Bluttat - Thomas Enger - E-Book

Bluttat E-Book

Thomas Enger

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Beschreibung

An Blix' Händen klebt Blut. Doch wo beginnt Gerechtigkeit – und wo hört sie auf? Der dritte Roman der internationalen Bestseller-Reihe aus Norwegen!

Eine rätselhafte Mordserie beschäftigt die Ermittlerin Sofia Kovic. Sie zieht ihren Partner Alexander Blix ins Vertrauen – und nur ihn, denn sie fürchtet, die Osloer Polizei könnte eine Rolle in diesem blutigen Spiel einnehmen. Wenig später wird Kovic Opfer eines Mordanschlags und grausam hingerichtet. Hat sie mit ihren Nachforschungen in ein Wespennest gestochen? Vier Tage danach stehen Blix und die Kriminalreporterin Emma Ramm im Zentrum der Ermittlung, denn Alexander hat einen Mann erschossen, während Emma der blutigen Tat beiwohnte. Wie konnte es dazu kommen? Wem kann Blix vertrauen? Und hat er womöglich den Falschen getötet?

Alle Bücher der Platz-1-Bestsellerserie aus Norwegen:
Blutzahl
Blutnebel
Bluttat
Blutnacht
Blutstunde

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Buch

Eine rätselhafte Mordserie beschäftigt die Ermittlerin Sofia Kovic. Sie zieht ihren Partner Alexander Blix ins Vertrauen – und nur ihn, denn sie fürchtet, die Osloer Polizei könnte eine Rolle in diesem blutigen Spiel einnehmen. Wenig später wird Kovic Opfer eines Mordanschlags und grausam hingerichtet. Hat sie mit ihren Nachforschungen in ein Wespennest gestochen? Vier Tage danach stehen Blix und die Kriminalreporterin Emma Ramm im Zentrum der Ermittlung, denn Alexander hat einen Mann erschossen, während Emma der blutigen Tat beiwohnte. Wie konnte es dazu kommen? Wem kann Blix vertrauen? Und hat er womöglich den Falschen getötet?

Autoren

Thomas Enger, Jahrgang 1973, studierte Publizistik, Sport und Geschichte und arbeitete in einer Online-Redaktion. Nebenbei war er an verschiedenen Musical-Produktionen beteiligt. Sein Thrillerdebüt »Sterblich« war im deutschsprachigen Raum wie auch international ein sensationeller Erfolg, gefolgt von vier weiteren Fällen des Ermittlers Henning Juul. Er lebt zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern in Oslo.

Jørn Lier Horst, geboren 1970, arbeitete lange in leitender Stellung bei der norwegischen Kriminalpolizei, bevor er Schriftsteller wurde. 2004 erschien sein Debüt; seither belegt er mit seiner Reihe um Kommissar William Wisting regelmäßig Platz 1 der norwegischen Bestsellerliste. Für seine Werke erhielt er zahlreiche renommierte Preise, zuletzt 2019 den Petrona Award für den besten skandinavischen Spannungsroman.

Die beiden Bestsellerautoren belegen mit ihrer Thrillerreihe über die Ermittler Alexander Blix und Emma Ramm regelmäßig die Spitze der norwegischen Bestsellerliste.

Alle Bände der Blix- und Ramm-Serie

Blutzahl

Blutnebel

Bluttat

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Thomas Enger

Jørn Lier Horst

BLUT

TAT

Thriller

Deutsch von Maike Dörries und Günther Frauenlob

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Slagside« bei Capitana, Oslo.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

This translation has been published with the financial support of NORLA, Norwegian Literature Abroad.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © Jørn Lier Horst & Thomas Enger 2020

Published by agreement with Salomonsson Agency.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ricarda Essrich

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: mauritius images/Glasshouse/Acacia Johnson; www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25411-7V001

www.blanvalet.de

1

Im Verhörraum gab es keine Fenster, nur graue Wände, drei Stühle und einen Tisch in der Mitte. Die Luft war feucht, drückend.

Alexander Blix hatte unzählige Stunden in allen möglichen Verhörräumen zugebracht, war aber noch nie hier im Kriminalamt gewesen und definitiv nie auf dieser Seite des Tisches.

Er fasste sich an die Stirn. An den Verband. Die Stiche pochten.

Beim Gedanken an Iselin schoss ihm ein stechender Schmerz vom Bauch in die Brust. Sein kleines, süßes Mädchen. Ihr panischer Blick, der regungslose Körper. Alles war so schnell gegangen. Zum Denken war keine Zeit gewesen.

Die Tür vor ihm ging auf.

»Tut mir leid, dass du warten musstest«, sagte der Mann, der in den Raum trat. »Es geht hier gerade drunter und drüber.«

Bjarne Brogeland war sicher eins neunzig groß, trotz seiner fast fünfzig Jahre gut durchtrainiert und sehr bedacht auf sein Äußeres und sein Auftreten. Kurze, dunkle Haare. Frisch rasiert, soweit Blix es von seinem Platz aus beurteilen konnte. Der maskuline Duft des Mannes bereitete Blix fast Übelkeit.

Brogeland machte einen Schritt nach vorn, während die Tür hinter ihm langsam und automatisch ins Schloss fiel. In der einen Hand hielt er ein Glas Wasser, in der anderen einen Stapel Papiere und einen Stift. Er legte die Unterlagen auf dem Tisch ab und musterte Blix von oben bis unten, als wollte er sich einen Überblick über die Verletzungen verschaffen und wie sie zustande gekommen waren.

Blix war viele Jahre mit Brogeland in einer Abteilung gewesen, allerdings hatten sie nur selten direkt zusammengearbeitet, da sie nie so recht miteinander harmoniert hatten. Blix war deshalb froh gewesen, als Brogeland als Sonderermittler zum Kriminalamt gegangen war.

»Wie geht es deiner Tochter?«, erkundigte sich Brogeland.

Blix atmete tief ein. Die furchtbaren Bilder waren mit einem Mal wieder da. Er sah das Seil, den Sturz, ihren leblosen Körper auf dem dreckigen Betonboden. Das Blut und die verdrehten Gliedmaßen.

»Ich weiß es nicht«, sagte er schwer atmend und kämpfte gegen die Tränen an. »Sie wollten sich melden, sobald sie mit der Operation fertig sind. Aber – ihr habt ja mein Handy einkassiert …«

»Du weißt doch, wie das ist«, sagte Brogeland und schaute zu Boden.

»Ja.«

»Ich habe gesagt, dass sofort jemand rüberkommen soll, sobald sie etwas hören.«

»Wer sind sie?«, fragte Blix.

»Die Kollegen im Haus. Die uns zusehen und zuhören.«

Er verwies mit einem Nicken auf die Kamera in der oberen linken Raumecke. Blix folgte der Kopfbewegung.

»Werdet ihr auch Emma verhören?«, wollte er wissen.

»Das kann ich dir nicht beantworten«, antwortete er. »Du weißt …«

»Aus taktischen Gründen«, sagte Blix.

Brogeland zog die Mundwinkel hoch, ohne weiter darauf einzugehen.

»Bist du wirklich sicher, dass du keinen Anwalt willst?«

»Ja.«

»Und du fühlst dich in der Lage, das hier durchzuziehen? Jetzt, wo …«

»Lass es uns so schnell wie möglich hinter uns bringen«, sagte Blix. »Damit ich zurück zu Iselin fahren kann.«

Brogeland musterte ihn durch zusammengekniffene Augen, als bezweifelte er, dass Blix das Haus überhaupt wieder würde verlassen dürfen.

Blix hielt seinem Blick stand. Der Sonderermittler rutschte auf dem Stuhl vor, trank einen Schluck Wasser und kontrollierte, dass die Videokamera eingeschaltet war, ehe er die Uhrzeit zu Protokoll gab, wer vor ihm saß und worum es ging.

»Die Prozedur ist dir bekannt, Blix«, sagte Brogeland. »Das bleibt uns leider nicht erspart.«

»Kein Problem.«

»Gut. Alter?«

»Achtundvierzig Jahre.«

»Personenstand?«

»Geschieden. Ich lebe allein.«

»Adresse?«

»Tøyengata 13 in Oslo.«

»Beruf?«

»Polizeikommissar, Mordkommission, Polizeibezirk Oslo.«

»Wie lange bist du schon dort?«

»Acht Jahre.«

»Und wie lange insgesamt bei der Polizei?«

»Einundzwanzig Jahre und bald sieben Monate.«

Blix antwortete, den Blick starr auf einen Punkt am Boden gerichtet. Es war drückend heiß. Er schwitzte, wischte sich den Schweiß aber nicht ab.

»Timo Polmar«, fuhr Brogeland fort. »Wer ist das?«

»Das …« Blix verschränkte die Finger. »Das weiß ich nicht.«

»Das weißt du nicht?«

»Nein.«

»Aber das ist der Mann, auf den du geschossen und den du getötet hast.«

Blix schnitt eine Grimasse. Dieses Aftershave …

»Möglich«, sagte er. »Aber ich kann es nicht sicher sagen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich … Weil ich den Mann heute zum ersten Mal gesehen habe. Und ich habe seine Personalien nicht überprüft, nachdem ich …«

Brogeland legte die Stirn in Falten und machte sich eine Notiz auf dem oberen Blatt des Stapels vor sich.

»Du hast … vier Schüsse auf ihn abgegeben?«

»Das wird wohl stimmen.«

»Warum vier?«

»Weil …«

Blix atmete tief ein.

»Weil es nötig war, um ihn zu stoppen.«

Brogeland betrachtete ihn einige Sekunden.

»Ich habe getan, was ich für notwendig hielt«, vertiefte Blix seine Aussage. »In der aktuellen Situation waren die Schüsse berechtigt. Es waren vier berechtigte Schüsse.«

Brogeland ließ den Satz unkommentiert.

»Kannst du mir erklären, wie wir hier gelandet sind?«, sagte er schließlich. »Wie es dazu gekommen ist, dass du heute Abend auf einen Mann geschossen und ihn getötet hast?«

Blix streckte sich ein wenig und legte die Fingerspitzen aneinander, sodass sie ein Dreieck bildeten.

»Ich kann es versuchen.«

32 Stunden zuvor

2

»Was ich jetzt sage, hört sich möglicherweise banal an, aber das Allerwichtigste, was Sie als Angehörige oder Hinterbliebene tun können, ist, ganz genau nachzuspüren, wie Sie sich in diesem Moment fühlen. Wut und Trauer sind vollkommen legitime Reaktionen, wenn man erlebt hat, was Sie erlebt haben. Und genauso legitim ist es, sich zwischendurch zurückzuziehen und eine Weile nur an sich zu denken.«

Blix ließ den Blick über die Versammlung schweifen. Die Veranstalter hatten etwa sechzig Teilnehmer angekündigt, im Saal waren aber kaum mehr als vierzig Personen. Vierzig Schicksale. Jeder Einzelne, der ihm zuhörte, hatte eine Krise durchlebt, durch einen Unfall oder infolge einer strafbaren Handlung einen nahestehenden Menschen verloren.

Emma Ramm war eine von ihnen.

Sie saß in der ersten Reihe mit dem Journalistenblock auf dem Schoß und folgte aufmerksam dem Vortrag, wie schon der gesamten Veranstaltung. Nicht um sich seine Gemeinplätze anzuhören. Wenn jemand hatte lernen müssen, mit dem Verlust eines nahen Menschen klarzukommen, dann sie. Blix hatte ihr trotzdem eine Einladung geschickt, da sie gerade ein Fachbuch zu dem Thema schrieb. Vielleicht konnte die Veranstaltung ihr ja interessante Anstöße für das Projekt geben.

Das Handy in seiner Tasche vibrierte zum siebten oder achten Mal. Es schien wichtig zu sein. Er überlegte kurz nachzuschauen, entschied sich dann aber dagegen.

»Andererseits ist es natürlich verlockend, seine Gefühle wegzusperren«, fuhr er fort. »Aber Gefühle sind Fakten. Ihre Gefühle sind nicht falsch, nichts, was man unterdrücken und verstecken muss. Ebenso verlockend ist es aber, den empfundenen Gefühlen Nahrung zu geben. Durch Hass beispielsweise. Auch Hass ist legitim. Hass zu empfinden, das Bedürfnis oder den Wunsch zu haben, sich zu rächen, ist ganz natürlich.«

Das Handy verstummte. Er schaute auf die Stichwortliste vor sich, übersprang eine persönliche Anekdote und machte weiter.

»Der große Unterschied«, fuhr er fort, »ist aber, wie Sie mit diesen Gefühlen umgehen. Wenn Sie tatsächlich Rache üben, handelt es sich nicht mehr nur um Gefühle. Dann handeln Sie auf der Grundlage dieser Gefühle und verstoßen gegen das Gesetz. Und dann …«, er deutete ein Lächeln an, »… kommen solche wie ich, um Sie daran zu hindern.«

Vereinzelte verhaltene Lacher im Saal.

»Hoffentlich, bevor es zum Äußersten kommt«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Er wurde wieder ernst.

»Trauer hat viele Facetten. Und jeder Mensch trauert anders. Viele fühlen sich alleingelassen, wenn das Interesse der Medien nachlässt. Dann kommt die Leere, vielleicht auch die Verbitterung, weil Sie das Gefühl haben, dass sich niemand mehr für Ihr Schicksal interessiert. Weil die Leute nicht nachvollziehen können, wie verflucht schmerzhaft und schwer zu verkraften es für Sie ist und bleibt.«

Blix sprach das verflucht mit besonderem Nachdruck aus, er wusste, welche Wirkung das auf die Anwesenden hatte.

Eigentlich hielt er nicht gerne Vorträge, in den letzten Jahren waren aber immer häufiger Anfragen an ihn herangetragen worden. Jedenfalls war er froh, dass er sich dem Ende näherte. Dass bald Wochenende war. Blieb nur zu hoffen, dass die Anrufe keine Überstunden bedeuteten. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause, wenn die Veranstaltung vorbei war. Eine oder zwei Dosen Bier aufmachen und den Abend und das Wochenende kommen lassen.

Er näherte sich den abschließenden Sätzen und forderte die Zuhörer auf, miteinander ins Gespräch zu kommen.

»Das mag das größte Klischee von allen sein, aber in Ermangelung einer magischen Formel, wie Sie vorgehen und verarbeiten können, was jeder von Ihnen durchlebt hat, möchte ich auf etwas ganz Naheliegendes verweisen. Reden Sie miteinander, gerne auch außerhalb der Familie. Sprechen Sie miteinander über das Erlebte. Unterstützen Sie einander. Gemeinsam sind Sie stärker als allein. Gemeinsam können Sie den Schmerz und die schwere Zeit überstehen.«

Es vibrierte erneut in seiner Tasche. Zwei kurze, pulsierende Signale an seinem Oberschenkel. Eine Textnachricht.

Blix warf einen Blick auf die Uhr auf dem Pult. Er hatte noch ein paar Minuten der ihm zugeteilten Zeit, auch wenn er, streng genommen, alles gesagt hatte.

»Ich bedanke mich«, sagte er und sammelte seine Unterlagen ein.

Er blieb noch einen Moment stehen und nahm den höflichen Applaus entgegen, lächelte und nickte ein paarmal.

Die Veranstalterin kam mit einem Blumenstrauß in Herbstfarben auf das Podium. Sie betonte, wie sehr es sie freute, dass er die Zeit gefunden hatte zu kommen. Blix schüttelte ihre Hand, lächelte und nickte noch einmal, ehe er das Mikrofon abnahm und es dem Tontechniker übergab.

Er zog sich neben das Podium zurück und fischte das Handy heraus.

Neun unbeantwortete Anrufe.

Der Finger glitt über das Display. Kovic hatte zweimal angerufen. Fosse ebenfalls, vor wenigen Minuten. Aber seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die vier Anrufe von Iselin, die in rascher Folge eingegangen waren.

Er schloss die Anrufliste und öffnete die Mailbox. Fosse bat ihn um einen Rückruf, sobald er die Nachricht gelesen hätte. Blix spürte eine wachsende Unruhe. Er klickte die Nummer seines Chefs an und drückte das Handy ans Ohr.

»Hast du es schon gehört?«, fragte Fosse, der nach dem ersten Klingeln antwortete, als hätte er mit dem Handy in der Hand auf den Anruf gewartet.

»Was gehört?«, fragte Blix und lächelte einen Seminarteilnehmer an, ehe er einen Finger in das freie Ohr steckte, um das Hintergrundgeräusch aus dem Saal auszusperren.

»Wir sind mit großer Mannschaft zu Kovics Wohnung ausgerückt«, antwortete Fosse. »Offenbar ist jemand bei ihr eingebrochen. Es sind Schüsse gefallen. Wo steckst du?«

Blix antwortete nicht.

»Hast du mit Kovic gesprochen?«, fragte er stattdessen.

»Sie geht nicht ans Telefon.«

Sein Zwerchfell zog sich zusammen. Iselin hatte ein Zimmer bei Kovic und wohnte bei ihr, wenn sie an den Wochenenden in Oslo war. Sie hatte viermal versucht, ihn zu erreichen.

»Bist du noch dran?«, fragte Fosse.

»Ich ruf dich gleich zurück.«

Fosse setzte zum Protest an, aber Blix legte schnell auf, um Iselin anzurufen.

Sie ging nicht ran.

Blix fluchte innerlich und öffnete die eingegangenen Meldungen. Auch Iselin hatte eine Nachricht auf der Sprachbox hinterlassen.

Blix hörte zuerst die Sprachnachricht von Fosse ab, eine exakte Kopie dessen, was er eben gesagt hatte, bis auf den Zusatz:

»Eine junge Frau hat, ohne ihren Namen zu nennen, die 112 angerufen. Iselin wohnt doch bei Kovic, oder? Das muss natürlich nicht sie gewesen sein, versteh mich nicht falsch, aber melde dich doch bitte bei mir! So schnell wie möglich!«

Blix sprang zur nächsten Nachricht. Hörte ein Rascheln und hektisches Atmen, schnelle Schritte auf dem Asphalt.

Dann:

»Papa!«

Blix hatte seine Tochter schon ängstlich gesehen und gehört, aber diese Panik in ihrer Stimme hatte er noch nie erlebt. Sie lief und versuchte, dabei zu reden.

»Ich glaube … er hat sie erschossen!«, keuchte sie.

Stärkeres Rauschen, abgehackter Atem. Ein Wagen in der Nähe. Das Geräusch eines Zweiges oder Gestrüpps, durch das sie lief.

»Ich hab Angst … dass er … mich verfolgt. Papa, du musst …«

Der Anruf brach ab.

»Verdammt«, murmelte Blix und schaute nach, wann sie angerufen hatte. Vor einundzwanzig Minuten.

Er tippte erneut ihre Nummer. Eine Frau aus dem Zuschauerraum suchte Augenkontakt zu ihm. Blix drehte sich weg, während er auf Antwort wartete. Er packte seine Notizen mit einer Hand in die Tasche und schloss sie, während er es weiterklingeln ließ.

Emma stand ein paar Meter vor ihm und musterte ihn. Was ist passiert?, formte sie mit den Lippen. Blix reagierte nicht und ließ es weiterklingeln.

Dann, endlich eine Antwort am anderen Ende.

»Papa.«

Iselin flüsterte. Ihre Stimme zitterte, und sie atmete ganz flach.

»Iselin«, sagte Blix. »Wo bist du? Was ist los?«

»Ich … verstecke mich«, antwortete sie.

»Iselin, hör mir zu. Wo bist du?«

»Ich …«

Sie klang völlig durcheinander und konnte offenbar nicht klar denken, darum wiederholte er seine Frage.

»St. Hanshaugen«, kam es schließlich von ihr. »Auf dem Hügel.«

»Wirst du verfolgt?«

Wieder musste er die Frage zweimal stellen.

»Ich weiß es nicht.«

Sie weinte, verzweifelt.

»Kovic, sie …«

Sie brachte den Satz nicht zu Ende.

»Hast du die 112 angerufen?«

Es vergingen ein paar Sekunden, ehe sie bejahte.

»Ich hab dich nicht erreicht.«

Es hörte sich wie ein Vorwurf an, und so empfand er es auch.

»Hast du denen gesagt, wo du bist?«

Sie schluchzte.

»Ich … kann mich nicht erinnern.«

»Ruf sie noch einmal an und sag ihnen, dass sie dich holen sollen. Sag ihnen genau, wo du bist, dann schicken sie einen Streifenwagen.«

»Kannst du nicht kommen?«

»Ich bin zwanzig Minuten entfernt«, antwortete er, wissend, dass es vermutlich mehr war. »Die Streife ist schneller bei dir.«

Iselin sagte nichts.

»Bei dir alles in Ordnung?«, wollte Blix wissen. »Bist du verletzt?«

»Er hat nicht getroffen.«

»Nicht getroffen? Was heißt das …?«

»Er hat auf mich geschossen, Papa!«

Iselin sprach abgehackt, als würde sie frieren. Sie schluchzte wieder.

Blix fuhr sich mit der Hand über den Kopf.

»Okay, bleib, wo du bist und ruf die 112 an«, sagte er. »Sofort. Und danach rufst du mich wieder an. Ich komme, so schnell ich kann.«

3

Brogeland hob das Kinn, und Blix schob die Schultern nach hinten. »Zu dem Zeitpunkt wusstest du noch nicht, was in Kovics Wohnung vorgefallen war?«

»Nein, ich wusste nur, dass etwas vorgefallen war. Ich hab versucht, sie anzurufen – also Kovic –, nachdem ich mit Iselin gesprochen hatte, aber ihr Handy war ausgeschaltet. Oder – jedenfalls hat sie nicht geantwortet.«

»Du …«

Brogeland blätterte den Papierstapel vor sich durch.

»Du hast um … 16.42 Uhr angerufen?«

»Wenn das so in den Unterlagen steht«, sagte Blix mit einem Nicken auf den Papierstapel. »Ich hab nicht so genau auf die Uhrzeit geachtet.«

»War Emma Ramm da schon bei dir?«

»Nein, ich habe die Veranstaltung allein verlassen.«

»Du hast nicht mit ihr gesprochen, bevor du aufgebrochen bist?«

Blix zögerte kurz, ehe er den Kopf schüttelte.

»Ich hab ihr nur mitgeteilt, dass ich es eilig hätte.«

»Du hast nicht gesagt, dass etwas passiert ist?«

»Nein, aber ich denke, das war ihr schon klar.«

Brogeland kritzelte eine rasche Notiz aufs Papier. Blix erwartete weitere Fragen zu seiner Beziehung zu Emma. Er fragte sich, wie viel Brogeland wusste.

»Okay«, sagte der Sonderermittler. »Du hast also das Seminar verlassen und bist zurück nach Oslo gefahren. Und dann?«

Die anderen Autofahrer wichen vor dem Blaulicht auf dem Autodach brav an die Straßenränder aus. Blix justierte das Headset, um besser zu hören. Er hatte Iselin am Ohr, seit er ins Auto gestiegen war, aber die Kommunikation verlief eher einseitig.

Er versuchte, aus ihr herauszubekommen, was eigentlich passiert war, aber Iselins Antworten waren unkonzentriert und einsilbig.

In Höhe der Ausfahrt nach Smestad fragte Blix, ob die Streife schon zu sehen war, die sie holen sollte.

»Sie kommen.«

»Kannst du sie sehen?«

Keine Antwort.

»Geh ihnen entgegen«, sagte er.

In der Zwischenzeit hatte er versucht, sie zu beruhigen, dass der Mann, der auf sie geschossen hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Flucht war und sie nicht zum St. Hanshaugen verfolgt hatte. Er war nur nicht sicher, ob er zu Iselin durchdrang.

»Konzentrier dich auf den Polizeiwagen«, sagte er und schob sich an einem Taxi vorbei. »Gib dich zu erkennen.«

Immer noch keine Antwort.

»Iselin«, sagte er streng. »Gib dich zu erkennen. Wink ihnen zu. Lass sie wissen, dass du diejenige bist, die sie abholen sollen.«

Iselin holte tief Luft, als wollte sie sich Mut machen.

Er hörte Stimmen im Hintergrund, die er nicht wiedererkannte, dachte aber, dass die meisten Kollegen aus dem Präsidium Iselin kannten, da sie ihn schon mehrmals dort abgeholt hatte.

Der Anruf wurde unterbrochen.

Blix starrte auf das Display. War Iselins Panik etwa doch berechtigt gewesen? Er wollte sie gerade wieder anrufen, als eine Textnachricht von einer unbekannten Nummer kam.

Ihre Tochter ist in Sicherheit. Eriksen.

Blix hatte keine Ahnung, wer Eriksen war, aber das spielte auch keine Rolle. Das Wichtigste war, dass Iselin in Sicherheit war und er sich wieder etwas entspannen konnte.

Er fuhr in Majorstua ab, dankbar, dass sein Blaulicht die Straße wie ein Schneepflug freiräumte. Kurz darauf war er im Geitmyrsveien, wo Kovic seit elf Monaten wohnte. Blix war schon einige Male bei ihr gewesen, das erste Mal bei der Einweihungsparty. Er hatte sich zwischen all ihren Freunden und Bekannten und den vorwiegend jüngeren Kollegen alt gefühlt und sich wie auf fast allen Festen früh verabschiedet. Kovic war deswegen etwas enttäuscht gewesen.

Als er die zahllosen Blaulichter vor sich sah, versetzte es ihm einen Stich in der Brust. Er sah Uniformen auf der Straße, Schaulustige, die vor der Absperrung zusammengeströmt waren, filmten und Fotos machten und besorgte Blicke tauschten.

Ein Rettungswagen bog auf die Fahrbahn ab und fuhr davon. Blix übernahm den frei gewordenen Platz und war aus dem Wagen gesprungen, ehe dieser ganz stand. Über ihm ratterten die Rotorblätter des Polizeihelikopters.

Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn dem Beamten vor die Nase, der die Absperrung bewachte, duckte sich unter dem Band hindurch und lief zur offenen Haustür.

Im Treppenhaus hallten seine Schritte von den Wänden wider, als er, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hochrannte. Vor dem Eingang zu Kovics Wohnung stand ein weiterer Beamter, der aber sofort Platz machte, als er Blix kommen sah. Er drückte ihm ein Paar blaue Plastiküberzieher für seine Schuhe in die Hand.

Blix blieb auf der Türschwelle stehen und holte tief Luft. Versuchte, sich innerlich zu wappnen. Er hatte schon so viele Tatorte gesehen, auch von Menschen, die er kannte oder von denen er zumindest wusste, wer sie waren. Aber das hier war etwas anderes.

Er zog die Schuhhüllen an und trat in die Wohnung. Erst einen Schritt, dann den nächsten. Den Blick verkrampft auf den Boden gerichtet.

Er schloss die Augen. Atmete tief ein. Machte sie wieder auf. Und wie eine Kamera, die einen Film in Zeitlupe aufnahm, hob er den Blick langsam in Richtung Wohnzimmer.

Er blinzelte mehrmals, weil das Bild nicht recht scharf werden wollte. Trotzdem sah er hinter und zwischen den uniformierten Kollegen auf dem Boden einen auf dem Rücken liegenden Körper, einen Arm zur Seite, den anderen über den Kopf gestreckt, als würde sie sich zu Wort melden.

Links an der Stirn war ein Einschussloch und unter ihr eine Blutlache. Ihre Augen waren offen. Blix musste schlucken, einmal, noch einmal.

»Mein Gott«, murmelte er leise.

Sofia Kovic war hingerichtet worden.

4

»Wie war deine Beziehung zu Sofia Kovic?«

Blix sah Brogeland an.

»Wie meinst du das?«

»Wie ich es sage – wie war deine Beziehung zu Sofia Kovic?«

Blix starrte ihn einige Sekunden stumm an.

»Ich war ihr Vorgesetzter und Mentor«, sagte er etwas harscher als beabsichtigt. »Von ihrem ersten Tag an. Wir haben zusammengearbeitet.«

»Mehr nicht?«

»Was willst du damit andeuten?«

Brogeland wartete ungerührt darauf, dass Blix antwortete.

»Unterstellst du mir ein Verhältnis mit ihr?«

»Ich unterstelle gar nichts, ich frage nur.«

»Wir waren Kollegen«, sagte Blix. »Ich könnte ihr Vater sein.«

»Das muss nichts heißen.«

»Nein, für dich heißt das wahrscheinlich nichts.«

Brogeland lächelte flüchtig.

»Deine Fingerabdrücke waren überall in ihrer Wohnung.«

»Meine Tochter hat bei ihr gewohnt«, antwortete Blix. »Ich bin ein paarmal dort gewesen. Und das mit dem überall bezweifle ich, da ich beispielsweise niemals in Kovics Schlafzimmer war.«

»Ganz sicher?«

»Ja, niemals«, sagte Blix. »So war unsere Beziehung nicht.«

Trotzdem verunsicherte ihn Brogelands Frage. Als säße die Kripo auf Informationen, die das Gegenteil andeuteten. Er dachte scharf nach. Hatte er sich doch einmal in Kovics Schlafzimmer verirrt, vielleicht bei der Einweihungsparty, als Kovic den Gästen die Wohnung gezeigt hatte? Aber nein, er hatte damals in den Raum gesehen, diesen aber nicht betreten.

Er richtete sich auf dem Stuhl auf.

»Behauptet irgendjemand etwas anderes?«, wollte er wissen.

Brogeland blieb ihm die Antwort schuldig.

»Wann warst du das letzte Mal in der Wohnung?«

Blix dachte nach.

»Vor ein paar Wochen, glaube ich.«

»Und trotzdem sind dort noch immer deine Fingerabdrücke zu finden?«

»Ich habe keine Ahnung, wie gründlich die beiden putzen«, sagte Blix fassungslos. »Glaubst du ernsthaft, ich hätte sie umgebracht? Willst du darauf hinaus? Suchst du nach einem Motiv, dass ich sie umgebracht habe?« Bevor Brogeland antworten konnte, schob Blix hinterher: »Ich war bei einem Seminar in Sandvika, als sie ermordet wurde, falls dir das entfallen sein sollte. Mit vierzig Zuhörern. Und glaubst du wirklich, ich würde anschließend auch noch versuchen, meine Tochter zu töten?«

»Besuchst du häufiger Kollegen zu Hause?«, fragte Brogeland unbeirrt.

»Bei dir war ich jedenfalls noch nie, Brogeland, aber du warst ja auch schon immer ein Kotzbrocken.«

Es wurde still im Raum. In Blix brodelte es. Sie verschwendeten hier doch nur ihre Zeit, und er zog es auch noch in die Länge, weil er auf Brogelands Provokationen reagierte.

Er trank einen Schluck Wasser aus dem Glas, das vor ihm stand. Wischte sich über die Stirn.

»Tut mir leid«, sagte er. »Das war unnötig.«

»Schon okay«, sagte Brogeland. »Ich weiß, dass ich ein Kotzbrocken bin.«

Er lächelte entwaffnend. Das rechnete Blix ihm an.

»Brauchst du eine Pause?«

Blix schüttelte den Kopf und nahm sich vor, so kooperativ wie möglich weiterzumachen, damit sie schneller hier rauskamen.

»Um die Frage zu beantworten: Nein, ich gehöre eher nicht zu denen, die ihre Kollegen auch privat besuchen. Aber Kovic war ein Sonderfall, das will ich gar nicht bestreiten. Das Verhältnis zwischen uns war gut, aber es gab keine Sekunde irgendeinen amourösen Moment zwischen uns, nur kollegiales Interesse und Respekt, wie es sein soll.«

»In welcher Hinsicht war Kovic ein Sonderfall?«

»Sie …«

Blix suchte nach den richtigen Worten.

»Das ist schwer zu erklären«, sagte er. »Sie hatte eine schnelle Auffassungsgabe und hat ihre Arbeit mit echtem Engagement gemacht. Immer bereit, wirklich jeden Stein umzudrehen, bis sie auf etwas stieß. Sie war mit Abstand die Jüngste in der Abteilung und hat bei uns in die Jahre Gekommenen eine mitreißende Energie verbreitet. Alle mochten sie.«

Er schüttelte den Kopf und stieß einen Seufzer aus.

»Ich komme mir vor, als würde ich gerade eine Empfehlung für sie aussprechen.«

Brogeland notierte etwas auf seinem Block. Blix konnte nicht sehen, was.

»Es waren auch Fingerabdrücke von Emma Ramm in Kovics Wohnung«, fuhr er fort.

»Emma und Kovic haben sich im Laufe des letzten Jahres angefreundet«, erklärte Blix. »Sie haben unter anderem zusammen trainiert. Waren mit dem Rad unterwegs. Jedenfalls ab und zu. Emma kannte – kennt – ebenfalls meine Tochter.«

Er stockte. Dachte an Iselin. Ihren leblosen Körper. Die geschlossenen Augen. Er setzte sein ganzes Vertrauen darauf, dass die Chirurgen wussten, was sie taten.

Brogeland musterte ihn ein paar Sekunden.

»Was hast du gemacht, nachdem du Kovics Wohnung betreten hast?«

Blix dachte nach.

»Ich bin hoch in Iselins Zimmer gegangen.«

5

Blix zog sich Latexhandschuhe an und ging die Treppe hoch. Er zögerte, als befürchtete er, dort oben jemanden zu wecken. Die Tür zu Iselins Dachzimmer war angelehnt. Er drückte sie mit dem Ellenbogen auf und blieb auf der Türschwelle stehen.

Auf dem Boden lag ein grau-weißer, weicher Teppich. Er zählte fünf Lehrbücher, die darauf verteilt lagen, die Titel kannte er noch von früher. Das Bett war – wie immer bei Iselin – ungemacht. Blix hatte es selbst hier hochgetragen und zusammengebaut.

Ein Handyladegerät steckte in der Steckdose. Das Kabel endete neben einem Roman mit dem Titel »Verleumdet«.

Blix trat ein und ging zum Fenster.

Im Fensterbrett steckte ein Projektil. Er ging zurück zur Tür und rief nach unten, damit ein Kriminaltechniker den Fund sicherte.

Jemand war in die Wohnung eingedrungen, hatte Kovic erschossen und war dann nach oben gegangen, um auch Iselin zu töten.

Weil er sie gehört hatte?

Oder wusste er, dass sie zu Hause war?

Blix hielt nach Spuren des Täters Ausschau. Im gleichen Augenblick kam ein Kriminaltechniker nach oben. Blix kannte ihn vom Sehen, den Namen wusste er aber nicht. Der dichte braune Bart des großen, dünnen Mannes war mit einer Art Haargummi zusammengefasst.

Blix zeigte ihm, was er gefunden hatte, und sah dann aus dem Fenster. Draußen stand das Gerüst, über das Iselin hatte fliehen können. Die Fassade wurde gerade renoviert.

Das Polizeiaufgebot unten auf der Straße wurde immer größer. Überall blinkten Blaulichter. Durch die Stangen des Gerüsts sah er Tine Abelvik, Nicolai Wibe und Petter Valk aus seiner eigenen Abteilung. Ein Streifenwagen hielt neben ihnen. Abelvik ging hinüber und sprach mit dem Fahrer.

»Sie sollten besser den Raum verlassen«, sagte der Kriminaltechniker hinter ihm. »Wir müssen das ganze Zimmer durchsuchen, da der Täter ja auch hier oben war.«

»Natürlich«, sagte Blix.

Auf dem Weg nach unten überlegte er, was er über Kovics Privatleben wusste. Nicht viel, dachte er. Kovic hatte nie erzählt, was sie außerhalb des Jobs machte. Er wusste nur, dass sie diese Woche Überstunden abfeiern wollte. Er war mehrmals kurz davor gewesen, sie anzurufen, hatte es dann aber nicht getan. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er selbst das letzte Mal frei gehabt hatte, ohne von irgendjemandem von der Arbeit angerufen worden zu sein. Geschweige denn eine ganze Woche. Es war der größte Nachteil dieser Arbeit, dass man nie wirklich frei hatte. Und genau deshalb hatte er Kovic in Ruhe gelassen.

An der Küchentür stieß er auf Abelvik und Valk. In Abelviks Gesicht spiegelte sich Verzweiflung wider. Auch Blix kamen die Tränen, als er die Kollegin an sich zog und ihr über den zuckenden Rücken strich.

»Es ist einfach nur schrecklich«, sagte er. »Unfassbar.«

Abelvik löste sich von ihm und wischte sich die Tränen weg.

»Iselin sitzt unten im Auto«, sagte sie schniefend. »Sie fahren sie in die Notaufnahme, bevor sie ihre Aussage macht.«

Blix machte einen Schritt in Richtung Wohnungstür.

»Wie geht es ihr?«

»Sie hat eine Verletzung im Gesicht und einen Schnitt am Fuß, der genäht werden muss. Vermutlich vom Gerüst. Sie ist barfuß nach unten geklettert. Wahrscheinlich muss sie auch geröntgt werden, weil sie sich möglicherweise eine Rippe gebrochen hat.«

»Gebrochen?«

»Sie hat mit dem Täter gekämpft, bevor sie fliehen konnte.«

Blix schluckte betroffen.

»Was für einen Eindruck hat sie auf dich gemacht?«

Abelvik zögerte.

»Sie wird vermutlich Hilfe brauchen, um das Erlebte zu verarbeiten«, antwortete sie. »Um all die Gedanken zu sortieren, die kommen werden.«

»Ich nehme Kontakt zu Neumann auf«, sagte Blix. »Er war früher schon für uns da. Auch außerhalb der Sprechstunde. Vielleicht hat er gleich morgen Zeit für sie.«

»Das wäre sicher gut.«

Blix ging Richtung Treppenhaus.

»Ich gehe zu ihr«, sagte er. »Übernimmst du hier? Die Kriminaltechniker sind schon bei der Arbeit, aber wir müssen noch die Nachbarn befragen.«

Abelvik nickte.

Petter Valk trat zur Seite, um Blix vorbeizulassen.

»Wir machen das«, sagte er mit einem Blick in die Wohnung. »Kümmere dich um deine Tochter. Und sag Bescheid, wenn wir etwas tun können.«

Blix nickte dankbar.

Als er nach unten kam, fuhr der Streifenwagen mit Iselin gerade los. Journalisten und Schaulustige wichen vor dem Blaulicht zurück. Blix lief dem Wagen ein paar Meter hinterher, gab dann aber auf und lief zu seinem eigenen Wagen.

Über ihm hing noch immer der Polizeihubschrauber in der Luft. Ein weiterer Streifenwagen traf ein. Auf den vorderen Sitzen saßen zwei junge Beamte. Gard Fosse stieg aus. An seiner Polizeimütze prangten Eichenlaub und goldene Stickereien. Einige der umstehenden Fotografen schossen Fotos.

Er sah zu Blix und fragte nach dem Status.

Blix biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf.

»Sie ist tot«, sagte er schließlich. »Kopfschuss aus nächster Nähe.«

Fosse musste sich erst einmal sammeln, ehe er fragte: »Und der Täter?«

»Von dem fehlt vorläufig jede Spur«, sagte Blix und erzählte, wie Iselin hatte fliehen können. »Sie wird gerade in die Notaufnahme gebracht. Ich bin auf dem Weg dorthin.«

Er öffnete die Autotür.

»Abelvik und Valk sind oben«, sagte er mit einer Kopfbewegung.

Fosse nickte ihm kurz zu und drehte sich um. Ein Beamter hob das Absperrband an und ließ ihn durch.

Blix setzte sich hinters Lenkrad, legte die Hände darauf und atmete ein paarmal tief ein, ehe er den Motor anließ. Er fuhr mit einer Hand und entsperrte mit der anderen sein Handy. Dann wählte er Emmas Nummer.

»Blix?«, meldete sie sich. »Was ist eigentlich los?«

Er brauchte ein paar Sekunden, ehe er antworten konnte.

»Ich …«

Eine Sirene startete im Hintergrund.

»Bist du am St. Hanshaugen?«, fragte sie. »Ich habe eine Nachricht bekommen, dass da irgendwas passiert ist.«

»Ja«, antwortete er und räusperte sich. »Und … was ich dir sagen muss … ist wirklich schrecklich … Kovic ist tot.«

»Was?!«

»Kovic ist tot«, wiederholte Blix. »Sie ist aus nächster Nähe erschossen worden. Es ist gerade erst passiert. Vor weniger als einer Stunde.«

»Aber …«

»Ich weiß, dass ihr in der letzten Zeit viel zusammen unternommen habt«, sagte Blix. »Ich wollte dir das persönlich sagen, bevor du es von jemand anderem erfährst.«

Emma hatte es die Sprache verschlagen.

»Danke«, flüsterte sie schließlich. »Wer … Konntet ihr jemanden festnehmen?«

»Vorläufig nicht. Iselin war auch in der Wohnung, als es passiert ist. Sie konnte entkommen.«

»Mein Gott«, sagte Emma. »Das ist ja …«

Blix musste an einer roten Ampel anhalten. Er legte das Handy ans andere Ohr.

»Wann hast du zuletzt mit Kovic gesprochen?«, fragte er.

»Ich … Gestern Abend«, sagte Emma. »Wir haben eine lange Radtour gemacht. Bis Tusenfryd und zurück.«

»Was hat sie für einen Eindruck auf dich gemacht?«

»Hm … ganz normal.«

»Ihr Verhalten hat nicht irgendwie darauf hingedeutet, dass sie … Probleme haben könnte?«

»Davon hab ich nichts bemerkt, nein«, sagte Emma. »Wir haben rumgealbert und gelacht wie immer. Aber … wenn ich genau darüber nachdenke … vielleicht war sie ein bisschen abwesend.«

»Abwesend?«

»Ja, als wäre sie in Gedanken ganz woanders. Nicht die ganze Zeit, aber hin und wieder.«

Die Ampel vor ihm schaltete auf Grün, und er gab Gas.

»Du hast nicht gefragt, was sie beschäftigt?«

»Nein, ich dachte, dass sie es mir schon sagen würde, wenn es wichtig ist.«

»Hat sie das sonst gemacht?«, wollte Blix wissen. »Dir Sachen anvertraut?«

»Das kam schon vor, ja«, sagte Emma. »Ich glaube, ich war die Erste, die erfahren hat, dass sie mit diesem Klempner Schluss gemacht hat.«

Blix runzelte die Stirn.

»Klempner?«

»Ja, sie war eine ganze Weile mit einem Klempner zusammen. Jo Inge Fjellvik. Sie haben sich vor kurzem getrennt.«

Blix machte sich gedanklich eine Notiz, schnellstmöglich mit diesem Mann Kontakt aufzunehmen.

»Wie geht es Iselin?«, wollte Emma wissen.

»Sie ist gerade auf dem Weg ins Krankenhaus«, sagte er.

»Sag Bescheid, wenn ich irgendwas tun kann«, sagte Emma. »Ich kann helfen, bei ihr sein.«

»Danke für das Angebot«, sagte Blix. »Aber heute Abend passe ich wohl selbst auf sie auf.«

»Und morgen? Du musst doch bestimmt arbeiten?«

»So weit habe ich noch gar nicht gedacht«, antwortete er seufzend. »Aber jetzt muss ich auflegen. Behalte das erstmal für dich. Wir haben Kovics Mutter noch nicht informiert.«

»Okay«, sagte Emma. »Verdammt … das sind echt … schreckliche Neuigkeiten.«

»Ja«, sagte Blix und seufzte.

Und das war noch untertrieben.

Sie legten auf. Blix schaltete den Polizeifunk ein. Die Einsatzzentrale hatte dem Fall einen eigenen Kanal zugewiesen. Er schaltete sich mitten in einer Meldung über einen Einbruch am Tag zuvor zu. Eine weitere Meldung betraf einen Mann mit Kapuzenpulli, Jeans und Militärstiefeln. Es gab Augenzeugen, und der Leiter der Hundestaffel berichtete von dem Fund eines Handschuhs bei der Ila-Schule. Die Fahnder hätten schließlich einen alten Bekannten am Alexander Kiellands plass festgenommen. Es war schwer zu sagen, was von diesen Geschehnissen relevant war und was nur aufgrund des massiven Einsatzes hochkochte.

Blix nahm den Funkempfänger mit in die Notaufnahme, ging an den Empfang und wurde in den abgeschirmten Warteraum verwiesen, der für Opfer von Gewalttaten und andere Patienten mit Verbindung zu Straftaten reserviert war.

Iselin saß auf einem Stuhl neben einem Ecktisch mit alten Magazinen. Jemand hatte ihr eine Decke um die Schultern gelegt. Darunter trug sie nur einen weißen BH und eine Pyjamahose.

Sie sah schlimmer aus, als er es sich vorgestellt hatte.

Die Lippe war aufgesprungen und das Kinn voller Dreck und angetrocknetem Blut. Schürfwunden zogen sich über ihr Gesicht. Ein Auge war zugeschwollen. Ein Schnitt im Oberarm war verpflastert, und ein paar kleinere Wunden hatten zu bluten aufgehört. Die Füße waren nackt und schmutzig. Der rechte steckte in einer provisorischen, durchgebluteten Bandage.

Sie schien ihn nicht zu bemerken, als er den Raum betrat. Ihr leerer Blick klebte am Boden.

Blix setzte sich neben sie und legte seine Hand über ihre. Erst als sie die Wärme spürte, hob sie den Kopf und sah ihn an.

»Mein Mädchen«, sagte Blix leise und musste wieder gegen die Tränen ankämpfen.

Iselin sagte nichts. Blix hob die Hand und strich ihr eine Strähne aus der Stirn.

Iselin war blass, die Augen gerötet. Er zog sie an sich.

»Ist sie tot?«, flüsterte sie.

Blix wartete eine Sekunde, ehe er antwortete.

»Ja.«

Er hatte damit gerechnet, dass Iselin zusammenbrechen würde, aber sie sagte nichts, warf sich nicht verzweifelt in seine Arme. Sie schien in Gedanken an einem ganz anderen Ort zu sein.

Die Beamtin an der Tür räusperte sich leise.

»Wir warten auf den Arzt«, sagte sie. »Und ein Kriminaltechniker ist unterwegs, um die Verletzungen zu dokumentieren und Spuren zu sichern.«

Blix sah sie an und nickte, er ging davon aus, dass sie wusste, wer er war. Dann wandte er sich wieder seiner Tochter zu.

»Iselin«, begann er. »Wir müssen wissen, was du gesehen hast. Ob du den Täter beschreiben kannst.«

Er versuchte, ihren Blick einzufangen. Noch immer kein Kontakt.

»Hast du heute früh mit Kovic gesprochen?«

Iselin antwortete nicht. Leerer Blick, trockene Lippen.

Eine Tür ging auf, und eine Krankenschwester kam herein.

»Iselin Skaar?«

Iselin antwortete nicht.

»Wir können jetzt zum Röntgen und MRT«, sagte die Frau. »Schaffen Sie das?«

Blix erhob sich langsam vom Stuhl.

Iselin schlug die Decke enger um sich und stand auf.

»Ich kann einen Rollstuhl holen«, bot die Schwester an.

Iselin schüttelte den Kopf und ging auf sie zu. Blix folgte ihr in einen weiteren Warteraum. Eine zweite Schwester kam dazu, und gemeinsam brachten sie Iselin zur Untersuchung.

»Soll ich mitkommen?«, fragte Blix.

Iselin schüttelte den Kopf.

»Sie können hier warten«, sagte die Schwester. »Vorne im Flur ist ein Kaffeeautomat.«

Blix setzte sich auf einen Stuhl. Er hatte keine Lust auf Kaffee. Das Funkgerät knackte. Mehrere Streifenwagen hatten vor einem Haus Stellung bezogen. Sie warteten auf das Einsatzkommando. Der Rest der Nachricht ging in Rauschen unter.

»Ich rechne damit, dass das hier ein paar Stunden dauert«, sagte die Polizistin. »Anschließend sollen wir sie zur Befragung ins Präsidium bringen.«

Das Telefon klingelte. Es war Abelvik.

»Wir haben einen Verdächtigen«, sagte sie.

»Wen?«

»Martin Hikes, dreiunddreißig Jahre alt. Beschaffungskriminalität. Er hat sich in einer Wohnung im Iladalen verschanzt. Wir evakuieren die anderen Bewohner. Das Einsatzkommando macht sich gerade bereit.«

Blix stand auf und warf noch einmal einen Blick auf die Tür, hinter der Iselin verschwunden war.

»Ich komme«, sagte er.

6

»Du hast Iselin also in der Notaufnahme zurückgelassen?«

Blix ärgerte sich über Brogelands träge Verhörmethode. Die Fragen waren rhetorisch, die Wiederholungen pure Schikane. Es schien Brogeland Freude zu machen, Dinge zu betonen, die Blix anders hätte machen sollen. Das war einfach vergeudete Zeit.

»Ja«, antwortete er nur kurz, ohne auf die Überlegungen einzugehen, die er sich gemacht hatte.

»Dieser Hikes …«, fuhr Brogeland fort. »Wieso wurde er verdächtigt?«

»Da kamen verschiedene Dinge zusammen«, antwortete Blix und streckte die Beine unter dem Tisch aus. »In der letzten Zeit ist häufiger in eingerüstete Häuser eingebrochen worden. Die Täter kletterten über das Gerüst hoch und stiegen dann durch offene Fenster ein. Martin Hikes war ein passender Kandidat, er ist bekannt für Beschaffungskriminalität und wurde bereits wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Außerdem wohnt er in der Gegend und ist vor dem Mord auf der Straße gesehen worden. Vielleicht handelt es sich um einen Einbruch, der schiefgelaufen ist.«

»Und du warst dabei, als das Einsatzkommando seine Wohnung gestürmt hat?«

Blix nickte in Richtung des Aktenstapels, der vor Brogeland auf dem Tisch lag.

»Ich nehme an, dass das alles in deinen Berichten steht.«

Es war dunkel geworden. Der Scheinwerfer unter dem Polizeihelikopter wies den Weg. Blaulicht flackerte über die Fassade des alten Ziegelbaus. Nachbarn hatten neugierig die Fenster geöffnet und verfolgten das Geschehen.

Blix fuhr bis zur Absperrung vor und ging zu dem Hauseingang, vor dem Petter Valk mit zwei uniformierten Beamten stand.

»Wir kriegen keinen Kontakt zu ihm«, erklärte Valk. »Er reagiert weder auf unser Klingeln noch auf unsere Anrufe.«

»Ist er auch sicher in der Wohnung?«

»Der Nachbar hat ihn vor etwa einer Stunde hineingehen sehen.«

Blix ging alles im Kopf durch. Eine Stunde. Das konnte stimmen.

Zwei schwarze Lieferwagen rollten auf das Haus zu und blieben halb auf dem Bürgersteig stehen. Sechs Männer des Einsatzkommandos stiegen aus. Schwarze Overalls, Helme, Schilde und Waffen. Einer von ihnen trug einen Rammbock über der Schulter. Nach ein paar kurzen Kommandos verschwanden sie im Gebäude.

Die Wohnung von Martin Hikes lag im zweiten Stock. Blix und Valk warteten auf dem Treppenabsatz darunter.

Einer der Polizisten hämmerte mit der Faust gegen die Tür.

»Polizei!«, rief er. »Öffnen Sie, sonst brechen wir die Tür auf.«

Sie gaben der Person zehn Sekunden Zeit. Der Mann mit dem Rammbock machte sich bereit, schwang ihn mit beiden Händen zurück und dann gegen die Tür. Holz splitterte. Die Tür wurde eingeschlagen und blieb an den Angeln hängen. Das gesamte Kommando stürmte mit gezückten Waffen in die Wohnung.

Blix blieb stehen. Die Kommandorufe verrieten, was vor sich ging:

»Polizei! Keine Bewegung!«

Danach:

»Legen Sie sich hin! Die Arme zur Seite.«

Es vergingen ein paar Sekunden, dann kam die Nachricht über Funk.

»Ein Mann festgenommen. Wohnung gesichert.«

Blix ging die letzten Stufen hoch und betrat gemeinsam mit Valk die Wohnung. Sie stiegen über Computerteile, die auf dem Flur lagen, und gingen ins Wohnzimmer. Einige der Kommandobeamten hatten ihre Helme abgenommen.

Martin Hikes lag auf dem Boden, die Arme mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Er trug eine dreckige Jeans und einen schwarzen Kapuzenpulli. Dann wurde er hochgezogen und auf einen Sessel gesetzt. Die Haare hingen ihm ins Gesicht, und eine dicke Brille thronte schief auf seiner Nase. Er wirkte apathisch.

»Was soll das?«, stammelte er.

»Schießerei im Geitmyrsveien«, bekam er als Antwort.

»Schießerei?« Martin Hikes schüttelte den Kopf. »Das war ich nicht. Ich mag keine Waffen.«

Der Leiter des Einsatzkommandos richtete sich an Blix.

»Wollen Sie hier mit ihm reden, oder sollen wir ihn ins Präsidium bringen?«

»Nehmen Sie ihn mit«, sagte Valk und wandte sich an Blix. »Ich kümmere mich darum.«

Zwei Männer zogen Hikes auf die Beine und führten ihn aus der Wohnung. Blix blieb stehen und sah dem mageren Mann nach. Etwas sagte ihm, dass sie einer falschen Fährte folgten und das Attentat auf Kovic nichts mit einem schiefgelaufenen Einbruch zu tun hatte.

7

»Martin Hikes hatte nichts damit zu tun?«, fragte Brogeland, während er sich mit dem oberen Ende des Kugelschreibers an der Stirn kratzte.

»Er durfte einige Zeit später wieder gehen«, erwiderte Blix mit einem Nicken.

»Wie ist das vor sich gegangen?«

»Seine Wohnung wurde durchsucht. Man hat Diebesgut gefunden, aber keine Waffe. Alle seine Schuhe wurden registriert, aber keiner davon stimmte mit den Abdrücken in Kovics Wohnung überein. Außerdem waren weder an seinen Händen noch an seinen Kleidern Schmauchspuren zu finden. Und Blutspuren gab es auch keine. Ganz davon abgesehen, war er einfach nicht der Typ für eine solche Tat. Er ist kein Mörder.«

»Ganz anders Timo Polmar?«, fragte Brogeland.

»Das weiß ich nicht.«

Brogeland zog die Stirn in Falten.

»Du weißt es nicht?«

»Nein, ich weiß nicht, ob er Kovic getötet hat. Aber das habe ich schon gesagt. Es deutet vieles darauf hin, sicher bin ich mir aber nicht. Irgendwas stimmt da nicht.«

»Was stimmt nicht?«

»Das Motiv. Was sollte er für ein Motiv haben?«, antwortete Blix. »Wir sind die Fälle durchgegangen, an denen Kovic gearbeitet hat, und haben Listen von möglichen Tätern erstellt, aber sein Name taucht nirgends auf. Es gibt keine Verbindung zwischen Polmar und Kovic. Ich hatte seinen Namen bis vor ein paar Stunden noch nie gehört und bezweifle, dass Kovic jemals Kontakt zu ihm hatte.«

Blix legte die Hände vor sich auf den Tisch und dachte an die kurze Begegnung mit Polmar, bevor die Schüsse fielen. Der flackernde, verwirrte Blick. Aber da war auch noch etwas anderes, das nicht in das Bild passte, das er sich von Kovics Mörder gemacht hatte. Blix konnte es nur noch nicht in Worte fassen.

Seine Gedanken kehrten zu Iselin zurück.

Was, wenn sie nicht überlebte?

Kalter Schweiß lief ihm vom Nacken über den Rücken.

Brogeland fuhr mit seiner Befragung fort.

»Nach Hikes’ Festnahme – was hast du da gemacht? Bist du zurück zu Iselin in die Notaufnahme gefahren?«

Blix schüttelte den Kopf.

»Ich bin ins Präsidium gefahren«, antwortete er. »Gard Fosse hatte eine Sitzung einberufen.«

Der Sitzungsraum, in dem alle größeren Besprechungen des Dezernats für Gewaltverbrechen abgehalten wurden, war voller, als Blix ihn jemals gesehen hatte. Nicht einmal nach der Bombe am Rathauskai, als ganz Norwegen einen neuen Terroranschlag gefürchtet hatte, hatten die Menschen in zwei Reihen entlang der Wand gestanden.

Sie hatten schon früher Kollegen verloren, aber nicht auf diese Weise. Nicht durch eine regelrechte Hinrichtung. Das wirkte nach. Um sich herum sah er die Gesichter von Kollegen, die eigentlich Urlaub oder frei hatten. Niemand würde sich beschweren, weil er Überstunden machen musste und in den nächsten Tagen wenig Schlaf bekam. Allen kam es nur darauf an, den Täter schnell zur Strecke zu bringen.

Einige hatten die Arme vor der Brust verschränkt, andere starrten leer vor sich hin, in den Händen eine Kaffeetasse.

Es war kurz nach halb acht. Kovic war seit knapp drei Stunden tot.

»Also«, sagte Gard Fosse und versuchte, eine ruhige Stimme zu behalten. Zum ersten Mal spürte Blix, dass ihr Vorgesetzter ihnen nichts vorspielte. »Es sind …«

Fosse hielt inne. Räusperte sich.

»Es sind Tage wie dieser, an denen …«

Wieder musste er eine Pause machen, bevor er weiterreden konnte.

»… alles so sinnlos scheint. An denen das Universum aus dem Gleichgewicht gerät und sich ein tiefer Abgrund unter uns auftut.«