Blutspur am Schloss Bothmer - Frank Pergande - E-Book

Blutspur am Schloss Bothmer E-Book

Frank Pergande

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Beschreibung

Attentat auf die Obrigkeit August 1852: Vor der Mecklenburgisch Großherzoglichen Justizkanzlei wird ein Fall von Aufruhr verhandelt. Der Pächter von Arpshagen hat den Pachtvertrag gebrochen und sich gegen seine Gutsherrschaft, die Familie Bothmer, zur Wehr gesetzt – mit Warnschüssen, Knüttelschwingen und viel Gelärme. Die Justizkanzlei sieht darin einen schweren Angriff auf die Obrigkeit. Dem Pächter droht das Todesurteil. Zumal ein von den Schüssen Schwerverletzter, der bothmersche Holzvogt, vom Feld getragen werden musste. Richter Friedrich Förster und seinem Kollegen Hans-Heinrich Bratspieß wird jedoch bald klar, dass die Schüsse auf den Holzvogt ein nur knapp misslungener Mordversuch waren. Ein Verdächtiger wird bald gefunden, stirbt aber unter seltsamen Umständen. Kaum haben die Richter ihr Urteil gesprochen, geschieht der nächste Anchlag. Und diesmal ist der Täter zielsicher. Frank Pergande erzählt seine Geschichte nach einer wahren Begebenheit.

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Frank Pergande

BLUTSPUR AMSCHLOSS BOTHMER

»Respice finem« (Bedenke das Ende)

Inschrift am Schloss Bothmer im Klützer Winkel

Mit einem Aufruhr am Schloss Bothmer war die mecklenburgische Justiz, genauer die Großherzogliche Justizkanzlei zu Rostock, im August 1852 tatsächlich beschäftigt. Dennoch erzählen wir hier eine erfundene Geschichte.

EIN TAGEBUCHEINTRAG,Bothmer, 6. Juni 1851

ERSTES KAPITELRichter Friedrich Förster wird zum Abendessen gerufen und erlebt dank Schaumwein eine nette Überraschung, bei der Wallenstein sich dezent zurückzieht

ZWEITES KAPITELEin Gespräch über Wallenstein, bei dem Hans-Heinrich Bratspieß eine Entdeckung erwähnt, die er in den Akten gemacht hat

DRITTES KAPITELAm ersten Tag der Gerichtsverhandlung Bothmer gegen Pächter Priester hat Richter Förster mit der Müdigkeit zu kämpfen

VIERTES KAPITELPan Bratspieß gesteht eine neue Liebe, Advokat Hecht hat seinen großen Auftritt vor Gericht, und der Prozess nimmt eine unerwartete Wendung

FÜNFTES KAPITELFriedrich Förster und Pan Bratspieß speisen zu Mittag und werden dabei von einer jungen Frau gestört, die Merkwürdiges zu erzählen weiß

SECHSTES KAPITELZwei Kossäten erscheinen vor Gericht, Pan Bratspieß fällt gleich in zwei Teiche, und Fräulein Ulrike muss Richter Förster etwas gestehen

SIEBTES KAPITELDer fette Edgar tritt auf, ein blonder Engel und eine eulenähnliche Gräfin, die dem hohen Gericht etwas über den Nutzen von Zank erklärt

ACHTES KAPITELRichter Förster kommt nach Hause, isst mit seiner Frau zu Abend, trinkt dabei Bier und gesteht etwas, das beinahe zu einem Bildersturm führt

NEUNTES KAPITELRichter Förster fährt inkognito nach Klütz, begegnet dort einem Schäfer, der Hirte heißt und drei Patronenhülsen bei sich trägt

ZEHNTES KAPITELGutsch Zornow tritt vor Gericht auf, und Friedrich Förster lädt seinen Freund Pan Bratspieß zu Birnen, Bohnen und Speck ein

ELFTES KAPITELBeim Tee wird davon berichtet, dass es manchmal nachts im Schloss Bothmer spukt und bei Zornow ein Revolver gefunden wurde

ZWÖLFTES KAPITELEs gibt eine Kostprobe von falschem Marzipan aus Erbsbrei, wobei seltsame Geschäftsbeziehungen offenbar werden

DREIZEHNTES KAPITELDer bothmersche Gutsinspektor tritt vor Gericht auf und behauptet, dass die Wahrheit manchmal recht schamlos sei

VIERZEHNTES KAPITELDie Rostocker Richter Förster und Bratspieß brüten über ihrem Urteilsspruch und treffen eine folgenschwere Entscheidung

FÜNFZEHNTES KAPITELDas Urteil über den Pächter Priester wird gesprochen, Richter Förster bekommt einen Besuch und begegnet Rotkäppchen auf seinem Weg zum Wolf

LETZTES KAPITELHier geschieht, was in einem Kriminalroman normalerweise schon am Anfang geschehen sollte – ein Mord, wobei Friedrich Förster immerzu lateinisch denkt

EIN TAGEBUCHEINTRAG

Bothmer, 6. Juni 1851

Dieser lärmende Haufen. Als wäre es ein Ausflug zu Himmelfahrt. Die wirklich wichtigen Dinge liegen immer in den Händen der falschen Leute. Das ist mir schon häufiger aufgefallen. Sie haben nicht einmal bemerkt, wie ich neben ihnen herlief, verdeckt von Buschwerk. Singelmann, das alte Schlachtross, an der Tete hatte endlich das Tor zur Meierei erreicht. Der ganze Haufen blieb stehen, ohne in seinem Lärmen nachzulassen. Auch in der Meierei erhob sich Lärm.

Ich hatte alle Zeit der Welt mich einzurichten. Dan – wer ihn gut kennt, darf Dan zu ihm sagen – stand in nächster Nähe zu mir und sah mit den anderen zur Meierei hinüber. Ich schlug mit einem zufällig gefundenen Ast auf den Strauch vor mir, um auf mich aufmerksam zu machen. Dan drehte sich in meine Richtung. Ich drückte gleich ab, verfehlte. Dann noch einmal. Er fiel, ohne einen Laut von sich zu geben.

Ich machte mich auf den Rückweg, schoss noch einmal in die Luft, was im allgemeinen Getümmel auch nicht weiter auffiel. Ich reinigte den Revolver mit der Sorgfalt, wie sie mir eigen ist, beim Schießen genau wie bei der Pflege der Waffen. Dann legte ich den Revolver zurück, er ist ein Prachtstück im wohlgeordneten Waffenschrank. Wie viel Mühe hat Dan auf sich und sein Leben verwandt, und wie leicht war es, ihn und sein Leben auszulöschen.

Und so begann ich mein Tagwerk. Es war ein sonniger Frühsommertag, an dem nichts weiter geschah, was notierenswert gewesen wäre.

ERSTES KAPITEL

Richter Friedrich Förster wird zum Abendessen gerufen und erlebt dank Schaumwein eine nette Überraschung, bei der Wallenstein sich dezent zurückzieht

Der Gong wurde angeschlagen. Es war ein schöner, satter, bronzener Klang. Der Ruf zum Abendessen. Friedrich Förster, Doktor der Rechtswissenschaften und seit vielen Jahren Richter an der Großherzoglichen Justizkanzlei zu Rostock, schloss die Mappe, die vor ihm auf dem Schreibtisch mit den lächerlich zierlichen Löwentatzen lag. »Bothmer-Arpshagen« stand auf der Mappe, geschrieben in der schwungvollen, selbstbewussten Handschrift des Richters. Der Schreibtisch war aus der Barockzeit übrig geblieben, jetzt unvorzeigbar unmodern, durch viele juristische Arbeit verschrammt und mit Tintenflecken übersät wie seines Eigentümers Gesicht mit Falten und Sommersprossen. Aber der Richter mochte sich von den Löwentatzen nicht trennen.

Es war ein Sonntag, der 1. August 1852. Förster erhob sich und wuchs damit zu seiner vollen Länge, fast zwei Meter. Er überragte gleichsam ganz Mecklenburg. Er war jedoch kein Mecklenburger, er war Berliner. Mit eleganter Lässigkeit schritt er in seinen Hausschuhen aus Saffianleder über die teppichbespannte geschwungene Treppe nach unten. Vorbei am Porträt seines Vaters, der auch schon Richter gewesen war und, längst tot, das Tun seines Sohnes noch immer mit skeptischem Blick vom Bild her verfolgte. Förster behauptete, der Alte würde manchmal aus seinem Porträt heraus zornig zwinkern, manchmal die Augen verdrehen, wenn er, sein Sohn, vorüberschritt. Lächeln würde er nie. Auch nach seinem Tod lächle er, der Vater, so wenig wie zuvor in seinem Leben.

Der Sohn dachte nicht gern an seinen Vater zurück, auch wenn er ihm vieles, wenn nicht alles zu verdanken hatte. Beruf und Berufung, die Villa und die Wohlhabenheit, die herrisch gebogene Nase und das selbstbewusste gespaltene Kinn, die Körpergröße, das volle Haar und die Sommersprossen. Sogar die Bekanntschaft mit jener Frau, die des Sohnes Ehefrau werden sollte, hatte der Vater vermittelt, wenn auch indirekt, weil er seinen Sohn für ein Semester an die Universität von Bayreuth geschickt hatte, Widerspruch wie immer nicht duldend. Und in Bayreuth lebte die schöne Ricarda, die auf einen Ehemann wartete, denn die Ehe sah sie als Befreiung aus häuslicher Enge an, an sich ein Irrtum, bei Förster aber tatsächlich eine Hoffnung, die sich, mehr oder weniger, erfüllen sollte.

All die Förderung des Sohnes durch den Vater verknüpfte sich freilich mit einem allzu hohen Anspruch des Vaters an Wesen und Wirken des Sohnes, dem dieser auch bei größter Anstrengung und größtem Erfolg nie hätte genügen können.

Förster betrat das Erdgeschoss. Ging vorüber an dem Gong, der ihn gerufen hatte, jetzt aber wieder das tat, was er die meiste Zeit des Tages tat: schweigend da hängen. Ging vorüber an dem ausgestopften Waschbären mit ausgestreckter Pfote, die einen Teller hielt, für die Post und für Visitenkarten.

In der Diele gesellte sich Wallenstein zu seinem Herrchen, der Hund des Hauses, eine Mischung aus Labrador und belgischem Schäferhund. Gemeinsam betraten sie den Salon. Förster tat es mit leicht gesenktem Haupt, was bei der Höhe der Tür an sich nicht notwendig gewesen wäre, ihm aber aus böser Erfahrung anderswo zur gepflegten Gewohnheit geworden war. Selbst diese Bewegung gelang ihm mit Lässigkeit. Wallenstein war der Stolz auf sein Herrchen anzusehen, er ließ den Blick nicht von ihm.

So erreichten Herr und Hund den Salon, just in dem Augenblick, da auf der anderen Seite aus ihren Räumen Ricarda hervortrat, die Bayreutherin, ebenfalls hochgewachsen, apart, üppig, rotblond. Die Verirrungen des Schicksals hatten sie, als sie ein Ehepaar geworden waren, nicht nach München geführt, wie von Ricarda erhofft, auch nicht nach Hamburg, wie von Friedrich gewünscht, sondern nach Rostock. Inzwischen lebten sie aber beide gern als Rostocker und liebten das Meer, das sie beide zuvor, bis zu ihrem Umzug nach Mecklenburg, noch nie gesehen hatten.

»Ich habe dem Mädchen gesagt, es soll hier für uns decken, nicht im Speisesaal. Ein paar Kleinigkeiten, nur Häppchen und etwas Brauchbares zum Trinken. Du hast nichts dagegen, will ich hoffen. Ich habe Sophie nach Hause geschickt, wir brauchen heute keine Hilfe mehr, denke ich.« Übergangslos, aber im selben warmherzigen Ton fuhr sie fort: »Und morgen Grevesmühlen, du Armer? In aller Frühe? Wallenstein, Platz!«

Sie setzten sich, Wallenstein artig zu Füßen seines Herrn. Es stand zur Überraschung des Hausherrn eine Flasche Schaumwein in einem Kühler voller Eisstücken auf dem Tisch, schon entkorkt. Er schenkte ein. Sie stießen mit schönen, schmalen Kelchen aus Kristall an. Ein herrlicher Klang. Auch die Gläser waren Erbe des Vaters wie so vieles hier, wie der Kühler, die Teller mit Wappen, das Besteck, wie die lächerlichen Löwentatzen am Schreibtisch und die Joppe, die der Hausherr trug.

»Grevesmühlen«, bestätigte er und stellte das Glas ab. »Und sogar mit Übernachtung, womöglich dauert der Spaß einige Tage, nächste Woche und übernächste, denke ich, vielleicht noch länger. Wieder so eine schauderhafte Herberge, die mich da erwartet. Und das einfallslose Essen. Alle Herbergen in diesem Land sind schauderhaft, und das Essen immer furchtbar. Und, als wäre das nicht schlimm genug, stets Freund Bratspieß an der Seite. Jeden Prozess kostet er aus, als gäbe es nichts anderes in seinem Leben. Schon weil er dabei ist, wird es dauern.«

»Als gäbe es nichts anderes in seinem Leben? Abgesehen von den Frauen, meinst du«, lachte Ricarda. Förster nannte sie Ric.

»Stimmt, der alte Schwerenöter. Bestimmt hat er auch in Grevesmühlen eine Flamme, die ihn wärmt und ihm etwas Anständiges kocht. Er scheint in jedem Nest eine Flamme zu haben, so wie jedes Haus einen Schornstein hat oder einen Blitzableiter. Erleichtert ihm das Reisen, so hat er es stets warm und gemütlich. Wo immer das Rechtswesen ihn hinschickt, eine seiner Geliebten ist schon da. Und ich? Muss mich von meiner herrlichen Frau trennen. Und das gleich am Montagmorgen. Mit der Aussicht auf tagelang schlechtes Essen, Wanzen im Bett und anzügliche Erzählungen des geschätzten Kollegen. Von der Langeweile beim Prozess gar nicht zu reden. Ric, es schaudert mich, ich sehne meine Pensionierung herbei.«

»Na, so schlimm wird es schon nicht werden. Dein Pessimismus passt selten zu den Tatsachen, ist dir das schon mal aufgefallen? Worum geht es eigentlich? Ich meine, in der Verhandlung.«

»Ric, ich will dich nicht langweilen.«

»Aber wenn Spürnase Bratspieß dabei ist? Dann muss es doch etwas Besonderes …«

»Ach, was. Es geht wie gewohnt nach Dienstplan. So bin ich zu dem Fall gekommen, so auch Freund Bratspieß. Wir waren dran. Der Fall selbst ist öde: Der Pächter von Gut Arpshagen, wer immer das ist und wo immer das liegt, hat einen Holländer eingestellt. Keinen richtigen Holländer, du verstehst, sondern einen ordinären Mecklenburger, der nur so genannt wird, weil er sich um die Milch zu kümmern hat auf so einem Gut. Der also Kühe melkt, die Milch verarbeitet und so etwas.«

»Wir nannten die bei uns zu Hause Schweizer.«

»Jedenfalls darf ein Pächter weder einen Holländer noch einen Schweizer bestellen. Jedenfalls nicht ohne Erlaubnis des Gutsherrn, in unserem Fall der Bothmers in Klütz. Gutsherrlicher Konsens, so wird das genannt. Steht so im Pachtvertrag und ist nicht misszuverstehen, wenn man nicht gerade Analphabet ist. Der Pächter in Arpshagen kann lesen, mag sich aber nicht daran halten. Er hat sich schon einmal den Holländer ausgesucht und musste ihn dann gleich wieder wegschicken, weil der gutsherrliche Konsens fehlte und ihm der Bothmersche Oberinspektor auf die Pelle rückte, mit dem Vertrag wedelnd: Den Holländer bestimmen wir! Auch Holländer zwei hat der Pächter einfach so hergeholt, unbelehrbar. Offenbar ein Fall von mecklenburgischem Dickschädel.«

»Wie? Und deswegen gleich einen Prozess. Noch dazu einen, zu dem die Koryphäen aus der Großherzoglichen Justizkanzlei am Montagmorgen in aller Frühe nach Grevesmühlen reisen müssen? Nicht dein Ernst!«

»Ernst daran ist auch gar nicht der Streit selbst, sondern der Aufruhr, den die Sache mit dem Holländer verursacht hat. Der Herzog war sehr ungehalten, als man ihn unterrichtete.«

»Den Herzog unterrichtet? Wegen eines Milchbubis Aufruhr? Wallenstein, Platz!«

»Milchbubi ist hübsch. Es fing harmlos an, es fängt ja immer alles harmlos an. Der Bothmersche Gerichts- und Polizeidiener – Singelmann heißt er, mir fällt sogar sein Name ein, sieh an – macht sich in aller Herrgottsfrühe auf, diesmal aus leidvoller Erfahrung vom ersten Holländer gleich mit einer eigenen Heerschar, alles Leute aus dem Schloss Bothmer, bewaffnet mit Knütteln. Ein halbes Dutzend, sie erreichen den Hof des Pächters. Dort wird Alarm geschlagen, die Gutsglocke läutet, alles schreit durcheinander, Schüsse in die Luft, Hundegebell, das Tor wird geschlossen. Keine Ahnung, wie weit der Weg von Bothmer nach Arpshagen ist, kann aber so weit nicht sein. Der Pächter ruft schließlich, er weiche roher Gewalt, er werde nicht angreifen, er werde sich nur verteidigen, wenn er angegriffen werde. Die Bothmer-Leute müssen durch ein Spalier kampfbereiter Arpshagener, wird eine lustige Szene gewesen sein. Sie betreten das Gutsgelände, genauer gesagt die Meierei – und finden was?«

»Nichts.«

»So gut wie nichts. Jedenfalls keinen rechtswidrig nach Arpshagen geholten Holländer. Ein paar verängstigte Mägde. Die eine immerhin verstand sich gut auf Blutstillen und Verbinden.«

»Ach, es gab Blut?«

»Nicht alle Schüsse gingen in die Luft. Zumindest ein Schuss traf. Der bothmersche Holzvogt blieb auf dem Platz. Ohne die tüchtige Magd wäre er da wohl verblutet. Sie wollten schon einen Priester holen, der Mann ist katholisch, für die letzte Ölung. Aber dann schlug er doch wieder die Augen auf, er muss viel Glück gehabt haben, die Kugel ist knapp an Lebensnotwendigem vorbeigegangen, am Herz oder an der Lunge, das weiß ich jetzt nicht mehr so genau. Inzwischen ist der Mann wieder ansprechbar und über den Berg. Ich werde ihn kennenlernen, im Zeugenstand.«

»Ich nehme an, keiner der Beteiligten wird sich zuvor diplomatisch bemüht haben, die Sache vernünftig beizulegen. Die prügeln sich doch gern, die vom Dorf. Kein Wirtshaus ohne Schlägerei. So kenne ich es jedenfalls von uns in Franken«, warf Ricarda ein.

»Aber im Unterschied zu deinen Franken passierte unser Fall nicht in einem Krug, sondern vor einer Meierei, und nicht abends im Suff, sondern an einem strahlenden Junimorgen. Und außerdem waren nicht nur Knüttel und Fäuste im Spiel, sondern auch Terzerole.«

»Terzerole?«

»Kleine Pistolen, die Gutspistolen von Arpshagen sozusagen. Du wirst zugeben, dass eine fränkische Wirtshausschlägerei etwas anderes, deutlich liebenswerteres ist, als eine bothmersche Schießerei um nichts. Keiner von der Arpshagener Seite will es gewesen sein, das mit den Schüssen auf den Holzvogt.«

»Und wie richtest du da?«

»Wenn wirklich alles so passiert ist, wie es in den Akten steht, dann ist der Fall sonnenklar wie jener Sommertag, als es passierte. Durchlaucht in Schwerin kann sich Aufruhr nicht anders gesühnt vorstellen als durch Hinrichtung des Aufrührers.«

»Das nennst du sonnenklar?«

»Bei den Bothmerschen war auch der Gutsjäger dabei. Der behauptet allerdings, die Wunde beim Holzvogt habe schlimmer ausgesehen, als ein Pistolenschuss sie, also die Wunde, auf eine solche Entfernung hin hätte anrichten können. Er tippe eher auf eine Flinte, ein Jagdgewehr. Hat er denen vom Criminal-Kollegium gesagt. Die haben dann auch nach einem Gewehr bei den Arpshagenern gesucht, aber nichts gefunden. Sie haben aber auch kein Terzerol gefunden. Kein Wunder, der Pächter soll zwar zum Jähzorn neigen, aber dass er eine noch rauchende Flinte oder Pistole besser nicht im Haus aufbewahrt bis die Gendarmen kommen, soviel Klarheit dürfte er selbst in seinem Zorn gehabt haben. Ich glaube, Wallenstein muss noch mal raus.«

»Und ohne die Schüsse und den armen Holzvogt? Ich meine, wenn das denen aus Arpshagen nicht nachzuweisen ist? Ich gehe gleich mit ihm.«

»Ist es um den Pächter wohl trotzdem geschehen. Ein mecklenburgischer Großherzog kann es sich nicht erlauben, in so einem Fall Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Seine Autorität wäre hin. Ist sowieso nur notgedrungene Autorität, die er beim Landadel hat, den Plessens, Bülows, Blüchers, Moltkes, Maltzahns – und wie sie alle heißen. Und den Bothmers eben auch, selbst wenn es Zugezogene sind. Aufruhr ist Aufruhr, und der Rädelsführer kriegt die Höchststrafe, ob nun eine Flinte oder ein Terzerol eine Rolle spielte oder nicht.«

»Das nennt man dann wohl kurzen Prozess.«

»Wollen wir es hoffen. Aber auch ein kurzer Prozess kann dauern. Lehrt bittere Erfahrung. Erst die Schwätzer vom Criminal-Kollegium, die das Verfahren an uns abgeben mussten, wegen des Aufruhrs, so etwas ist nämlich politisch. Und dann die Zeugen, und deren sind vermutlich viele, wenn zwei Bauernheere einander rempeln. Alles betuliche Mecklenburger von gedehnter Wortkargheit, ich freue mich drauf. Und der Pächter wird sich auch verteidigen wollen, bestimmt sogar sehr ausführlich, jeder Verhandlungstag mehr bedeutet ihm ein längeres Leben.«

Ricarda gähnte. »Klingt wirklich nach Langeweile. Sonst hast du wenigstens eine Leiche vorzuweisen, einen Mord und einen Mörder. Aufruhr! Politisch! Puh. Und dann noch solchen. So lächerlichen, meine ich. Und dann noch am Ende der Welt, du hast mein Mitgefühl.«

»Wird langweilig«, nickte Förster. Und dann kam einer seiner Lieblingssätze: »Geht auch vorüber.«

Was nun aber nicht langweilig wurde, das war der Rest des Abends. Lag es am Schaumwein? Oder lag es an der Gewissheit, dass keines der Hausmädchen, keine Sophie, keine Hedwig mehr stören würde? War es die Strähne von Blondhaar bei Ric, die sich auf einmal löste und charmant über ihr Gesicht fiel, was eigentlich niemals hätte passieren dürfen, denn Frau Richter gab sonst viel auf den perfekten Sitz ihrer turmartigen Frisur. War es die Aussicht auf einen langweiligen Prozess, der Förster noch schnell in ein Abenteuer stürzen lassen wollte? Oder war es nur so, dass er ihr leidtat, weil sie wusste, wie ungern er reiste, und sei es nur nach Grevesmühlen?

Egal, sie schafften es in ihrer Leidenschaft nicht einmal mehr ins Schlafzimmer, sie landeten auf der Ottomane, die es zum Glück im Salon gab. So »wohnte ich Ric bei«, wie Förster später seinem Tagebuch anvertraute. Was er meinte, war, unverblümt gesprochen, ziemlich zügelloser Sex, und sollte ihn in den Tagen darauf noch derart berauscht halten, dass er Grevesmühlen und Bratspieß, den Holländer und die Meierei, die Bothmers und die Suche nach einer Flinte plus ihrem Schützen heiter ertrug, als würde er in einer Wolke des weiten mecklenburgischen Himmels über allem schweben.

Einziger Zeuge war der nicht abgeräumte Tisch mit dem befleckten Tischtuch, den hingeworfenen Servietten und den verschobenen Stühlen, die Ruine der Abendmahlzeit. Viel war nicht gegessen worden von den beiden. Und das Marzipan-Konfekt aus Lübeck hatte Förster, sonst unbedingt, wie so viele Männer, einer von der süßen Fraktion, nicht einmal angerührt.

Auch Wallenstein hätte natürlich Zeuge sein können. Aber der Haushund hatte sich, als Herrchen und Frauchen einander näherkamen, dezent zurückgezogen und war allein noch kurz in den Garten geschlichen, sein Geschäft zu verrichten. Er konnte Türen öffnen. Wohlerzogen wie er war, tat er es freilich nur in Notfällen. Und ein solcher war jetzt eingetreten. Aus seiner Sicht jedenfalls.

ZWEITES KAPITEL

Ein Gespräch über Wallenstein, bei dem Hans-Heinrich Bratspieß eine Entdeckung erwähnt, die er in den Akten gemacht hat

»Entschuldige, Fritz, mein Lieber. Ich habe gestern, an diesem wundervollen Sonnensonntag, noch eine wundervolle Dana kennengelernt und sie golden beregnet. Ganz unerwartet. Das dauerte, die Wolke war so mächtig.«

»Abfahrt«, rief Förster hinauf zum Kutscher, der den Namen Wandersee trug, von allen aber nur Wanderer genannt wurde, weil das in gewisser Weise zu seinem Kutscherberuf passte. Und zu Bratspieß gewandt sagte Förster: »So genau wollte ich es nicht wissen, du und deine Liebesgeschichten. Ist dir eigentlich klar, dass du immer zu spät bist, immer fünf Minuten. Vermutlich siehst du darin Stil, aber es ist nur eine Ungehörigkeit, gegen mich, gegen Wanderer, überhaupt gegen jeden, der auf dich warten muss.«

»Ein netter Kollege, der dir sehr, sehr ähnlich ist, sagt mir bei solchen Gelegenheiten gern: Fünf Minuten vor der Zeit ist die wahre Pünktlichkeit. Ich weiß, ich weiß. Ich würde deine Fünf-Minuten-Pingeligkeit abstoßend finden, wenn sie nicht so herrlich zu dir passte.«

Hans-Heinrich Bratspieß hatte, weil der Jüngere, klaglos in der Kutsche auf dem misslichen, engen Sitz entgegen der Fahrtrichtung Platz genommen. Der justizeigene Kasten – und anders als einen Kasten konnte man das unförmige Gefährt nicht bezeichnen – rumpelte müde dahin und war zu seiner Langsamkeit auch noch unbequem, trotz der mit gelbem Leder bezogenen Sitze. Deren Farbe pflegte Bratspieß mit einem Ausdruck aus der schamlosen Barockzeit Caca du Dauphin zu nennen. Freilich hatte das Dahinrumpeln der Kutsche nicht nur mit dem Gefährt allein zu tun, sondern auch mit den schlechten, sandigen Wegen, die Mecklenburg seit jeher berühmt, ja berüchtigt machten. Hausintern hieß die Kutsche »die fahrende Gerichtslaube«, sie war im Grunde immer nur ein Gegenstand von Spott.

Die letzten Häuser von Rostock zogen am kleinen Kutschfenster vorüber, dann folgte platte, karge norddeutsche Landschaft, die noch im Morgendunst lag und zu der die sandigen Wege dann doch irgendwie passten. Ab und an ein Dorf, ein einzelnes Gehöft, wie in die Landschaft gewürfelt. Hätten sich die Herren aus dem Kutschfenster gebeugt, sie hätten die See riechen können. Aber das kannten sie ja ohnehin, und sie beugten sich auch nicht hinaus. Sie wollten die weite Fahrt nur so schnell wie möglich hinter sich bringen. Es handelte sich schließlich nicht um einen Ausflug.

Bratspieß fragte: »Was macht Wallenstein, mein Lieber? Und wie geht es deiner schönen Frau?«

Förster auf dem besseren Platz in Fahrtrichtung, was die Reise allerdings auch nicht viel angenehmer machte, antwortete: »Dem Hund geht es gut.«

Bratspieß grinste: »Ich meine nicht deinen Köter, das weißt du ganz genau. Ich meine natürlich dein Opus Magnum. Habe lange nichts mehr davon gehört.«

»Ach, das Werk, das sicherlich nie das Licht der Welt erblicken wird«, seufzte Förster. »Egal. Wäre es dem richtigen Wallenstein vergönnt gewesen, in unserem Mecklenburg länger als nur ein Jahr Herzog zu sein, er hätte ordentliche Straßen bauen lassen und der Justizkanzlei neue Dienstfahrzeuge gegönnt, schnell und bequem.«

Friedrich Förster arbeitete seit Jahren an einer Studie über die mecklenburgische Zeit Albrecht Wallensteins, als der vom Schloss Güstrow aus herrschte, und zwar, wie Förster gern aufzählte, als mecklenburgischer Fürst der Wenden, Graf zu Schwerin sowie der Lande Rostock und Stargard. Damals hatte das Land durch sein Regieren aufzublühen begonnen, so wie der Feldherr zuvor schon aus seinem Friedländer Herzogtum im Böhmischen eine Art Musterstaat gemacht hatte.

»Ja, seltsam«, setzte Förster hinzu, »die angestammten Herrscher, die ollen Obotriten, die Mecklenburg in einen Tiefschlaf versetzt haben, werden von Wallenstein vertrieben. Und Wallenstein, der sie vertrieben hat gegen alle Rechte, wie man sagen muss, schickt sich sogleich an, aus seinem Raub ein Reformwerk zu machen, das wir noch heute bewundern könnten, hätte er nur mehr Zeit gehabt. Aber die Obotriten kehrten zurück und alles blieb beim Alten. Wem gelten da die Sympathien, deiner Meinung nach?«

»Na, wir müssen nicht gleich Sympathien verteilen«, antwortete Bratspieß. »Aber aus politischem und rechtlichem Blickwinkel wirfst du eine interessante Frage auf mit deinem Wallenstein. Ich bin gespannt, was du daraus machst. Ist doch eigentlich Konterbande, unserem Regierenden gegenüber, oder? Ich hoffe, die Sache wird überhaupt je fertig und dann auch gedruckt. Mir bitte ein Exemplar mit Widmung. Aber gib dich keiner Täuschung hin, Wallenstein bleibt der finstere Gesell, den die Welt in ihm sieht. Da änderst du nichts mehr, Musterländle hin oder her.«

Förster lächelte nachsichtig. Als ob es ihm darauf ankäme, irgendetwas zu ändern, und sei es am Bild, das die Welt von Wallenstein hatte, wenn sie überhaupt eines hatte. Ohnehin würde er seine Studie erst zu Ende bringen können, wenn er aus dem großherzoglichen Dienst in den Ruhestand gewechselt sein würde. Wenn es doch endlich soweit wäre, dachte Förster, während sie durch ein zart nebliges, fast rosafarbenes Licht fuhren, das sich schon hier und dort langsam in einen Sonnentag auflöste. Endlich wieder Muße haben, dachte Förster. Dritteln wollte er die wiedergewonnene Zeit, das wusste er schon: für Ric, für den einen Wallenstein sowie den anderen, den Herzog und den Hund, der nur wegen Försters Studien zu seinem Namen gekommen war.

»Herrscher sein und doch nicht sein, de facto, de jure, wie auch immer«, entgegnete Bratspieß auf einmal und schlug sich mit den flachen Händen auf die Schenkel. »Das bringt mich auf unseren Grevesmühlener Prozess. Mir ist da etwas aufgefallen, und ich sollte es dir sagen, bevor die Chose losgeht. Nicht dass es für uns wichtig wäre, aber wenn der Pächter mit seinem selbstgewählten Holländer einen guten Verteidiger aufböte, könnte der auch damit kommen. Heikel, heikel, dann auch für uns.«

Förster merkte auf. Man soll mit Namen nicht spielen, mahnte er sich. Aber Bratspieß war einer, der einen im Feuer drehen konnte, im geistigen der Rechtsprechung, wohlgemerkt. Meistens den Angeklagten, oft die Zeugen, manchmal den Gendarmen, mitunter sogar die Herren aus dem Criminal-Kollegium, gern aber auch die eigenen Kollegen. Er garte sie alle, sozusagen bis sie ihm schmeckten oder der jeweilige Fall ihm schmeckte. Er war dafür bekannt. Wo er auftauchte auf seinen dünnen O-Beinen pflegte es turbulent zu werden. Wie um alles in der Welt kam dieser Bratspieß von Wallenstein auf den Arpshagener Aufruhr?

»Bitte?« Förster versuchte, gleichgültig zu klingen. Er war es jedoch keineswegs, im Gegenteil, er war auf der Hut. Bratspieß fand immer etwas, was ein Gerichtsverfahren zum Marathon machen konnte, zeitaufwendig, kräftezehrend, unnötig, und das alles ausschließlich zum Vergnügen eines Richters, zu Bratspieß’ Vergnügen, dem eine juristische Frage nicht verschlungen und abseitig genug sein konnte.

»Es geht um die Bothmers«, bemerkte Bratspieß.

In dem Moment wurde Förster aber erst einmal abgelenkt. Das geschah ihm in letzter Zeit häufiger. Ein an sich nebensächlicher Anlass, und schon war es um die Aufmerksamkeit des Richters geschehen. Er meinte daran sein Altern zu erkennen, an diesen Abschweifungen, aber auch daran, dass er manchmal schon etwas vergaß. Abschweifen und vergessen gehört ja auch irgendwie zusammen. Sein Gedächtnis galt freilich in mecklenburgischen Justizkreisen noch immer als legendär. Für seine Kollegen war er immer noch der große Förster, er selbst sah sich von Tag zu Tag kritischer. Abnehmender Mond, nannte er das.

Jetzt muss es das Wort Marathon gewesen sein, an dem sich sein leicht davondriftender Geist klammerte und in einem haltlosen Schweifen der nachfolgenden Gedanken mitten im Mecklenburgischen gleichsam bei den alten Griechen versank. Pan, dachte Förster, und es ist mir noch nie aufgefallen, obwohl wir uns schon so lange kennen und so oft gemeinsam unterwegs gewesen sind. Wie Gott Pan sieht er aus, der Kollege, auch wenn Bratspieß selbst sich gerade als Zeus gesehen hatte, bei einer Dana in einem goldenen Regen. Aber nicht so stattlich wie ein Zeus sah er aus, sondern wie der Hirtengott, so klein, dass die Füße kaum auf den Boden der Kutsche reichten. Und waren es statt der Füße nicht sogar Hufe wie bei Pan? War Bratspieß nicht bocksbeinig? Oder wirkte nur das O seiner Beine so? Und dann das breite Grinsen, in dem stets etwas Wollüstiges spielte. Und entwuchsen seinem dichten Lockenhaar nicht sogar zwei Ziegenhörner, wenn man nur genau hinsah? Wenigstens einen Ziegenbart trug er tatsächlich. Und wie Gott Pan hatte dieser Bratspieß Erfolg bei den Nymphen. Wie bei Pan fragte sich Förster auch bei seinem Kollegen, weshalb eigentlich Nymphen sich gerade von so einem entführen ließen, und dann noch so umstandslos. Gewissermaßen von einem stinkenden Bock, hässlich und klein, o-beinig und garantiert unfähig zu jeder ernsthaften Beziehung, was der Kollege nun schon oft genug bewiesen hatte.

Es muss etwas Animalisches sein, dachte Förster. Etwas ihm Fremdes. Der animalische Geruch, den Hirten in ihrer Herde annehmen. Dafür sprach, dass Bratspieß einmal bei einem Bier ihm, dem treuen Ehemann, schon etwas angetrunken erklärt hatte, wie bei Eroberungen vorzugehen sei: »Drauf zu, nicht abwarten wie dein Wallenstein damals, als er podagrisch alles auszusitzen versuchte und Schlachten möglichst aus dem Weg ging. Eher wie Gustav Adolf, ungestüm losschlagen auch aus aussichtsloser Position. Bloß nicht abwarten, bloß nicht stillstehen, und wenn es das Leben kostet. Ein Leben muss doch lohnen, mein Lieber. Ich will nicht protzen, aber meine Erfolge bei den Damen können sich, rein statistisch gesehen, mit den Schlachten des alten Schwedenkönigs messen, bevor er bei Lützen draufging. Erfolg und Sieg bei nahe hundert Prozent. Aber wem erzähle ich das? Ich erzähle es einem aussichtlosen Fall von Biederkeit.«

Wo war das nur gewesen, als Bratspieß so gesprochen hatte? Bei welcher Gelegenheit? Ach, die Vergesslichkeit, so stöhnte Förster ganz still für sich. Bratspieß vernahm allenfalls ein tiefes Durchatmen bei seinem so gegensätzlichen Freund.

»Du hörst mir überhaupt nicht zu«, maulte Bratspieß.

»Doch, doch«, log Förster. Aber jetzt fand er zurück in die entsetzlich schaukelnde Kutsche auf der Fahrt nach Grevesmühlen: »Die Bothmers? Inwiefern die Bothmers?«

Bratspieß rieb sich die Hände. Es folgte einer seiner in der Rostocker Justizkanzlei gefürchteten Vorträge, die sich gern im Detail verloren und Stunde um Stunde währen konnten, um schließlich mit einer Pointe zu enden, welche der Richterschaft allerdings meistens zu überraschenden Erkenntnissen verhalf und deshalb lohnte. Auch diesmal dauerte es, ungefähr die Strecke von Satow bis Gägelow, also den Hauptteil der Fahrt. Bothmersche Familiengeschichte über ein Jahrhundert hinweg, der gute Pan ließ nichts aus.

Anfang des 18. Jahrhunderts hatte der berühmteste Vertreter der Familie Bothmer, ja ihr eigentlicher Ursprung und Urvater, ein Hans Kaspar Graf von Bothmer mit gekauftem Grafentitel, im Klützer Winkel gleich im Dutzend Güter für ungeheuer viel Geld erworben und mitten hinein in seinen Besitz an Ländereien einen neuen Familiensitz nach eigenen Plänen, sogar selbst gezeichnet, erbauen lassen. So etwas wie diesen Bau hatte in Mecklenburg zuvor noch niemand gesehen. Schloss Bothmer wurde der Palast allgemein genannt, auch wenn es, genau genommen, nicht das Haus eines regierenden Fürsten war, sondern nur ein Herrensitz, Mittelpunkt einer ausgedehnten Landwirtschaft. Wobei es am Schloss nirgendwo landwirtschaftliche Bauten gab. Sie erstreckten sich vielmehr auf den Gütern ringsum.

Graf Bothmer war kein Mecklenburger. Er war vielmehr im fernen London als Vertrauter der englischen Könige, erst Georg I., dann Georg II., zu enormem Reichtum und ebenso enormem politischen Einfluss gelangt. Er war der Leiter der Deutschen Kanzlei in London, die es gab, weil der englische König ein Hannoveraner war zu jener Zeit, der Zeit der Welfen auf dem englischen Thron. Und weil die Zeitumstände es mit sich gebracht hatten – an dieser etwas abseitigen Stelle gelangte Bratspieß so richtig in Fahrt –, dass ein mecklenburgischer Herzog in Reichsacht gefallen und Teile des Landes von hannoverischen Truppen besetzt waren, nutzte Bothmer seine Chance, fern von seinem Wohnort, 10 Downing Street in der britischen Hauptstadt, ein mecklenburgisches Imperium zusammenzukaufen. Seltsam genug, wie der vielbeschäftigte Graf immer noch die Zeit gefunden hatte, sich um seine mecklenburgischen Belange zu kümmern.

Um nun den für viele Millionen erworbenen Besitz, eine Art eigene Grafschaft, zu sichern, verfügte er testamentarisch zweierlei: Dass der Besitz nie geteilt oder verkauft werden darf, auch nicht einzelne Güter, und dass stets der älteste männliche Erbe der Familie sich um Bothmer zu kümmern hat, sprich: dort Wohnung nehmen muss. Rechtlich gesprochen, wie es der Jurist Bratspieß in der rollenden Gerichtslaube selbstverständlich tat, hieß das Fideikomiss und Majorat.

»Aber, Hans-Heinrich, das weiß ich doch alles«, versuchte Förster seinen Freund an dieser Stelle zu unterbrechen.

Aber Bratspieß hatte scharf geladen. Und außerdem kam er langsam zu dem, was seine Aufmerksamkeit so besonders erregt hatte.

Graf Hans Kaspar selbst hatte den neuen Familiensitz nicht nur nie bewohnt, er hatte ihn auch nie vollendet gesehen. Und er hatte eine Tochter, keinen Sohn. Deshalb war es ein Neffe, der als erster männlicher Erbe in das neue Haus einzog, auch der Hans Kaspar mit Namen. Der vierte Bewohner nun ein gutes Jahrhundert später hieß Christian Ludwig. Christian Ludwig war in Bothmer zwar aufgewachsen, interessierte sich aber nicht für den ausgedehnten Besitz und schon gar nicht für Landwirtschaft. Er zog lieber in die Welt und überließ den Klützer Winkel seiner Nichte.

Ungefähr dort war Bratspieß angelangt, als sie auf Höhe von Wismar fuhren. Die Kirchtürme der Stadt lagen in herrlichstem Sonnenlicht. Als würden sie die Vorüberfahrenden grüßen wollen. Förster sah es, solche Dinge ohnehin immer mit Aufmerksamkeit betrachtend. Bratspieß jedoch merkte gar nichts. Er redete weiter, egal was draußen am Fenster der Kutsche vorüberziehen mochte.

»Der Name dieser Nichte ist uns aus den Akten nun allerdings bestens vertraut, schon weil er so ungewöhnlich klingt.«

»Amalthea oder so ähnlich«, warf Förster ein. »Hieß so nicht die Ziege, die Zeus genährt hat?« Schon wieder Zeus!

»Dicht dran, aber knapp daneben. Unsere Ziege heißt Amalasuntha. Amalasuntha Gräfin zu Rantzau. Der gefällt es in Bothmer sehr. Und nun kommt es: Seit Jahren versucht sie, die vom alten Hans Kaspar in London festgelegte männliche Erbfolge in Zweifel zu ziehen, um bis an ihr Lebensende Landwirtschaft im Klützer Winkel betreiben zu können, und zwar als Eigentümerin, unabhängig von einem männlichen Bothmer. Nun, das Land ist fruchtbar, guter Boden, ausreichend Feuchtigkeit vom Meer her. Wird auch Speckwinkel genannt. Amalasuntha wird wissen, weshalb es sich da zu kämpfen lohnt.«

»Ich erinnere mich dunkel. Ich meine an Amalasuntha, an den Namen. Ich bewundere deine dynastischen Kenntnisse. Aber nun: Was hat diese Familiengeschichte mit unserem kleinen Pächter aus diesem Arpshagen zu tun und seinem Holländer?«

»Tja, mein Lieber, vieles, wenn nicht alles. Das gerade ist daran so heikel. Der verrückte Christian Ludwig ist irgendwo in der Ferne vor ein paar Monaten verstorben. Du verstehst?«

»Noch nicht«, antworte Förster und konnte sich eines Gähnens nicht enthalten. Die Nacht war nach Schaumwein und Beischlaf doch etwas kurz für ihn gewesen, einen Mann, der den ausführlichen Schlaf liebte, ja brauchte. Bin nicht mehr der Jüngste, dachte er. Aber das dachte er ohnehin mehrfach am Tag. Er dachte ja auch mehrfach am Tag an den Ruhestand. Dem Bratspieß’schen Vortrag war er nur hin und wieder gefolgt, im Grunde wusste er das alles doch genauso gut wie sein Kollege.

In Bratspieß indes loderten Feuer und Flamme: »Gesetzt den Fall, unser Pächter kann es sich leisten, sich von einem pfiffigen Advokaten verteidigen zu lassen, so könnte der auf die Idee kommen zu sagen: Der Pachtvertrag ist ungültig, weil Christian Ludwig tot ist und ein neuer bothmerscher Besitzer noch nicht feststeht. Amalalsuntha dürfte es nicht sein, vorerst jedenfalls nicht, bis die Sache mit der beklagten Erbfolge entschieden ist. Und das, mein Lieber, kann dauern. Jahre kann das dauern. Wer, wenn nicht wir, muss das wissen.«

Jetzt hatte Förster verstanden und pfiff, ungewöhnlich bei diesem Feingeist, ordinär durch die Zähne. Halb aus Schrecken, dass mit Bratspieß auch der Fall Arpshagen kompliziert zu werden drohte. Halb jedoch auch aus juristischem Interesse: Wenn es so war, wie von Pan erzählte, hing das Leben des beklagten Pächters, der übrigens Priester hieß, Friedrich Priester, davon ab, wie sich eine Frau in der Männerwelt durchsetzen könnte. Setzte sich Amalsuntha durch mit ihrer Klage gegen die männliche Erbfolge mehr als hundert Jahre nach Urahn Hans Kaspar und seinem Testament, war der Pächter tot, hingerichtet wegen Aufruhr. Wenn nicht, konnte der ganze Prozess scheitern und es gab gar keine Strafe, nicht einmal einen Prozess, weil kein Kläger da war, denn Gräfin Amalasuntha durfte dann nicht Klägerin sein.

»Wo kein Kläger, da kein Richter«, sagte Förster. »Interessant. Oder vielleicht verrückt.«

»So«, fuhr Bratspieß, schon ganz rot vor Erregung, fort, »das ist aber noch nicht alles, es gibt auch noch das Erbjungfrauenrecht.« Er machte eine wirkungsvolle Pause. »Jedenfalls bei uns in Mecklenburg, weil die Kerle alle im Suff sterben und die Weiber so verdammt zäh sind. Eine Tochter hat bei uns das Recht, das Gut fortzuführen, wenn der Vater stirbt, männliche Erbfolge hin, männliche Erbfolge her.«

»Amalasuntha ist nicht die Tochter.«