum herumkommen, die Öffentlichkeit stärker einzubeziehen.«

Greiner nickte. »Kann schon sein. Aber im Moment will ich mir lieber nicht ausmalen, was das alles auslösen würde. Die Telefone würden nicht mehr stillstehen durch übereifrige Rentnerinnen, die den Studenten aus der WG nebenan als Mörder verpfeifen, weil er ständig neue Frauen mit nach Hause bringt und so weiter und so fort. Der Bürgermeister würde natürlich auch sofort auf der Matte stehen, von den Pressefritzen ganz zu schweigen.« Er schüttelte den Kopf. »Im Moment würden wir unsere Ermittlungen dadurch eher selbst behindern als etwas gewinnen. Also lassen wir lieber die Finger davon, bis es gar nicht mehr anders geht.«

Ein weiterer Eiswürfel wurde lautstark zerkleinert. »Reduziert das Hungergefühl«, sagte er, als er die Blicke der beiden bemerkte.

»Gab die Untersuchung der Kleidungsstücke etwas her?«, fragte Hannah Christ.

Greiner schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Die Sachen wurden in allen Fällen mit einem antiallergischen Feinwaschmittel, aber ohne Weichspüler gereinigt. An einem Fundort wurde auch Urin gefunden, schön kreisförmig um die Leiche verteilt. Leider war der schon zu alt, um bei der Hitze noch eine sichere DNA-Analyse zuzulassen. Wir können aber wohl davon ausgehen, dass der Kerl nicht pinkelnd um die Leiche herumgelaufen ist, sondern das Zeug in einem Behälter mitgebracht hat.«

Martin Abel und Hannah Christ schauten sich kurz an. Ihr Blick verriet, dass ihnen nicht gefiel, was Greiner ihnen erzählte. Eine Minute lang schwiegen alle drei, um das Gesagte auf sich wirken zu lassen.

Schließlich stemmte sich Greiner hoch, um seine Unterlagen aus dem Aktenschrank zu holen. »Gut, dann will ich Ihnen jetzt erzählen, zu welchen Schlüssen wir bisher gekommen sind, was den Mörder angeht.«