Die Blutliste - Rainer Löffler - E-Book
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Die Blutliste E-Book

Rainer Löffler

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Beschreibung

In einem Grab auf einem Kölner Friedhof wird die Leiche eines ermordeten, entsetzlich entstellten Mannes entdeckt. Die junge Frau, die dort eigentlich liegen sollte, ist verschwunden. Auch sie war das Opfer einer Bluttat. Fallanalytiker Martin Abel wird nach Köln beordert und vermutet einen Zusammenhang zwischen den Fällen. Er findet heraus, dass Spuren auf einen lange zurückliegenden Mord weisen - und dass der Schlüssel zur Klärung des aktuellen Falls in der Familie dieses allerersten Mordopfers liegen muss. Aber dann wird ein weiterer verstümmelter Toter in einem fremden Grab gefunden, und Abel erkennt, dass das nächste Opfer schon auf der Liste steht. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumZitatErstes Buch: FriedhöfeErster TagFriedhof Köln-Worringen, 0:30 Uhr morgensDonaueschingen, Nähe Freibad WolterdingenPolizeipräsidium Köln-Kalk, Walter-Pauli-Ring, 8:45 UhrRuhr-Universität BochumPolizeipräsidium Köln, Walter-Pauli-Ring, Kriminalkommissariat 11Institut für Rechtsmedizin der Universität Köln, MelatengürtelNähe Hürtgenwald, Nationalpark EifelDie Buße des Stefan Breuer – erster AktVergangenheitNächster TagFriedhof WorringenDie Buße des Stefan Breuer – das ErwachenVergangenheitGegenwartEine halbe Stunde späterZeitgleich wenige Kilometer entferntDie Buße des Stefan Breuer – zweiter AktVergangenheitGegenwartZweiter TagPolizeipräsidium Köln-KalkFilmrissVergangenheitGegenwartKöln-MeschenichPolizeipräsidium Köln-KalkSüdfriedhofKöln-RoggendorfZwei Stunden späterRaubtiereWenig später, Abels HotelzimmerDie Buße des Stefan Breuer – letzter AktVergangenheitDritter TagPolizeipräsidium Köln-KalkKöln-Meschenich, Auf dem KölnbergKurz zuvorZweites Buch: Himmel und HölleFünf Jahre zuvorSt. George’s School, Köln-RondorfBefreiungDrei Wochen späterAm nächsten TagZwei Wochen späterDer Tod der LibellenZehn Tage später, Kiesgrube EfferenEine Woche späterKöln-Zollstock, SüdfriedhofZwei Jahre späterDer SchnittDas ErwachenZwei Monate vor der GegenwartDrittes Buch: WahrheitenDer FundGegenwartAuf dem KölnbergPolizeipräsidium Köln-KalkKöln-HahnwaldAusgeliefertDas EndeLetzter TagPolizeipräsidium KölnEpilogNachwortDanksagung

Über dieses Buch

Band 4 der Reihe »Martin Abel«

In einem Grab auf einem Kölner Friedhof wird die Leiche eines ermordeten, entsetzlich entstellten Mannes entdeckt. Die junge Frau, die dort eigentlich liegen sollte, ist verschwunden. Auch sie war das Opfer einer Bluttat. Fallanalytiker Martin Abel wird nach Köln beordert und vermutet einen Zusammenhang zwischen den Fällen. Er findet heraus, dass Spuren auf einen lange zurückliegenden Mord weisen – und dass der Schlüssel zur Klärung des aktuellen Falls in der Familie dieses allerersten Mordopfers liegen muss. Aber dann wird ein weiterer verstümmelter Toter in einem fremden Grab gefunden, und Abel erkennt, dass das nächste Opfer schon auf der Liste steht. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt …

Über den Autor

Rainer Löffler, geb. 1961 und im »Hauptberuf« technischer Kaufmann, begann mit dem Schreiben beim deutschen MAD-Magazin unter Herbert Feuerstein. Danach folgten einige erfolgreiche Science-Fiction-Romane für die Serien Atlan und Perry Rhodan. Gleich sein erster Thriller Blutsommer landete auf Platz 12 der Spiegel-Bestsellerliste. Der Näher ist sein dritter Thriller um den Fallanalytiker Martin Abel. Rainer Löffler lebt mit seiner Frau und drei Kindern in der Nähe von Stuttgart.

R A I N E R L Ö F F L E R

T H R I L L E R

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack

Die Personen und die Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Angela Kuepper

Titelillustration: © Finpic, München (3); © GettyImages/DigitalVision Vectors/samposnick

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6139-1

luebbe.de

lesejury.de

Die zwei wichtigsten Tage im Leben sind der Tag, an dem du geboren wirst, und der Tag, an dem du herausfindest, warum.

Mark Twain

Erstes BuchFriedhöfe

Erster Tag

Friedhof Köln-Worringen, 0:30 Uhr morgens

Jan Willner war nicht der Typ, der sich wegen jeder Kleinigkeit in die Hosen machte. Er war sechzig Jahre alt, 1,88 Meter groß und in den Schultern so breit wie ein Grizzly. Sein stattlicher Bauch bildete das Zentrum eines Menschen, der schon viel gesehen und wenig ausgelassen hatte. Wovor sollte ein Kerl wie er also Angst haben?

Als sein Chef Brüggemann ihn vor einer halben Stunde angerufen und etwas von verdächtigen Beobachtungen auf dem Friedhof ins Telefon genuschelt hatte, hatte er daher nicht gezögert, sondern war, ohne zu murren, nach Worringen aufgebrochen. Ganz allein und mitten in der Nacht. In den letzten Monaten hatte es nämlich mehrere Fälle von Vandalismus auf den Friedhöfen im Kölner Stadtgebiet gegeben. Einer davon war erkennbar politisch motiviert gewesen, als ein Dutzend Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Bocklemünd umgeworfen und mit Hakenkreuzen beschmiert worden waren. Hinter allen anderen steckten dagegen wohl Halbstarke, die wahllos Gräber verwüsteten, nachdem sie zwischen diesen Gruselpartys gefeiert hatten. Die vielen leeren Bier- und Wodkaflaschen, die am nächsten Morgen auf den betroffenen Friedhöfen herumgelegen hatten, bewiesen anschaulich, was da los gewesen war.

Und genau diese Vandalen wollte Willner heute Nacht auf frischer Tat stellen. Jemand hatte Licht auf dem Friedhof – auf seinem Friedhof! – gesehen und über die Notfallnummer Brüggemann angerufen. Und der hatte wiederum ihn angerufen, weil er wusste, dass er im Gegensatz zur Polizei sofort kommen und vor allem viel gründlicher sein würde. Denn Willner nahm alles, was mit seinem Friedhof zusammenhing, persönlich. Niemand hatte das Recht, sich an seinen Gräbern zu vergreifen. Wer das missachtete, griff ihn selbst an und würde es mit ihm zu tun bekommen.

Als er in seinem Ford Fiesta die Mauer des Friedhofs entlangfuhr, prasselte kalter Regen gegen die Windschutzscheibe. Die ganze Woche hatte es derart geschüttet, dass das Ausheben von Gräbern zum Schlammbad geworden war. Ein beschissenes Wetter für eine Friedhofsparty, dachte Willner. Aber mit zwei Promille Alkohol und ein paar Dosen Red Bull im Blut sieht die Welt vermutlich anders aus. Auch bei den fünf Grad plus, die wir gerade haben. Vor allem, wenn ich diesen Vandalen gleich einheize.

Willner ließ den Wagen langsam auf den Parkplatz der Sparkassenfiliale im Hackhauser Weg rollen. Da der Auspuff seit einiger Zeit ein gewisses Röhren entwickelte, musste er vorsichtig sein, um niemanden zu warnen, der hier nichts zu suchen hatte. Also parkte er nicht zentral vor der Trauerhalle, sondern hundert Meter davon entfernt.

Willner schaltete den Motor aus und holte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Als er die Tür öffnete und sich aus dem Fahrersitz stemmte, klatschten ihm augenblicklich dicke Tropfen ins Gesicht. Hastig zog er die Kapuze seiner Regenjacke über den Kopf und knöpfte den Kragen zu. Mit schlechtem Wetter kannte er sich aus; das hieß aber nicht, dass er es mochte.

Er drückte die Wagentür so leise wie möglich zu. Im nächsten Moment hörte er in der Nähe das Dröhnen eines Fahrzeugs. Das Geräusch wurde schnell leiser und verschwand schließlich in der Dunkelheit der Nacht. Sollte tatsächlich jemand hier gewesen und er zu spät gekommen sein?

Willner strich sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. Vielleicht nur ein Zufall. Aber wenn noch welche von den Kerlen auf dem Friedhofsgelände zurückgeblieben waren, dann würde er sie finden. Vorausgesetzt, er beeilte sich.

Er machte sich nicht die Mühe, das Friedhofstor aufzuschließen. Stattdessen stieg er einfach über die halbhohe Mauer und drang in den alten Teil der Anlage vor. Da die ohnehin spärlich gesetzte Beleuchtung der Wege um diese Uhrzeit ausgeschaltet war, wurde es mit jedem Schritt, den er tat, dunkler. Trotzdem spürte er in seinem Inneren ein tiefes Gefühl der Sicherheit, denn nach dreißig Dienstjahren beim Grünflächenamt kannte er hier jeden noch so kleinen Pfad. Ganz im Gegensatz zu Leuten, die nur zum Feiern und Randalieren hergekommen waren.

Mit der starken Taschenlampe bewaffnet, ging er an den Kriegsgräbern vorbei in Richtung der Trauerhalle. Er hielt es für das Beste, das Gelände am äußeren Rand zu umrunden. So würde er mit möglichst wenigen Schritten den größten Teil der Anlage einsehen können.

Der Friedhof war etwa dreihundert Meter lang und maß an der breitesten Stelle zweihundert Meter, die komplette Runde bedeutete also eine Strecke von einem knappen Kilometer. Nicht viel, wenn man es bei Tageslicht gehen konnte, aber auch nicht wenig, wenn man nachts im strömenden Regen nach verdächtigen Personen suchen musste. Vorsichtig machte sich Willner auf den Weg, um die Umgebung so gründlich wie möglich zu kontrollieren.

Als er fünfzehn Minuten später damit fertig war, schnaufte er frustriert. Keine betrunkenen Teenager, keine Vandalen. Nichts! Nicht mal ein Obdachloser hatte sich hierher verirrt, um bei der Trauerhalle oder unter einem Baum Schutz vor dem Sauwetter zu suchen. Sollte sein nächtlicher Ausflug ganz umsonst gewesen sein?

Trotz Regenkleidung war er bereits ziemlich durchnässt, und seine Lust auf weitere Kontrollgänge hielt sich dementsprechend in Grenzen. Gleichzeitig wollte er aber auch nicht zu früh aufgeben. Was, wenn die Vandalen ihn trotz seiner Vorsicht bemerkt hatten und sich nun irgendwo versteckten?

Er dachte an das fremde Motorengeräusch, das er gehört hatte, als er aus seinem Wagen gestiegen war. Jemand ist hier gewesen, dachte er in plötzlicher Gewissheit. Derjenige hat sein Werk der Zerstörung also vermutlich bereits vollbracht. Dann ist es meine Aufgabe, herauszufinden, was dieser Jemand angestellt hat.

Er sah sich in alle Richtungen um. Offenbar hatte er sich also noch nicht genau genug umgeschaut. Aber er war bisher ja nur die breiten Hauptwege am Rand der Anlage abgelaufen. Jetzt musste er eben auch noch sämtliche Nebenwege und zur Not jede einzelne der fast 5000 Grabstätten kontrollieren, um Gewissheit zu haben.

Er ächzte. Jetzt zu Hause im warmen Bett neben Antje, das wär’s doch!

Aber alles zu seiner Zeit, die Pflicht ging vor. Er würde weitersuchen, und wenn es die ganze Nacht dauerte.

Anfangen wollte er genau da, wo er jetzt stand.

An der Trauerhalle.

Vorsichtig begann er damit, die schmalen Wege im alten Teil des Friedhofs abzusuchen, der sich von hier aus gesehen in Richtung der Sparkasse befand, wo sein Wagen parkte. Dabei bewegte er sich so langsam, dass er mit der Taschenlampe nacheinander die Gräber auf beiden Seiten der Wege anleuchten konnte. Bei jedem suchte er nach irgendwelchen Zerstörungen oder Unrat.

Aber nicht nur das.

Denn gleichzeitig konnte er auch diesen verdammten, in ihm schlummernden Reflex nicht unterdrücken, das jeweilige Geburts- und Todesdatum abzulesen. Vom ersten Tag an, seit er dieser Arbeit nachging, war das so gewesen – es war wie ein innerer Zwang. Und wenn er die Daten gelesen hatte, musste er einfach ausrechnen, wie alt die bestattete Person geworden war!

62 Jahre! 84 Jahre! 55 Jahre! Sein Gehirn funktionierte dabei wie ein Computer, den er verflucht noch mal nicht abstellen konnte. In Sekundenbruchteilen hatte er die Differenz der beiden Zahlen errechnet, und genauso schnell reagierte sein Körper auf das Ergebnis. Bei jedem Toten, der mit mehr als achtzig Jahren gestorben war, atmete er innerlich auf. Denn instinktiv keimte für diesen Moment in ihm die Hoffnung, dass ihm selbst auch noch einige schöne Jahre bleiben würden. Bei Leuten, die dagegen jung aus dem Leben geschieden waren, durchfuhr sein Herz ein kalter Stich. Genauso gut hätte es ihn selbst schon treffen können, dachte er dann. Dann würde er hier liegen und Antje heute allein einschlafen müssen.

Für eine Sekunde hatte er ein mulmiges Gefühl im Bauch, doch er wischte es beiseite. Er musste solche Gedanken jetzt ausblenden. So schnell er es vermochte, ging er möglichst geräuschlos weiter und kontrollierte die nächsten Gräber.

Dabei konnte er schnell erkennen, dass in den Flurstücken des alten Friedhofsteils alles in Ordnung war. Als Nächstes wandte er sich in Richtung des Krebelspfads und ging auch dort Weg für Weg ab, ohne jedoch etwas Verdächtiges entdecken zu können. Obwohl er darüber eigentlich hätte froh sein sollen, war er ein wenig enttäuscht. Sollte Brüggemann ihn umsonst hierhergeschickt haben?

Ein wenig missmutig drehte er sich um und sah in Richtung des Üdesheimer Wegs am westlichen Ende des Friedhofs, wo er noch nicht gesucht hatte. Inzwischen bereute er es, keinen Schirm mitgenommen zu haben, aber beim Losgehen hatte er ja auch noch an einen schnellen Erfolg der Suche geglaubt.

Nur keine Müdigkeit vorschützen, Alter!, schimpfte er mit sich selbst und ging mit vorgehaltener Taschenlampe weiter. Am ersten Querweg bog er nach rechts ab, um dann im Zickzackkurs die einzelnen, durch kleine Pfade voneinander getrennten Parzellen zu umrunden. 79, 81, 48 Jahre, rechnete sein Gehirn dabei unerbittlich, während er immer weiter in diesen Sektor des Friedhofs vordrang. Das allgegenwärtige Prasseln des Regens war das einzige Geräusch, das ihn auf seinem Weg zwischen den Gräbern begleitete.

Schließlich bog er auf einen Pfad ab, an dem während der letzten Wochen ein paar neue Gräber ausgehoben worden waren. Links lag nun ein älteres Paar, bei dem nach fast sechzig Jahren Ehe innerhalb weniger Tage Frau und Mann gestorben waren. Dem Mann hatte der Tod seiner Frau das Herz gebrochen, sodass er ihr umgehend gefolgt war, wie man sich erzählte. Ein Schicksalsschlag für die Hinterbliebenen, aber vielleicht genau das, was die beiden Verblichenen sich immer als ihr Ende ausgemalt hatten.

Rechts dagegen ruhte eine junge Frau, von der jeder in Worringen schon gehört hatte. Sonja Maurer hieß sie und war mit gerade mal neunzehn Jahren auf furchtbare Weise ums Leben gekommen. Jeder hatte davon in der Zeitung gelesen und sich dabei vor Schreck den Mund zugehalten. Sogar er selbst hatte einen Kloß im Hals gehabt, als er sich das Grauen auszumalen versucht hatte, das mit ihrem Tod verbunden war.

Neunzehn Jahre, dachte Jan Willner, als er die Inschrift auf dem Grabstein las. Fast noch ein Kind.

Er nickte betroffen. Jedes Grab hatte seine eigene Geschichte. Aber die Geschichten der Kinder, die hier lagen, waren die grausamsten.

Mit einem Schnaufen ließ er den Lichtkegel seiner Taschenlampe vom Grabstein nach unten gleiten. Auf ihrem Grab lagen nur einige Zweige Tannenreisig, was für die Jahreszeit nicht ungewöhnlich war. Ein paar Blumen hätte er sich aber doch gewünscht. Das arme Mädchen, so ein schreckliches Ende, und keiner sah richtig nach dem Grab.

Jan Willner wandte sich ab und drehte den Kopf, um sich den nächsten Gräbern zuzuwenden. Doch gerade als er das Licht der Taschenlampe auf einen neuen Punkt auf dem schmalen Pfad vor sich richten wollte, erstarrte er.

Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Etwas, das nicht so war, wie es sein sollte.

Langsam ließ er den Lichtkegel zum Grab von Sonja Maurer zurückwandern. Direkt daneben befand sich ein bereits ausgehobenes, aber noch leeres Grab für eine Bestattung, die morgen stattfinden sollte. Normalerweise war das kein Problem, denn die Gräber trennte ein halber Meter festen Erdreichs.

Jetzt bemerkte er jedoch bei genauem Hinsehen, dass offenbar der Boden zwischen den beiden Gräbern abgesackt war. Nur ein bisschen, aber mehr, als durch den Regen der letzten Tage zu erklären gewesen wäre.

Willner runzelte die Stirn und machte einen Schritt auf die betreffende Stelle zu. Sorgfältig ließ er das Licht der Taschenlampe über das Erdreich streichen. Meine Güte! Ganz offensichtlich war nicht nur ein bisschen Erde abgesackt, die ganze Wand zwischen den beiden Gräbern schien ins Rutschen gekommen zu sein.

Ich muss gleich in der Früh Bescheid sagen, damit das abgestützt wird, dachte Willner aufgeregt. Sonst gibt es bei der Bestattung morgen eine böse Überraschung!

Mit vorgehaltener Taschenlampe machte er einen Schritt auf das Grab zu und schob mit der Fußspitze das Reisig zur Seite.

Scharf sog er die Luft ein. Obwohl der Bereich zwischen den beiden Gräbern mit Sicherheit seit Jahrzehnten unberührt geblieben war, zeigte sich dort ein breiter Riss.

Hastig stieß er die Tannenzweige großflächig nach hinten. Mein Gott, noch mehr Risse! Beunruhigt leuchtete er nun jeden Quadratzentimeter zu seinen Füßen ab, und schon nach wenigen Augenblicken wusste er, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

Das komplette Grab von Sonja Maurer schien regelrecht umgepflügt worden zu sein. Das Erdreich dort war nicht fest und glatt, sondern aufgewühlt und tief morastig. Vor allem aber sah Willner jetzt, dass durch die Tannenzweige eine große Kuhle zugedeckt worden war. Der Boden war direkt über dem Sarg von Sonja Maurer massiv abgesackt.

War der Sarg der Toten unter dem Druck der darüber liegenden Massen kollabiert und das Erdreich nachgerutscht? Ziemlich unwahrscheinlich, dachte Willner, denn selbst das hätte die Größe der Erdbewegung kaum erklären können.

Was ihn jedoch noch mehr beschäftigte, war ein anderer Punkt. Denn im Nachhinein sah es nun doch fast so aus, als ob jemand ganz bewusst Tannenzweige auf die Kuhle gelegt hatte.

Jemand, der verhindern wollte, dass diese Ungereimtheit entdeckt wurde.

Jan Willner richtete sich ruckartig auf. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab. Was, wenn sich dieser Jemand noch ganz in seiner Nähe befand? Vielleicht hatte sein Kontrollgang den Vandalen bei dessen Machenschaften am Grab gestört, und er hatte nur noch schnell das Reisig auf das Grab gelegt, um die offensichtlichsten Spuren zu verwischen. Sobald er weitergegangen wäre, würde der Unbekannte also vielleicht zurückkommen und sein Werk hier vollenden wollen.

Willner wurde nun doch ein wenig mulmig zumute, und er sah sich um. Gründlich leuchtete er mit der Taschenlampe in alle Richtungen, doch er konnte niemanden entdecken – was bei all den Büschen auf dem Friedhof und der herrschenden Dunkelheit allerdings nicht viel zu bedeuten hatte. Für einen Moment überlegte er, ob er Brüggemann anrufen und um Verstärkung bitten sollte, ließ es dann aber bleiben. Was hätte er auch als Grund anführen sollen? Dass ihm wegen einer Kuhle auf einem Grab der Arsch auf Grundeis ging?

Willner schüttelte sich. Nur die Ruhe, Alter. Wahrscheinlich gibt es für alles eine ganz harmlose Erklärung. Du musst sie nur finden.

Entschlossen machte er zwei Schritte nach vorn zwischen die beiden Gräber. Er würde sich die Sache von dort aus ansehen. Irgendwo musste die Antwort auf seine Fragen verborgen sein. Wenn er gründlich genug danach suchte, würde er sie schon …

Die Sohle seines rechten Schuhs hatte den Boden noch nicht richtig berührt, als er bereits spürte, dass der Untergrund hier durch den Regen der letzten Tage extrem aufgeweicht war. Als er einen Moment später mit seinem ganzen Körpergewicht auf dem Fuß stand, war er umgehend bis zum Knöchel im Morast versunken.

»So eine Scheiße!«, stieß er hervor. Um das Gleichgewicht halten zu können, blieb ihm nichts anderes übrig, als sofort den linken Fuß nachzuziehen und ebenfalls in den Morast zu stellen, keine dreißig Zentimeter vom Rand des neu ausgehobenen Grabs entfernt. Meine Güte, was für ein Schlamassel, dachte er. Im nächsten Augenblick spürte er, wie eisiger Morast in seinen rechten Winterstiefel lief. Sofort versuchte er, den Fuß aus dem Sumpf herauszuziehen, sank dadurch aber mit dem linken noch tiefer ein. Keine Sekunde später lief dann auch dort die kalte Brühe in seinen Stiefel, sodass er reflexartig erneut den rechten Fuß belastete, um es andersherum zu probieren. Er schaffte es sogar tatsächlich, den linken Fuß aus dem Schlamm zu ziehen, und wollte ihn gerade ein Stück seitlich wieder aufsetzen – als er spürte, wie der Boden unter seinem rechten Fuß nachgab!

»Was zur Hölle …!«, stieß Willner hervor und ruderte wie wild mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten und sich dabei irgendwie aus den abrutschenden Erdmassen zu befreien.

Doch es war zu spät. Zunächst wie in Zeitlupe, aber dann immer schneller glitt der morastige Untergrund in das frisch ausgehobene Grab und zog ihn mit hinab. Unten angekommen, krachte er mit dem Rücken gegen die hintere Wand des Grabs. Instinktiv versuchte er, der schmutzigen Flut seitlich zu entkommen, doch da stürzte der Rest der Trennwand zwischen den beiden Gräbern auf ihn herab und hielt ihn wie eine eisige Klaue umklammert.

Willner ächzte verzweifelt. Innerhalb von Sekunden stieg der Pegel in der Grube, erst bis zum Bauchnabel und nur wenig später bis hinauf zu seiner Brust. Der Druck auf seinen Lungen wurde immer größer, und er glaubte schon, ersticken zu müssen, als von einem Moment zum anderen keine Erde mehr zu ihm herunterrutschte.

Willner keuchte, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Meine Güte!, dachte er. Fast hätte der harmlos anmutende Einsatz für ihn ein bitteres Ende genommen, und er wäre in einem für eine andere Person ausgehobenen Grab zu Tode gekommen!

Aber nur fast.

Okay, er war in einer beschissenen Situation, doch er würde es überleben und seine Lehren daraus ziehen, dachte er. Wenn er es jetzt noch schaffte, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, war alles halb so wild. Und wenn nicht, würde sicher Antje bald jemanden alarmieren. Oder Brüggemann. Dem hatte er den ganzen Mist ja überhaupt zu verdanken.

Doch die fürchterliche Kälte des Morasts, der durch alle Ritzen seiner Kleidung gedrungen war, ließ ihm keine weitere Zeit für solche Überlegungen. Er sah sich daher schnell um, um einen Weg aus der Grube zu finden. Seine Taschenlampe hatte er während des Sturzes losgelassen, die schlummerte jetzt irgendwo unter dem nassen Erdreich. Aber er erkannte auch ohne sie, dass er tatsächlich fast bis zum Hals im Dreck steckte. Ein großes Stück der Trennwand zum Grab der Sonja Maurer war mit dem ganzen oberflächlichen Morast hereingerutscht. Dadurch hatte sich eine Art Rampe gebildet, über die er hinaufkrabbeln könnte. Vorausgesetzt, es gelang ihm, sich aus dem eisigen Brei zu befreien, der ihn umklammert hielt.

Willner streckte beide Arme über die Erde, dann zog er mit aller Kraft ein Knie hoch, um den Fuß gegen die hinter ihm liegende Wand zu stemmen. Der Morast, der auf ihm lastete, war so zäh, dass er fast schon aufgeben wollte. Doch nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er es endlich geschafft und platzierte den Fuß an der Wand.

Völlig erschöpft verschnaufte er und überlegte dabei, wie er es je aus diesem kalten Loch hinausschaffen sollte. Heul nicht rum, sondern reiß dich gefälligst zusammen!, ermahnte er sich. Denk an Antje!

Entschlossen streckte er die Arme aus und langte zur gegenüberliegenden Seite der Grube hinauf. So tief er konnte, stieß er die Finger beider Hände in die Erde und drückte sich gleichzeitig mit dem angewinkelten Bein von der Wand hinter sich weg und hinauf zum Grab von Sonja Maurer.

Zunächst bewegte er sich nur wenige Zentimeter nach oben, denn der zähe Brei hielt ihn fest wie ein Saugnapf. Doch als er spürte, dass er sich mit den Händen sicher festhalten konnte, hob er auch das andere Bein und presste es gegen die Wand. Sofort beschleunigte sich seine Bewegung, und er glitt Stück für Stück weiter nach oben aus dem Morast. Als er fast den ganzen Oberkörper hinausgezogen und -geschoben hatte, griff er mit den Händen weiter nach vorn. Erneut vergrub er die Finger im Erdreich und schob sich mit den Beinen weiter die Rampe hinauf. Im nächsten Moment hielt er den Atem an, weil der Untergrund zu rutschen begann. Doch nach ein paar Augenblicken beruhigte sich dieser wieder, und er wagte es erneut, sich nach oben zu ziehen.

Und schließlich war er in Sicherheit. Er lag zwar noch bäuchlings auf dem nassen Boden, und seine Oberschenkel brannten wie Feuer, doch er hatte sich so weit aus der Grube hinaufgeschoben, dass er nicht mehr zurückrutschen konnte. Eine unglaubliche Erleichterung breitete sich in ihm aus, als er begriff, dass er sich soeben ganz allein aus dieser lebensbedrohlichen Situation hatte befreien können. Fast hätte er es nicht geschafft, und die Geschichte wäre böse ausgegangen. Dann hätte das nächste Grab hier ihm gehört. So aber würde er außer einer Erkältung wohl keinen Schaden nehmen.

Ganz im Gegensatz zu seinen Jungs, die beim Ausheben des neuen Grabs so geschlampt hatten. Die Trennwand war offenbar beschädigt worden, sonst hätte das alles nicht passieren können. Gleich morgen früh würde er ein ernstes Wörtchen mit ihnen reden!

Jan Willner stemmte sich hoch. Seine Kleidung war mit der schmutzigen Brühe vollgesogen, und nun spürte er auch wieder die mörderische Kälte, die er bei seinem Überlebenskampf verdrängt hatte. Ächzend zog er die Knie an, sodass er auf allen vieren ruhte und seine Füße sich am Rand der jetzt mit Morast vollgelaufenen Grube befanden. Sein Kopf war direkt über dem Grab von Sonja Maurer, wo sich die Kuhle wegen der weggespülten Erdschichten noch vergrößert hatte.

Doch das interessierte ihn jetzt nicht mehr. Er wollte nur noch nach Hause und dort bei einem heißen Bad die Lebensgeister in sich wecken.

Also setzte er den rechten Fuß nach vorn, um sich damit hochdrücken zu können. Gleichzeitig stützte er sich mit der linken Hand auf dem Boden ab. Dann spannte er seine malträtierte Oberschenkelmuskulatur an und wollte sich gerade mit der Hand vom Boden abstoßen, als seine Finger etwas ertasteten.

Irgendetwas Hartes, das direkt unter der Kuhle verborgen war.

Willner verzog unwillig das Gesicht. Er hatte weiß Gott bereits genug Probleme am Hals, am besten ignorierte er seinen Fund also einfach. Alles in ihm schrie nach Antje und dem heißen Badewasser, um den Fund konnte er sich morgen kümmern.

Doch er hatte sich auch von Anfang an über die abgesackte Erde über dem Grab der Sonja Maurer gewundert. Vielleicht lag die Erklärung dafür genau vor ihm, und er musste nur noch danach greifen?

Er zögerte einen winzigen Augenblick, doch dann siegten seine Neugier und sein Pflichtbewusstsein. Mit den Fingern griff er tiefer in das Erdreich hinein, um den harten Gegenstand zu packen.

Dabei rechnete er mit etwas Kleinem. Irgendetwas, was er mit ein wenig Nachdruck aus der Erde ziehen konnte. Umso überraschter war er, als er ein dickes Stück Holz umfasst hielt, das sich kaum bewegen ließ.

Jan Willner seufzte, dann befahl er jedoch seinen halb tauben Fingern, den Gegenstand auszugraben. Er nahm dazu nun beide Hände und trug das weiche Erdreich etwa dreißig Zentimeter tief ab. Als er damit fertig war, runzelte er die Stirn.

Das war nicht einfach nur ein Stück Holz. Es handelte sich vielmehr um einen dicken hellen Zaunpfosten.

Was zum Teufel hat der hier zu suchen?, fragte er sich irritiert. Er rüttelte erneut an dem Pfosten und registrierte, dass er sich nun tatsächlich ein paar Zentimeter hin und her bewegen ließ. Wenn er ihn noch ein Stück weiter freilegte, konnte er ihn vielleicht herausziehen und so erkennen, womit er es hier zu tun hatte. Und er wollte unbedingt wissen, was sich dort befand.

Obwohl er völlig ausgepumpt war, grub er daher nochmals tiefer. Mit kräftigen Bewegungen schaufelte er weitere Erde aus dem Loch, das er bereits um den Pfosten herum gegraben hatte. Der Boden war hier immer noch vom Regen getränkt, sodass die Arbeit relativ leichtfiel. Schnell war er weitere zwanzig Zentimeter tiefer gedrungen, und er wollte noch weiter graben – als seine Finger auf einen weichen Gegenstand stießen.

Aufgrund der herrschenden Dunkelheit konnte er nicht erkennen, worauf er gestoßen war. Aber er sah, dass der Pfosten offenbar mitten aus dem neuen Fund herausragte.

Willner stieß aufgeregt die Luft aus. Das wurde ja immer besser. Irgendetwas lag also über dem Sarg von Sonja Maurer.

Irgendetwas, was dort nicht hingehörte.

Aber gleich würde er wissen, worum es sich dabei handelte. Er musste den Pfosten und das Ding darunter nur noch ein wenig mehr von der Erde befreien. Dann würde er es erkennen können, und der Schlamassel hätte sich doch noch gelohnt.

Entschlossen griff er mit beiden Händen in das ausgehobene Loch und fuhr mit den Fingerspitzen die Kontur des Objekts nach, um dort das Erdreich wegzukratzen. Schon im ersten Moment erkannte er, dass das unbekannte Etwas nicht flach, sondern vermutlich kugelförmig war. Aber immer noch hatte er keine Ahnung, worum es sich handelte.

Die Erkenntnis begann erst in dem Augenblick, als er am obersten Punkt des Gegenstands ein Büschel Haare freilegte.

Willner erstarrte von einem Sekundenbruchteil zum anderen. Im einen Augenblick noch gespannte Erwartung, worum es sich bei seinem Fund wohl handeln mochte – im nächsten absolute Bewegungslosigkeit.

Nach und nach erkannte er, dass er gerade an etwas rührte, das weit jenseits seiner Vorstellungsmöglichkeiten lag. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr, er musste es zu Ende bringen.

Vorsichtig wischte er mit der Hand über das Objekt, um den groben Schmutz zu entfernen. Dann richtete er sich halb auf und griff in die Innentasche seiner Jacke, in der sich vor seinem Sturz sein Smartphone befunden hatte. Er zog es heraus und stellte zu seiner Überraschung fest, dass es zwar feucht, aber nicht komplett nass geworden war. Mit zitternden Fingern drückte er auf den Startbutton und wurde einen Moment später vom aufflammenden Display geblendet.

Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, berührte er das Symbol für die Taschenlampen-App. Jetzt oder nie, dachte er. Gleich weißt du Bescheid, ob es dir passt oder nicht.

Er holte noch einmal tief Luft und schaltete dann das Licht ein.

Auf den ersten Blick erkannte er überhaupt nichts. Der Pfahl ragte dem Anschein nach direkt aus der Erde, als ob es sich um eine merkwürdige Pflanze handelte, die sich rein zufällig genau diesen Platz zum Wachsen ausgewählt hatte.

Dann jedoch blickte er auf die Stelle, wo sich die Haare befanden – und innerhalb einer Sekunde brachen sämtliche Erkenntnisse über ihm zusammen. Jetzt wusste er alles, was es zu wissen gab, und er wusste auch, dass er diesen Anblick niemals mehr in seinem Leben vergessen würde!

Wie unter hypnotischem Zwang leuchtete er weiter in das Loch und sog die Details in sich auf.

Den weißen Pfosten.

Die dunklen Haare.

Und dieses unnatürlich rote, schrecklich anklagende Gesicht.

Willner begriff nun auch, dass die Erde entgegen seiner ersten Vermutung nicht abgesackt war.

Nein, jemand hatte hier etwas vergraben!

Den Pfosten und etwas unsagbar Schreckliches, das sich Willner noch nicht einmal auf einem Friedhof hätte ausmalen können.

Denn der Pfahl hatte das, was er da freigelegt hatte, mit aller Brutalität durchstoßen.

Für einen kurzen, aber ihn schmerzhaft lang anmutenden Moment gab es für Willner nur noch das allgegenwärtige Prasseln des Regens und das bedrohlich schnelle Pochen seines Herzens.

Im nächsten Augenblick riss etwas im Inneren des kräftigen Mannes. Willner sprang schreiend auf, um von diesem verfluchten Ort zu fliehen und die Polizei zu alarmieren. Er stemmte sich mit einem Bein hoch und gleichzeitig mit der freien Hand weg von dem verdammten Fund. In seinen Gedanken war er bereits in seinem Wagen, um damit auf kürzestem Weg zur Polizei zu fahren – als er mit einem Fuß auf der schmierigen Rampe ausrutschte und nach hinten fiel.

Verzweifelt ruderten seine Hände durch die Luft, um nach Halt zu suchen, doch da war nichts, womit er den Sturz hätte aufhalten können. Sein schwerer Körper kippte zurück in die Grube, aus der er sich erst vor wenigen Minuten befreit hatte, und klatschte auf den Untergrund. Dieser war derart weich, dass er schnell tief einsank.

Allerdings befand sich sein Kopf so weit hinten, dass er damit auf den ihm abgewandten Rand der Grube schlug. Seine Zunge rutschte durch den harten Aufprall nach hinten und verstopfte seine Atemwege, sein Kinn dagegen krachte mit Wucht gegen seine Brust.

Das alles hätte er aber noch weggesteckt. Sein Verderben war der mörderische Schlag gegen den Hinterkopf. Dieser raubte ihm fast vollständig die Besinnung, und sein Körper wurde gelähmt wie durch einen Elektroschock.

Die Ohnmacht dauerte nur wenige Sekunden, doch das war genau die Zeit, die es brauchte, bis er komplett im Morast untergetaucht war. Am Ende des Vorgangs waren trotz seiner Größe nicht einmal mehr seine Füße zu sehen.

Eine zufällig vorbeikommende Person hätte nicht bemerkt, dass Jan Willner in dem neu ausgehobenen und jetzt größtenteils wieder gefüllten Grab lag.

Von dem Todeskampf, den er unter den Erdmassen ausfocht, als sich sein Mund zu einem verzweifelten, doch stummen Schrei öffnete, ganz zu schweigen.

*

Donaueschingen, Nähe Freibad Wolterdingen

»Ich weiß, dass der Boden kalt ist, aber Sie müssen sich ganz auf den Rücken drehen.«

Martin Abel sah zu der Frau hinunter, die vor ihm auf dem Boden lag. »Die Hände unter den Po schieben, sodass Sie wehrlos sind. Los, machen Sie schon!«

Die Frau zögerte einen Moment, tat dann aber, was er verlangte.

Er warf einen Blick auf das Foto in seiner Hand und dann wieder zu der Frau auf dem Boden. »Und jetzt noch ein Bein anziehen, damit Sie überraschend nach mir treten können, wenn ich gleich angreife. Nein, das rechte!« Wieso, zum Teufel, bin ich so unwirsch zu ihr?

Die Frau zog das Bein an. Inzwischen zitterte sie am ganzen Körper, was bei den herrschenden Temperaturen und dem Nieselregen kein Wunder war. Darüber hinaus lag sie im nassen Laub und trug zu ihrer Jeans nur eine dünne, inzwischen feuchte Bluse. Dass dadurch das Muster ihres BHs zu erkennen war, nahm er sachlich zur Kenntnis. Viel mehr interessierte ihn der nächste Schritt, die Tötung und dass alles so aussah, wie es das Bild in seiner Hand vorgab. Er schaute nochmals kurz drauf und nickte.

»Ja, so könnte es passen«, sagte er und steckte das Foto in seine Hosentasche.

Dann zog er mit den Fingerspitzen ein langes Fleischermesser aus seiner Jacke.

»Nein, bitte nicht!«, flehte die am Boden liegende Frau. Ihre Stimme bebte ein wenig, und er konnte nicht sagen, ob es an der Kälte oder der Situation lag, in der sie sich befand. Ihre Augen jedenfalls waren weit aufgerissen und auf das Messer gerichtet, fast hätte er glauben können, dass ihre Angst davor echt war.

»Keine Sorge. Es stammt aus meiner Küche. Da sind alle Messer stumpf.« Er überlegte einen Moment, wie er die Waffe halten sollte, nahm sie dann aber in die linke Hand und richtete die Klinge nach oben.

Im selben Moment fing es zu regnen an. Erst nur ein paar Tropfen, doch schon nach wenigen Sekunden wurde es unangenehm heftig. Die Frau versuchte ein Lächeln, dann aber zog sie die Hände unter ihrem Körper vor und rieb sich die Nässe von den Oberarmen. »Können wir nicht mal eine Pause machen? Mir ist arschkalt.«

Martin Abel verzog das Gesicht. Gerade jetzt, kurz vor dem entscheidenden Angriff!

»Na gut«, sagte er trotzdem. Vielleicht war Annette Hüttner nachher umso konzentrierter, wenn es darum ging, die letzte Phase des Mordes nachzustellen. Der Moment, als der große Unbekannte die Spaziergängerin, die er hier, hinter dem Freibad, ins Gebüsch gezerrt und gefoltert hatte, mit einem Kehlschnitt getötet und sich dann an ihrer Leiche vergangen hatte.

Die zierliche Polizistin seufzte dankbar und stand auf. Ein wenig widerwillig steckte er das Messer weg und reichte ihr eine Decke, in die sie sich sofort einwickelte.

»Boah, ist das frostig!«, sagte sie. »Ich setz mich in den Wagen und komme erst wieder raus, wenn es aufhört zu regnen und ich nicht mehr mit den Zähnen klappere. Sie können sich ja zu mir setzen.« Im nächsten Moment drehte sie sich um und lief in Richtung des auf dem Feldweg stehenden Dienstfahrzeugs.

Martin Abel sah ihr so lange nach, bis sie im Wagen verschwand und den Motor startete. Annette Hüttner war zwar neu in der Fallanalyse beim Landeskriminalamt in Stuttgart, zeigte aber bereits hervorragende Ansätze, wenn es um das Nachstellen von Tatabläufen ging. Und genau deshalb hatte er sie ausgewählt, denn das Wissen um die Tatabläufe war ein zentrales Element der Fallanalyse, bei dem es Abel verdammt genau nahm.

Herausfinden, wie alles abgelaufen war, und daraus ableiten, warum der Täter genau so und nicht anders gehandelt hatte. Wenn man auf diese Weise die unverwechselbare Handschrift eines Mörders, also seine Signatur herausfand, wusste man schon verdammt viel über ihn.

Annette Hüttner war perfekt darin, sich in ein Opfer hineinzuversetzen. Wenn sie einen Tatablauf rekonstruieren wollten, las sie sich vorab alles, was über die getötete Person vorlag, mit einer unglaublichen Akribie durch und erstellte daraus ein Verhaltensmuster. Die familiäre Situation des Opfers, Aussagen von Bekannten über Stresssituationen, denen es vor der Ermordung ausgesetzt war, körperliche Einschränkungen – Annette Hüttner berücksichtigte einfach alles. Keine Nuance im Verhalten schien ihr verborgen geblieben zu sein, wenn sie danach ihr Wissen mit der tatsächlichen Auffindesituation am Tatort verknüpfte.

Deshalb war es für sie auch selbstverständlich gewesen, sich bei ganz ähnlichem Wetter in identischer Kleidung auf dieselbe Stelle ins nasse Gras zu legen, wo die junge Frau damals ermordet worden war.

Für das Ergebnis der Fallanalyse war das natürlich nützlich. Manchmal hatte Abel sie aber im Verdacht, dass sie sich auch so anstrengte, um ihn zu beeindrucken. Vielleicht war er deshalb so grob zu ihr gewesen. Vielleicht sah er aber auch nur Gespenster oder wollte gar, dass sie so auf ihn reagierte.

Natürlich konnte ein Täter nicht immer frei handeln, weshalb seine Signatur ein Stück weit variabel war. Er wurde bei seinen Taten immer auch vom Verhalten des Opfers beeinflusst. In jeder Sekunde der Tat musste er winzige Entscheidungen treffen und auf die Situation und vor allem auch auf das Opfer reagieren. Wenn sich das zum Beispiel wehrte, handelte er anders, als wenn es sich gelähmt vor Angst einfach abschlachten ließ oder gar Gefühle für ihn zeigte. Daher war es mindestens genauso wichtig herauszufinden, was das Opfer getan hatte und vor allem auch, warum.

Und darin machte kein anderer Fallanalytiker Martin Abel etwas vor. Er war in der Lage, den Modus Operandi, also die Dinge, die ein Täter tun musste, um erfolgreich zu sein, exakt von dem zu trennen, was der Täter unbedingt tun wollte, um den erwünschten Spaß zu haben. Seine Fähigkeit, die winzigsten Details der Abläufe zu erkennen, indem er sich in Täter und Opfer hineinversetzte, war manchmal beängstigend. Trotzdem hätte er gern auf diese Gabe verzichtet, denn es machte nun mal keinen Spaß, in die seelischen Abgründe eines Serienmörders zu schauen. Genauso wenig, wie es Freude bereitete, mit einem Menschen zu fühlen, der sich gerade in der Hand eines solchen Gewalttäters befand und Todesängste ausstand. Um zu verstehen, was so jemand empfand und in der entsprechenden Situation tat, musste man die eigene Seele öffnen und zulassen, dass man selbst verletzt wurde. Oder wie es Friedrich Nietzsche einst formuliert hatte: »Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«

Martin Abel wusste nur zu gut, was Nietzsche damit gemeint hatte. Durch die ständige Konfrontation mit dem Tod lebte er quasi immer dicht am Abgrund, und mit jedem Fall, den er bearbeitete, bewegte er sich näher darauf zu. Irgendwann würde der Abgrund ihn vielleicht sogar verschlingen, aber er war nun mal der Beste seiner Zunft – am Landeskriminalamt von Baden-Württemberg und vielleicht sogar in ganz Deutschland. Und es wäre für ihn unerträglich, einen Serienmörder auf freiem Fuß zu wissen, obwohl er es verhindern könnte. Deshalb gab es auch kein Zurück für ihn, wenn er sich erst einmal in einen Fall verbissen hatte. Dann musste er die Beute auch erlegen und den Täter überführen. Egal, wie weh ihm das selbst tat.

Er sah auf seine Armbanduhr, eine alte Casio mit digitaler Anzeige für Zeit und Datum. In einer Stunde konnte er bei Hannah in Freiburg sein. Sie hatte heute eine kleine Auszeit genommen, nachdem sie mit einem leichten Ziehen im Bauch aufgewacht war. Na gut, sie war nicht ganz freiwillig zu Hause geblieben. Zunächst hatte sie sogar ganz normal zur Arbeit gehen wollen, aber das hatte er ihr natürlich auszureden versucht. Wie erwartet hatte sie dagegen protestiert, sie sei schließlich nur schwanger und nicht krank. Und wo, bitte schön, sollte sie besser aufgehoben sein als bei ihrer Arbeit in der operativen Fallanalyse für das LKA Baden-Württemberg? Aber das wollte er nicht gelten lassen. Immerhin hatte er in seiner ersten Ehe mit Lisa drei Kinder mit auf die Welt gebracht, womit er, zumindest was das anging, klar in Führung lag.

Irgendwann hatte sie entnervt nachgegeben, ihr Grummeln lag ihm aber jetzt noch in den Ohren. Vielleicht sollte er langsam mal einen Versöhnungsanruf starten. Oder noch besser einfach früher nach Hause kommen als geplant, am besten mit einem großen Blumenstrauß.

Plötzlich merkte er, dass er immer noch auf seine Uhr starrte und dabei das Datum fixierte. 19. April, stand dort. Hastig ließ er den Arm sinken und biss sich auf die Lippen. Bald war es wieder so weit, ob er wollte oder nicht.

Er sah zu Annette Hüttner, die in ihrem Dienstwagen saß und sich gerade mit der Decke die kurzen schwarzen Haare abrubbelte. Obwohl sie die Polizeihochschule gerade erst hinter sich hatte, sah sie in seinen Augen schon reifer aus. Mitte dreißig oder so, schätzte er, aber er hatte sie nicht gefragt. Auch wenn sie keine klassische Schönheit darstellte, war ihr Gesichtsausdruck, wenn sie nicht gerade in dienstlichen Unterlagen versunken war, extrem sympathisch. Eine Frau, die man einfach gernhaben musste. Sie hätte bestimmt nichts dagegen einzuwenden, heute nicht mehr raus in die Kälte zu müssen.

Abel ging rüber zu ihrem Dienstwagen und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das Fenster. Annette Hüttner zuckte zusammen, ließ dann aber schnell die Scheibe herunter.

»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt.« Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie wollen aber nicht etwa schon weitermachen? Sie sind ja selbst patschnass. Ich brauche jedenfalls noch ein paar Minuten hier im Warmen, sonst müssen Sie sich morgen eine andere suchen, die sich für Sie ins feuchte Gras legt.«

Abel wischte sich den Regen aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das geht natürlich nicht. Keine stirbt so schön wie Sie.«

Annette Hüttner runzelte die Stirn und schien abzuwägen, ob das gerade ein Lob gewesen sein sollte.

»Ich schlage vor, dass wir morgen fortfahren«, unterbrach er ihre Gedanken. »Erstens scheint es sich einzuregnen, und zweitens wird sich Ihr ominöser Freund, von dem man sich im LKA erzählt, bestimmt freuen, wenn Sie ausnahmsweise mal früher vom Dienst kommen.«

Sie sah ihn an. »Moment! Was erzählt man sich hinter meinem Rücken?«

Er machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Nichts, was Ihren makellosen Ruf zerstören könnte. Also treffen wir uns morgen wieder hier? Ich bringe auch eine wärmere Decke mit.«

»Das kann ich schon selbst. Und gegen meinen makellosen Ruf werde ich auch etwas unternehmen.« Sie zwinkerte ihm zu, als sie die Scheibe wieder hochließ. Anschließend warf sie die Decke auf den Beifahrersitz und fuhr los.

Abel sah ihr nach, bis sie mit ihrem Wagen um die Ecke in Richtung Freibad verschwand. Zögernd steckte er die Hände in die Jackentaschen und kramte nach seinem Autoschlüssel. Sie waren bewusst mit zwei Wagen hergekommen, weil er nach der Rekonstruktion des Tatablaufs zu Hannah nach Freiburg fahren wollte. Annette Hüttner dagegen wohnte in Stuttgart, und da Donaueschingen für beide etwa in der Mitte lag, hatte sich das so angeboten.

Mit dem Schlüssel in der Hand ging er zu seinem Ford Escort. Ziemlich langsam allerdings, obwohl es tatsächlich schweinekalt war und nach wie vor regnete, was ihn an jedem anderen Tag sofort ins Auto getrieben hätte.

Aber heute war alles anders.

Am liebsten hätte er sich jetzt in ein magisches Zeitfeld eingeschlossen, in dem sein Leben für eine Woche stillstand. Die Zeit außerhalb davon sollte ganz normal weiterlaufen, sodass er den bedrückendsten Tag des Jahres quasi verschlafen würde. Was, ich hab den Termin verpasst? Sorry, ich steckte in einem magischen Zeitfeld und konnte nicht zum Todestag vorbeikommen. Kann ja mal passieren, oder?

Aber so einfach lief das leider nicht. Und schon gar nicht bei ihm.

Irgendwann stand er dann doch vor seinem Wagen und stieg wohl oder übel ein. Mit einem Seufzen startete er den Motor und drehte die Heizung auf. Ganz auf, natürlich, denn Klimaerwärmung hin oder her: Die nächste Eiszeit war vielleicht schon unterwegs nach Baden-Württemberg. Abgesehen davon fror er grundsätzlich und erst recht, wenn er auch noch so durchgeweicht war wie jetzt. Als er danach das Radio einschaltete, war er für eine Sekunde glücklich, etwas aus den glorreichen Sechzigern zu hören. Themennachmittag mit Bob Dylan, Jackpot. Der war wirklich der Größte, das hätte er den Leuten vom Nobelpreiskomitee für Literatur schon früher sagen können.

Trotzdem. Der Tag hatte mies begonnen und würde beschissen enden, so viel war sicher. Daran konnte auch Bob Dylan nichts ändern, und schon gar nicht sein »Knockin’ on Heaven’s Door«, in dem ein verwundeter Sheriff auf den Tod wartete. Haha, wie passend für einen Polizisten. Aber der Tod war ein Thema, mit dem er sich in den nächsten Tagen noch mehr befassen musste als sonst. Und damit meinte er nicht den Fall von Donaueschingen, den ihm Frank Kessler, sein Chef und Freund, der dummerweise auch noch Hannahs Vater war, zugeteilt hatte.

Abel umfasste das Lenkrad so, dass seine Fingerspitzen die Nähte an der Innenseite berührten. Das Vibrieren der Maschine drang über das Lenkrad und die Luft bis in die letzte Zelle seines Körpers. Als er sich zurücklehnte und den Kopf gegen die Nackenstütze fallen ließ, bekam er für einen Moment ein Gefühl von Schwerelosigkeit. Es war, als wenn er aus großer Höhe in einen Abgrund fallen würde. Ein heißes Gefühl durchströmte seine Beine, nicht unangenehm, aber erfüllt von der Gewissheit, dass der Sturz irgendwann zu Ende und tödlich sein würde.

Im nächsten Moment drückte er den Fuß so fest aufs Gaspedal, dass der Split des Feldwegs gegen den Unterbodenschutz ratterte. Als er nach einer Minute eine ordentlich befestigte Straße erreicht hatte, drehte er die Musik bis zum Anschlag auf und schaltete innerlich auf Autopilot. Er glitt über die Landstraße, bis sie in die A81 mündete, und ließ sich dort mit dem Verkehr treiben. Er hängte sich einfach an den nächstbesten Kleinwagen, der gerade vor ihm fuhr, und folgte ihm.

Nie schneller als hundertzwanzig Sachen natürlich, also genau das richtige Tempo, um voranzukommen, aber die Sinne nicht vollkommen auf den Verkehr konzentrieren zu müssen. Kuppeln, Schalten, Bremsen, Blinken – alles ging wie von selbst, sodass er mit seinen Gedanken wieder zu dem Sturz zurückkehren konnte, der ihn vorhin so in Furcht versetzt hatte.

Er träumte oft vom Stürzen, aber auch vom Fliegen. Oft flog er dann mit dem Gleitschirm, manchmal konnte er aber auch einfach die Arme ausbreiten und mit ein paar kräftigen Bewegungen wie ein Vogel abheben. Wie ein stolzer Adler glitt er so über die Dächer der Stadt und betrachtete aus sicherer Entfernung das Treiben unter sich, während gleichzeitig die Leute auf den Straßen bewundernd zu ihm aufschauten. Das Glück und die Freiheit, die er in diesen Momenten empfand, waren nicht zu überbieten!

Aber noch während er majestätisch und überrascht von den eigenen Fähigkeiten seine Kreise am Himmel zog, nagte in ihm bereits die Furcht, dass dies kein Zustand von Dauer sein könnte. Und tatsächlich währte das Glück meistens nur wenige Augenblicke – dann stürzte er ab.

Es war, als wenn er hoch oben plötzlich aufwachte und merkte, dass er gar kein Vogel war. Verzweifelt wedelte er mit den Händen, dann begann der Sturz. Wie ein Stein fiel er herab, und sein Ende war vorherbestimmt wie das eines Autos, das auf einer kurvigen Bergtour durch eine Leitplanke raste.

Abel wusste, warum er von diesen Träumen seit nunmehr fünf Jahren besessen war. Doch es gab keinen Weg, von ihnen loszukommen. Er würde sie mit ins Grab nehmen, wenn er nicht schon vorher daran erstickte.

Irgendwann verließ er die Autobahn und fuhr noch ein Stück auf der Landstraße. Auf den letzten Kilometern seiner Reise wurde er schneller, sein Gasfuß schien den Magneten zu spüren, der ihn hierhergezogen hatte. Gleichzeitig nahm aber auch das mulmige Gefühl in seinem Bauch zu, als er die bedrohliche Aura zu spüren begann, die diesem Ort anhaftete. Dennoch fuhr er weiter, an dichten Wäldern vorbei und quer durch Steinenbronn, bis er an einem ihm wohl vertrauten Platz zum Stehen kam. Seine Finger zitterten, als er den Motor abschaltete und sich mit angehaltenem Atem zurücklehnte.

Er spürte, dass er angekommen war.

Mit einem Ächzen stieg er aus und ging los. Der eisige Wind wurde immer stärker, je mehr er sich seinem Ziel näherte, aber dieses eine Mal spürte er ihn nicht, denn die Kälte in ihm war bereits jenseits allen Schmerzempfindens. Mit halb offener, immer noch feuchter Jacke und wächsernem Gesicht kämpfte er sich voran. Er musste nicht nach dem Weg schauen, denn dieser hatte sich längst für alle Zeiten in sein Gedächtnis eingebrannt. Er ging einfach weiter, bis er nach wenigen Minuten an dem Ort war, an den er jetzt, in diesem Moment, hingehörte.

Ein paar Sekunden stand er regungslos da, um sich zu sammeln. Er betrachtete die wie immer hübsch arrangierten Blumen auf dem Grab, um das sich seit jenem Tag vor fünf Jahren fast sein ganzes Denken drehte. Lisa pflegte das Grab wirklich liebevoll. Sie wohnte mit ihren beiden gemeinsamen Kindern, Emilia und Philipp, immer noch am anderen Ortsende von Steinenbronn in der kleinen Doppelhaushälfte, in der auch er früher gewohnt hatte. Damals, als sie noch ein glückliches Paar gewesen waren und Sarah noch gelebt hatte. Danach war sein bisheriges Leben implodiert und die Scheidung folgerichtig gewesen. Für lange Zeit war er ein Wrack und nicht mehr in der Lage gewesen, eine Beziehung zu führen. Bis er Hannah kennengelernt und verstanden hatte, dass das Leben jenseits dieses ganzen Ballasts doch noch schön sein konnte. Erst dadurch hatte er es dann auch geschafft, zu Lisa ein vernünftiges Verhältnis aufzubauen, in dem es nicht mehr um alte Vorwürfe, sondern um die Zukunft ihrer beiden Kinder ging.

Ihrer beiden verbliebenen Kinder.

Hastig setzte er sich hin, mit dem Rücken an den Grabstein, um diesen nicht ansehen zu müssen.

Im nächsten Moment klingelte sein Handy, und einer dummen Gewohnheit folgend, nahm er das Gespräch an.

»Ja?«

»Martin?« Lisas Stimme klang warm wie immer. »Ich habe es schon ein paarmal bei dir versucht, aber du bist nicht rangegangen.«

»Ja, ich …« Scheiße! Er räusperte sich. Wie merkwürdig es sich doch anfühlte, mit ihr zu telefonieren, wo sie in diesem Moment vermutlich nur wenige Hundert Meter von ihm entfernt war. »Ich war beschäftigt. Du weißt ja, wie das bei mir ist.«

»Natürlich.« Seine Ex-Frau schwieg einen Moment. »Alles klar bei dir?«

»Sicher!«, sagte er ein wenig zu schnell, und seine Stimme tönte wie ein rostiger Haufen Blech. »Ich bin nur gerade unterwegs und in Eile.«

Lisa schwieg erneut, er hörte nicht einmal mehr ihren Atem. Hatte sie ihn etwa durchschaut?

»Okay«, sagte sie schließlich. »Ich wollte auch nur fragen, wie wir das mit den Feierlichkeiten machen wollen. Hast du bestimmte Vorstellungen?«

Feierlichkeiten … Er schluckte.

»Entscheide du«, antwortete er dann. »Irgendwas im kleinen Kreis«, fügte er noch hinzu, weil er merkte, dass auch etwas von ihm kommen musste. »Wir treffen uns am Friedhof, legen den Kranz hin, und danach betrinke ich mich.«

Lisa seufzte. Sie wusste, wie schwer alles für ihn war. Schließlich war genau das der Punkt gewesen, der ihm und ihrer Ehe damals den Todesstoß versetzt hatte. Das hieß nicht, dass es für sie leichter war als für ihn. Sie hatte den Tod ihrer gemeinsamen Tochter Sarah aber besser verarbeiten können als er. Sogar ihre Geselligkeit hatte sie wiedergefunden, ein Punkt, von dem Abel noch Lichtjahre entfernt war.

»Du schaffst das«, versuchte sie ihn aufzumuntern. »Du hast ja Hannah. Und betrinken werden wir uns hinterher alle gemeinsam. Ich reserviere schon mal Plätze beim Italiener. Okay?«

»Klar. Tu das. Bis dann.«

Seine Hand war kraftlos, als er das Smartphone wegsteckte. Der Wind hatte aufgefrischt und blies ihm das nasse Laub ins Gesicht. Ein Blatt flog gegen seinen Mund, sodass er dessen erdigen Geschmack mit der Zunge wahrnehmen konnte. Er wischte es beiseite und drehte sich so hin, dass er dem Wind nun den Rücken zuwandte. Für eine Sekunde war er froh darüber, der unwirtlichen Natur ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Doch dann fiel sein Blick auf das, was er nicht hatte sehen wollen. Zumindest nicht direkt, nicht sofort. Dennoch bewegte sich seine rechte Hand, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, zu dem rauen Grabstein. Mit den Fingerspitzen zog er die eingeritzten Buchstaben nach.

Sarah Abel.

Gestorben an einem verdammten Tag vor demnächst fünf Jahren im Alter von fünfzehn.

Fassungslos, wütend und taub vor Schmerz bleiben zurück die Geschwister Emilia und Philipp sowie die Eltern Lisa und Martin Abel.

Und dann noch der allerletzte Satz seiner damals grausam ums Leben gekommenen Tochter. Das Letzte, was sie in ihrem viel zu kurzen Leben gesagt, getan, gefühlt und geschrieben hatte.

Das Letzte, woran er sich erinnerte.

Papa, das Flugzeug stürzt ab, ich glaube, ich werde sterben! Oh Gott, ihr fehlt mir jetzt schon alle! Aber gib dir nicht die Schuld! Love you forever, Sarah!

*

Als Martin Abel vor seinem Wohnhaus in Freiburg Sankt Georgen ankam, wurde es gerade dunkel. Die dichte Wolkenschicht lag wie ein dunkelgraues Wattekissen über der Stadt und hüllte sie in eine Aura aus Nässe und Frost. Er parkte den Wagen auf dem Stellplatz vor dem Haus und griff nach dem Blumenstrauß, denn er unterwegs besorgt hatte. Mal sehen, wie es um Hannahs Laune bestellt ist, dachte er. Hoffentlich besser als heute Morgen.

Mit hochgeklapptem Jackenkragen eilte er hinein und schloss gewohnheitsgemäß die Tür hinter sich ab. Dann stapfte er die Treppe ins erste Obergeschoss hinauf, wo ihre Maisonette-Wohnung lag, die sie vor drei Wochen bezogen hatten.

Sechshunderttausend Euro plus Nebenkosten. Ein echtes Schnäppchen für Freiburger Verhältnisse.

Aber was sollte er machen? Seit Hannah und er sich beim Fall des Metzgers in Köln kennen- und lieben gelernt hatten, war klar gewesen, dass sie irgendwann zusammenziehen würden. Vorübergehend hatte er sich in Hannahs Wohnung in Freiburg eingenistet, aber er hatte schnell gemerkt, dass ihr das nicht reichte. Spätestens als sie schwanger geworden war, hatte ihr Nestbautrieb bedrohliche Ausmaße angenommen und sie ihm das Messer auf die Brust gesetzt. Und nach den Ereignissen in Gummersbach, wo sie gemeinsam den Näher zur Strecke gebracht hatten, war er in diesem Punkt dann auch ziemlich schnell eingeknickt, obwohl er sich davor lange Zeit erfolgreich gegen eine neue Immobilie gewehrt hatte. Warum etwas ändern, wenn alles passt?, hatte er Hannah immer gefragt, wenn sie mit dieser Idee gekommen war. Inzwischen wusste er, dass er einfach nur Schiss gehabt hatte. Ohne Veränderung gab es keinen Fortschritt, hatte er einsehen müssen. Das galt auch für Beziehungen.

Als er die Tür zur Wohnung öffnete, schlug ihm der Duft von irgendetwas Gebratenem in die Nase. Fleisch und Kartoffeln, schätzte er, doch die für Appetit zuständigen Bereiche in seinem Gehirn waren heute tot. Was für ihn so außergewöhnlich war wie Schnee im August.

Er zog die Jacke aus und hängte sie in die Garderobe neben der Tür. Er wollte gerade seine Schuhe abstreifen, als Hannah aus der Küche kam und ihm zunickte.

»Ah, habe ich also richtig gehört! Der Beschützer unserer jungen Familie ist wieder daheim.« Sie strich sich mit beiden Händen über die rote Küchenschürze, die sie über ihrem vorgewölbten Bauch trug. Eine Geste, die in seinen Augen ungemein sexy aussah.

»Genauso sieht es aus«, sagte er und streckte ihr den Blumenstrauß entgegen. »Und ich habe heute sogar an dich gedacht, wie du siehst.«

Sie nahm die Blumen entgegen und schnupperte misstrauisch daran. »Wo hast du die denn her? Sehen ein bisschen blass aus, vor allem die Rosen. Genau wie du, übrigens.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist Eins-a-Tankstellenqualität. Und für die Kälte draußen sind die doch topp in Schuss. Genau wie ich übrigens.«

Sie hob die Schultern. »Na ja, der gute Wille zählt«, sagte sie dann. Sie schnupperte erneut an den Blumen, und er glaubte, ein Lächeln in ihrem Gesicht zu sehen. Offenbar rochen die Blumen besser, als sie aussahen.

Später beim Essen war die unangenehme Spannung zwischen ihnen weitgehend verflogen, vor allem nachdem er ihre Kochkünste überschwänglich gelobt und ihr versprochen hatte, dass er sie morgen wieder zur Arbeit gehen lassen würde – natürlich immer vorausgesetzt, dass es ihr dann gut ging.

»Und wie bist du mit der toten Spaziergängerin weitergekommen?«, fragte Hannah. Die Frage klang beiläufig. »Du warst lange weg, offenbar habt ihr ordentlich gearbeitet.«

Er versteifte sich innerlich. »Ja, wir waren erfolgreich. Annette Hüttner hat echt was drauf, ich muss schon sagen. Ganz fertig mit der Rekonstruktion sind wir aber noch nicht, wir müssen uns morgen noch einmal treffen.«

Abel hasste sich im selben Moment, als er das sagte. Aber auch wenn er Heimlichkeiten verabscheute, schaffte er es einfach nicht, ihr von seinem Umweg über Steinenbronn zu berichten. Wenn er nämlich etwas nicht brauchen konnte, dann waren es Fragen zum Todestag von Sarah und wie er sich damit fühlte.

»Lisa hat angerufen«, durchbrach Hannah seine Gedanken.

»Lisa?« Er versuchte, es beiläufig klingen zu lassen, aber in ihm klingelten sämtliche Alarmglocken. Wie immer, wenn seine Ex-Frau mit seiner schwangeren Lebensgefährtin telefonierte.

»Sie wollte wissen, wie es dir geht.« Hannah sah ihn nachdenklich an. »Offenbar habt ihr miteinander telefoniert, und du hast dabei keinen guten Eindruck hinterlassen. Gibt es etwas, worüber du mit mir reden möchtest?«

Abels Herz pochte bis zum Hals, als er sie mit offenem Mund anstarrte. Natürlich. Auch Hannah wusste, dass Sarahs Todestag sich jährte. Aber wollte sie allen Ernstes jetzt mit ihm darüber reden und ihn dazu zwingen, über dieses Trauma nachzudenken? Schnell griff er zu seinem Weinglas und hoffte, dass sie nicht erkannte, wie aufgewühlt er innerlich war.

»Es ist alles in Ordnung, Hannah«, sagte er kontrolliert und nahm einen großen Schluck. »Alles ist in bester Ordnung.« Er stellte sein Glas wieder auf den Tisch und streckte sich. »Ich hab alles im Griff und bin einfach nur müde«, behauptete er dann und blickte auf seine Armbanduhr. »Ich nehme noch ein heißes Bad. Wollen wir danach früh schlafen gehen?«

Er wartete keine Antwort ab, sondern stand schnell auf, um das Wasser in die Wanne einzulassen und weiteren Fragen auszuweichen.

Er war gerade dabei, die Tür zum Badezimmer zu schließen, als er sie murmeln hörte. »Nichts ist in Ordnung. Gar nichts.«

Hastig schloss er die Tür und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Innenseite. Wie recht sie doch hat!

*

»Ja …?« Auf unerklärliche Weise hatte Abel das Smartphone in die Hand genommen und hielt es an sein Ohr.

»Martin? Bist du krank?«

Die Stimme kam ihm bekannt vor, doch verschlafen, wie er war, konnte er sie niemandem sofort zuordnen.

»Nein, ich habe nur …« Abel versuchte, sich zu sammeln. Er lag im Bett neben Hannah, und die Stimme gehörte … Frank. Frank Kessler, Hannahs Vater und nebenbei auch Leiter der Abteilung für operative Fallanalyse am LKA in Stuttgart und damit sein Chef.

»Hast du getrunken? Ich dachte, du hättest das im Griff.«

Abel schaute auf die Uhr des Radioweckers und verzog das Gesicht. »Ich bin höchstens schlaftrunken, Mann! Es ist vier Uhr morgens, da kommt das sogar bei mir vor. Gott verdammt!«

Er schwang mühsam die Beine aus dem Bett und rieb sich das Gesicht. Hannah bewegte sich leicht, schien von seinem Ton aber nicht beunruhigt zu sein.

»Ist ja gut, Martin, ich wollte nur sicher sein.« Abel hörte, wie Frank Kessler an einem seiner geliebten Zigarillos zog und den Rauch auspustete. »In den nächsten Tagen brauchst du nämlich einen klaren Kopf. Du musst nach Köln kommen. Sofort!«

Abel hob die Augenbrauen. »Köln? Du weißt schon, dass mir dort immer merkwürdige Dinge passieren?«

»Und ob ich das weiß. Die Protokolle quellen über davon. Aber Konrad Greiner hat mich angerufen und um deine Unterstützung gebeten. Ich wollte ihm gleich sagen, dass das eine Scheißidee ist, aber dann hat er mir erzählt, worum es geht.«

Abels Nackenhaare richteten sich auf. Wie immer, wenn er kurz davor war, von Frank die ersten Fakten zu einem neuen Fall zu hören.

»Also, dann frage ich dich eben auch, obwohl es mich natürlich einen Scheiß interessiert: Worum geht es?« Sein Mund war trocken wie ein alter Baumwollstrumpf.

Frank Kessler erzählte es ihm.

Abel war sofort hellwach.

»Wie alt ist der Fund?«

»Drei Stunden. Die Frau des Friedhofmitarbeiters hat Alarm geschlagen, als sich ihr Mann nicht wie verabredet gemeldet hat. Die technische Einsatzeinheit und SpuSi sind schon vor Ort, aber Greiner hat sie angewiesen, sich so weit wie möglich zurückzuhalten. Er sagte, dass du dir das möglichst genau so ansehen solltest, wie es vorgefunden wurde. Sonst würdest du ihm hinterher bestimmt die Hölle heißmachen.«

Abel schnaufte. »Es ist ja schön, dass du mir wieder einen ordentlichen Fall zutraust. Aber bist du ganz sicher, dass du keinen anderen schicken kannst? Ich habe hier gerade einiges an der Backe, der Fall, an dem ich mit Annette Hüttner arbeite, Hannahs Schwangerschaft, außerdem …«

»Alles unwichtig«, unterbrach ihn Frank Kessler. »Auch wenn du für die OFA beim LKA Baden-Württemberg arbeitest, machen wir für Greiner eine Ausnahme, das weißt du. Seit du für ihn den Metzger und Horst Lehmann überführt hast, hat er einen Narren an dir gefressen, von der Sache mit dem Näher in Gummersbach ganz zu schweigen. Jedenfalls will er in Sachen operative Fallanalyse nur mit dir zusammenarbeiten, was für einen Miesepeter wie dich ein ordentliches Kompliment darstellt. Du sollst ihm dabei helfen herauszufinden, wer so etwas einem anderen Menschen antut, damit dieser Killer nicht länger frei herumläuft. Ich gehe davon aus, dass du mit ihm da ausnahmsweise einer Meinung bist?«

Abel seufzte. »Na toll. Wann soll ich los?«, fragte er dann, obwohl er die Antwort bereits ahnte.

Frank Kessler zog erneut an seinem Zigarillo. »Du könntest fliegen, aber mit deiner Flugangst kommt das für dich ja eher nicht infrage. Also musst du in einer Stunde auf der Autobahn sein oder alternativ um sechs am Bahnhof, dann bist du um neun in Köln. Schaffst du das?«