Blutzoll: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - E-Book

Blutzoll: Skandinavien-Krimi E-Book

Elsebeth Egholm

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Beschreibung

Der dritte Fall für die Journalistin Dicte Svendsen: An einem warmen Sommertag findet Dicte die Leiche einer jungen Frau. Schnell wird klar, dass es sich um einen besonders brutalen Mord handelt, denn die Frau wurde einem professionell ausgeführten Kaiserschnitt unterzogen. Doch von dem Baby gibt es keine Spur. Dicte ermittelt auf eigene Faust und ist damit der Polizei immer etwas voraus. Die Spur führt auf einen internationalen Verbrecherring...-

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Elsebeth Egholm

Blutzoll: Skandinavien-Krimi

Übersetzt Hanne Hammer

Saga

Blutzoll: Skandinavien-Krimi ÜbersetztHanne Hammer OriginalPersonskadeCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2005, 2020 Elsebeth Egholm und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726569643

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1

»In den Irak?«

Dicte hörte sehr wohl, dass ihre Stimme klang, als ginge es um einen Planeten in einem bisher unbekannten Sonnensystem. Trotzdem fuhr sie in gleicher Stimmlage fort:

»Das ist doch das reinste Pulverfass. Hättest du dir nicht einen etwas ruhigeren Ort aussuchen können?«

Indien; Tibet, Südafrika. Wenn es sein musste, auch die Türkei. Verschiedene Landesnamen wirbelten durch ihr von der Sommerhitze glühendes Gehirn. Sie konnte sie nicht einmal aussprechen, bevor Bo sich auch schon über den Tisch lehnte, gestützt auf das Fassbier, an dem er sich die letzte halbe Stunde festgehalten hatte.

»Natürlich habe ich auch Norwegen in Erwägung gezogen«, sagte er ruhig. »Aber im Hochgebirge gibt es nun mal nicht so viel zu tun für einen Kriegsfotografen. Gefechte sind dort eher selten.«

Dicte streckte die Hand nach dem Weinglas aus, entschied sich in letzter Sekunde jedoch für das Wasser. Das hier lief richtig schief, dachte sie. Ein romantisches Abendessen in der Stadt, von wegen. Das Essen war zwar gut gewesen, doch das nachfolgende Gespräch erfüllte nicht so ganz ihre Erwartungen. Es war in dem Moment aus dem Ruder gelaufen, als Bo ihr von dem Anruf der Kopenhagener Redaktion erzählt hatte. Der Auftrag beinhaltete eine dreiwöchige Reportagetour durch den Irak, zusammen mit Jens Peter Hald, der nicht nur Journalist, sondern auch Bos Freund war.

»Und wann soll es losgehen?«

Sie versuchte, das Ressentiment aus ihrer Stimme herauszuhalten. Eigentlich dachte sie schon seit längerem, dass er genau so eine Tour brauchte, um vom faden Redaktionsalltag und den Kämpfen um die Kinder mit der Exfrau Abstand zu bekommen. Brauchte er auch eine Pause von ihr?

Sie trank etwas Wasser in dem Versuch, wieder nüchtern zu werden, doch das machte es nur noch schlimmer, denn die Antwort hieß natürlich ja. Sie hatte sich verändert, das wusste sie. Nach den schrecklichen Ereignissen im letzten Winter hatte sie sich an ihn geklammert, um nicht zu sagen an ihm geklebt. Es war eine Übergangsphase, jedenfalls hoffte sie das – allerdings eine sehr lange, die nun schon ein halbes Jahr andauerte.

»In ungefähr einer Woche«, teilte Bo ihr mit. »Wir müssen die Tour erst vorbereiten, was Technik, Sicherheit und all das angeht.«

Irgendwo in der Stadt hörte sie eine Sirene und musste sofort an kugelsichere Westen und Panzer und Bomben denken, die in toten Hunden versteckt waren und mitten auf der Straße explodierten. Sie dachte an Kidnapping, Terror und Tod und kam im Gegensatz zu Bo nicht damit zurecht. Er liebte das. Nicht den Tod, natürlich nicht, doch der Junge in ihm liebte die Spannung.

Sie entschloss sich, das Thema zu wechseln, und sah sich in dem französischen Café um, das dem Restaurant angegliedert war, in dem sie gegessen hatten.

»Das hier ist immer noch das beste Restaurant der Stadt.«

Bos Mund formte ein Lächeln, doch die grauen Augen waren schon im Flugzeug auf dem Weg nach Bagdad.

»Vom Namen einmal abgesehen.«

»Vom Namen?«

Wieder beugte er sich vor. Jetzt war er präsent, im Hier und Jetzt, alle Sinne waren auf sie gerichtet, als wäre er ein Forscher, der die Reaktion eines Versuchstiers studierte.

»Graven – in der Gruft.«

Sie schauderte und sah sofort, dass er seine Bemerkung bereute. Die Kühle verschwand aus seinem Blick, an ihre Stelle trat Zärtlichkeit, und er griff quer über den Tisch nach ihrer Hand.

»Ich komme bald wieder nach Hause. Drei Wochen sind doch keine Ewigkeit.«

Sie hörte den halb erstickten Laut ihres klingelnden Handys aus der Tiefe der Tasche. Vielleicht war es wichtig. Womöglich war das Haus abgebrannt, oder Rose war etwas zugestoßen. Ach, du meine Güte, jetzt reichte es aber mit der Schwarzmalerei.

Sie wühlte in der Tasche, fand das Telefon und sah, dass der Anruf von Rose kam. Um halb zwei in der Nacht?

»Ja?«

»Mama«, sagte Roses Stimme. Sie klang aufgeregt, und im Hintergrund war ziemlich viel Lärm zu hören, den Dicte nicht zuordnen konnte. »Ihr kommt besser her. Hier ist die Hölle los. Es wimmelt nur so vor Polizei.«

»Wo? Wo bist du, Schatz?«

»Vor dem Showboat«, sagte Rose. »Das weißt du doch. Wir hatten Freikarten, aber ... «

Der Lärm verschluckte den Rest. Endlich begann ihr Gehirn zu arbeiten, angefacht von Roses Stimme. Das Showboat. Die alte Kalundborg-Fähre im Hafen von Århus, die zu einer Disko umfunktioniert worden war. Rose hatte ihr erzählt, dass sie mit ein paar Schulkameraden dorthin wollte. Dicte war nicht gerade begeistert gewesen, weil es dort oft Probleme mit unverschämten Türstehern, Einwanderern der zweiten Generation und Drogen gab. Sie war bereits mit dem Telefon in der Hand aufgestanden und hatte dem Kellner ein Zeichen gegeben, dass sie zahlen wollten.

»Pass auf dich auf. Wir sind unterwegs.«

»Es ist nicht so, dass ich Hilfe brauche, Mama«, sagte die sehr erwachsene, beinahe Achtzehnjährige. »Ich habe eher gedacht, dass das eine super Story ist.«

 

Sie hörten den Lärm bereits, als sie den Kystvej erreichten. Heulende Sirenen und eine aufgebrachte Menschenmenge. Nach einem Tag unbarmherzigen Sonnenscheins war die Augustnacht noch immer warm. In Paris starben zurückgelassene Großmütter in ihren überhitzten Wohnungen, während der Rest der Familie die Sommerferien am Meer verbrachte; in Kalifornien wüteten Waldbrände und richteten Milliardenschäden an, und in Kopenhagen hatte man einen unschuldigen italienischen Touristen auf offener Straße niedergestochen. Und jetzt schienen die Auswirkungen der extremen Hitze auch Århus erreicht zu haben.

Bo fuhr quer über den Kystvej, bog nach rechts ab und steuerte am Hafen entlang auf das hohe Silo der Getreide- und Futtermittelkompanie zu, das wie ein Gespenst in der Nacht leuchtete.

Der Platz vor dem Showboat und das Hafenbassin sahen aus wie der Drehort zu einem Film, und Dicte wartete beinahe darauf, einen Regisseur in einem Hochstuhl mit einem Megaphon zu sehen, der der Crew seine Anweisungen erteilte.

Im Halbdunkel sah man mehrere Jugendliche um die Polizeiautos herumspringen deren Fenster einwerfen. Eine Kette von Polizeibeamten, denen Hunde vorausliefen, hatte sich quer über das Hafengebiet verteilt, von der Eisenbahn bis hin zum Kai.

Pflastersteine und Flaschen flogen durch die Luft, begleitet von Schimpftiraden.

»Scheißbullen! Rassistenschweine!«

Dicte ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Rose. Wo war Rose? War sie in Sicherheit? Oder irgendwo mitten in diesem Chaos?

Die Menschenmenge wogte hin und her, und Dicte nahm an, dass es um die drei- bis vierhundert Personen sein mussten. Sie erinnerte an eine Flutwelle, angereichert mit Hundegebell, Sirenengeheul und lauten Rufen. Aggressivität lag in der Luft.

 

»Was zum Teufel ... «, murmelte Bo und bog zum Packhaus 35 ab, in dem die dänische Bauholzhandelsgesellschaft untergebracht war.

Er parkte neben zwei riesigen Hafenkränen, und sie stiegen aus. Er öffnete den Kofferraum, holte seine Kamera heraus und versicherte sich, dass sie einsatzbereit war. Dann versteckte er sie unter der Jacke, und zusammen bewegten sie sich auf das Chaos zu.

»Die erschlagen mich, wenn sie die sehen«, murmelte er ihr ins Ohr und klopfte auf die Ausbuchtung in seiner Jacke. »Ich drehe mal eben eine Runde.«

Sie wollte protestieren und ihn bitten, ihr bei der Suche nach Rose zu helfen. Doch er war bereits in der Menge verschwunden, getrieben vom Adrenalin und seinem Instinkt. Ein Einsamkeitsgefühl ergriff kurz von ihr Besitz, dann riss sie sich zusammen und zog den Block aus der Tasche. Sie marschierte auf eine Gruppe von Einwandererjungen zu, die am Rand der Massenschlägerei herumhingen, neben dem Gebäude der Kraft- und Futterstoff-Gesellschaft.

»Ich bin Journalistin«, sagte sie. »Könnt ihr mir sagen, was hier los ist?«

Ein junger, schwarzhaariger Bursche mit zornigen, zusammengewachsenen Augenbrauen zertrat mit dem Absatz seines Turnschuhs eine Zigarette. Er sah sie misstrauisch an.

»Keine Fotos«, sagte er. »Wir wollen nicht in die Zeitung.«

»Das ist okay«, versprach sie und hoffte, dass Bo sich fernhielt.

Die Augen des jungen Mannes leuchteten im Halbdunkel.

»Sie wollten uns nicht reinlassen, da hat es Ärger gegeben, und jemand hat die Polizei gerufen. Jetzt sind sie mit Hunden angerückt«, sagte er lakonisch. »Die Schuld bekommen immer wir.«

Sie schrieb mit, obwohl er nur sagte, was sie bereits wusste. Sie nickte verständnisvoll in dem Versuch, die Jungen zu beruhigen und ihnen zu versichern, dass sie auf ihrer Seite stand, obwohl sie sich dessen nicht sicher war. Das hier war Konfliktforschung für Fortgeschrittene.

»Wer hat die Polizei gerufen?«

Der Kumpane des Jungen zuckte mit den Schultern.

»Wahrscheinlich die Türsteher. Wir sind zum Hintereingang reingegangen, da haben sie eine Scheißangst bekommen.«

Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihren Mündern, und sie schrieb, so schnell sie konnte, bekam aber nicht alles mit. Die Party auf der Fähre war offensichtlich bis Mitternacht eine Art geschlossene Gesellschaft gewesen, dann hatte man die Türen für die Allgemeinheit geöffnet, aber einen Teil der Leute abgewiesen, obwohl sie Freikarten hatten. Die Polizei war gekommen und hatte die Gemüter besänftigt, doch eine Stunde später waren die Abgewiesenen mit Verstärkung zurückgekommen und hatten sich durch den Hintereingang Zutritt zu der Diskothek verschafft. Die Polizei hatte diese daraufhin geschlossen, Gewalt und Frustration waren ernsthaft aufgeflammt, und irgendjemand hatte den Feueralarm betätigt, um die Besucher aus der Diskothek hinauszubekommen.

»Das ist die letzte Scheiße. Die überreagieren total«, sagte einer der Jungen. »Das tun die immer, wenn es um uns geht.«

»Ein paar sind von Polizeihunden gebissen worden«, sagte ein anderer. Er nickte in Richtung der übelsten Typen, die jetzt Richtung Innenstadt gedrängt wurden. »Sie setzen sogar Schlagstöcke ein, diese Faschistenschweine.«

»Fuck!«

Einer der jungen Burschen spuckte wütend auf den Asphalt. »Ich muss pissen.«

Er wandte sich von der Gruppe ab und verschwand hinter einem blauen Container für Kombüsenabfälle. Dicte wollte gerade weiterfragen, als sie einen halb erstickten Laut hörte und der Typ, der pinkeln musste, leichenblass und mit offenem Hosenstall angerannt kam.

»Scheiße, Mann. Jetzt reicht es.«

Der Wortstrom verebbte, als er zusammenklappte und sich unter lautem Würgen erbrach. Hustend und prustend kam er schließlich wieder auf die Beine.

»Da hinten liegt eine Frau«, räusperte er sich. »Ich glaube, sie ist tot.«

 

Die Gruppe schien in Sekundenschnelle zu Eis zu erstarren. Doch dann gewann die Neugier die Oberhand, und die Jungen stürzten zu dem Container. Dicte lief hinter ihnen her.

Zunächst sah man nicht viel. Eine Art Decke war um eine Gestalt gewickelt, die so verrenkt dalag, wie kein Mensch sich selbst hinlegen konnte. Ein weißer Arm ragte seltsam angewinkelt über den Kopf, und ein Bein guckte verdreht unter der Decke hervor, während das andere unter den Körper geklemmt war. Oberkörper und Gesicht waren von der Decke verborgen, unter der langes, helles Meerjungfrauenhaar hervorquoll. Auf den ersten Blick schien auch der Unterkörper einigermaßen ordentlich zugedeckt. Doch dann bemerkte man, dass der Rock aus klebrigem Rot bestand. Dicte stieg plötzlich der süßliche Geruch von Menschenblut in die Nase.

»Was zum Teufel ...?«

Einer der Jungen trat einen Schritt vor, beugte sich hinunter und zog die Decke über den Unterleib der Toten.

»Lass das!«

Sie hörte ihre eigene Stimme, schrill vor Erregung. Der Junge richtete sich schnell auf. Er sah verschreckt aus.

»Sie kann doch nicht so liegen bleiben«, protestierte er mit weinerlicher Stimme.

»Ihr dürft nichts anfassen«, fuhr sie ein wenig ruhiger fort. »Ruft die Polizei.«

Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und plötzlich war eine Traube von Menschen um die Leiche hinter dem Container versammelt. Dann endlich kam die Polizei und drängte sie zurück. Sie ließ sich wegschieben und versuchte dabei, die Übelkeit zu bekämpfen, indem sie an etwas anderes dachte.

Irgendjemand zog an ihrem Arm.

»Mama. Was ist passiert?«

Rose stand neben ihr und sah unbegreiflich anmutig aus in ihrem hauchdünnen, hellgrünen Sommerkleid und dem offen über die nackten Schultern hängenden Haar. Meerjungfrauenhaar, dachte Dicte eine Sekunde lang, dann schob sie den Vergleich von sich. Erst jetzt bemerkte sie den jungen Mann, der dicht neben ihrer Tochter stand. Dunkle Mandelaugen und eine Gesichtsfarbe wie helle Schokolade. Schwarze Rastalocken.

»Das ist Aziz«, sagte Rose verlegen. »Wir wollten in die Disko.«

2

Wagner war froh über die Dunkelheit, als Ida Maries Stimme sich mit der wohlbekannten Mischung aus Süße und Beharrlichkeit einen Weg in seinen Gehörgang bahnte.

»Es gibt auch noch andere Möglichkeiten.«

Sie lehnte sich auf seine Bettseite hinüber. Diesmal antwortete sein Körper ihr mit Müdigkeit.

»Andere Möglichkeiten«, murmelte er und wollte sie absichtlich nicht verstehen. »Meines Wissens gibt es nur eine, und zwar die, die wir gerade praktiziert haben.«

Sie lag eine Weile still neben ihm. Dann stützte sie sich auf den Ellenbogen, und er konnte die weiche, weiße Kurve ihrer Brust wie eine schöne Frucht direkt vor seiner Nase erahnen.

»Du weißt genau, was ich meine.«

Natürlich wusste er das, doch die Worte verhedderten sich in seinem Kopf, und er hatte Schwierigkeiten, sie auszusprechen. Sie tat es für ihn:

»Adoption oder künstliche Befruchtung.«

Das Telefon klingelte und beendete ihr Gespräch. Sie protestierte nicht, als er den Hörer abhob.

»Wagner.«

»Bereitschaft, Kasper Grundtvig. Entschuldigen Sie, dass ich Ihren Nachtschlaf störe. Wir haben eine Leiche im Hafen.«

Wagner wollte sagen, dass er nicht geschlafen hatte. Dass er nicht schlafen konnte, weil sein und Ida Maries Leben sich zu einem harten Klumpen aus gutem Willen und weniger guten Resultaten verfilzt hatte. Er begnügte sich mit einem Grunzen.

»Was ist passiert?«

»Bei dem Diskoschiff hat es Krawalle gegeben. Man hat eine Frauenleiche gefunden.«

Er hörte sich stöhnen. Das Adrenalin begann auf wohlbekannte Weise durch seinen Körper zu strömen.

»Wieder Probleme mit den Einwanderern?«

»Das kann man so sagen. Wir wissen aber nicht, ob die etwas mit der Toten zu tun haben«, sagte Kasper Grundtvig zögernd. »Es ist bereits jemand von der Presse da.«

»Wer?«

Er hörte ein Murmeln im Hintergrund, und dann kam die Antwort.

»Eine Dicte Svendsen.«

Aus irgendeinem Grund war er nicht überrascht. Trotzdem klang seine Stimme feindselig, als er fragte:

»Was macht sie um diese Zeit im Hafen?«

Der Dienst habende Beamte ließ die Frage einen Augenblick in der Luft hängen, bevor er antwortete. Wieder hörte Wagner Lärm und Stimmen im Hintergrund, als wäre die ganze Stadt wach und um halb drei in der Nacht zum Hafen gepilgert.

»Sie wollte ihre Tochter von der Disko abholen.«

Wagner war bereits aus dem Bett und zog sich an, das Telefon unter das Kinn geklemmt.

»Ich bin in zwanzig Minuten da.«

Er beendete das Gespräch.

»Ich muss los«, sagte er, während er sein Hemd zuknöpfte.

»Was ist passiert?«

Er erzählte das Wenige, das er wusste. Er sah die Enttäuschung in Ida Maries Gesicht und wünschte, er könnte sie glücklich machen, doch dazu gehörte mehr, als dass er bei ihr zu Hause blieb.

Dann rief er einen schlaftrunkenen Jan Hansen an und holte den Kollegen mit der Anordnung aus den Federn, ein paar Mann zusammenzutrommeln und so schnell wie möglich zum Hafen zu kommen. Er erreichte auch die kriminaltechnische Abteilung der Polizei und weckte seinen guten Freund, den Rechtsmediziner Poul Gormsen.

»Willst du mit in die Disko?«

Gormsen klang schläfrig, aber interessiert.

»Hast du was zu feiern?«

»Leider nein. Der Anlass ist weniger erfreulich.«

»Ein Mord?«, fragte der Rechtsmediziner und fuhr fort. »Lass mich raten. Irgendjemandem ist ein Messer ausgerutscht?«

Wagner fischte unter dem Bett nach seinen Schuhen und setzte sich auf die Bettkante, um sie anzuziehen. Ida Marie lag schweigend da. Er spürte ihren Blick im Nacken.

»Sie haben eine Frauenleiche beim Showboat gefunden.«

Gormsen sagte etwas zu seiner Frau, dann war er wieder da. Jegliche Munterkeit war aus seiner Stimme verschwunden.

»Wir sehen uns am Tatort.«

 

Wagner fuhr mit offenen Fenstern durch die Sommernacht und versuchte, in der frischen Luft wach zu werden, die nach warmem Asphalt und gemähtem Rasen duftete. Später, als er sich der Stadtmitte näherte, wurde der Grasduft von dem penetranten Geruch der ehemaligen Ölmühle abgelöst – vielleicht um ihm zu versichern, dass er nicht den falschen Weg eingeschlagen hatte und sich noch immer in Århus befand. Man sagte zwar, dass man den Gestank mit Hilfe von teuren Filtern endlich unter Kontrolle bekommen hatte, aber einige Nasen waren offenbar sensibler als andere, schlussfolgerte er.

Das Bild von Dicte Svendsen tauchte in seinen Gedanken auf, untermalt von leiser Musik aus dem Radio. Er sah das mittelblonde Wuschelhaar vor sich, die kleine Narbe am Mund und die intensiven Augen, die zu viel verbargen, um als schön bezeichnet werden zu können. Er seufzte in die Nacht. An einem frischen Tatort in der Nacht zum Sonntag hätte er gut auf die Presse verzichten können und vor allem auf Dicte, doch das lag nicht in seiner Macht.

Er wusste, dass es ihr nicht gut gegangen war, seit vor ein paar Monaten ein Serientäter ihr Leben bedroht hatte. Hin und wieder erzählte Ida Marie von ihrer Journalistenfreundin, die sie häufig im Fitnessstudio oder zum Mittagessen in der Stadt traf, und was sie erzählte, war nicht gerade ermutigend. Trotzdem, dachte er, als er sich der Ringgade-Ausfahrt zum Silkeborgvej näherte. Ida Marie machte sich Sorgen, aber er hatte das Gefühl, dass Dicte Svendsen robuster war, als sie aussah.

 

Schon von weitem spürte er die angespannte Atmosphäre am Hafen. Gruppen junger Diskothekenbesucher liefen den Bürgersteig an der Nørreallee entlang, offensichtlich wollten sie aus dem Hafengebiet und von dem Showboat fort. Sie machten sich auf dem Weg breit, fingen plötzlich an zu drängeln, hielten dann wieder im Laufen inne und schubsten oder traten einander. Er hörte ihre erregten Stimmen in der Nacht. Schwelende Wut brandete von Zeit zu Zeit hoch und drohte sich auf die ganze Stadt auszubreiten.

Das Gebiet um das Showboat war abgesperrt. Ein Ring von Bediensteten und rotweißes Absperrband hielten die Neugierigen vom Tatort fern. Die Techniker waren offenbar schon eingetroffen, da grelle Scheinwerfer die Dunkelheit erhellten. Er musste einem jungen Beamten seine Dienstmarke zeigen, um hinter die Absperrung gelassen zu werden. Aus irgendeinem Grund steckte ihn die Aggressivität an, und er erteilte dem Kollegen einen Rüffel.

»Machen Sie doch die Augen auf, Mann. Dann sehen Sie, dass ich kein Randalierer bin«, hörte er sich sagen.

Der Beamte machte einen langen Hals und sah sich seine Dienstmarke an.

»Entschuldigung«, sagte er, klang aber trotzdem so übereifrig, dass Wagner ihm eine hätte langen können. »Ich habe meine Anordnungen.«

»Das haben die Nazifunktionäre damals auch gesagt«, murmelte Wagner und bereute es sofort.

»Entschuldigung, wie bitte?«

»Vergessen Sie es.«

Poul Gormsen, der in Risskov wohnte, hatte bestimmt den Kystvej genommen. Wagner sah ihn in seinem weißen Overall. Seine Stirnlocke wehte in der nächtlichen Brise. Aus dem Augenwinkel sah er auch Dicte Svendsen, die die Augenbraue ihres Lebensgefährten abtupfte. Irgendjemand hatte ihm einen Faustschlag verpasst, und Wagner nahm an, dass diesem jemand die Kamera nicht gefallen hatte, die an einem Riemen um Bos Hals hing.

Gormsen sprach mit einem Mann in Uniform, in dem er den Dienst habenden Beamten Kasper Grundtvig erkannte. Beide nickten zur Begrüßung, als er sich näherte.

»Wie sieht es aus?«

Grundtvig nahm die Dienstmütze ab und wischte sich mit der Handrückseite den Schweiß von der Stirn. Auch Wagner fühlte sich klamm und dachte für den Bruchteil einer Sekunde, dass jetzt lange genug Sommer gewesen war. Århus glich einem heißen, entzündeten Geschwür, das jeden Augenblick aufgehen konnte. Sie brauchten Wasser. Ein ordentlicher kalter Schauer, der die Gemüter in der Stadt dämpfte, dürfte Wunder wirken. Grundtvig schüttelte den Kopf, bevor er die Dienstmütze wieder aufsetzte. Er nickte zu dem Bündel hin, das hinter einem kleinen blauen Container lag.

»Ein Typ aus Gjellerup hat sie gefunden, als er hinter dem Container pinkeln wollte.«

»Wie alt?« Wagner sah Gormsen an.

»Ein junges Mädchen«, sagte der Rechtsmediziner, »um die achtzehn, denke ich. Es ist zu früh, um etwas zu sagen, aber es sieht nach einem Blutbad aus.«

»Wie lange ist sie schon tot?«

Gormsen zuckte mit den Schultern.

»Nicht lange. Nicht bei der Hitze.«

Zusammen gingen sie zu der Leiche. Die Techniker waren bereits dabei, sie im Licht der Scheinwerfer aus allen Winkeln zu fotografieren. Wagner atmete die klamme Hafenluft ein, und während er das Bündel anstarrte, wurde er von einem seltsamen Durst überfallen, der seinen Gaumen austrocknete. Er hatte sich nie an die Verletzlichkeit gewöhnt, die mit dem Tod einherging, doch bei dieser jungen Frau war das Gefühl der Exponiertheit extrem. Ihrer Schönheit haftete etwas Madonnenhaftes an, wie sie mit dem hellen, offenen Haar dalag, das die Porzellanhaut des Gesichts freigab, die nicht eine Schramme hatte. Die Augen waren geschlossen, der Hals lang, die Finger schlank. Der Mund stand leicht offen; irgendjemand musste nach dem Eintritt des Todes versucht haben, ihn zu schließen. Kein Schmuck, dachte Wagner; weder ein Ring noch eine Halskette.

»Sie hat nichts bei sich«, sagte einer der Techniker, der ihm zur Begrüßung zunickte. »Keine Papiere, keinen Personalausweis, nichts. Sie scheint clean.«

Clean. Sauber. Eine junge Frau ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Wagners Kehle schnürte sich zusammen.

»Und sonst?«, fragte er den Einsatzleiter. »Wie viele haben sie gesehen? Wie viele sind heute Abend hier herumgelaufen?«

»Viele«, sagte Kasper Grundtvig. Er klang plötzlich unendlich müde. »Das Ganze ist völlig außer Kontrolle geraten. Wir mussten Verstärkung aus der gesamten Region anfordern.«

Wagner wusste, was das bedeutete. Polizisten mit Hundestaffeln waren sowohl von Horsens als auch von Silkeborg, Odder, Randers und Viborg gekommen.

»Wir mussten das Hafengebiet räumen«, erklärte Kasper Grundtvig gequält.

Wagner nickte, während die Probleme sich in seinem Gehirn summierten. Eine Menschenhorde war vor kurzem in der Nähe des Tatorts herumgetrampelt. Wahrscheinlich konnten sie es gleich aufgeben, nach brauchbaren Spuren zu suchen. Wenn man eine Leiche loswerden wollte, konnte man sich so gesehen keinen besser geeigneten Ort aussuchen.

Als er eine Zeit lang vor der Leiche gehockt, dem Tod direkt ins Gesicht gestarrt und nach einer Antwort gesucht hatte, die nicht gekommen war, stand er auf und ging zu der Gruppe hinüber, in der Dicte Svendsen stand.

»Das sieht übel aus«, sagte er mit Blick auf Bos blutende Augenbraue. »Hast du ein paar Bilder gemacht?«

Bo schaffte es zu nicken und fast gleichzeitig den Kopf zu schütteln. Halblanges, blondes Haar wippte im Dunkeln, doch Wagner sah, dass der zottige Bart gestutzt war. Ja, ja, dachte Wagner. Wenn man den Mann schon nicht zähmen kann, dann wenigstens den Bart.

»Sie haben mir meinen Speicherchip abgenommen und weggeworfen«, sagte Bo ärgerlich.

»Wo?«, fragte Wagner.

Bo drehte den Kopf Richtung Parkplatz.

»Da drüben irgendwo. Vor einer halben Stunde hat es hier vor Menschen gewimmelt. Es ist ziemlich hoch hergegangen.«

Im gleichen Moment sah Wagner Jan Hansens muskulöse Gestalt, die sich an den Bediensteten vorbeischob und auf sie zukam. Der Schädel rasiert, der Schnurrbart gepflegt. Sanftmütig und mit einer ausgeprägten Begabung, Befehlen Folge zu leisten. Hier kam ein Mann, den seine Frau im Griff hatte.

Schnell weihte er Hansen in das Geschehen ein.

»Wir müssen diesen Chip finden. Sprich mit Kasper Grundtvig und nimm ein paar Leute mit.«

Er nickte Bo zu.

»Brauchst du einen Arzt?«

Bo schüttelte den Kopf.

»Aber der Speicherchip gehört mir«, beharrte er eigensinnig. »Den kann ich euch nicht so ohne weiteres überlassen.«

Innerlich verfluchte Wagner die Presse und ihre heiligen Prinzipien.

»Darüber reden wir später.«

Bo riss sich los, presste ein Taschentuch gegen die Augenbraue und machte sich mit Hansen auf die Suche nach dem Speicherchip. Wenn sie Glück hatten, war etwas darauf, das die Polizei brauchen konnte, dachte Wagner. Falls sie den Fotografen überreden konnten, ihnen den Chip zu überlassen. Wenn sie Pech hatten, schwamm der Chip irgendwo im Hafenbecken und Bo Skytte konnte seine Prinzipien vergessen.

Er wandte sich an Dicte Svendsen. In der halben Sekunde bis einer von ihnen etwas sagte, gingen ihm tausend Gedanken durch den Kopf, und er begriff, warum er so gereizt war. Es lag nicht allein an der Hitze, dem fehlenden Nachtschlaf und dem Tumult, den die Leiche einer jungen Frau im Hafen von Århus mit sich brachte. Es lag auch an der Tatsache, dass Dicte und Ida Marie Freundinnen waren und er nicht wusste, wie viel Ida Marie ihr erzählt hatte. Frauen erzählten sich alles, sagte ihm die Erfahrung. Für sie war es genauso wichtig, sich einander anzuvertrauen, wie es für Männer wichtig war, ihre geheimsten Gedanken für sich zu behalten. Dicte wusste bestimmt Bescheid über ihren Versuch, die Familie um noch ein Kind zu vergrößern, und das irritierte ihn über alle Maßen.

»Und ihr wart zufällig in der Nähe?«

Er sah, wie sie unter seinem barschen Ton zusammenzuckte.

»Wir waren in einem Restaurant im Graven, als Rose anrief.«

Sie sagte das mit einem Blick zu ihrer Tochter hinüber, die dicht neben einem jungen Einwanderer stand. Wagner begriff plötzlich, dass Dicte ihre eigenen Probleme hatte.

»Das heißt, dass sie und ihr Freund schon eine ganze Zeit hier waren, bevor ihr gekommen seid?«

Sie nickte.

»Dann müssen wir die beiden als mögliche Zeugen befragen.«

Er sah die kleine Narbe am Mund nach oben zucken und wusste in etwa, was jetzt kommen würde.

»Wie ungefähr einhundertsiebzehn andere Diskobesucher und die geballte Polizeigewalt von fünf Landkreisen«, sagte sie auch sofort, während ihr Blick ihn anfunkelte. »Und wenn du schon einmal dabei bist, kannst du auch gleich ein paar Polizeihunde verhören.«

Er wartete einen Augenblick, bis sich die Wogen geglättet hatten. Vielleicht sah sie ein bisschen müde aus, aber ihre Worte hatten Biss. Wenn er Ida Marie wäre, würde er sich nicht so viele Gedanken um sie machen.

»Wie geht es sonst?«, fragte er seidenweich.

Sie sah ihn verblüfft an, bevor sie antwortete, gnadenlos ehrlich wie immer.

»Furchtbar.«

Geduldig wartete er, dass sie diese Aussage vertiefte, und hörte sie mit einem tiefen Atemzug Anlauf nehmen.

»Bo fliegt in einer Woche in den Irak, Rose hat einen neuen Freund, und mir tut das Kreuz weh.«

»Neid?«, fragte er mit einem Blick auf Rose und ihren schönen Einwanderer.

»Ischias. Ich habe mir einen Nerv eingeklemmt«, erklärte Dicte und lächelte zum ersten Mal in dieser Nacht.

3

»Das ist kein Problem, Mama, das habe ich doch gesagt.«

Kein Problem. Dicte steuerte um einen Lastwagen herum. Sie waren auf dem Weg zum Gymnasium in Tilst, Rose saß auf dem Beifahrersitz. Dicte schwenkte scharf auf ihre Spur zurück, und der Fahrer hinter ihr drückte auf die Hupe.

»Mama!« Roses erschrockene Stimme erreichte sie durch ihre Mauer aus Wut und Sorge. »Du fährst wie eine Verrückte«, fügte ihre Tochter hinzu, die gerade Fahrstunden nahm und der man so leicht nichts mehr vormachen konnte.

»Vielleicht jetzt nicht«, meinte Dicte und nahm das Gespräch über Roses neuen Freund wieder auf. »Aber das wird es irgendwann einmal werden«, sagte sie in düsterer Vorahnung. »Das ist unumgänglich.«

Rose seufzte und machte mit diesem Seufzer der Frustration aller Teenagertöchter über verständnislose Mütter Luft.

»Er studiert Medizin, das habe ich dir doch gesagt. Er ist integriert.«

Das letzte Wort sprach sie sehr betont aus. Dicte verstand. Es war nicht leicht, im heutigen Dänemark Moslem zu sein. Jeder behandelte einen mit unterschwelligem Misstrauen, sie inklusive. Es war auch nicht leicht für ein dänisches Mädchen, einen moslemischen Freund zu haben. Ohne dass man es verhindern konnte, setzten andere ihn sofort mit Frauenunterdrückung und Fanatismus gleich.

»Ich will nicht sagen, dass Aziz nicht klug und tüchtig ist«, begann sie.

»Was willst du dann sagen?«, fragte Rose sanft.

»Ich will sagen, dass du seine Familie nicht kennst. Ich will sagen, dass in schwierigen Zeiten der Kulturunterschied und eure unterschiedlichen Religionen Probleme machen können. Ich will sagen, dass Liebe nicht immer reicht.«

»Reicht wozu?«

Dicte bog ab und hielt vor dem Gymnasium. Es war Montagmorgen und die vom Wochenende müden Teenager trudelten mit nackten Bäuchen, Jeans und kurzen Röcken, die auf den mageren Hüften hin und her rutschten, zaghaft ein.

»Um glücklich zu werden«, sagte sie und bereute es sofort. Nicht, weil es nicht stimmte, sondern weil sie ihre Tochter nur allzu gut kannte. Rose griff den Ball auch sofort in der Luft auf und schoss ihn leicht und elegant ins Ziel.

»Soll das heißen, dass man glücklich wird, wenn man einen Nichtmoslem zum Freund hat?«, fragte sie unschuldig und sah Dicte in die Augen, bevor sie sich versöhnlich zu ihr hinüberbeugte und ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange gab. »Ich komme mit dem Bus nach Hause.«

 

Während Roses Frage und eine beginnende Migräne in ihrem Kopf rumorten, fuhr sie in die Redaktion in der Frederiksgade. Vielleicht hatte Rose Recht. Vielleicht sollte sie sich nicht einmischen. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Teenagerlieben nicht ewig hielten, war sie alles andere als ein leuchtendes Vorbild. Was wusste sie schon von der Liebe? Sie, die von Roses Vater geschieden war und mit einem acht Jahre jüngeren Fotografen zusammenlebte, der Quecksilber in den Adern hatte und dazu den Hang, sämtliche Kriegsgebiete dieser Welt zu bereisen. Ganz zu schweigen von ihrer eigenen jugendlichen Schwangerschaft und dem zur Adoption freigegebenen Kind, an das sie jeden Tag denken musste. Was wusste sie schon über die Liebe?

Nicht viel, schlussfolgerte sie, als sie auf dem Viborgvej Richtung Stadt fuhr. Aber sie war Mutter, sie hatte den Instinkt einer Mutter, und es war ihr gleichgültig, ob die Welt sie für eine Rassistin hielt, denn sie wusste, dass die Wahrheit anders aussah. Sie machte sich Sorgen, bis ins Mark. Über den Fund der Leiche im Hafen, über die Verbindung von Rose und Aziz und darüber, dass sie in dieser unglückseligen Nacht in der Nähe des Showboats gewesen waren. Sie sah die Katastrophe so deutlich vor sich, wie sie den Hunger in ihrem Magen rumoren spürte, weil sie es nicht mehr geschafft hatte zu frühstücken.

 

Letzterem half sie während der nur spärlich besuchten Morgenkonferenz ab. Nur sie, Davidsen und Holger Søborg, der nach seiner Zeit als Praktikant in der Kriminalredaktion fest angestellt worden war, nahmen daran teil. Cecilie und zwei andere Kollegen hatten Urlaub und Bo irgendeinen Auftrag. Der amerikanische Designguru, den der Vorgesetzte Redakteur in Kopenhagen auf sie gehetzt hatte, war noch nicht aufgetaucht. Umso besser. Sie wusste, dass er über ihren Artikel die Nase rümpfen würde, weil sie ein Veto eingelegt und damit gedroht hatte, ihren Namen aus der Verfasserzeile zu streichen, wenn sich auch nur jemand mit einer Schere näherte.

Bos Foto war gut, aber nicht gut genug, um alleine die Titelseite zu schmücken. Er und Hansen hatten zusammen mit zwei Polizeibeamten den Speicherchip doch noch im Hafen gefunden. Die Bilder gaben die Konfrontation zwischen Polizei und Einwanderern im Halbdunkel wieder, doch die Qualität war körnig und verwackelt und erinnerte an einen Dogma-Film. Bisher hatte Bo sich geweigert, der Polizei irgendetwas zu überlassen.

»Guten Appetit.«

Davidsen kaute auf einem Brötchen herum und nickte dankend. Holger hatte die aufgeschlagene Zeitung mit ihrem doppelseitigen Beitrag über die Vorkommnisse im Hafen vor sich liegen.

»Woher zum Teufel hast du das gewusst?«, fragte er mit nur schlecht verborgenem Vorwurf.

Sie blickte in die schmalen Augen in dem viereckigen Gesicht, das an einen amerikanischen Footballspieler erinnerte, und sah den Neid.

»Wagner hat mich zu Hause angerufen«, log sie, nur um sich an seiner Reaktion zu erfreuen, die auch nicht ausblieb. Wut färbte seine Wangen rot, und das kantige Kinn schoss kampfbereit nach vorn.

»Ist dein persönlicher Kontakt zur Polizei nicht langsam ein bisschen ungesund für die Zeitung?«, schnaubte er und fing an, Schlagwörter wie Abhängigkeitsverhältnis, Favorisierung, Befangenheit und Freundschaftsdienste zu bemühen, während er sich lang und breit über die dringend notwendige Unabhängigkeit der Presse von den Machthabern ausließ.

Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es war immer ein erheiternder Moment, Holger dazu zu bringen, sich über die Prinzipien des Journalismus zu verbreiten. Vor allem, wenn man genau wusste, dass diese Prinzipien nichts als Schau waren. Wie damals, als die Sportjounalistin eine ganze Artikelserie unter seinem Namen veröffentlicht hatte, damit er sich vor dem Chef profilieren konnte.

»Beruhige dich«, sagte sie sanft und griff nach einem Brötchen aus der aufgerissenen Papiertüte. Ein Schweif aus schwarzem Mohn schmückte den Stapel Zeitungen, der auf dem Boden lag. »Ich war mit Bo in der Stadt. Rose hat angerufen. Sie war mit ihrem Freund unten am Showboat.«

»Ich dachte, dahin gehen nur die Einwanderer mit ihren dänischen Matratzen«, warf Davidsen ein, und irgendetwas versetzte Dicte einen Stich in die Magengegend. Sie funkelte ihn wütend an.

»Vielleicht könnten wir unsere Vorurteile einmal einen Moment außen vor lassen und stattdessen die heutige Ausgabe diskutieren und mit den Beiträgen für die morgige weiterkommen.«

»So ein milchCafébrauner junger Stier ist bestimmt ganz schön aufregend für ein junges dänisches Mädchen«, warf Holger ein, der Blut geleckt hatte. »Wer sagt denn, dass sie sich unterhalten müssen?«

Die Kopfschmerzen, die aus dem Hinterhalt aufgetaucht waren, schickten eine Flamme direkt in ihr Gehirn und blendeten für eine Sekunde das rechte Auge. Sie musste sich zusammennehmen, um neutral auszusehen, brachte aber kein Wort heraus.

»Okay«, erbarmte sich Davidsen. »Sehen wir uns die Ausgabe an, bevor Gottvater auftaucht und überall hellrote Kästchen haben will.«

Gottvater war der Zeitungsdesigner Larry Olsson, der vor ewigen Zeiten der USA Today ein neues Aussehen verpasst hatte und den eine abnehmende Erfolgswelle erst in der Redaktion in Kopenhagen und jetzt in Århus angeschwemmt hatte. Wenn sie sich schon auf nichts anderes einigen konnten, so wenigstens darauf, über ihn und seinen Hang zu lästern, den ganzen Text in farbige Blöcke zu setzen. Er liebte es, den Fluss der Artikel zu unterbrechen, Fakten herauszustellen und rechts und links an den Seiten in Kästchen zu platzieren. Das Resultat war nach Meinung aller Journalisten eine Zeitung, die an ein buntes Karnevalskostüm erinnerte.

»Ich denke, dass ich zu einer Pressekonferenz muss, wenn der Polizei der Obduktionsbericht vorliegt«, sagte Dicte.

»Gut.«

Davidsen sah zu Holger hin.

»Kümmerst du dich um die City Vest und die Einwanderer?«

Holger nickte. Bei Dicte meldete sich ein ungutes Gefühl.

»Hüte dich vor Vorurteilen«, sagte sie.

Holger sah sie an. Ein kleines Lächeln umspielte seine Oberlippe.

»Hüte dich vor deinen, dann hüte ich mich vor meinen.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und kramte Tonbandgerät und Kopfhörer hervor. Das Band enthielt ein langes Interview mit einem ehemaligen FN-Soldaten, der in Bosnien Dienst getan hatte, bis die dänischen Streitkräfte nach acht Jahren zurückbeordert worden waren. Es war eine persönliche und facettenreiche Geschichte, die von Scharmützeln, Verlusten und einem Kameraden erzählte, der wie viele andere Soldaten Leukämie bekommen hatte, möglicherweise weil er mit uranangereicherter Munition in Berührung gekommen war. Eine groß angelegte ärztliche Untersuchung der Zusammenhänge hatte zu keinem Ergebnis geführt. Trotzdem beherrschte die Angst, Blutkrebs zu bekommen, die heimgekehrten Soldaten.

Sie versuchte sich zu konzentrieren. Doch obwohl die Geschichte interessant war, tauchten die jüngsten Ereignisse immer wieder auf und nahmen ihr die Aufmerksamkeit. Das Bild der toten Frau im Hafen geisterte zusammen mit dem Schmerz durch ihren Kopf, bis sie aufgeben und in ihrer Tasche nach dem Röhrchen mit den Tabletten suchen musste. Sie holte sich in der Küche ein Glas Wasser, stand am Waschbecken und schluckte ein paar Pillen, von denen sie wusste, dass sie nur wenig Linderung bringen würden. Die Ursache konnten sie nicht bekämpfen. Vergebens versuchte sie, die Gedanken beiseitezuschieben, doch zusammen mit dem Bild der toten Meerjungfrau mit dem blutigen Unterleib stürmten sie auf sie ein. So durfte kein Menschenleben enden. Ihr Instinkt irrte sich einfach.

Sie stellte das Glas mit einem Knall auf den Tisch und ging zurück zu ihrem Bildschirm, wohlwissend, dass sie naiv war. Denn sie wusste schließlich, dass das Leben so oder auf ähnliche Art enden konnte, an jedem einzelnen Tag, an jedem Ort auf dieser Erde.

Sie hatte sich gerade hingesetzt und das Tonbandgerät wieder eingeschaltet, als das durchdringende Läuten des Telefons sich durch die Kopfhörer hindurch meldete.

Einen kurzen Moment war sie sicher, dass Kaiser mit einem neuen Befehl am Apparat war, doch das Display zeigte Annes Handynummer, und sie griff eilig nach dem Rettungsanker Telefon.

»Hallo.«

»Wo bleibst du?«

Die Gedanken rotierten wie beim Roulette, dann erinnerte sie sich wieder.

»Shit! Das habe ich ganz vergessen.«

»Kommst du noch?«, fragte Anne.

Dicte sah auf die Uhr und tröstete sich damit, dass sie noch nicht völlig an Alzheimer litt. Am Morgen hatte sie zumindest daran gedacht, die Sportsachen einzupacken.

»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen.«

»Weswegen?«, fragte Anne, die einen siebten Sinn besaß.

»Es ist nichts«, log sie und fügte schnell hinzu: »Ich komme. Ich muss nur noch einen Anruf erledigen. In einer Viertelstunde bin ich da, okay?«

Anne war zufrieden. Dicte rief Wagner im Polizeipräsidium an, obwohl sie wusste, dass er ihr nichts sagen würde.

»Wie läuft es? Hast du etwas von Gormsen erfahren?«

Wagner seufzte am anderen Ende der Leitung.

»Beschissen, was Ersteres angeht, ja, was Letzteres betrifft.«

»Ersteres ist also durch Letzteres bedingt«, schlussfolgerte Dicte und ahnte, was das bedeutete, nämlich dass der Obduktionsbericht die Identität der Frau nicht enthüllt hatte und die Kriminalpolizei im Trüben fischte.

»So ungefähr«, antwortete Wagner.

»Woran ist sie gestorben?«

»Um drei gibt es eine Pressekonferenz«, sagte Wagner kurz angebunden und legte auf.

Ein paar Sekunden lang saß sie mit dem tutenden Hörer in der Hand da, dann stand sie auf und ging. Sie wusste ganz genau, dass Wagner warten und die sparsamen Informationen der gesamten Presse zukommen lassen musste. Er konnte es sich nicht leisten, eine Journalistin zu bevorzugen, nur weil sie mit seiner Lebensgefährtin befreundet war. Aber den Versuch war es wert gewesen.

4

Wagner starrte verstimmt auf das Telefon.

Dicte Svendsen und ihre Neugier waren nicht gerade das, was er jetzt brauchte.

Er blieb eine Weile sitzen und versuchte zur Ruhe zu kommen, während er darüber nachdachte, was er eigentlich wollte. Vielleicht in seinem Lieblingsstuhl zu Hause sitzen, Bachs Wohltemperiertes Klavier hören und ein kaltes Bier trinken. Oder den verdammten Chip, den Bo Skytte nicht herausrücken wollte und der vielleicht einen kleinen Hinweis geben konnte, in welche Richtung sie ermitteln sollten. Er wusste genau, dass er es nicht Dicte anlasten konnte, wenn ihr Lebensgefährte mit Informationen geizte und wie ein Paragrafenreiter auf dem Gesetz der Pressefreiheit und des Quellenschutzes herumritt. Aber er war auch nur ein Mensch, und er hatte einen scheußlichen Mord aufzuklären. Außerdem war es so verdammt heiß.

Er zog eine Papierserviette aus der Pappschachtel auf dem Schreibtisch und trocknete sich die Stirn. Dann griff er nach dem Wasserglas und trank von der warm gewordenen Brühe.

Vielleicht brauchte er vor allem eine Klimaanlage, damit er endlich wieder klar denken konnte. Er vertrug die Hitze einfach nicht. Schließlich fasste er einen Entschluss, schob den Stuhl zurück und verließ das Büro. Der Fahrstuhl war außer Betrieb, deshalb nahm er die Treppe hoch zur polizeitechnischen Abteilung und drückte außer Atem auf die Klingel. Seine Kondition war schlecht, das wusste er. Aber dass ihm schon bei der kleinsten Anstrengung der Schweiß ausbrach, überraschte ihn doch.

Ohne dass er es verhindern konnte, hörte er wieder seine innere Uhr ticken, und im Geiste sah er den Sekundenzeiger, der sich unbarmherzig bewegte. Er näherte sich der Vierundfünfzig und Wagner war aufmerksamer geworden, was sein Alter, seinen Körper und dessen Verfall anging. Und all der Dinge, die er nicht mehr konnte oder von denen er das Gefühl hatte, sie nicht mehr zu können. Wie zum Beispiel zu Hause mit Alexander auf dem Rasen Fußball zu spielen. Nach ihrem letzten Spiel hatte er sich wie nach einem Marathon gefühlt, so erschöpft war er – und das nicht nur physisch. Vielleicht war das eine Art Krise, überlegte er kurz, schob den Gedanken jedoch schnell wieder beiseite. Er hatte keine Zeit für Krisen.

Die Tür zu der Abteilung im vierten Stock war wie immer geschlossen. Es ging nicht an, dass alle möglichen Leute zwischen Schubladen und Schränken voller Beweismaterial und Ordnern mit zusammengetragenen Spuren herumliefen.

Hinter der Tür hörte er Schritte. Kjeld Haunstrup machte ihm auf.

»Genau dich habe ich gesucht«, sagte Wagner.

Haunstrup hatte rote Haare und glich einem Komiker aus einem alten dänischen Film. Karamellfarbene Sommersprossen zierten seine Stupsnase. Der Mund war breit und fast immer zu einem schelmischen Lächeln langgezogen, wie auch jetzt.

»Ja, dann komm rein.«

Haunstrup trat galant zur Seite und ließ den Gast ins Allerheiligste.

»Habt ihr etwas gefunden?«, fragte Wagner.

Als er die Frage gestellt hatte, wurde ihm klar, dass er genau deshalb gekommen war. Um den Frauenmord im Hafen aufzuklären und nicht, wie er ursprünglich geglaubt hatte, um den Kauf eines Gemäldes für den Kunstverein der Polizei zu diskutieren. Als Vorsitzender dieses Vereins ging Wagner auf Ausstellungen und besuchte Künstler, und hin und wieder musste er seine Entscheidungen mit dem zweiten Vorsitzenden diskutieren. Er hatte dies noch vor der Pressekonferenz erledigen wollen.

Jetzt war er ein wenig verlegen. Er trieb die Kriminaltechniker, die meist ausgezeichnete Arbeit leisteten, gewöhnlich nicht zur Eile an, doch Haunstrup schien nichts gegen seine Frage zu haben.

»Nicht viel, tut mir leid. Aber etwas finden wir immer.«

Letzteres sagte er aus reiner Höflichkeit, das wusste Wagner. Um ihn nicht total zu enttäuschen.

Sie gingen zusammen den Gang hinunter. In diesen wenigen Sekunden nahm Wagner die besondere Atmosphäre der technischen Abteilung in sich auf.

Einst hatte er selbst mit dem Gedanken gespielt, sich zum Techniker weiterbilden zu lassen. Der Job gefiel ihm, und er hatte Sinn für Ordnung, doch das Talent fürs Praktische, das auch dazu nötig war, fehlte ihm. Man musste ein wenig von einem Handwerker haben und man musste gut mit den Zahlen sein. Alles wurde von vorne bis hinten nummeriert, denn hier ging es um Beweismaterial, das vor Gericht Bestand haben musste, und es wäre fatal, zwei Spermaproben in einem Vergewaltigungsdelikt zu vertauschen oder einen falschen Fingerabdruck an die Abteilung in Kopenhagen zu schicken. Und wenn die Gerichte erst einmal Schlamperei witterten, wirkte sich das auf den eigenen Ruf aus. Es war nun einmal so, dass den Ergebnissen der Techniker vor Gericht ungeheures Gewicht beigemessen wurde.

»Ich habe mir gerade einen Beutel aus dem Drogenfund letzte Woche vorgenommen.«

»Du meinst die Sache in der Munkegade?«

Haunstrup nickte.

»Ich habe einen brauchbaren Abdruck gefunden.«

Er öffnete die Tür zu dem Raum, in dem der Bedampfungsschrank stand. Wagner war schon viele Male dort gewesen, und wie immer imponierte ihm das System. In dem Schrank hingen einige harmlos aussehende Beutel mit weißem Pulver. Alle waren nummeriert. Eine weiße Haut hatte sich wie Mehlstaub auf die Beutel gelegt. Er wusste, dass dies passierte, wenn die Feuchte im Schrank eingeschaltet wurde und demineralisiertes Wasser eine Verbindung mit den Dämpfen einging. Die Bedampfungsmethode wurde vor allem angewandt, um Fingerabdrücke auf Plastik und lackiertem Holz zu sichern, wie zum Beispiel dem Schaft einer Axt. Bei rohem Holz war es komplizierter. Hier wurde die Ninhydrin-Methode angewandt und das Holz in ein chemisches Bad gelegt.

Haunstrup öffnete den Schrank und holte einen Beutel heraus. Er hielt ihn sorgfältig am Bügel fest und fasste ihn nicht an.

»Schau es dir selbst an.«

Er zeigte auf etwas. Wagner suchte den Staub ab und hatte Schwierigkeiten, das Muster eines Fingerabdrucks zu erkennen. Vielleicht brauchte er doch eine Brille.

»Genau da.«

Plötzlich sah er es. Ganz deutlich. Winzige Wirbel schlängelten sich ineinander, bis sie sich in einer kleinen Spirale in der Mitte trafen.

»Schön«, sagte er und wünschte, das wäre sein Fall. Es bedeutete immer einen Durchbruch, wenn ein brauchbarer Fingerabdruck gesichert werden konnte. In der Regel ließ sich damit ein Verdächtiger beim Verhör festnageln. Es sei denn, man hatte es mit einem Rocker zu tun. Die sagten nie etwas.

Alle hatten von dem Rauschgiftfund gehört. Die Polizei hatte einen brauchbaren Tipp bekommen und eine Wohnung im Zentrum von Århus durchsucht. Man hatte über ein Kilo Heroin und einiges an Hehlerware gefunden. In der Wohnung wohnte ein Libanese.

»Habt ihr in dem Rauschgiftfall noch etwas anderes entdeckt?«

Haunstrup zuckte leicht mit den Schultern.

»Nicht viel. Nur ein paar Haare. Wie gewöhnlich, hätte ich beinahe gesagt. Es findet sich ja fast immer etwas, wenn man genauer hinsieht.«

»Und in dem anderen Fall? Dem Mord im Hafen?«

»Das Gleiche. Ein paar Fasern auf der Decke, das ist alles. Nichts Spektakuläres.«

»Von Tieren oder von Menschen?«

»Beides, denke ich«, antwortete Haunstrup. »Wir haben alles an die Morphologen nach Kopenhagen geschickt, eine Probe sah aus wie Struppis Haare.«

»Struppis Haare?«

Haunstrup lachte sein Mick-Jagger-Lachen.

»Unser Hund. Ein Drahthaarfox.«

Er nahm einen Umschlag und steckte den Beutel mit dem Fingerabdruck hinein.

»Jetzt können die in der Hauptstadt sich den Kopf darüber zerbrechen.«

Wagner stand auf. Er nickte in Richtung des Umschlags.

»Ich hoffe, er ist registriert.«

Haunstrup kreuzte Zeigefinger und Mittelfinger und hob sie beschwörend hoch. Wagner wusste, wie wichtig das war. Wenn die Fingerabdrücke des Täters im Archiv des CFI, des Zentralbüros für Identifikation, waren, war die Chance groß, dass sie ihn kriegten. Wenn nicht, halfen ihnen die Fingerabdrücke so gesehen gar nichts, es sei denn, sie hatten einen Verdächtigen.

»Hast du dir die Kvium-Ausstellung angesehen?«, fragte Haunstrup, während er ein Formular ausfüllte, das dem Beutel beigefügt werden sollte.

»Ja«, sagte Wagner und spürte plötzlich wieder die Müdigkeit. »Darüber wollte ich eigentlich mit dir sprechen. Eins der Bilder können wir vielleicht zu einem erschwinglichen Preis bekommen. Du solltest es dir ansehen.«

Haunstrup machte einen leicht gehetzten Eindruck.

»Wir haben alle Hände voll zu tun. Aber der Künstler hat einen guten Namen, und wenn der Preis in Ordnung ist, kannst du ruhig ja sagen. Ich bringe dich hinaus«, fügte er hinzu.

Auf dem Weg den Gang hinunter kamen sie an der Tafel mit den verschiedenen Seilen und Knoten vorbei. Wagner dachte kurz an einen anderen schwierigen Fall, den er früher im Jahr bearbeitet hatte. Die Schwester von Dicte Svendsens Nachbarin war mit einem Seil um den Hals und einer Axt im Kopf im Moor von Kasted gefunden worden. Die Ermittlungen waren zunächst nur schwer vorangekommen, doch verschiedene Spuren, die die technische Abteilung sichergestellt hatte, hatten schließlich zur Lösung des Falls geführt. Vielleicht würde es auch diesmal so sein, dachte er hoffnungsvoll. Vielleicht würde ein Wunder geschehen, die unglückselige Frau aus dem Hafen konnte identifiziert werden, und die Verantwortlichen würden verurteilt werden.

Haunstrup schien seine Gedanken zu lesen.

»Das ist schlimm, was da im Hafen passiert ist. Die Obduktion war ein Schock, nicht?«

Wagner schauderte. Er mochte gar nicht daran denken. Er und Hansen hatten zugesehen, wie Gormsen die Frau aufgeschnitten und getan hatte, was er am besten konnte. Bei dem Resultat lief es ihm noch immer kalt den Rücken hinunter.

Er sah Haunstrup an.

»Es ist mir egal, wie wenig du hast. Auch wenn es nur ein mikroskopisches Partikel von einem Haar oder ein Krümel von einem Brötchen ist. Wir müssen diese Teufel kriegen – so schnell wie möglich.«

Haunstrup schien nicht überrascht, weder über den Tonfall noch über das leichte Zittern in seiner Stimme. Er legte Wagner freundschaftlich eine Hand auf die Schulter.

»Ich kümmere mich darum. Wir nehmen uns die Decke noch einmal vor«, versprach er.

5

Das Fitnessstudio lag im Frichspark, wo früher die alte Frichsfabrik gestanden hatte. Statt von Gastarbeitern in blauen Overalls wurde das Gebiet jetzt von Anwälten, Wirtschaftsprüfern, Angestellten des Zollamts und Schülern der kommunalen Fortbildung bevölkert, die in den neu errichteten Gebäuden untergebracht war. Es gab auch eine Firma für Büromöbel und einen Weingroßhandel mit Lagerverkauf.

Dicte parkte in einer der ausgewiesenen Parkbuchten und stellte die Parkscheibe ein. Sie stieg aus, warf sich die Sporttasche über die Schulter und ging eilig zu Norsk Sekvenstraening hinüber, ihrem Fitnessstudio, das neben der Fortbildungsstätte lag. Ein Blick durch die Fenster zeigte fleißige Mitglieder, die sich an diesem Montagvormittag an den Geräten abmühten, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, was sie wohl taten, wenn sie keine Gewichte stemmten, an den Geräten trainierten oder auf den Matten lagen und sich nach einer Stunde freiwilligen Masochismus entspannten. Wie sagte sie immer zu Anne: »Das können doch nicht alles Journalisten oder Hebammen sein.«

Anne hatte ihren Nachtdienst, sie ihre nächtlichen Termine an diversen Tatorten und ihre Artikel mit kurzer Deadline und den Überstunden, die sich dadurch anhäuften. Was taten die anderen? Was für ein Leben ließen sie zu Hause oder am Arbeitsplatz hinter sich, wenn sie sich mehrmals die Woche abmeldeten, die Uniform aus- und ihre Trainingsklamotten anzogen?

Anne war der Meinung, dass sie zu neugierig war. Als sie die Tür aufstieß, dachte sie, dass sie das von Anne unterschied, die immer die Diskretion in Person war: das ewige Fragen. Die Neugier, die ihr Leben beeinflusst hatte und die sie oft weit weg wünschte, weil ohne sie alles viel einfacher wäre. Wie jetzt dieser Mord im Hafen. Was ging es sie eigentlich an, wer diese Frau war und wie sie dort gelandet war? Wäre es nicht viel einfacher, Holger Søborg diese Geschichte zu überlassen?

»Hei. Wovon träumst du denn?«

Anne schwitzte, nachdem sie auf dem Ergometer trainiert hatte. Dictes Hand fühlte bei der obligatorischen Umarmung das klamme T-Shirt.

»Von der Frau im Hafen?«, fuhr Anne fort, die Psychologin hätte werden sollen. »Kann das nicht ein anderer machen?«

Dicte warf ihre Tasche über die Schulter und betrat barfuß den Trainingsraum mit Anne im Gefolge.

»Da ist kein anderer«, sagte sie über die Schulter. »Niemand Kompetentes. Wir haben Ferien«, erklärte sie.

»Ferien«, wiederholte Anne und blieb neben ihr stehen, als Dicte ihre Karteikarte aus dem Kasten auf der Theke nahm und sich zum heutigen Training eintrug. »Ich wünschte, die Leute hätten daran gedacht, als sie in den Weihnachtsferien neue Kinder produziert haben.«

»Woran?«

Anne, die aus Korea kam und adoptiert worden war, sah sie mit einem Lächeln in den schrägen Augen an. Feine Lachfältchen zogen sich die hohen Wangenknochen entlang.

»Daran, dass Hebammen auch gerne im Sommer Ferien machen.«

»Habt ihr sehr viel zu tun?«

Sie wusste genau, dass diese Frage überflüssig war. Die kleinen Krankenhäuser hatten ihre Entbindungsstationen geschlossen, sodass alle werdenden Mütter in den Einzugsbereich des Krankenhauses in Skejby wallfahrteten, wo Anne arbeitete.

Die Freundin zog die schmalen Augenbrauen bis hoch unter den Pony.

»Viel zu tun ist eine Untertreibung. Megaviel ist passender. Die Kleinen stehen in den Gebärmüttern Schlange, und am liebsten kommen sie nachts.«

Dicte suchte nach Anzeichen von Müdigkeit bei Anne, die oft Nachtdienst hatte und deren Mutter darüber hinaus nach einer Hirnblutung im Krankenhaus lag. Aber sie sah genauso frisch und alterslos aus wie immer.

»Soll ich das als Klage über den Job verstehen?«

Anne lächelte breit.

»Nie und nimmer.«

»Wie geht es deiner Mutter?«

Das Lächeln wurde zu einem Zucken um die Mundwinkel, und einen Moment lang bereute Dicte ihre Frage. Aber sie kannten einander so gut, und die Trauer brauchte auch ihren Platz.

»Die Ärzte drucksen herum. Sie wagen nicht, freiheraus zu reden.«

»So schlimm?«

Anne nickte. Dicte streckte die Hand aus, und für einen Moment standen sie da wie eine Skulptur zweier sich umarmender Menschen. Dann befreite sich Anne.

»Mist«, sagte Dicte und griff nach ihrer Tasche.

 

Anne ging an die Geräte, während Dicte sich umzog und auf dem Ergometer aufwärmte. Sie sah den Mann den Raum betreten, während sie auf dem Rad saß und leicht gelangweilt in die Pedale trat. Zuerst fiel ihr seine Größe auf. Er war groß und breit, füllte den Raum aber auch noch auf eine andere, weniger greifbare Weise aus. Er hatte eine flaschengrüne Sporttasche über der Schulter und trug Jeans und ein schwarzes, kurzärmliges Polohemd. Kurz gesagt war er ganz unauffällig und doch wieder nicht. Sie dachte an Bo und seine magere, sehnige Gestalt; an das zottige, lange Haar und den Bart, den zu stutzen sie ihn immer erinnern musste, damit er nicht wie ein albanischer Flüchtling aussah. Sie dachte an seine ewige Rastlosigkeit, durch die sich die Nervosität im ganzen Haus ausbreitete. Und voller Scham sehnte sie sich plötzlich nach Ruhe und Sicherheit und der Umarmung eines großen Mannes mit einer Stimme, die dunkel wie Mahagoni klang. Sie stellte in der Regel keine Vergleiche an, doch diesmal tat sie es. Und dieser Vergleich fiel nicht zu Bos Vorteil aus.

Der Mann checkte ein, wie sie selbst es zuvor getan hatte. Als er sich umdrehte, um die Treppe hinauf in die Umkleide zu gehen, sah er sie direkt an, und sie spürte, wie ihr das Blut bis in die Haarwurzeln schoss. Vielleicht weil sie ihn so intensiv anstarrte, nickte er ihr zu, als wären sie alte Bekannte, und sie nickte zurück.

 

»Wer ist das?«, fragte sie Anne, als sie später nebeneinander an den Geräten trainierten, während der Mann sich auf dem Ergometer aufwärmte. »Hast du ihn schon einmal hier gesehen?«

Anne streckte den Arm aus, zog energisch an der Eisenstange und absolvierte ihre Wiederholungen.

»Warum?«

Bos Nachricht vom Vorabend schob sich ihr in den Kopf. In den Irak. Leicht widerwillig erzählte sie Anne davon, die immer die Meinung vertreten hatte, dass Bo zu einem normalen Zusammenleben nicht taugte, das auf Ruhe und Regelmäßigkeit basierte.

»Ich kenne ihn nicht persönlich«, schnaufte Anne leise. »Aber er heißt Jeppe Vrå und ist Arzt draußen in Marselisborg.«

»Ich dachte, sie hätten das Krankenhaus geschlossen.«

»Das haben sie auch, aber die Hautklinik und die Veneria-Klinik gibt es noch.«

»Die für Geschlechtskrankheiten?«

»Für HIV und Aids unter anderem.«

»Ist er HIV-Arzt?«

Anne nickte.

»Soweit ich weiß, ein Experte.«

»Okay.«

»Okay was?«

Dicte erwog diverse Möglichkeiten. Sie konnte leicht einen Artikel vorbereiten, für den sie ein Interview mit einem HIV-Experten aus Århus brauchte.

»Dicte?«

Annes Stimme drang durch den Lärm der Geräte.

»Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.«

Der Stoß traf ihre Magenregion hart und gründlich, und ein Gefühl der Scham stellte sich ein. Sie standen auf und nahmen ihre Handtücher zum nächsten Gerät mit.

Anne stöhnte und rang sich zu der ersten der üblichen fünfzehn Wiederholungen durch, die alle Muskeln beanspruchten.

»Aber das muss ja kein Hindernis sein«, fügte sie endlich mit einem Kichern hinzu.

Dicte entschloss sich, die Bemerkung zu überhören, auch wenn sie hätte einwenden können, dass Bo von seiner Ehe bereits genug gehabt hatte, bevor sie sich zum ersten Mal begegnet waren, und dass seine Exfrau eine unsympathische, hysterische Ziege war. Ein schlechtes Gewissen? Sie?

Sie absolvierte ihre Bauchübungen, während Anne aufgab und ein Glas Wasser trinken ging. Sie hatte nie Gewissensbisse gehabt, dass Bo sich zu der Trennung entschlossen hatte, auch wenn Ninka und Tobias dadurch zu Scheidungskindern geworden waren.

Es konnte gut sein, dass sie auf dem Holzweg war, doch ihrer Meinung nach war eine Scheidung nicht immer das Schlechteste. Nichts im Leben war so einfach, dass man die Antwort in einem Nachschlagewerk finden konnte.

 

»Was glaubst du eigentlich, wer ich bin?«, fragte Anne leise, nachdem sie geduscht hatten und sie nackt mit der Narbe von der Brustkrebsoperation dastand, die wie eine hellrote Laterne in all der Schönheit leuchtete.

»Ich habe mir in letzter Zeit so meine Gedanken gemacht.«

Es sah Anne nicht ähnlich, philosophisch zu werden.

»Wie meinst du das?«, fragte Dicte. »Eher im Sinne von wer sind wir und wo kommen wir her und wo gehen wir hin oder konkreter?«

Anne lächelte. Sie stand abwechselnd erst auf dem einen und dann auf dem anderen Bein und zog ihren Slip an. Tropfen aus ihrem nassen Haar flogen durch die Luft und landeten auf Dictes Arm.

»Konkreter.«

»Du kommst aus Korea, verdammt.«

Dicte setzte sich auf das Handtuch und holte frische Kleidung aus der Tasche.

»Korea ist groß.«

In all den Jahren hatten sie nur selten darüber gesprochen. Das interessiert mich nicht, hatte Anne immer gesagt. Sie hatte ihre Familie in Dänemark. Sie war Dänin. Sie war keine Spur anders. Dicte schüttelte den Kopf.

»Du wolltest nie etwas wissen. Und jetzt beginnst du dir mit einem Mal Fragen zu stellen? Mit dreiundvierzig?«

Anne nahm ihre Jeans vom Haken und zog sie an.

»Warum?«, fragte Dicte und plötzlich wusste sie es. »Deine Mutter?«

Anne zog Reißverschlüsse hoch und machte Knöpfe zu. Sie nickte.

»Wer ist eigentlich noch übrig von der Familie, wenn sie einmal nicht mehr ist?«

Dicte fiel nicht gleich eine passende Antwort ein. Annes Vater war gestorben, ohne dass er und Anne sich versöhnt hatten. Er war Pfarrer, aber nicht fähig gewesen, sein adoptiertes Kind zu lieben.

»Hast du einen Entschluss gefasst?«, fragte sie stattdessen.

Anne ging zum Haartrockner und begann ihr Haar zu föhnen.

Irgendwo gibt es vielleicht einen Bruder oder eine Schwester, dachte Dicte. Irgendwo gibt es vielleicht eine Mutter, die jeden Tag an die Tochter denkt, die sie weggegeben hat.