Blutnacht - Thomas Enger - E-Book
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Blutnacht E-Book

Thomas Enger

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Beschreibung

Das dunkelste Kapitel eines Polizisten beginnt dort, wo er nicht hingehört: in einer Gefängniszelle ... Der 4. Fall für Blix & Ramm!

Alexander Blix, Kriminalhauptkommissar, sitzt in Haft. Eingesperrt mit Dieben, Vergewaltigern und Mördern, die er selbst hinter Gitter gebracht hat, erlebt Blix das dunkelste Kapitel seiner Karriere als Polizist. Doch dann erfährt er, dass außerhalb der Gefängnismauern Lebensgefahr für einen Mithäftling besteht: Ein Killer wartet darauf, dass der Insasse in vier Tagen in die Freiheit entlassen wird – um diesen dann zu ermorden. Nun muss Blix Polizeiarbeit hinter Gittern leisten, ein hochgefährliches Unterfangen, bei dem ihn nur seine Co-Ermittlerin Emma Ramm unterstützen kann ...

Alle Bücher der Platz-1-Bestsellerserie aus Norwegen:
Blutzahl
Blutnebel
Bluttat
Blutnacht
Blutstunde

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Thomas Enger

Jørn Lier Horst

BLUTNACHT

Thriller

Deutsch von Maike Dörries und Günther Frauenlob

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Arr« bei Capitana, Oslo.

This translation has been published with the financial support of NORLA, Norwegian Literature Abroad.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2022 Jørn Lier Horst & Thomas Enger

Published by agreement with Salomonsson Agency.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ricarda Essrich

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: mauritius images (Gavin Haskell/Alamy/Alamy Stock Photos; Andrey Armyagov/Alamy/Alamy Stock Photos); www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29568-4V001

www.blanvalet.de

PROLOG

Walter Kroos sah auf die Uhr.

01.14 Uhr.

Es war still im Haus.

Seine Mutter war schon vor einiger Zeit ins Bett gegangen, seinen Vater hatte er aber noch nicht aus der Tischlerwerkstatt zurückkommen hören. Also war er da draußen wieder eingeschlafen.

Das war die Chance, auf die Walter gewartet hatte.

Jetzt konnte er es tun.

Der Hass steckte schon so lange in ihm.

Nachdem sie aus Norwegen zurückgekehrt waren, hatte er sich als Stimmen in seinem Kopf eingenistet, die immer lauter wurden.

Jetzt schrien sie.

Walter schob sich aus dem Bett und stellte die Füße auf den kalten Boden. Mit raschen Schritten ging er in die Küche und öffnete die Messerschublade, nahm das schärfste Messer heraus.

Es lag schwer in seiner Hand.

Mit einem Mal fühlte sich alles fremd an. Hände, Beine, Herz. Als wäre er in eine andere Körperhülle geschlüpft.

Walter zog keine Jacke an, obwohl draußen Schnee lag. Er schlüpfte in ein Paar ausgetretene Joggingschuhe. Die Gummisohlen knirschten auf dem weißen Untergrund, als er zur Werkstatt ging. Der Atem bildete einen Nebel vor seinem Mund. Die Stimmen trieben ihn weiter.

Die Tür zum Schuppen klemmte wie immer. Walter fürchtete, der Lärm könne den Vater wecken, aber der saß reglos in seinem Sessel, das Kinn auf der Brust, und schlief. Wie immer roch es in der engen Werkstatt nach Sägespänen und Alkohol. Aber jetzt war da auch noch ein anderer Geruch, den Walter nicht zuordnen konnte.

Er zog die Tür hinter sich nur leicht an. Blieb einen Augenblick drinnen stehen und musterte die grauen Haare seines Vaters, den dicken Bauch. Die schmuddeligen Kleider, die weiß verstaubten Schuhe. Die jämmerliche Ausgabe eines Menschen. Eigentlich tust du ihm einen Gefallen, dachte Walter. Oder wäre das ein Grund, es nicht zu tun?

Auf dem Tisch neben dem Vater lagen ein Bogen feines Schmirgelpapier und ein fast fertiges Buttermesser. Daneben stand ein kleines Fläschchen Waffenöl.

Daher kam der Geruch.

Es kam vor, dass der Vater seine Dienstwaffen mit in den Schuppen nahm, sie putzte und ölte. Das Gewehr stand gleich hinter ihm. Die Pistole lag auf der Werkbank. Walter umklammerte das Messer noch fester.

Eine Schusswunde konnte man sich auch selbst zufügen. Selbstmord war ein erbärmlicher Abgang. Sein Vater verdiente es, gedemütigt zu werden, er, der sein ganzes Leben ein Mann gewesen war, ein Soldat, stolz und stark.

Walter ging an ihm vorbei, blieb aber stehen, als eine Bodendiele knarrte. Sein Vater schnaufte kurz. Er bewegte die Lippen, die Augen blieben aber geschlossen.

Walter wartete lange, bis er weiterging. Er legte das Messer auf die Werkbank. Nahm stattdessen die Pistole. Wog sie in der Hand.

Vor ein paar Jahren hatte er gefragt, ob er sie mal ausprobieren dürfe. Sein Vater hatte verächtlich geschnaubt und ihn ausgelacht. »Du erschießt dich nur selbst«, hatte er gesagt.

Walter drehte sich zu seinem Vater, richtete die Pistole auf ihn und legte den Zeigefinger um den Abzug.

Er zielte auf den Kopf. Kniff ein Auge zusammen.

Die Hand begann zu zittern.

Walter drückte etwas fester mit dem Finger, der Abzug rührte sich aber nicht. Er studierte die Waffe genauer und sah, dass er sie erst entsichern musste. Er hatte keine Ahnung, ob die Pistole geladen war, auf dem Tisch lag aber eine offene Schachtel Patronen.

Hatte der Teufel tatsächlich darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen?, dachte Walter, trat einen Schritt näher und hielt die Pistolenmündung dicht an den Kopf seines Vaters. Der Bart war schwarz und grau, die Haut schlaff und faltig.

Walter biss die Zähne zusammen, versuchte, seinen Herzschlag und das Zittern seiner Hände zu kontrollieren. Er legte den Finger fester um den Abzug, bis er eine leichte Bewegung spürte. Sein ganzer Körper zitterte, die Hände ebenso, während die Wut immer lauter schrie.

Im nächsten Augenblick öffnete der Vater die Augen.

Er brauchte eine Pause. Hatte nie zuvor jemandem davon erzählt.

»Und dann …?«

Die Stimme am anderen Ende klang ungeduldig.

»Und dann … knallte es.«

»Du hast ihn wirklich erschossen?«

Walter hob den Kopf. Draußen auf dem Flur schlug eine Zellentür.

»Ja«, antwortete er.

»Wow«, sagte sie.

Walter fand den Kommentar irgendwie seltsam, sagte aber nichts.

»Und wie hat sich das angefühlt?«

»Tja … damals«, sagte Walter und dachte noch einmal nach. »Ein bisschen … seltsam. Ich meine, unmittelbar vor dem Schuss, da … ich fühlte mich …«

Er fand nicht die richtigen Worte.

»Mächtig?«, vollendete sie.

Walter dachte nach. Mächtig stimmte vielleicht sogar.

»Was ist danach passiert?«

Walter holte tief Luft.

»Er rutschte vom Sessel und sackte auf dem Boden zusammen. Die Augen waren noch immer offen, als wäre er noch am Leben. Es war … Ich konnte nicht glauben, dass ich es getan hatte. Und der Knall … der war verflucht laut. In dem engen Schuppen … Es pfiff in meinen Ohren.«

Er musste wieder eine Pause machen.

»Und? Hat es geholfen?«, fragte sie.

»Was?«

»Ihn zu töten? War es anschließend besser?«

Walter überlegte, was er antworten sollte.

»Nein, es wurde nicht still im Kopf. Aber die Stimmen sind weg, jedenfalls meistens. Jetzt ist es eher … eine Art Lärm.«

»Du hast nicht versucht, der Polizei weiszumachen, er hätte sich selbst umgebracht?«

»Nein, mir war alles egal. Meinetwegen sollten sie einfach kommen und mich holen. Ich wollte, dass die Leute erfuhren, was für ein Arsch Kurt Kroos war. Ich habe nicht erzählt, was er dir angetan hat … dachte, das wäre nicht nötig, aber …«

»Wie meinst du das?«

»Hm?«

»Mir angetan? Was meinst du damit?«

Walter schluckte

»In diesem Sommer«, sagte er. »Als du …«

Er brachte den Satz nicht zu Ende.

Es dauerte eine Weile, bis sie etwas sagte.

»Walter, es war nicht dein Vater, der …«

Sie hielt inne.

»Was?«

Als sie weiterredete, stieg eine Übelkeit aus der Tiefe seines Magens auf. Ein Knoten bildete sich in der Brust.

»Mein Gott!«, kam es aus dem Hörer. »Hast du etwa geglaubt … Hast du deinen Vater deshalb umgebracht?«

Walter antwortete nicht.

Legte einfach auf.

1

Blix legte den Kopf in die Hände und hörte die Tür des Besucherraums ins Schloss fallen.

Vorbei, wieder einmal.

Die Schritte entfernten sich über den Flur. Er wartete, bis es still wurde, dann stand er auf, trat ans Fenster und legte die Stirn an das Plexiglas. Die Fenster gingen zum Hinterhof, in dem ein neu gepflanzter Baum mit dünnem Stamm stand. Grau und fast ohne Blätter. Er fragte sich, wie hoch dieser Baum in zwölf Jahren sein würde.

Irgendwo in dem großen Gebäude rief ein Mann etwas in einer fremden Sprache, wiederholte es mehrmals. Dann wurde es still.

Ein Vogel setzte sich draußen auf einen der kahlen Zweige des Baums. Er neigte den Kopf zur Seite und hüpfte auf einen anderen Zweig. Auf dem Flur waren wieder Schritte zu hören. Das Klirren von Schlüsseln.

Blix drehte sich um und trat in die Mitte des Raums. Die Tür ging auf. Es war Kathrin, eine der Jungen, Unsicheren. Sie betrat den Raum, sah sich um, um sicherzugehen, dass alles so war, wie es sein sollte, und gab Blix das Zeichen zu gehen.

Er ging vor ihr durch den unterirdischen Gang, der die Abteilung mit dem Rest des Gefängnisses verband. Die Füße schlurften über das abgetretene Linoleum. An jeder Tür, die sie passierten, musste er einen Schritt zur Seite treten und darauf warten, dass sie geöffnet wurde. Insgesamt waren es fünf Türen.

Die anderen Gefangenen hoben die Köpfe, als Blix hereinkam. Einer von ihnen schnaubte, es klang wie das Grunzen eines Schweins. Die anderen lachten und konzentrierten sich wieder auf ihr Kartenspiel.

»Gehen Sie jetzt nicht direkt in die Zelle zurück«, sagte Kathrin. »Tun Sie, was Ihnen der Kommissar empfohlen hat. Begeben Sie sich wenigstens eine halbe Stunde in Gesellschaft.«

Blix antwortete nicht.

Jakobsen war allem Anschein nach bei der Arbeit. Er brachte immer die Aftenposten mit und legte sie aus, damit die Häftlinge sie lesen konnten. Blix interessierte sich schon lange nicht mehr für die Nachrichten, aber das Zeitunglesen war das Einzige im Gefängnisalltag, was ihn an das Leben draußen erinnerte.

Die Zeitung lag auf dem Tisch beim Fernseher. Blix versuchte, keinen der anderen zu stören. Der Mann, der bei seinem Kommen geschnaubt hatte, beobachtete ihn. Er formte eine Pistole mit den Fingern und imitierte das Geräusch von Schüssen. Vier in kurzer Folge. Das Lachen der anderen übertönte den Fernseher. Blix blieb stehen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Der Nachrichtensprecher berichtete, dass die deutsche Polizei auf der Suche nach einem entflohenen Häftling war, der wegen Mordes an seinem Vater eingesessen und jetzt auch seine Mutter getötet hatte. Blix tat so, als verfolge er die Nachrichten, und blieb stehen, bis die Meldung zu Ende war. Danach beugte er sich über die Zeitung.

Stuhlbeine kratzten über den Boden. Der Mann am Nachbartisch rückte schnell zu ihm herüber, packte sein Handgelenk und hielt es fest.

Es wurde still im Raum, nur der Nachrichtensprecher war zu hören.

Blix senkte den Blick. Auf der Titelseite stand etwas von einer Einbruchserie in Oslo. Die Täter sollten Jugendliche sein. Der Griff um sein Handgelenk wurde fester.

»Ich habe dich nicht fragen gehört«, kam es.

Jarl Inge Ree hatte sich selbst an die Spitze der Hierarchie gestellt und beherrschte den Alltag innerhalb der Mauern. Er presste die Worte zwischen seinen Lippen hervor, leise genug, damit keiner der Wachleute ihn hörte.

Blix hob den Kopf und sah in Rees schwarze Augen. Jan Inge Ree war ihm physisch überlegen, saß aber auf einem Stuhl und hatte sich nach vorn gebeugt, um ihn festzuhalten. Blix stand vor ihm und hatte eigentlich die besseren Karten. Er könnte sich losreißen oder den Arm des Mannes packen, ihn hochziehen, zu Boden stoßen und seine Arme auf den Rücken drehen, das Knie im Nacken. Sein Herzschlag beschleunigte sich schon bei dem Gedanken.

Die Konsequenzen, der Ausschluss von allen gemeinsamen Aktivitäten oder die Isolation, spielten für ihn keine Rolle. Blix ballte die Faust, ließ sie aber gleich wieder sinken.

»Tut mir leid«, sagte er gerade so laut, dass alle am Spieltisch es hören konnten.

Jarl Inge Ree lockerte den Griff.

Die Kreditzinsen stiegen langsam, las Blix. Eigentlich spielte das alles keine Rolle. Er ließ die Zeitung liegen und ging zu seiner Zelle.

2

Die späte Nachmittagssonne schien zwischen den schmutzigen Häusern auf die Gruppe Menschen, die am Holbergs plass auf die Straßenbahn warteten.

Emma Ramm trat auf der Stelle, nicht sicher, ob ihre Beine sie tragen und ihre Lunge funktionieren würde. Gestern hatte sie es fast bis hinauf nach Blindern geschafft, aber da hatte sie noch nichts gegessen und war auch nicht gerade aus einem Gefängnis gekommen.

Blix war dünn geworden. Blass. Sein Haar war lichter. Auf ihre Frage nach dem Leben hinter den Mauern und wie es war, als ehemaliger Polizist unter Schwerstkriminellen zu leben, hatte er ausweichend geantwortet. Sie hatte ihm lediglich entlocken können, dass ein gewisser Jarl Inge Ree ihm besondere Aufmerksamkeit schenkte. Sie kannte ihn inzwischen aber gut genug, um zu wissen, dass er Sorgen wälzte, die er nicht teilen wollte und an denen seiner Meinung nach auch sie nichts ändern konnte.

Der Besuch steckte ihr in den Knochen. Sein tieftrauriges Gesicht und diese bedrückende Stille. Sie konnte nur ahnen, wie es für Blix war, der auch noch den Verlust seiner Tochter verarbeiten musste – neben der Tatsache, dass er den Mann, der ihr das Leben genommen hatte, getötet hatte.

Emma spürte ein Stechen in der Brust.

Sie war nicht schuldlos an dem Geschehenen, auch wenn Blix sie immer wieder vom Gegenteil zu überzeugen versuchte. Emma fühlte, dass sie ihm etwas schuldete … aber was? Sie wünschte sich, etwas tun zu können, damit sein Leben ein bisschen besser wurde. Ein bisschen einfacher.

Emma nahm die Kopfhörer ab. Durch den Verkehrslärm hörte sie das Rumpeln der sich aus dem Zentrum nähernden, hellblauen Straßenbahn. Sie setzte die Kopfhörer wieder auf, zog den Reißverschluss am Hals etwas weiter zu und atmete ein paarmal tief durch. Sie zupfte an ihrer Lauftight herum und versicherte sich, dass das Handy fest am Oberarm saß. Die Straßenbahn hielt an. Menschen stiegen aus, andere ein.

Emma schaltete die Musik ein.

All Shall Fall. Immortals bestes Album, noch ein bisschen besser als Sons of Northern Darkness. Fürs Training gab es nichts Besseres als norwegischen Black Metal. Die Straßenbahn fuhr los, als das Intro vorbei war. Langsam setzte der hellblaue Koloss sich in Bewegung.

Das Gleiche tat Emma.

Sie hängte sich direkt dahinter, in der Mitte der Straße, und hielt die Geschwindigkeit der Straßenbahn, bis diese zu schnell und der Abstand immer größer wurde. Sie sollte am Anfang nicht so hart anziehen, denn es war ja gar nicht weit bis zum Dalsbergstien, wo die Straßenbahn für mindestens zwanzig Sekunden halten würde. Sie konzentrierte sich auf den richtigen Laufstil auf dem Vorderfuß, für einen minimalen Kontakt mit dem Boden. Die Straßenbahn musste hinter ein paar Autos bremsen. Es war leicht, Schritt zu halten, als sie ruhig über den Kreisverkehr vor dem Stadion Bislett fuhr.

Wissen ist Macht, dachte sie. Vielleicht konnte sie etwas über diesen Ree herausfinden? Etwas, das Blix nützen könnte.

Die Thereses gate war lang und stieg an. Die Straßenbahn setzte sich Meter um Meter von ihr ab, obwohl sie jetzt ihr schnellstes Tempo rannte. Kurz vor der nächsten Kreuzung holte sie wieder etwas auf und konnte an der Stensgate sieben oder acht Sekunden ausruhen, ehe es weiter in Richtung Adamstuen ging. Es war unmöglich, dieses Tempo über eine längere Strecke durchzuhalten. Die Milchsäure verhärtete die Muskulatur. Emma zog die Schultern hoch, um dem Sauerstoff mehr Platz in ihrer Lunge zu geben.

Auch der Verkehr meinte es nicht gut mit ihr; an der Kreuzung am Ullevålsveien musste sie anhalten und einige Autos vorbeilassen. Trotzdem schaffte sie es, die Straßenbahn einzuholen, bevor diese weiter in Richtung Ullevål-Krankenhaus fuhr, sie spürte aber bereits, dass es kein neuer Rekord werden würde. Sie hatte nicht dasselbe Feuer im Körper wie am Tag zuvor.

Am John Colletts plass blieb sie stehen und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Sie keuchte, während der Blechkasten weiterrumpelte. Fast neun Minuten, las sie auf ihrer Sportuhr ab. Nicht gut genug. Sie drehte sich um und joggte ruhig nach Hause.

Statt gleich zu duschen, setzte sie sich an ihren Computer und suchte nach Jarl Inge Ree. Sie fand ein Bild von ihm in einer Lokalzeitung anlässlich seines dreißigsten Geburtstages. Ein blonder Mann mit eng stehenden Augen.

Sie las, dass er aus Osen kam, einem kleinen Ort mitten im Niemandsland, der angeblich ein beliebtes Ziel für Campingtouristen war, Einheimische und Ausländer. Blix hatte gesagt, dass er wegen Mordversuches einsaß, nachdem er den Kopf eines anderen mit einem Baseballschläger bearbeitet hatte. In einem Artikel zu dem Fall stand, dass er bereits dreimal wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden sei, darunter ein Angriff auf einen Polizisten, der ihn vor einem Straßencafé in Grünerløkka hatte festnehmen wollen. Überdies saß er wegen Drogenhandels ein.

Emma sah sich das Geburtstagsfoto noch einmal genauer an. Neben dem Bild stand ein kurzer Gruß von Mutter, Vater, Boffa und dem Rest des Rudels. Fast als wollten seine Nächsten nicht mit vollem Namen genannt werden.

In seinem Blick lag etwas, das ihr nicht gefiel. Als hätte er mit dem Fotografen noch eine Rechnung offen, oder mit der ganzen Welt.

Sie stand auf und zog die nassen Trainingsklamotten aus. Ehe sie die Dusche andrehte, nahm sie die Perücke ab und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel.

Sie musste mehr über Ree herausfinden. Es musste da noch etwas anderes geben.

3

Die Zahlen des Weckers in dem Regal sprangen auf 07.14 Uhr, und Blix zählte die Sekunden. Schloss die Augen und zwang sich, mindestens noch eine Minute liegen zu bleiben.

Jemand näherte sich über den Flur und blieb vor seiner Tür stehen.

Er schaute wieder auf die Uhr.

Immer noch 07.14 Uhr.

Der Schlüssel schob sich ins Schloss und wurde energisch herumgedreht, ehe die Tür sich öffnete.

Grelles Licht fiel herein.

Nyberget stellte sich in die Türöffnung. Zerknittertes Uniformhemd, dreckige Schuhe.

»Urinprobe«, sagte er.

Das war die dritte Kontrolle in kurzer Zeit. Blix schnappte sich das T-Shirt von der Stuhllehne und streifte es über, zog seine Hose an, schob die Füße in die Plastiksandalen und trat raus auf den Flur.

Es waren noch zwei andere Insassen aus der Abteilung ausgewählt worden. Der große Pole, den alle nur Grubber nannten, schlurfte aus seiner Zelle und blinzelte in die Deckenbeleuchtung. Weiter hinten im Gang wartete ein Beamter vor Zelle 6. Ree tauchte in der Tür auf. Seine Haare standen wild vom Kopf ab. Er straffte die Schnur seiner Jogginghose, sah erst zu Grubber, dann zu Blix.

Nyberget führte sie durch den unterirdischen Gang. Blix ging in der Mitte, Ree schlurfte hinter ihm her.

Der Pole wurde als Erster hereingerufen. Blix schaute zu der Überwachungskamera vor dem Untersuchungszimmer. Ree lehnte mit dem Rücken an der Wand.

»Lange her, dass hier unten Ratten waren«, sagte er.

Blix antwortete nicht, ihm war aber klar, worauf Ree mit der Bemerkung anspielte. Er war sich sicher, dass Blix den Beamten einen Tipp über den Drogenkonsum in der Abteilung gegeben hatte und nur mit zur Kontrolle gekommen war, um nicht verdächtigt zu werden. Eine Form umgedrehter Psychologie, die die Insassen natürlich längst durchschaut hatten.

Grubber kam wieder raus. Blix wurde als Nächster reingerufen.

Er nahm einen Probenbecher aus der Schachtel auf dem Tisch und ging hinter den Duschvorhang vor das Urinal. Er füllte den Becher und setzte den Deckel drauf, ohne zu kleckern, den Rest ließ er ins Porzellanbecken rieseln. Er gab den Becher ab, Nyberget schrieb Blix’ Namen und seine Nummer darauf und verabschiedete sich mit einem Nicken von ihm.

Als sie zurückkamen, war auch der Rest der Abteilung zum Leben erwacht. Achtzehn Männer auf dem Weg zum Frühstück. Blix ging in die Küche und reihte sich ein, um sich eine Schale zu nehmen und sie mit Müsli und Milch zu füllen.

Sein Platz war am schmalen Ende eines langen Tisches, den Rücken zum Raum. Es war ihm unangenehm, nicht zu wissen, was hinter ihm vor sich ging. Im Laufe seiner Polizeikarriere hatte er sich angewöhnt, immer mit dem Rücken zur Wand zu sitzen, um im Blick zu haben, wer kam und ging. Hier hatte er keine Wahl. Das hieß, versuchen könnte er es, es wäre aber nicht sehr clever.

Blix setzte sich. Um ihn herum wurden leise Unterhaltungen in verschiedenen Sprachen geführt.

Ihm gegenüber saß normalerweise ein untersetzter Niederländer. Blix nahm an, dass er wie die meisten Niederländer wegen eines Drogendelikts verurteilt worden war.

Jarl Inge Ree schob sich vor den Niederländer und setzte sich auf seinen Platz. Der Stapel Brotscheiben schwankte, als er den vollen Teller vor sich abstellte.

Die Unterhaltung am Tisch verstummte. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf sie.

Blix schob sich einen Löffel Müsli in den Mund und kaute ruhig. Mit jedem Bissen presste er die Kiefer aufeinander und versuchte, sich innerlich zu wappnen.

Jarl Inge Ree grinste breit. Er lehnte sich zurück und schob die rechte Hand in die Hosentasche.

»Ich hab was für dich«, sagte er.

Blix schluckte das Müsli.

Ree fischte einen Urinbecher heraus, drehte den Verschluss ab und streckte sich über den Tisch. Wartete, bis er sich der Aufmerksamkeit aller sicher war, und kippte den stinkenden Becherinhalt auf Blix’ Teller.

Gelächter um sie herum. Applaus und Pfiffe.

Blix’ erster Impuls war, aufzustehen und den Teller im Abfalleimer zu entleeren, in die Spülmaschine zu stellen und in seine Zelle zu gehen. Aber er war schon zu oft provoziert worden, ohne zu reagieren.

Er rührte mit dem Löffel die gelbe Sauce unter das Müsli, ehe er einen Happen in den Mund schob.

Das Gelächter verstummte.

Blix kaute. Der Salzgeschmack war markant.

Er starrte Ree in die Augen und schob langsam den Stuhl zurück. Als er sich erhob, beugte er sich vor und spuckte Ree den Inhalt seines Mundes ins Gesicht.

Ree reagierte unmittelbar und sprang wie eine gespannte Feder über den Tisch. Teller, Gläser und Besteck flogen in alle Richtungen. Blix nutzte die Dynamik des Angriffes, sprang zur Seite, umfasste Rees Handgelenk mit der einen Hand und packte ihn mit der anderen an der Schulter. Er zog ihn weiter in Angriffsrichtung vom Tisch auf den Boden, drehte ihm den Arm auf den Rücken und setzte sich rittlings auf ihn, als wollte er ihm Handschellen anlegen.

In diesem Augenblick traf ihn ein Tritt am Rücken, der ihn auf einen umgekippten Stuhl fallen ließ. Ree rappelte sich auf und folgte ihm, zielte mit den Fäusten auf Blix’ Gesicht. Dann bekam er ein Stuhlbein zu fassen und drückte es gegen Blix’ Hals.

Ree keuchte. Seine Lippe war aufgeplatzt, blutiger Speichel lief über sein Kinn. Blix schaffte es, eine Hand unter das Stuhlbein zu schieben, um zu verhindern, dass sein Kehlkopf zerquetscht wurde.

Die Beamten waren unterwegs. Er hörte sie, aber die anderen Gefangenen bildeten einen Ring um sie und gaben keinen Spalt frei.

Der Druck auf dem Hals wuchs. Ree hatte den linken Unterarm auf das Stuhlbein gelegt und stützte sich mit seinem ganzen Körpergewicht darauf. In der rechten Hand hielt er eine Gabel, die er grinsend in Blix’ Wange drückte. Blix spürte, wie die Zacken die Haut durchstachen.

Dann waren die Beamten da und rissen Jarl Inge Ree weg. Blix wurde auf die Beine gezogen. Er atmete ein paarmal tief durch und schielte zu Ree, der sich mit dem Pulloverärmel das Kinn abwischte. Er grinste breit, als er abgeführt wurde. Seine Zähne waren blutverschmiert.

Weitere Beamte aus anderen Abteilungen kamen hinzu. Schlüssel klirrten. Die Gefangenen wurden in ihre Zellen beordert. Blix fasste sich an die blutende Wange.

»Was zum Teufel war das?«, wollte Nyberget wissen.

Blix zuckte mit den Schultern. Er sah keine Notwendigkeit, es ihm zu erklären.

4

Die ganze Abteilung wurde abgeriegelt. Nach einer Weile begannen einige der Insassen, gegen ihre Türen zu schlagen und sich zu beschweren, dass sie nicht fertig frühstücken konnten. Blix saß auf seinem Bett, als die Tür aufgeschlossen wurde. Nyberget winkte ihn zu sich.

»Die Ärztin will Sie sehen«, sagte er.

Blix stand auf und schaute in den Spiegel. Das Blut um die Gabeleinstiche war angetrocknet. Sein Hals war geschwollen, das Schlucken tat weh.

»Nicht nötig«, sagte er.

»Jetzt sofort«, antwortete Nyberget und drehte sich um, bereit zu gehen.

Blix seufzte und folgte ihm durch den unterirdischen Gang in die medizinische Abteilung.

Die Ärztin war eine Frau in den Dreißigern. Blix mochte sie, erinnerte sich aber nicht mehr an ihren Namen. Sie bat ihn, sich zu setzen, und zog ihren Stuhl zu ihm, um die Wunde zu reinigen. Es brannte.

»Ich dachte, Sie gingen Streit aus dem Weg«, sagte sie.

»Normalerweise, ja«, antwortete Blix.

»Das heißt vermutlich Isolation für Sie?«

Blix war unsicher, wie es weitergehen würde, er rechnete aber damit, dass entweder er selbst oder Ree in eine andere Abteilung verlegt werden würden.

Die Ärztin tastete seinen Hals ab.

»Würden Sie bitte den Oberkörper freimachen?«, fragte sie und schnappte sich ein Stethoskop. Blix knöpfte das Hemd auf und zog es aus, damit sie nach Blutergüssen und anderen Zeichen innerer Verletzungen suchen konnte. Danach hörte sie seine Lunge ab.

»Sieht offenbar schlimmer aus, als es ist«, kommentierte sie. »Ich mach nur noch ein Foto, dann können Sie sich wieder anziehen.«

Blix schloss die Augen, als sie die Bilder machte.

Plötzlich fiel ihm ihr Name wieder ein. Sie hieß Mette.

»Ich denke, ein Pflaster reicht«, sagte sie und sah sich die Einstiche der Gabel noch einmal an. »Aber Sie werden wohl eine Narbe behalten.«

Sie trug eine Salbe auf und klebte eine kleine Bandage darüber.

Blix zog sein Hemd wieder an.

»Würden Sie dann noch mal auf die Waage gehen?«, fragte die Ärztin und zeigte in die Ecke des Untersuchungszimmers.

Sie folgte ihm und warf einen Blick auf das Display.

78,2 Kilo.

»Im Normalbereich«, sagte sie und setzte sich wieder vor den Monitor. »Aber Sie müssen genügend essen. Sie haben seit dem ersten Wiegen fast fünf Kilo abgenommen.«

Auch Blix war nicht entgangen, dass seine Kleidung lockerer saß.

»Wie geht es Ihnen sonst so?«, fragte die Ärztin weiter. »Schlagen die Medikamente an? Können Sie schlafen?«

»Danke«, antwortete Blix. »Alles gut.«

Die Ärztin beendete ihre Aktennotiz und schloss die Untersuchung ab.

Nyberget wartete draußen.

»Ich habe gerade Bescheid bekommen, dass Sie packen sollen«, sagte er.

»Was heißt das?«, fragte Blix.

»Keine Ahnung«, antwortete Nyberget. »Scheint aber, dass Ihre Zeit hier in der Abteilung um ist.«

Am Ende des Tunnels rauschte sein Funkgerät.

Nyberget blieb vor der Tür stehen, nahm das Funkgerät vom Gürtel und antwortete.

»Jetzt?«, fragte Nyberget.

Er wirkte überrascht.

»Ja«, knisterte es aus dem Funkgerät. »Sie können sich direkt dorthin begeben.«

»Verstanden«, antwortete Nyberget.

Er drehte sich um und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Wohin gehen wir?«, fragte Blix.

»Sie haben Besuch«, antwortete Nyberget.

»Wen?«

Nyberget zog die Schultern hoch und passierte mit ihm zwei Metalltüren. Vor dem Besuchsraum blieb er stehen.

Auf Blix’ Besucherliste standen nur zwei Namen. Merete und Emma. Merete war dreimal da gewesen. Die ersten beiden Male war es hauptsächlich um praktische Dinge in Verbindung mit Iselins Tod gegangen. Unterlagen für alle möglichen öffentlichen Instanzen, die unterschrieben werden mussten. Beim dritten Besuch hatte sie Blix erzählt, dass die Beziehung mit dem Mann beendet sei, den sie nach der Scheidung kennengelernt hatte, und sie eine Wohnung in Majorstuen gefunden habe.

Er hoffte im Stillen, dass sie der unangemeldete Besuch war, auch wenn das ziemlich unwahrscheinlich war.

Nyberget fummelte mit den Schlüsseln herum und zog die Tür auf. Am Fenster mit dem Rücken zu ihm stand ein hochgewachsener Mann. Blix erkannte ihn, noch bevor er sich umdrehte.

Gard Fosse.

Einst Studienkollege und bester Freund, später Dezernatsleiter und Blix’ direkter Vorgesetzter bei der Osloer Polizei. Es war ungewohnt, ihn in ziviler Kleidung zu sehen.

»Geben Sie über die Gegensprechanlage Bescheid, wenn Sie fertig sind«, sagte Nyberget und zeigte auf den Apparat an der Wand.

Die Tür wurde geschlossen, und sie waren allein.

Fosse sah ihm nicht in die Augen. Er sagte ein paar Worte, als hätte er sich vorher Gedanken gemacht, wie er das Gespräch einleiten wollte, brach dann aber mitten im Satz ab.

»Was ist passiert?«, fragte er stattdessen und legte eine Hand an seinen Hals.

Blix strich mit zwei Fingern über das Pflaster.

»Nichts«, antwortete er.

Sie standen sich an den zwei Seiten des niedrigen Tisches gegenüber, auf den Fosse eine Plastikmappe gelegt hatte. Er räusperte sich.

»Ich soll von Abelvik und Wibe grüßen.«

Blix nickte, ohne den Gruß zu erwidern.

»Wollen wir uns setzen?«, fragte Fosse.

Blix nahm Platz.

»Wie läuft es mit der Berufung?«, fragte Fosse.

»Am Freitag habe ich einen Termin mit dem Anwalt«, antwortete Blix.

»Deine Chancen wären bei einem Berufungsverfahren bestimmt besser«, sagte Fosse. »Mehr Beisitzer, die den Fall prinzipiell anders beurteilen könnten.«

»Ich habe einen Mann umgebracht«, sagte Blix. »Weil er Iselin umgebracht hat.«

»Du hast in Notwehr gehandelt«, sagte Fosse. »Er hätte sonst auch Emma Ramm getötet. Sie oder er. Das weißt du ganz genau.«

Blix antwortete nicht, wohl wissend, dass Fosse niemals so gehandelt hätte.

»Was willst du von mir?«, fragte Blix mit einem Blick auf die Mappe auf dem Tisch.

Fosse zog sie zu sich rüber, ohne sie zu öffnen.

»Sagt dir der Name Walter Kroos etwas?«, fragte er.

Blix schüttelte den Kopf.

»Ein Deutscher, der vor etlichen Jahren seinen Vater erschossen hat«, sagte Fosse. »Er hat eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Billwerder in Hamburg verbüßt. Vor zwei Tagen ist er während eines Zahnarztbesuches geflohen, hat sich nach Hause begeben und auch noch seine Mutter ermordet. Er ist dann mit ihrem Auto und ein wenig Bargeld geflüchtet.«

Fosse klappte die Mappe auf und entnahm ein Polizeifoto, das ein junges Gesicht von vorn und im Profil zeigte, dunkelblonder Militärcut, blaue Augen und eine kräftige Schürfwunde auf der Wange.

»Ein altes Bild«, sagte er. »Das Foto wurde unmittelbar nach seiner Festnahme gemacht.«

Blix erkannte ihn wieder. Die Fahndung nach Walter Kroos war am gestrigen Tag durch die Nachrichten gegangen.

»Die Flucht war offensichtlich geplant«, fuhr Fosse fort. »Er hat auf einen Suppenlöffel gebissen und sich so einen Backenzahn abgebrochen, vermutlich absichtlich.«

Er warf einen Blick in die stichwortartigen Notizen in der Mappe.

»Ehe die deutsche Polizei mitbekommen hat, was los war, hatte er es bereits über die Grenze nach Dänemark geschafft. Das Auto der Mutter wurde außerhalb von Kopenhagen gefunden.«

Blix setzte sich anders hin.

»Und was hat das alles mit mir zu tun?«, fragte er.

»Die deutsche Polizei geht davon aus, dass er auf dem Weg nach Norwegen ist«, sagte Fosse, ohne die Frage zu beantworten. »Entweder mit dem Bus, Zug oder einem gestohlenen Fahrzeug.«

»Warum glauben sie das?«

»In der Kloschüssel seiner Zelle wurden säuberlich zerrissene Papierfetzen gefunden. Sie haben sie wieder zusammengesetzt und einen norwegischen Namen rekonstruiert.«

Fosse nahm ein neues Blatt aus der Mappe und zeigte Blix die Kopie der zerrissenen Notiz. Die zerknüllten Schnipsel waren glatt gestrichen worden. Teile des Textes waren zerlaufen, ein paar Stücke fehlten. Der Name war trotzdem gut lesbar.

Jarl Inge Ree.

5

Der Vater beobachtete ihn über den Rückspiegel. Walter starrte aus dem Seitenfenster. Hoffentlich waren das die letzten Sommerferien, die er gemeinsam mit seinen Eltern verbringen musste. Nächstes Jahr war er siebzehn, fast achtzehn.

Walter rückte die Kopfhörer zurecht, sodass sie etwas besser saßen. Rammsteins harter Gitarrenriff schirmte die Geräusche des Autos ab. Außerdem brauchte er so das leere Gerede seiner Eltern nicht zu hören.

Nach einer viel zu langen Fahrt vorbei an Bergen, Wäldern und Schafen zeigte der Vater endlich auf ein Schild, auf dem OSEN stand. Ein paar hundert Meter später fuhren sie auf einen Campingplatz mit vertrocknetem Gras. Die Rezeption hieß sie auf Norwegisch, Deutsch und Englisch willkommen. Dahinter standen dicht an dicht Wohnwagen, Zelte und kleine Hütten.

Der Vater ging hinein.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis er wieder rauskam. Er setzte sich kopfschüttelnd ins Auto und knallte die Tür so fest zu, dass Walter es durch die Basstrommeln von Reise, Reise hörte. Der Vater fuchtelte mit den Armen und zeigte immer wieder auf die Rezeption. Dann setzte er zurück und fuhr in die andere Richtung.

Walter wählte einen anderen Song.

Kurz darauf hielt der Wagen vor einer Hütte am Waldrand. Jetzt verstand auch Walter das Problem. Von hier war kein Wasser zu sehen. Sein Vater wollte im Urlaub immer Blick aufs Wasser, sonst waren es keine anständigen Ferien.

Walters Glieder waren noch steif von der langen Reise. Er folgte den Eltern in die winzige Hütte. Ohne jede Vorwarnung knallte es, und er konnte die Kopfhörer gerade noch auffangen, ehe sie zu Boden fielen.

»Und du mit diesen Scheißdingern«, schimpfte der Vater, »meldest dich immer einfach ab!«

Er drehte sich zu seiner Frau, die die Kühltasche neben den Kühlschrank stellte. »Das war ja wohl das Dümmste, was wir je gemacht haben«, fuhr der Vater fort. »Sieht man mal davon ab, dass wir diesen Kerl überhaupt in die Welt gesetzt haben. Wir hätten ihm diese Scheißdinger niemals kaufen dürfen!«

Er drehte sich zu Walter um.

»Hast du heute schon gelernt?«

Walter schlug den Blick nieder.

Der Vater schnaubte.

»Also nicht«, stellte er fest. »Geh und hilf deiner Mutter mit dem Auspacken, und anschließend setzt du dich hin und lernst.«

»Erst müssen wir etwas essen«, sagte die Mutter, die mit dem Rücken zu ihnen stand. »Walter hat sicher Hunger.«

»Ja, dann halt nach dem Essen!«, blaffte er sie an. »Aber gelernt wird heute noch!«, schimpfte er weiter in Walters Richtung. »Mindestens eine halbe Stunde! Ist das klar?«

Sie aßen am Campingtisch auf dem knochentrockenen Rasen vor der Hütte. Walter stocherte in seinem Essen herum. Labskaus aus der Dose. Die Luft war warm. Die Sonne brannte.

»Wir dürfen nicht vergessen, uns einzucremen«, sagte die Mutter. Sie hatte einen Bikini angezogen. Ein Bein über das andere geschlagen.

»Sonnencreme«, sagte der Vater verächtlich. »Ein bisschen Sonne hat noch niemandem geschadet.«

Walter sah, dass sein Vater auf der Brust bereits ein bisschen rot war. Zum Glück hatte er sich wieder beruhigt. Essen und ein paar Dosen Bier halfen in der Regel.

Nach dem Essen sammelte die Mutter die Teller zusammen und ging in die Hütte. Der Vater sah ihr hinterher und trank schmatzend einen Schluck Bier.

»Geh mal spazieren, Junge.«

»Was?«, fragte Walter.

»Erforsch mal die Gegend.«

»Ich sollte doch lernen?«

»Hörst du nicht, was ich sage?« Der Blick seines Vaters bohrte sich in ihn, während er die Hand tief in der Tasche seiner Shorts vergrub. »Deine Mutter und ich müssen … ein bisschen entspannen.«

Er starrte seine Frau an, die wieder nach draußen gekommen war, um die Gläser und die Pfeffermühle zu holen. Das Blitzen in den Augen kannte Walter.

»Los«, sagte der Vater. »Verschwinde! Und lass dir Zeit!«

Walter hatte keine Lust, spazieren zu gehen, tat es aber trotzdem. Er folgte einem Trampelpfad durch den Wald. Es war warm, und es roch trocken. Walter ärgerte sich, nicht seine kurze Hose angezogen zu haben.

Zwischen den Bäumen wimmelte es von Vögeln. Walter mochte Vögel. Vielleicht weil er lange vom Fliegen geträumt hatte, davon, Pilot zu werden. Als er noch nicht wusste, dass die Buchstaben und Worte sich ihm immer querstellten. Man konnte kein Flugzeug lenken, wenn man die Worte durcheinanderbrachte.

An dem Tag, als sein größter Traum geplatzt war, waren ihm die Tränen gekommen. Der Vater war in sein Zimmer gekommen und hatte ihn angeraunzt, was das Flennen zu bedeuten habe. »Du hättest das doch nie geschafft. Mach es lieber wie ich, werde Soldat.«

Vor ihm glitzerte das Wasser zwischen den Bäumen. Am Ufer saßen Menschen. Ein Holzsteg führte ins Wasser, an dessen vorderem Ende eine Gruppe Jugendliche saß. Die Mädchen lagen auf dem Bauch, die Jungen stützten sich auf ihre Ellenbogen. Von irgendwoher kam Musik.

Er ging etwas näher heran und sah zu, wie ein Mädchen lachend ins Wasser sprang. Sie lächelte derart glücklich, dass auch Walter lächeln musste. Tief in seinem Innern. Das Mädchen drehte sich auf den Rücken und schwamm vom Steg weg.

Als sie aus dem Wasser kam, ging sie zu einem langhaarigen Jungen, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag, und drückte ein paar Wassertropfen aus ihrem Pferdeschwanz auf seinen Bauch. Der Junge heulte auf und sprang hoch. Alle lachten.

Das Mädchen holte ein Handtuch und trocknete sich ab. Ihr Blick begegnete Walters und hielt ihn fest. Sie lächelte ihn an. Mit einem Lächeln, das auch Walter lächeln ließ. Dieses Mal richtig.

Walter erinnerte sich an diesen warmen Sommertag, als wäre es gestern gewesen. Damals, in diesem Sommer hatte es begonnen. An diesem Tag.

Er schloss die Augen und atmete tief ein. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er die Hände zu Fäusten geballt.

Der Bus legte sich in eine Kurve, und Walter folgte der Bewegung. Laut Fahrplan sollte er um 20.15 Uhr da sein. Er ärgerte sich, dass er einen Platz so weit hinten gewählt hatte. Weiter vorne hätte er die Straße besser im Blick gehabt.

Das Scheinwerferlicht huschte über das Ortsschild. Osen. Walter drückte den Stopp-Knopf und nahm seinen kleinen Rucksack und die Einkaufstasche vom Sitz neben sich. Sechs Bier, ein Brot, Butter, Aufschnitt. Das Allernotwendigste. Eine Minute später hielt der Fahrer am Straßenrand. Walter stieg aus und blieb in dem warmen Dunst aus Öl und Diesel stehen.

Der Campingplatz auf der anderen Straßenseite sah genau so aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. Die Rezeption und der kleine Kiosk lagen im Dunkel. Ein paar wenige Autos parkten davor. In einer der Hütten brannte Licht, es war aber kein Mensch zu sehen.

Walter sah sich um. Um einige der Wohnwagen waren kleine Zäune gebaut worden. Dahinter eine lange Reihe von Hütten.

Er ging zum Waldrand.

Dieselbe Hütte wie 2004. Nur das Schild – K-1492 – war neu.

Walter sah sich um und trat an den Rand der Holzterrasse. Er kniete sich hin und tastete mit der Hand die Unterseite ab. Es dauerte nicht lang, bis er den Nagel gefunden hatte, an dem der Schlüssel hing.

6

»Dann viel Spaß.«

Emma hatte den Wachmann noch nie gesehen. Der üppige Bart wäre ihr aufgefallen. Sein Blick ruhte auf dem Sofa, auf dem ein Laken und ein Handtuch lagen.

»Er kommt gleich«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Emma hätte am liebsten gesagt, dass sie kein Paar waren. Sie war halb so alt wie Blix und sah in ihm eher so etwas wie eine Vaterfigur. Doch sie sagte nichts.

Die schwere Tür fiel ins Schloss.

Es war das zweite Mal in zwei Tagen, dass sie hier war, dabei mochte sie diesen Besuchsraum ganz und gar nicht, obgleich sie sich Mühe gaben, eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen – eine Tischdecke auf dem Tisch, eine Grünpflanze und für die Kinder eine Kiste mit Spielsachen. Die meterdicken Wände um sie herum gaben ihr unweigerlich das Gefühl, eingesperrt zu sein.

Emma war leicht übel, obwohl sie nichts Ungesetzliches getan hatte. Die Wände schienen beim Warten irgendwie näher zu rücken.

Die Tür ging auf, und Blix wurde hereingeführt.

Emma schrak zusammen.

Ein großes Pflaster klebte auf einer Seite seines Gesichts, der Hals war geschwollen und voller blauer Flecken.

»Was ist passiert?«, platzte sie hervor.

Blix lächelte, als wollte er ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen solle.

Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn umarmen durfte oder sollte. Schließlich tat sie es trotzdem und wählte vorsichtig die nicht verletzte Seite. Er roch streng nach Schweiß. Seine Haare waren ungewaschen. Sie schob ihn von sich weg und betrachtete die Verletzungen.

»Erzähl mir, was passiert ist«, bat sie.

Der Wachmann verließ den Raum.

»Ich bin in eine Prügelei geraten«, antwortete Blix, als sie allein waren.

»Jarl Inge Ree?«, fragte sie.

Blix setzte sich mit einem Nicken.

»Wusstest du, dass er wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen verurteilt wurde?«, fragte Emma.

Blix zog eine Augenbraue hoch.

»Vor ein paar Stunden habe ich das Urteil einsehen dürfen«, fuhr sie fort und holte ein paar Unterlagen aus ihrer Tasche. »Guck mal.«

Sie schob ihm den Ausdruck des Urteilsspruchs über den Tisch. Blix begann zu lesen, während sie den Inhalt zusammenfasste.

»Ree war damals neunzehn Jahre alt. Er wohnte in Oslo, wo er sich einen festen Drogenkundenkreis aufgebaut hatte. Ein Mädchen, das aus einer Pflegefamilie geflohen war, geriet in seine Fänge. Sie hieß Nina und war damals fünfzehn Jahre alt. Sie war nicht das erste Mal abgehauen. Ree versteckte sie und hatte Sex mit ihr.«

Blix schien nicht überzeugt zu sein.

»Wenn er pädophil wäre, sollten die anderen Insassen das doch erfahren.«

»Das gilt nicht als Pädophilie«, sagte Blix. »Das ist eine juristische Spitzfindigkeit. Sie war schon fast sechzehn.«

Emma war enttäuscht. Sie hatte gedacht, dass Blix ihre Entdeckung schätzen würde.

»Aber du verstehst schon, auf was ich hinauswill?«, fragte sie. »Das ist wohl kaum etwas, womit er herumprahlt, oder?«

Sie zeigte auf die nächste Wand, unsicher, in welcher Richtung der Aufenthaltsraum des Gefängnisses lag.

»Du kannst das nutzen«, sagte sie mit Nachdruck.

Blix schob die Papiere weg.

»Ich verstehe ja, dass du mir zu helfen versuchst«, sagte er mit erzwungenem Lächeln. »Aber das Problem verschwindet bald von allein. Ree wird Montag entlassen. Wenn ich die letzte Zeit sinnvoll nutzen will, sollte ich versuchen, ihm irgendwie näher zu kommen.«

Emma legte den Kopf auf die Seite und sah ihn fragend an.

»Ich hatte gestern Besuch«, sagte Blix und nickte in Richtung des Stuhls, auf dem Emma saß. »Es ging um einen Häftling, der auf der Flucht ist. Ein Mörder aus Deutschland.«

Emma hatte auch schon davon gehört.

»Es deutet einiges darauf hin, dass er auf dem Weg nach Norwegen ist und irgendeine Verbindung zu Jarl Inge Ree hat. Gard Fosse …«, Blix zögerte und schüttelte den Kopf, »… will, dass ich herausfinde, was für eine Verbindung das ist. Aber das brauche ich gar nicht zu versuchen. Ree würde sich eher die Nägel ausreißen lassen, als mir was zu erzählen.«

»Warum fragt Fosse ihn nicht selber?«

»Ree ist nicht gerade ein Polizistenfreund«, erklärte Blix. »Laut Fosse hat er beim Verhör nicht ein Wort gesagt. Er hat weder gestanden noch irgendeine Beteiligung zugegeben. Warum sollte er jetzt damit anfangen?«

Emma nahm einen Stift und fingerte daran herum.

»Aber willst du es nicht wenigstens versuchen?«

»Es spielt keine Rolle, ob ich es versuche oder nicht. Es wird nicht funktionieren.«

»Aber der Deutsche könnte gefährlich werden«, wandte Emma ein. »Er hat bereits getötet. Was, wenn er das auch hier in Norwegen tut, du das aber verhindern könntest?«

Blix senkte den Blick, hatte aber keine Antwort für sie.

Sie blieben schweigend sitzen, bis draußen Schritte zu hören waren und Schlüssel klirrten. Ein neuer Wachmann tauchte auf.

»Sie müssen dann zum Schluss kommen«, sagte er und richtete seinen Blick auf Blix. »Sie müssen noch weiter.«

7

Jakobsen war einer der netten Wachleute. Ein Mann aus Trøndelag, etwa in Blix’ Alter, der seine Freizeit mit Trabern verbrachte. Er wollte nicht sagen, worum es ging, als er Blix in die Krankenabteilung in einen sparsam möblierten Warteraum brachte. Das Licht fiel durch ein vergittertes Fenster, das man nicht öffnen konnte. Die Luft war stickig und warm. Ein Mann mit kariertem Hemd und langen, in einem Pferdeschwanz zusammengefassten Locken stand von seinem Stuhl auf und rückte die Brille zurecht. Er reichte Blix die Hand.

»Otto Myran«, stellte er sich vor.

Blix schätzte Myran auf Mitte dreißig. Der Mann forderte Blix auf, auf einem der insgesamt drei Stühle Platz zu nehmen, die etwas entfernt voneinander standen. Der Stuhl, auf dem Myran gesessen hatte, bildete die Spitze des Dreiecks.

Myran setzte sich wieder und schlug die Beine übereinander. Er faltete die Hände, sagte aber nichts, sondern starrte Blix nur schweigend, aber freundlich an.

»Warten wir auf jemanden?«, fragte Blix.

»Er kommt sicher jeden Moment«, antwortete Myran.

Es pochte in den Schläfen. Er spürte, dass die Wunden zu heilen begannen, auch wenn sein Gesicht noch immer geschwollen war und sich taub anfühlte.

Die Tür ging auf.

Jakobsen war zurück. Er blieb draußen auf dem Flur stehen und wies jemanden an, in den Raum zu gehen.

Jarl Inge Ree trat über die Türschwelle. Es dauerte ein oder zwei Sekunden, dann blieb er wie angewurzelt stehen.

»Was … soll die Scheiße?«

Blix begegnete dem ebenso überraschten wie verächtlichen Blick. Die Wunde unter seinem Pflaster meldete sich stechend zurück.

Jakobsen führte Ree zu dem freien Stuhl und blieb zwischen ihm und Blix stehen.

»Was soll der Mist hier?«, schimpfte Ree.

Myran sagte nichts, sondern deutete schweigend auf den Stuhl neben Blix.

Jakobsen trat einen Schritt zurück und lehnte sich an die Wand, jederzeit bereit, dazwischen zu gehen, sollte es notwendig sein.

»Ich bin Sozialarbeiter«, begann Myran. »Sie haben mich hier vielleicht schon mal auf einem der Flure gesehen.«

Weder Blix noch Ree antworteten.

»Wie Sie wissen, ist es die Aufgabe der Kriminalfürsorge, die Verurteilten zu rehabilitieren und auf ihr zukünftiges Leben in Freiheit vorzubereiten. Wir Sozialarbeiter bilden dabei eine Art Brücke zwischen der Kriminalfürsorge und der Umwelt. Unser Ziel ist es, Ihnen das Gefühl zu vermitteln, ein Teil der Gesellschaft zu sein, und dass Sie den Wunsch entwickeln, selbst einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten zu wollen.«

Ree schnaubte.

Blix sagte nichts.

»Und das«, fuhr Myran fort, »ist immer schwierig, wenn …«, er wog seine Worte ab, »… wenn es im Gefängnisalltag etwas gibt, das diesem Wunsch entgegensteht. Das sind ungünstige Voraussetzungen für eine gelungene Rehabilitierung. Und Sie beide …« Myran sah von einem zum anderen. »Es macht den Eindruck, als würden Sie nicht gerade das Beste im anderen hervorlocken. Manchmal ist das so. Mit manchen Menschen kommt man einfach nicht klar. Und dafür gibt es mitunter eine ganze Reihe von Ursachen.« Myran legte die Hände übereinander. »Statt Sie zu isolieren und voneinander zu trennen, hegen wir hier in Ullersmo den Wunsch, dass wir – also wir drei – uns zusammensetzen, um zu schauen, ob wir diese Situation nicht verbessern können.«

Ree sah zu Jakobsen, der die Daumen hinter seinen Gürtel geschoben hatte.

»Die Situation verbessern«, wiederholte Ree mit breitem Grinsen. »Sie meinen – hier sitzen und über unsere Gefühle reden und so?«

Myran sagte nichts.

»Was ist das hier für eine Kumbaya-Scheiße? Ist das eine Achtsamkeitsübung?« Das Grinsen war wie von seinem Gesicht gewischt. »In fünf Tagen komme ich hier raus.«

»Das sollte für Sie ein umso größerer Grund sein mitzuarbeiten«, sagte Myran. »Schaffen Sie sich die bestmöglichen Voraussetzungen, um dort draußen zurechtzukommen.«

»Draußen werde ich mit dem da garantiert nichts mehr zu tun haben«, fuhr Ree fort. »Der bleibt ja noch ein paar Jahre hier.«

»Ich bleibe gerne in der Zelle, bis der da weg ist«, sagte Blix. »Für mich ist das in Ordnung.«

»Danke für den konstruktiven Beitrag«, sagte Myran an Blix gewandt. »Aber betrachten Sie das als eine Übung für ein etwas weniger konfliktorientiertes Handeln.«

Ree schnaubte wieder.

»Ich bin überhaupt nicht konfliktorientiert.«

Er stand auf.

»Ich mache da nicht mit.«

Jakobsen zog die Daumen unter dem Gürtel hervor. Ree sah es und blieb stehen.

»Wir werden hier noch …«, Myran sah auf seine Uhr, »… eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten miteinander reden.«

»Das ist doch wohl ein Scherz!«

Der Sozialarbeiter schüttelte den Kopf. Ein Schweißtropfen löste sich von seinem Haaransatz und lief über die Wange herunter. Ree stöhnte.

»Mein Gott.«

Blix sagte nichts. Er sah von Jakobsen zu Myran. Es kam ihm so vor, als wäre er Teil eines absurden Theaterstücks.

»Natürlich können wir auch einfach hier sitzen«, fuhr Myran fort. »Und Löcher in die Luft starren. Aber das wäre schrecklich langweilig. Außerdem dauert es dann nur länger.«

»Was?«, bellte Ree.

»Unsere Besprechung«, sagte Myran. »Der Prozess. Die Gefängnisleitung hat beschlossen, dass Sie da durchmüssen. Da führt kein Weg dran vorbei.«

»Jeeesus Christ!«

Ree setzte sich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Eine ganze Weile blieb es bedrückend still, dann sagte Myran:

»Ich möchte, dass Sie sich drei Fragen ausdenken, die Sie dem anderen stellen möchten.«

Blix hob den Kopf.

»Drei Fragen, die nichts mit dem zu tun haben, was hier drinnen vor sich geht«, erläuterte Myran.

Ree schnaubte.

»Egal was«, fuhr der Sozialarbeiter fort. »Etwas Privates, wenn Sie wollen, solange die Frage für den anderen in Ordnung ist. Oder was Sie als Erstes machen wollen, wenn Sie hier rauskommen. Alle Themen sind erlaubt«, wiederholte er. »Aber bleiben Sie respektvoll und vermeiden Sie irgendwelche hasserfüllten Äußerungen.«

Ree lehnte sich zurück.

»Ich halte lieber den Mund.«

Myran rückte seine Brille zurecht.

»Und was ist mit Ihnen, Alexander? Möchten Sie Jarl Inge vielleicht eine Frage stellen?«

Blix war es nicht gewohnt, beim Vornamen genannt zu werden.

»Ich? Nein.«

Wie Ree lehnte er sich zurück, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände im Schoß. Es wurde still. Lange.

Jakobsen begann irgendwann, sich zu bewegen, die Sohlen seiner Schuhe quietschten. Er sah von Ree zu Blix und wieder zurück. Die Zeit zog sich in die Länge. Blix sah zu Ree, der an die Decke starrte.

»Jarl Inge, was haben Sie für Pläne, wenn Sie hier rauskommen?«, fragte Myran.

»Das geht Sie doch wohl nichts an.«

»Und was ist mit Ihnen, Alexander?«

Blix begegnete seinem Blick.

»Ich? Ich weiß es nicht. Ich will nicht daran denken.«

Wieder wurde es still.

»Ich habe eine Frage«, sagte Ree und lächelte.

Er wandte sich an Blix.

»Wie alt warst du, als dir das erste Mal in den Arsch gefickt wurde?«

Er lachte. Ein rohes Lachen. Blix antwortete nicht.

Ree schien mit einem Mal Gefallen an der Sache gefunden zu haben. Myran sah ihn streng an und sagte zu Blix:

»Darauf brauchen Sie nicht zu antworten.«

»Das zählt aber doch wohl als Frage«, sagte Ree und war mit einem Mal hellwach.

»Wenn Sie das nächste Mal eine etwas seriösere Frage stellen, werde ich darüber nachdenken.«

»Wie nett von Ihnen«, sagte Ree ironisch. »Da kann ich ja gar nicht anders, als zu tun, was Sie sagen.«

Myran ging nicht weiter darauf ein.

Ree lachte leise vor sich hin, während Blix den Blick starr nach vorn gerichtet hatte.

»Wie alt warst du?«

Rees Lächeln erstarb. Er sprang auf und wollte sich auf Blix werfen, aber Jakobsen trat zwischen sie, noch ehe Ree etwas tun konnte. Blix drehte nicht einmal den Kopf. Verzog keine Miene.

»Okay, okay«, fauchte Ree und sah zu Jakobsen. »Ich setze mich ja wieder.«

»Gute Idee, das Ganze«, sagte Blix zu Myran.

Der Sozialarbeiter antwortete nicht.

Ree ließ sich auf seinen Stuhl fallen und starrte die nächsten Minuten missmutig vor sich hin. Jakobsen, der nie sprach, nur um etwas zu sagen, warf ein: »Damit steht es 1:1. Noch zwei Fragen von jedem, dann ist der Herr Sozialarbeiter sicher bereit, Sie ein bisschen früher gehen zu lassen?«

Myran sah Jakobsen missbilligend an.

»Wer will anfangen?«, fragte Myran trotzdem und sah sie der Reihe nach an. Keiner der beiden reagierte. Ree schüttelte schnaubend den Kopf. Myran entließ sie nicht aus seinem Blick. Ree holte tief Luft und atmete schwer aus. Dann schien er aufzugeben, nur um die Sache hinter sich zu bringen.

»Wo …«

Er hielt inne, als wäre er wütend auf sich selbst.

»Wo kommst du eigentlich her?«

Die Worte schienen ihm Schmerzen zu bereiten.

»Oslo«, sagte Blix. »Und du?«

»Osen«, kam es rasch zurück.

»Oslo, Osen«, warf Myran ein. »Das klingt ja fast gleich. Aber sicher gibt es da Riesenunterschiede. Jarl Inge, wie war es, dort aufzuwachsen?«

»Das geht Sie nichts an.«

Myran überhörte ihn.

»Das waren dann also zwei Fragen. Gehen wir die dritte an. Vielleicht eine, die Sie etwas zum Reden bringt – damit wir die Sitzung für heute beenden können?«

»Für heute?«, schnaubte Ree. »Wollen Sie damit sagen, dass wir noch mal hierher müssen?«

»Wie gesagt, die Gefängnisleitung priorisiert dieses Projekt.«

»Projekt …?«

Ree schüttelte den Kopf.

»Es geht bei diesem Prozess darum, Verständnis füreinander zu entwickeln, Beziehungen aufzubauen und Neugier zu wecken. Je schneller wir vorankommen, desto schneller sind wir fertig.«

Ree schnitt eine Grimasse.

Wieder wurde es still.

»Ich habe eine Frage«, sagte Blix nach einer Weile – den Blick noch immer nach vorn gerichtet. »Wer ist dein bester Freund – und warum?«

»Das sind zwei Fragen«, sagte Ree.

»Das macht nichts«, warf Myran ein. »Es sind zwei gute Fragen, danke, Alexander.«

Myran ließ Ree nicht aus den Augen, der schnaubend den Kopf schüttelte.

»Keiner hier drinnen auf jeden Fall«, begann er mit unüberhörbarer Verachtung in der Stimme. »Hier gibt es nur Loser.«

Blix sah, dass Myran gerne nachgehakt hätte, was Ree damit meinte, sich aber zum Schweigen zwang. Ree seufzte.

»Sa… ja, ich denke, das ist Samantha.«

Er atmete schwer aus.

»Ich kenne sie seit meiner Kindheit. Wir … waren immer zusammen. Hatten Spaß. Geheimnisse. Deshalb ist sie meine beste Freundin. Meine anderen Kumpels … keiner reicht an sie heran.«

Myran nickte anerkennend.

»Gut«, sagte er. »Sehr gut, ich danke dir, Jarl Inge.«

Der Sozialarbeiter lächelte zufrieden.

»Hast du eine letzte Frage an Alexander?«

»Ja«, sagte er und drehte den Kopf zu Blix. »Und erzähl gerne ganz ausführlich und mit allen Details.«

Ree äffte Myrans Stimme nach und sagte lächelnd:

»Wie stellst du dir deinen Tod vor?«

8

Nachdem die Kaffeemaschine einen letzten Seufzer ausgestoßen hatte, stand Emma auf und holte sich eine Tasse. Den Abend und die Nacht hatte sie damit verbracht, Informationen über Walter Kroos zu sammeln. Die deutschen Zeitungen lieferten jede Menge Stoff über die Flucht.