Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - E-Book

Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi E-Book

Elsebeth Egholm

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Beschreibung

Der zweite Fall für die unerschrockene Journalistin Dicte Svendsen: Zuerst brennt der Pferdestall von Dictes Nachbarin ab. Kurz darauf wird die zugerichtete Leiche einer jungen Frau im Moor unweit von Aarhus gefunden – es ist Inger, die Schwester der Nachbarin. Spätestens als noch eine ähnlich entstellte weibliche Leiche entdeckt wird, ist Dictes Interesse ist geweckt, denn sie soll einen Artikel darüber schreiben. Als dieser veröffentlich ist, erhält sie eine Morddrohung. Ist sie das nächste Opfer?"Ein packender Krimi, der einen in Atem hält." - Jyllands-Posten"Egholm changiert auf brillante, einzigartige Weise zwischen Lifestyle, Familie und brutalem Verbrechen." - Politiken"Egholm at her best - eine der grossartigsten nordischen Kimiautorinnen" - Midtjyllands Avis"Ein erstklassiger Krimi, packend von der ersten bis zur letzten Seite." - Weekendavisen"Eine hinreißende Protagonistin und die Fülle an raffinierten Details machen diesen Krimi zu einem besonderen Lesegenuß."Berlingske Tidende-

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Elsebeth Egholm

Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi

Übersetzt Hanne Hammer

Saga

Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi ÜbersetztHanne Hammer OriginalSelvrisikoCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2004, 2020 Elsebeth Egholm und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726569636

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1

Zuerst glaubte sie, es läge an dem billigen Wein aus dem Supermarkt. Denn warum sonst sollte ihr Kopf dröhnen, als wären siebenundzwanzig Bauarbeiter dabei, eine Wand einzureißen?

Natürlich konnte es auch an der Menge liegen, dachte Dicte im Halbschlaf und streckte die Hand nach Bos warmem Körper aus. Hauptsächlich, um sein infernalisches Schnarchen abzustellen, das ihren Kater noch verschlimmerte.

Wann war er ins Bett gekommen? Wie lange hatte sie geschlafen?

Sie rollte sich vorsichtig auf die Seite und sah auf die fluoreszierenden Zeiger der Uhr, die auf halb drei standen. Die Datumsanzeige war natürlich nicht richtig eingestellt. Sie zeigte seit Jahren den zweiten August an. Der Zweite stimmte, aber der Monat nicht, denn der Februar hatte gerade begonnen. Draußen musste pechschwarze Nacht sein, laut TV2 und der Meteorologin – wie hieß sie doch gleich? – minus fünfzehn Grad und klirrender Frost, weshalb sie Thermosocken angezogen hatte, als Bo sich geweigert hatte, zusammen mit ihr zu Bett zu gehen. Traurig und halb betrunken war er vor dem Fernseher sitzen geblieben und hatte sich irgendwelche Sportsendungen angesehen. Der Teufel sollte alle Exfrauen und ihre Eifersucht holen, unter der sie die Kinder leiden ließen. Und Bo. Und sie, natürlich; denn sie litt, auch wenn sie sich weigerte, das zu akzeptieren.

Ein Arm langte quer über das Bett und traf unsanft ihre Brust.

»Was ist denn los?«, murmelte er mit gebrochener Stimme.

»Keine Ahnung.«

Sie wollte sagen, dass er weiterschlafen solle. Sie hatte nicht die Kraft, weiterzureden und sich anzuhören, wie sehr er die Kinder vermisste und dass er sie bald kidnappen und mit nach Wer-weiß-wohin nehmen werde. Nicht, dass er in Wirklichkeit so viel sagte, aber sie konnte es ihm ansehen.

Er zog sie näher zu sich heran. Ganz nah. Er schlang seine Beine um ihre und erstarrte.

»Was zum Teufel ist das?«

Er warf die Decke zur Seite und schaltete das Licht ein.

»Thermosocken«, murmelte sie leise und kam sich wie eine alte, zimperliche Jungfer vor. »Mir war kalt.«

Er warf einen gleichgültigen Blick auf die Socken. Er sah verschlafen aus und roch nach billigem Wein; vielleicht konnte man die Sparsamkeit auch übertreiben.

»Das meine ich nicht. Was ist das für ein Krach?«

Das Geräusch war die ganze Zeit über da gewesen. Wahrscheinlich hatte es sie geweckt. Plötzlich war sie hellwach und wütend.

»Verdammte Lausegören. Das sind doch wieder Silvesterknaller.«

Die Dorfjugendlichen mussten ein ganzes Lager aufgekauft haben. Jedenfalls hatten sie mehrere Tage hintereinander Raketen und Knaller abgeschossen, und sie war sicher, dass der Hund unten vor Schreck unter die Anrichte gekrochen war und zitterte.

Aber Bo schüttelte den Kopf und schwang die Beine aus dem Bett.

»Nicht um halb drei morgens. Und dann das Licht.«

Er hatte Recht. Die durch das Dachfenster hereinfallende Nacht färbte ein orangeroter Schimmer, der nicht von dem üblichen Licht der vier Kilometer entfernt liegenden Treibhäuser kam. Er torkelte auf bloßen Füßen zum Fenster, und einen kurzen Moment sah sie in dem orangen Schein sein Profil und vermisste die Verliebtheit.

»Es brennt«, sagte er atemlos.

Jetzt stand sie neben ihm und sah die Explosionen. Das Dach des nachbarlichen Stalls zerbarst wie Popcorn in einem Topf. Puff. Puff. Funken sprühten, und Flammen leckten an dem Nachtfrost. Ihr Körper war steif, vielleicht nur eine Sekunde; an der Stelle festgefroren. Doch dann taute er auf, und sie wollte in Thermosocken und Schlafanzug die Treppe hinunterlaufen, weil sie plötzlich etwas anderes hörte; ganz entfernt. Einen anderen, lebendigeren Laut.

»Die Pferde!«

Sie war schon fast die Treppe hinunter, als sie stolperte und die letzten Stufen auf dem Hintern weiterrutschte.

»Wir müssen die Pferde rausholen.«

 

Sie hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, wie lange es dauerte, Gummistiefel anzuziehen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor.

Sie hörte Bo hinter sich nach dem Telefon greifen. Natürlich, dachte sie, als der Frost ihr den Atem nahm und der Schnee unter ihren Stiefeln knirschte. Vernünftig.

Das war das Mantra. Vernünftig. Klar denken. Nicht in Panik verfallen wie die Pferde, die vor Angst wieherten. Und dann überfiel sie doch die Ratlosigkeit. Sollte sie an die Tür des Wohnhauses klopfen oder erst den Pferden helfen? Die Bewohner machten in Norwegen Skiferien, soweit sie wusste. Aber da war die Frau, die dort zur Miete wohnte. Die Schwester, soweit sie sich erinnerte. Auch auf dem Land hier draußen kannte nicht mehr jeder jeden. Vor allem nicht, wenn man verhältnismäßig neu zugezogen war wie sie.

Das Wiehern der Pferde ließ sie eine Entscheidung treffen. Sie war nur ein einziges Mal drüben im Stall gewesen, als Svendsen eine der Hofkatzen um einen Haufen Strohballen gejagt hatte. Sie hatte ihn geholt und war von der Frau zur Rede gestellt worden. Sie war Organistin, soweit sie sich erinnerte. Jedenfalls hatte sie etwas mit der Kirche zu tun.

Die Schiebetür war schwer. Sie musste ihre ganze Kraft einsetzen, während Funken vom Dach in die Nacht stoben und das Popcorn summte. Die Tür ließ sich nicht bewegen. Das Wiehern der Tiere war unerträglich.

Dann war Bo da, und die Tür gab nach und eine höllische Hitze schlug ihnen aus dem Stroh entgegen. Der Rauch war das Schlimmste. Die Pferde wieherten ganz hinten im Stall.

»Die Rückseite!«, rief sie. »Von hier aus kommen wir nicht an sie heran!«

Er folgte ihr um den Hühnerhof und den Misthaufen. Durch die Stallfenster konnte sie die Tiere in ihren Boxen toben sehen und die bodenlose Angst in ihren Augen, die das Weiße nach außen kehrte.

Bo machte sich an dem Stallschloss zu schaffen, das schließlich aufging.

»Sei vorsichtig!«, rief er. »Sie haben Panik.«

Sie hatte keine Ahnung von Pferden. Hatte eigentlich Angst vor ihnen.

»Raus!«, rief sie. »Raus mit euch!«

Bo öffnete die Boxen. Er trieb die großen Tiere hinaus, klatschte ihnen auf die Hinterteile.

»Raus, verdammt!«

Und dann hörte sie ein Knacken. Sie spürte Bos Arme um sich und dass er sie wie auf einer brennenden Welle hinaustrug.

»Das Dach.«

Sie blickte auf. Bo hielt sie fest und drückte ihren Kopf gegen seine Schulter. In dem Moment gaben die Dachsparren nach, und die Mitte des Daches fiel in sich zusammen.

»Es sind noch welche drinnen.«

Sie stammelte die Worte. Sie weinte und spürte den Druck auf der Brust, sodass sie keine Luft bekam, und er zwang ihren Kopf nach unten zwischen die Beine. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Direkt auf die dünne Schneedecke, die sich durch die Berührung mit der Wärme in Matsch verwandelt hatte.

»Jetzt ist es zu spät. Wir können nichts mehr tun.«

»Was hat die Feuerwehr gesagt? Warum kommen sie nicht?«

Sie hatte den Kopf noch immer zwischen den Beinen. Sie spürte, wie das Blut zurückfloss, und richtete sich vorsichtig auf. Ihre Nase nahm den ungewohnten Geruch von lebendigem Fleisch wahr, das verbrannte. Bos Hände umfassten ihr Gesicht, und seine Nase kam ihrer ganz nah. Der Augenkontakt bewahrte sie davor, in sich zusammenzusacken.

»Sie kommen. Es sind erst fünf Minuten vergangen.«

Es kam ihr wie Stunden vor. Wie in Zeitlupe.

Bo nickte zum Wohnhaus hinüber.

»Soll ich?«

Sie schüttelte den Kopf, und sie gingen zusammen, Hand in Hand wie zwei Kinder.

Schon als sie die halb offene Tür sah, wusste sie, dass etwas nicht stimmte.

Sie stieß sie auf. Das Haus kam ihr leer und seltsam unbewohnt vor.

Und dann traf sie der Anblick. Irgendetwas schien hier explodiert zu sein, doch ohne zu brennen. Alles war verwüstet. Regale waren umgeworfen und Stuhlbeine zerbrochen. Tische wie Spielzeugmöbel umgekippt, und all das, was man in einem Leben ansammelt, lag auf dem Boden verstreut: Porzellanfiguren, Vasen, Fotorahmen, Aschenbecher, Nippes.

Draußen näherten sich Sirenen. Kurz darauf knirschten die Reifen der Feuerwehrautos in der Einfahrt. Sie hörte noch ein anderes Geräusch, ein zaghaftes Winseln.

»Timbo. Timbooo.«

Sanft rief sie nach dem kleinen weißen Hund der Schwester, den Svendsen immer anbellte und Rose als tibetanischen Teppichpisser bezeichnete. In Wirklichkeit war es ein Yorkshire-Terrier, aber die Beschreibung war treffend.

Er lag unter dem Bett im Schlafzimmer. Sie sah die Schnauze, die Witterung aufnahm, ob sie Freund oder Feind war. Sie nahm ihre Hundestimme an.

»Komm, mein Kleiner. Ich tue dir nichts.«

Sie holte in der Küche ein Leckerchen und lockte ihn.

»Hmm. Getrockneter Fisch. Timbo. Hmm.«

Sie lockte und lockte ihn, während die Sekunden verstrichen. Und endlich kam er, direkt in ihren Arm, wie ein kleines, zitterndes Gespenst. Aber den Fisch wollte er nicht.

»Wo ist dein Frauchen? Wo ist sie?«

Sie murmelte es rhythmisch und wiederholte die Worte, während sie das verfilzte Fell streichelte. Seltsame Laute bahnten sich durch die Kehle des Tiers ihren Weg, und der kleine Körper spannte sich an. Timbo sah sie mit seinen schokoladenbraunen Augen an, die sich unter den Zotteln verdrehten, und erbrach sich auf ihren Mantel.

2

Die Redaktion in der Frederiksgade sah ganz wie immer aus. Die vollen Alu-Aschenbecher standen strategisch platziert auf dem Sofatisch; eine Tüte mit Brötchen war aufgerissen wie nach einem unblutigen Kaiserschnitt, und die Thermoskanne zischte, weil irgendjemand sie nicht richtig zugemacht hatte. Mäntel und Jacken lagen überall, nur nicht über dem stummen Diener in der Ecke, und Zeitungen bedeckten wie aus großer Höhe abgeworfene Flugblätter Tische und Boden.

Vier Leute waren anwesend. Ein als freier Mitarbeiter arbeitender Fotograf rumorte in der Dunkelkammer, und drei Journalisten richteten die Augen auf sie, als sie Viertel nach zehn mitten in eine Redaktionsbesprechung platzte.

»Hast du schon davon gehört?«

Cecilie, die Sportjournalistin, warf die Frage wie einen Tennisball quer durch den Raum, noch bevor Dicte den Mantel ausgezogen hatte.

»Wovon?«

Von dem Brand? Wussten sie es schon? Es waren kaum sechs Stunden vergangen, und sie spürte den mangelnden Schlaf und ihre kenternde Liebe wie einen Druck im ganzen Kopf. Bo war direkt zu seiner Exfrau gefahren, um Probleme zu lösen. Er hatte wie das reinste Lagerfeuer gerochen.

»Von den Kürzungen«, referierte Cecilie. »Jeder vierte redaktionelle Mitarbeiter wird gefeuert.«

Dicte fragte sich kurz, wie es wohl sein mochte, gefeuert zu werden. Das sichere Standbein zu verlieren.

»Und warum?«

Sie hatten doch gerade zwei Neue eingestellt, die für Kriminalfälle und Wirtschaft zuständig sein sollten. Außerdem war die Redaktion in Århus zur Ausbildungsstätte für Praktikanten erklärt worden. Sie selbst hatte man in den so genannten Nachrichtenbereich beordert. Sehr zu ihrem Missfallen, weil das bedeutete, dass sie jetzt zu Kaisers Leibeigenen gehörte, obwohl ihr der Abstand zu dem Redakteur in Kopenhagen nicht groß genug sein konnte.

»Der Jahresabschluss«, murmelte Davidsen, der nicht mehr so großmäulig wirkte wie in der vergangenen Woche, als er zum Leiter des Büros in Århus ernannt worden war.

»Ein enormes Defizit«, vertiefte er seine Aussage. »Zweihundertfünfzig Millionen.«

»Ja und?«, fragte sie. »Seit wann sollen Zeitungen Gewinne machen? Dann können sie auch gleich Tangas oder Tretroller produzieren.«

Von Holger Søborg, dem bald fertig ausgebildeten Praktikanten, war ein Kichern zu hören. Er sah wie ein amerikanischer Footballstar aus. Viereckiger Kiefer, dicker Hals und ein Minimum an Gehirnzellen, so hatte Davidsen es einmal ausgedrückt und zumindest dieses eine Mal ein Quäntchen Humor bewiesen.

»Tangas«, wiederholte Holger und warf Cecilie einen lustvollen Blick zu, mit der er ein Wochenendverhältnis hatte. Dieses Verhältnis war das am schlechtesten gehütete Geheimnis der Redaktion – neben der Tatsache, dass Cecilie seit der Mitarbeiterkonferenz in Kopenhagen, die sich über ein ganzes Wochenende hingezogen hatte, bei dem Chefredakteur Karl Juhl hoch im Kurs stand.

»Oder Kondome«, fügte Dicte böse hinzu.

Holger wurde rot. Cecilie funkelte sie wütend an.

»Bestimmt werden die zuletzt Eingestellten gefeuert.«

Dicte seufzte. Sie schmeckte Rauch wie schon seit Stunden, obwohl sie sich mindestens zehn Mal die Zähne geputzt hatte. Sie versuchte nachzurechnen. Wen betraf das? Rein technisch gesehen, war sie die Letzte, weil sie bei dem Umzug von Kopenhagen nach Århus eine neue Mitarbeiternummer bekommen hatte. Aber insgesamt gesehen, war Cecilie noch nicht so lange bei der Zeitung wie sie.

»Das kommt wohl darauf an, wie man rechnet«, sagte sie, warf die Randers Amtsavis vom Stuhl und setzte sich. Sie fand in dem Durcheinander auf dem Couchtisch eine saubere Tasse und griff nach der Thermoskanne. Davidsen schnupperte.

»Warst du auf einem Grillfest? Du riechst wie ein gebratenes Hähnchen.«

Sie dachte an die Pferde, an ihre Augen, in denen das Weiße nach außen gekehrt war, und an das Wiehern der Tiere in ihrer Todesangst. Sie wünschte, nicht darüber reden zu müssen, aber sie würden es ohnehin bald in den Meldungen der Nachrichtenagentur Ritzau lesen.

»Der Stall des Nachbarn ist heute Nacht abgebrannt.«

»Ach, du meine Güte.« Cecilie klang, was man ihr zugute halten musste, ehrlich schockiert. »Hoffentlich hat es nur Materialschaden gegeben?!«

Journalisten. Was konnten sie schön mit technischen Ausdrücken um sich werfen, dachte Dicte. Materialschaden. Personenschaden. Worte, hinter denen sich echte Katastrophen und ein Gefühlschaos verbargen.

»Zwei Pferde sind zu Schaden gekommen«, informierte sie, als läse sie die Nachrichten vor. »Vier konnten wir retten.«

»Schrecklich«, sagte Holger mit runden Stielaugen. »Warst du involviert?«

Ja und nein. Sie schloss einen kurzen Moment die Augen. Wann war man involviert? Sie trank von dem schwarzen Kaffee, der furchtbar schmeckte.

»Ich kenne die Nachbarn kaum. Sie sind in Skiferien.«

»Und Bo?«

Davidsen konnte es nicht lassen. Sie nickte. Sie wusste, wonach er in Wirklichkeit fragte. Nicht, ob Bo bei ihr gewesen war, sondern ob er die Tragödie fotografiert hatte.

»Er hat ein paar Fotos gemacht, als die Feuerwehr da war. Ich weiß nicht, ob sie brauchbar sind.«

Davidsen nickte und sagte, genau wie erwartet und wie ein Echo von Kaiser, dessen Geist offenbar immer über allem zu schweben schien: »Eine super Story.«

Eine Weile fühlte sie sich wie in einem Vakuum. Sie spürte die Übelkeit und den Rauchgeschmack und hörte die Stimmen der Kollegen, war aber trotzdem nicht Teil des Ganzen. Sie dachte an Rose, die sie anrufen und warnen musste, damit sie nicht aus dem Gymnasium nach Hause kam und angesichts des heruntergebrannten Stalls einen Schock bekam. Brandstiftung hatten die Feuerwehrleute schnell festgestellt. Das verwüstete Wohnhaus sprach ebenfalls eine deutliche Sprache. Rose würde schockiert sein. Rose, die bald kein Kind mehr war und sich immer wieder eine Übernachtung bei ihrem Freund erschlich.

Ein wohl bekanntes, herunterziehendes Gefühl machte sich in Dicte breit, und sie klammerte sich an die Kaffeetasse. Man sollte es nicht für möglich halten, dachte sie. Man glaubt, es dauert ewig, und dann sind sie eines schönen Tages groß und treffen ihre eigenen Entscheidungen und machen, was sie für richtig halten. Nur durch die Erziehung und das, was in der Kindheit angelegt worden ist, hat man noch ein ganz klein wenig Einfluss auf das, was die eigenen Kinder tun. Man kann nur hoffen, dass es gelungen ist, ihnen ein gutes Rüstzeug mitzugeben, denn was soll aus ihnen werden, wenn man sie nicht mit Vernunft und einem kritischen Verstand und all dem anderen Lebenswichtigen ausstatten konnte? Welche Katastrophen passieren können, wenn man sie ins Leben loslässt ...

Was trugen diejenigen wohl für einen Ballast mit sich herum, die den Stall abgefackelt hatten? Oder derjenige? Wie hatten so gefährliche Dämonen in ihnen Wohnung beziehen können? Gab es wirklich Bosheit in reinster Form? Sie konnte sich versucht fühlen, das zu glauben.

»Dicte?«

Davidsens Stimme unterbrach ihre Gedanken.

»Kannst du dich darum kümmern? Um den Brand?«

Jemand musste es schließlich tun. Sie nickte.

»Hat Kaiser sich gemeldet?«

Der Nachrichtenredakteur pflegte in der Regel anzurufen und eine ganze Reihe von Spezialaufgaben zu verteilen, was Davidsens Job als Leiter des Büros in Århus zu einer leeren und sinnlosen Farce machte. Davidsen rutschte demzufolge auch ein wenig unruhig hin und her, zündete sich eine Zigarette an und hüllte sich in Rauch ein. Er hatte den Mund aufgemacht, um etwas zu sagen, als das Telefon auf ihrem Tisch klingelte und sie gerade noch die Enttäuschung in seinen Augen sehen konnte, weil sie erriet, wer dran war.

»Svendsen!«

Kaiser kaute am anderen Ende der Leitung auf etwas herum. Garantiert Schokoladenkuchen.

»Keine Geringere«, sagte sie in dem Versuch, witzig zu klingen.

»Dein Kriminalfreund. Der dürfte doch jetzt alle Hände voll zu tun haben.«

Sie wartete. Hin und wieder sprach er in Rätseln.

»Und das bei dem Ruf, verdammt!«

»Bei wessen Ruf?«

»Dem der Polizei in Århus natürlich«, vertiefte er seine Aussage. »Zuerst streichen sie ihre eigenen Knöllchen, und dann schießen sie in Tilst ein paar Autodiebe über den Haufen.«

»Die Reihenfolge war umgekehrt.«

»Na schön. Und jetzt haben sie den Brand am Hals«, sagte er.

So eine Riesenstory war das nun auch wieder nicht, dachte sie. Brachte Ritzau wirklich schon die Nachricht von dem Stallbrand? Wenn im Laufe des Tages noch etwas Besseres hereinkam, landete sie vermutlich als kleine Notiz auf Seite vier.

»Welcher Brand?«, fragte sie vorsichtig.

»Habt ihr das nicht gesehen? Informiert ihr euch nicht?«

Bei Kaiser lief immer Ritzau, und im Fernsehen wechselten sich CNN, BBC World und SKY ab. Und bevor der Tag herum war, würde er alle großen Zeitungen durchforstet haben, dänische und ausländische.

»Eine Schule!«, brüllte seine Stimme in ihr Ohr, in dem noch immer das Wiehern der Pferde klang. »Sie haben in der Innenstadt eine ganze Schule abgefackelt. Und zusätzlich alles verwüstet. Die Møllevang-Schule, im Übrigen.«

»Wann?«, fragte sie dümmlich.

»Heute Nacht. In der schwärzesten, dunkelsten Nacht«, fügte er Unheil verkündend hinzu. »Ruf deinen Kripofreund an! Besorg mir, was du kriegen kannst! Kinder fackeln ihre eigene Schule ab«, skandierte er. »Das ist eine super Story. Der Albtraum aller Lehrer und Eltern. Morgen bist du auf der Titelseite, Svendsen.«

3

John Wagner blickte über die Versammlung, die sich zur Morgenbesprechung im Dienstbesprechungsraum eingefunden hatte. Die Blicke von sieben Kriminalkommissaren hingen an Jan Hansen, der zurückgekommen war, um über die abgefackelte Schule Bericht zu erstatten.

»So etwas habe ich noch nicht gesehen. Das sieht wie der reinste Rachefeldzug aus.«

Jan Hansen war so grau im Gesicht wie die Wand hinter ihm. Die breiten Schultern, die normalerweise das Hemd zu sprengen drohten, waren seltsam eingesunken. Er seufzte und klopfte mit einem Kugelschreiber auf den Tisch.

»Kamilla fabelt dauernd etwas von einem Teddy«, fuhr er fort. »Dem Maskottchen der Klasse. Es ist bestimmt mit verbrannt.«

Er zeichnete ein paar Kringel auf den Block vor sich. Wagner dachte, dass Hansen vielleicht doch nicht der beste Vortrupp gewesen war, um den Brand in Augenschein zu nehmen. Da seine Tochter in die erste Klasse der Møllevang-Schule ging, war er möglicherweise zu betroffen.

»Er heißt Simon«, fuhr Hansen mit einer Stimme fort, die allzu dünn für seinen muskulösen Körper und den nach der neuesten Mode glatt rasierten Schädel war.

Wie geklont, dachte Wagner flüchtig. Warum mussten alle jungen Ordnungshüter so Furcht einflößend aussehen? Aber standen nicht Tränen in seinen Augen?

»Kann mal jemand den Kaffee herunterschicken?«

Die Frage kam von Ivar K. Er und Hansen standen immer ein wenig auf Kriegsfuß, und darüber hinaus war die öffentliche Demonstration von Gefühlen nicht Ivars starke Seite.

Die Thermoskanne wanderte wie eine Fußballtrophäe an der langen Reihe von Kriminalkommissaren entlang. Wagner verzichtete. Sein Magen vertrug die Spezialausgabe der Teerbrühe des Präsidiums nur mit Mühe. Außerdem hatte er noch den Nachgeschmack des aus brasilianischen Bohnen gebrauten und mit einem Morgenkuss von Ida Marie versüßten Morgenkaffees im Mund.

»Was glaubst du?«, fragte er Hansen, der nach einer Vergangenheit bei der Schutzpolizei endlich und zu Ivar Ks großem Bedauern ein festes Mitglied des Kriminalstabs geworden war. »Was hast du für einen Eindruck? Waren das jugendliche Randalierer? Oder steckt mehr dahinter?«

Hansen legte den Kugelschreiber weg und rieb sich das Gesicht mit beiden Händen. Die Augen spiegelten die Müdigkeit wider. Einjährige Zwillinge, die sechsjährige Kamilla und eine Frau, die als Krankenschwester Nachtdienst machte. Das war nicht leicht.

»Ich glaube, die Täter waren noch jung«, sagte er langsam. »Ich glaube, dass sie den Ort ziemlich gut kannten. Du kannst dir das später natürlich selbst ansehen, aber mitten in dem ganzen Durcheinander wirkt alles sehr systematisch. Jugendliche Randalierer ...«

Er griff wieder nach dem Kugelschreiber, klopfte erneut auf den Tisch und schüttelte still den Kopf.

»Nenn mich ruhig einen Schwarzseher, aber das ist meiner Meinung nach der letzte Schritt, bevor jemand zu einem Gewehr greift und Schüler und Lehrer abknallt.«

Es war sicher gut, dass Hansen nicht für die Pressearbeit zuständig war. Wagner konnte die Überschrift nahezu vor sich sehen: Wann folgt das Massaker? Alle Eltern, die Kinder auf der Schule hatten, waren heute Morgen angerufen worden. Hansen hatte zu Wagner Kontakt aufgenommen, der ihn gebeten hatte, sich vor der Morgenbesprechung einen Eindruck zu verschaffen.

Hansen erzählte von den Verwüstungen. Er hatte sich auf einem Block Notizen gemacht. Ein ganzes Gebäude war nahezu bis auf die Grundmauern abgefackelt worden und das Hauptgebäude dem Vandalismus zum Opfer gefallen. Chemikalien aus dem Physikraum, Medikamente, Wasser und farbige Flüssigkeiten waren über den Boden verstreut; Glasscherben, zertrümmerte sanitäre Artikel, zerbrochene Thermoskannen, eingeschlagene Türen und zerlegte Schränke. Chaos, mit anderen Worten.

Wagner hörte eine Weile zu, ließ aber nach einer gewissen Zeit seinen Gedanken freien Lauf. Er öffnete eine Mineralwasserflasche und spürte beim Trinken die Kohlensäure bis in die Nase. Er fragte sich, wie er selbst reagieren würde, wenn Alexanders Schule abgefackelt worden wäre. Bestimmt genauso verzweifelt wie Hansen, schätzte er. Heutzutage war die Schule eine Art zweites Zuhause. Er hatte immer ein schlechtes Gewissen, dass er nach Ninas Tod nicht so viel mit Alexander zusammen war, wie er eigentlich sollte. Ein Brand in der Schule würde ernsthaft das Gefühl verstärken, dass er Fürsorge und Erziehung allzu sehr den anderen überließ, während er selbst Polizei spielte und Verbrecher jagte, die ohnehin bald wieder auf die Gesellschaft losgelassen würden.

Im Idealfall sollte er der aktive Vater sein, der mit seinem zehnjährigen Sohn zum Fußball und Handball ging, aber in der letzten Zeit war so viel zu tun gewesen. Das EU-Gipfeltreffen in Kopenhagen hatte für viele Überstunden gesorgt, die immer noch nicht abgebaut waren, obwohl sie das rein theoretisch bis zum Jahresende hätten sein sollen. Århus war abwechselnd von Vandalismus und Brandstiftungen heimgesucht worden. Außerdem waren da noch die selbst verschuldeten Probleme der Polizei, die auch Zeit kosteten. Daran wagte er gar nicht zu denken.

Ivar K kippelte rastlos auf seinem Stuhl und fuhr sich mit der Hand durch die langen Haarzotteln und über den zurzeit modernen Dreitagebart. Wagner ahnte, dass ihm eine sarkastische Bemerkung an den referierenden Kollegen auf der Zunge lag, und unterbrach freundlich Jan Hansen, dessen Block jetzt voller Kringel war.

»Gut. Die Situation ist wie folgt. Die Brandexperten unter Johan Dahl leiten die Untersuchungen und kümmern sich um die technischen Aspekte: Brandursache und so weiter. Wir sind als Assistenz zugezogen worden«, leitete er seine üblichen anspornenden Worte ein.

»Die Feuerwehr ist dabei, die Dachkonstruktion in dem niedergebrannten Gebäude zu sichern, sodass wir dort zurzeit keinen Zugang haben. Sobald wir den bekommen, gehen die Techniker natürlich zuerst hinein. Sie bekommen im Laufe des Tages Verstärkung aus Kopenhagen. Im Moment nehmen sie sich das Hauptgebäude vor. Außerdem ist uns Hilfe von der mit Jugendkriminalität befassten Abteilung zugesagt worden«, sagte er mit einem Blick zu Jan Hansen hinüber. »Ich glaube, du hast Recht. Wir sollten nach jungen Tätern suchen, die den Ort kennen. Die Schule hat uns eine Liste der derzeitigen und der früheren Schüler versprochen. Sie muss durchgegangen und mit dem Archiv überprüft werden.«

Jan Hansen nickte. In diesem Fall schien er erleichtert über die Schreibtischarbeit.

»Ich sehe mir das an.«

Wagner trank erneut von seinem Mineralwasser.

»Dahl hat uns gebeten, uns die Verwüstungen in den beiden anderen Schulen, Samsøgade und Elise Smith, noch einmal vorzunehmen, um festzustellen, ob es Ähnlichkeiten gibt. Und was wir sonst noch an unaufgeklärten Vandalismusfällen aus dem letzten halben Jahr haben.«

Petersen nickte. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren war er fast ebenso lange im Dienst wie Wagner.

»Ich suche mir die Fälle heraus. Ich kann mich erinnern, dass man auch versucht hat, die anderen Schulen abzufackeln. Ohne Erfolg.«

Ivar K kippelte erneut mit seinem Stuhl.

»Übung macht den Meister.«

Wagner ließ den Blick von einem zum anderen wandern.

»Zeugen. Es muss jemanden geben, der etwas gesehen hat. Auch wenn es mitten in der Nacht passiert ist. Einer von euch muss Klinken putzen.«

Sie sprachen eine Weile über die Aufgaben und wer was erledigen sollte, ohne dass jemand protestierte. Man konnte sich daran gewöhnen zu bestimmen, dachte er verwundert und nicht zum ersten Mal. Er hatte nie davon geträumt, die Leitung zu übernehmen. Aber er hatte das entsprechende Dienstalter und die nötige Erfahrung, und es hatte sich ganz von selbst so ergeben. Sie hörten auf ihn. Sie folgten seinen Vorschlägen und hin und wieder seinen Anordnungen.

Das Einzige, was ihrem Team noch immer fehlte, war eine Ermittlerin. Er hatte das oft zu ändern versucht, aber aus irgendeinem Grund sah die Leitung die Wichtigkeit des Anliegens nicht ein. Sie schienen nicht zu verstehen, dass das Geschlecht bei der Aufklärung von Kriminalfällen eine Rolle spielte, aber er wusste aus Erfahrung, dass Frauen einen anderen und hin und wieder überraschenden Zugang hatten. Eine tüchtige Frau wäre ein großer Gewinn für das Team, aber vorläufig mussten sie so zurechtkommen. Bei den engen Budgets und der geringen Aussicht, dass jemand pensioniert wurde, sah es schwarz aus.

Er seufzte in sein Mineralwasser. Vielleicht konnte man auch zu viel verlangen.

»Ivar. Du fährst mit mir raus. Wir sehen uns die Sache mal an.«

Ivar K warf den Kopf in den Nacken und trank seinen Kaffee aus wie ein Handwerker ein Tuborg. Er stand auf und streckte den windhundartigen Körper, das diametrale Gegenteil zu Jan Hansens Türstehermuskeln.

»Okay, Boss.«

Wagners Handy klingelte auf dem Weg in die Stadt mitten auf der Kreuzung in der Thorvaldsengade, wo die Abgase der Autos wie ein dicker Atem in der frostigen Luft standen.

»Kannst du bitte drangehen?«

Ivar griff nach dem Handy, das auf dem Armaturenbrett lag.

»Kristiansen«, sagte er scharf und lauschte ein paar Sekunden, bevor er antwortete. »Er ist im Moment beschäftigt. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

Wieder herrschte Schweigen, bevor seine Stimme leicht irritiert zu klingen begann.

»Ich sagte doch, dass er beschäftigt ist. Sie müssen später noch mal anrufen ... Informationen? Was für Informationen? Es ist strafbar, Informationen vor der Polizei zurückzuhalten, wissen Sie das nicht?«

Wieder vergingen ein paar Sekunden, bevor er das Gespräch abrupt beendete.

»Frauen«, zischte er.

Wagner bog auf den Viborgvej ab.

»Wer war das?«

»Eine Journalistin von einer der Boulevardzeitungen. Dicte Sowieso. Die glauben, wir sind nur für sie da.«

Tausend Gedanken gingen Wagner im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. Er hatte lange nichts von Dicte Svendsen gehört. Und Ida Marie auch nicht, hatte sie gesagt und die Vermutung geäußert, dass ihre Freundin und ihr Fotografenfreund Probleme hatten. Aber es war auch nicht leicht, Kinder und Job unter einen Hut zu bringen. Er musste da ganz still sein. Auch wenn er Ida Marie über alles liebte, hegte er daran nicht den geringsten Zweifel.

Einen kurzen Moment wanderten seine Gedanken zurück zum Vorjahr. Es war ihm nahezu unverständlich, wie sich seine Gemütslage verändert hatte. Damals hatte er gerade seine Frau verloren und war in ein tiefes schwarzes Loch gefallen. Doch dann war er mit der Aufklärung eines Falls beauftragt worden, in dem ein toter Säugling auf dem Århus-Fluss ausgesetzt worden war. Dicte und ihre beiden Freundinnen, Ida Marie und Anne, hatten das Kind gefunden.

»Dicte Svendsen«, murmelte Ivar K, als könnte er Gedanken lesen. »Der Name kommt mir bekannt vor. Ein Fall vor einem Jahr.«

Wagner antwortete nicht, sondern steuerte um ein verdammtes Moped herum, das die gesamte Fahrbahn für sich beanspruchte. Er hatte Berufliches und Privates in einem Cocktail vermischt, der ihm jetzt unheimlich vorkam. Er hatte sich noch während der Aufklärung des Falls in Ida Marie verliebt. Sie sangen beide im selben Chor, und er hatte heimlich für die schöne Schwedin mit der Engelsstimme und dem langen blonden Haar geschwärmt.

»Hast du damals nicht deine Freundin kennen gelernt? Als ihr Kind gekidnappt wurde?«

Ivar K fragte ohne Umschweife mit dem üblichen Mangel an Fingerspitzengefühl.

Wagner nickte nur, unverpflichtend, und bog in den Fuglebakkevej ab.

»Da wären wir. Sehen wir uns einmal um.«

 

Während Ivar K sich einen Überblick über die Verwüstungen verschaffte, rief Wagner Dicte auf dem Handy an.

»Es sieht ganz so aus, als würden wir wieder einmal zusammenarbeiten«, sagte sie munter.

Er lachte kurz.

»Nie im Leben! Was willst du?«

»Etwas über die Møllevang-Schule hören.«

»Wir halten später eine Pressekonferenz ab. Du weißt genau, dass ich niemanden bevorzugen kann.«

»Ich hätte was für dich.«

An Dicte Svendsens Gaben waren in der Regel alle möglichen Bedingungen geknüpft.

»Vielen Dank.«

»Es hat noch einen anderen Brand gegeben«, fuhr sie unbeirrt fort. »Heute Nacht. Hast du davon gehört?«

Es gab fast jede Nacht Brände – bestimmt hatte es irgendwer bereits erwähnt. Wagner hatte es an der Peripherie seines Bewusstseins mitbekommen, aber es hatte weit vom Stadtzentrum entfernt gebrannt, irgendwo draußen auf dem Land.

»Und?«

»Das Wohnhaus wurde verwüstet. Ein Stallgebäude niedergebrannt. Zwei Pferde sind tot.«

Was in aller Welt war mit dieser Stadt los?, dachte er, während er die rauchende Ruine betrachtete, die einmal die Møllevang-Schule gewesen war. Das glich Geschehnissen aus einem fremden Land.

»Was weißt du?«, fragte er müde. Man konnte nie wissen, ob eine Verbindung bestand. Auch wenn die Entfernung dagegensprach.

»Es war der Hof meines Nachbarn. Ich bin von dem Geräusch des zerberstenden Daches aufgewacht.«

»Bestimmt Asbest. Das klingt wie Popcorn.«

Plötzlich wechselte sie das Thema.

»Wo bist du?«

»Was glaubst du, wo ich bin? In der Oper, Othello ansehen?«

Ihm war klar, dass er mürrisch klang. »Was weißt du über den Brand?«

Einen Moment war es still im Telefon.

»Der Hof gehört meinen Nachbarn«, sagte sie dann. »Sie sind in Ferien in Norwegen. Sie kommen heute nach Hause, die Armen. Die Schwester hat auch auf dem Hof gewohnt, und um drei Uhr morgens war sie plötzlich spurlos verschwunden.«

Aus dem Augenwinkel beobachtete er Ivar K und einen der Feuerwehrmänner. Zusammen schritten sie den Platz ab und sahen sich das heruntergebrannte Gebäude an, aus dem aberwitzigerweise weiße Fensterrahmen guckten. Es sah aus, als hätte ein tief fliegendes Flugzeug den oberen Teil des Gebäudes abrasiert. Nur das Skelett des Dachs war noch da.

»Vielleicht hat sie in der Stadt übernachtet«, wandte er ein. »So etwas kommt vor.«

»Jemand ist am späten Abend im Haus gewesen, und ich gehe davon aus, dass sie das war.«

»Woher weißt du das? Hast du sie gesehen?«

Wieder entstand eine kleine Pause. Dann sagte die Stimme: »Nein. Aber irgendjemand hat dem Hund Futter gegeben.«

4

Als wäre ihr Bedürfnis an Bränden nicht gedeckt, als gäbe es nicht genug Probleme – und sie musste nun auch noch dorthin fahren.

Während sie von der Frederiksgade zur Møllevang-Schule hochfuhr, dachte Dicte flüchtig an Bo, der kurze Zeit zuvor mit den Fotos von dem Brand in der Redaktion aufgetaucht war. Sie hatte ihn gefragt, ob er mitkommen und die abgebrannte Schule fotografieren wolle, aber er war seltsam fern und abweisend gewesen und hatte ihr erklärt, dass er versprochen habe, seine Tochter in der Schule abzuholen und zum Arzt zu fahren. Als würde seine Ex ihn jemals um so etwas bitten, dachte sie und testete die neuen Winterreifen, als das Auto vor ihr plötzlich bei Gelb bremste. Ihr neu gekaufter Fiat Uno entging nur um wenige Zentimeter einem Zusammenstoß.

Eva wachte über die Kinder wie ein Drache und tat alles, um Bos exakt bemessene Zeit mit ihnen zu sabotieren. Jedes Mal, wenn er die Kinder haben sollte, kam etwas dazwischen, das es unmöglich machte. Und Silvester hatte dem Fass den Boden ausgeschlagen, als Eva Tobias und Ninka mit zu ihrer Mutter genommen hatte, anstatt sie bei Bo abzuliefern. Es war der Anfang der Eskalation des Nervenkriegs, und seit diesem Tag war nichts mehr ganz so, wie es eigentlich hätte sein sollen.

Das dachte sie, als sie in die Fuglesang-Allee einbog und an der Handelsschule und dem Konservatorium vorbeifuhr. Dachte, dass irgendetwas absolut nicht stimmte und Bo irgendetwas plante, von dem sie keine Ahnung hatte. Die Unruhe griff nach ihr wie eine eiskalte Hand. Er war verzweifelt. Und verzweifelte Männer waren unberechenbar.

Sie fuhr den Fuglebakkevej hoch, und ein furchtbarer Anblick empfing sie. Er erinnerte an Bilder aus dem zerstörten Kosovo, Bilder aus einem Kriegsgebiet, wo man erwartete, Maschinengewehre zu hören und Gebäude einstürzen zu sehen. Nicht, dass sie selbst das erlebt hatte, aber sie wusste es von Bo, wenn er ein seltenes Mal von seinen Reportagetouren erzählte, die ihm anerkannte Fotopreise, aber leider nicht das große Geld eingebracht hatten.

Sie erblickte John Wagner, der sich mit einem Mann in einem orangefarbenen Overall unterhielt. Sie spürte den Ansatz eines schlechten Gewissens, weil sie Ida Marie so lange nicht angerufen hatte. Es war feige, und sie hatte die elendste Entschuldigung, die man sich denken konnte, und selbst die war nur die halbe Wahrheit.

Wagner riss sich von den Kollegen los und kam ihr entgegen. Seine sonst südländische Hautfarbe war im Winter blasser geworden, aber er unterschied sich noch immer von den anderen durch seine gebogene Nase und die schweren Augenlider, die ihn ständig müde aussehen ließen, wovon man sich aber nicht täuschen lassen sollte. Er war zwölf Jahre älter als Ida Marie, und die abgetragene Tweedjacke ließ einen an alte Tugenden wie Ritterlichkeit und Zuverlässigkeit denken.

»Lange nicht gesehen«, sagte er als knappen Gruß und gab ihr die Hand.

»Ich hatte viel zu tun.«

In seinen Augen sah sie, dass er wusste, dass sie log. Aber es war schwer, das Glück der anderen mit anzusehen, während man selbst auf dem letzten Loch pfiff. Und seit Ida Marie Martin zur Welt gebracht und sich gegen den Vater des Kindes für ihren Polizeibeamten entschieden hatte, schien sie im siebten Himmel zu schweben.

»Es ist so viel passiert. Ich bin jetzt in einer neuen Redaktion«, erklärte sie weiter.

Er antwortete nicht. Sie gingen zu dem abgebrannten Gebäude hinüber, wo eine Gruppe Brandtechniker mit Schutzhelmen und blauen Overalls mit der Aufschrift Polizei, Kriminaltechnische Abteilung ihrer Arbeit nachgingen. Das Gelände war mit einem rotweißen Band, dem so genannten Flatterband, abgesperrt worden, und an dem verrußten roten Mauerwerk lehnten Leitern. Andere Männer in blauen Overalls, auf deren Rücken Katastrophenschutz Mitteljütland stand, beförderten nicht verbrannte Dachsparren in einen Container.

Auf dem Parkplatz standen mehrere Autos. Ein Fotograf fotografierte drauflos, und Dicte erkannte den Reporter der Stiften, der sich umschaute.

»Was hast du von dem anderen Brand erzählt? Woran denkst du dabei?«

Er fragte, während sie außerhalb der Absperrung an dem abgebrannten Gebäude entlanggingen. Sie erzählte von dem Brand und wie der Hund sich erbrochen hatte. Unverdautes Hundefutter.

»Und wie lautet deine Schlussfolgerung, Sherlock?«

Er zog sie auf, aber sie hörte den zugrunde liegenden Ärger. Die Polizei war nicht begeistert, wenn Journalisten Detektiv spielten, und Wagner bildete keine Ausnahme. Aber er war klug genug zu wissen, dass in gewissen Fällen beide Seiten voneinander profitieren konnten. Das hatte er bewiesen, als sie bei dem Moses-auf-dem-Århus-Fluss-Fall zusammengearbeitet hatten. Zugegeben, sie war sich nicht sicher, ob Wagner ihren Informationsaustausch als Zusammenarbeit bezeichnen würde.

»Dass der Hund um Mitternacht etwas zu fressen bekommen hat.«

»Eine seltsame Uhrzeit, um seinen Hund zu füttern.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Das ist ein verwöhnter Schoßhund. Meine Tochter bezeichnet ihn als Teppichpisser. Manche Menschen geben ihrem Hund zu fressen, bevor sie ins Bett gehen.«

Plötzlich drehte er sich um und sah sie an.

»Bist du überhaupt als Zeugin verhört worden?«

Sie schüttelte den Kopf. In dem ganzen Durcheinander hatte scheinbar niemand Zeit gehabt, sich näher mit ihr zu unterhalten. Sie hatten alle Hände voll zu tun gehabt, das Feuer zu löschen und die Situation einzuschätzen.

»Die Polizei ist erst später gekommen. Sie haben ein paar vordergründige Fragen gestellt, und das war’s.«

Sie hörte ihn seufzen und führte es auf den Personalmangel, die Menge der Freischichten und die vielen anderen Probleme der Polizei zurück, die sich zurzeit häuften. Die Presse hatte die Verantwortlichen unter Beschuss genommen, und auch ihre eigene Zeitung hatte sich nicht zurückgehalten, als es galt, darüber zu berichten, wie zwei Beamte junge Autodiebe angeschossen hatten oder wie die Knöllchen der Polizei verschwunden waren. Vielleicht erklärte das die Kälte von Wagners Seite, dachte sie.

»Du sagst, eine Schwester wohnt mit im Haus. Vielleicht ist sie nicht gemeldet?«

Wagners Stimme knisterte wie der Frost. Dicte nickte.

»Und du meinst, die Schwester ist gegen Mitternacht zu Hause gewesen und hat dem Hund zu fressen gegeben. Wo ist sie dann jetzt?«

Er ließ die Frage naiv und belanglos klingen. Aber sie biss sich daran fest. Sie erinnerte sich, wie das leere, auf den Kopf gestellte Haus auf sie gewirkt hatte ... die Angst des Hundes ... die systematische Zerstörung und das dahinterliegende Gefühl, dass hier etwas sehr Privates angetastet worden war ... die zertrampelten Familienfotos ...

»Ich kenne sie nicht, aber man könnte sich so einiges vorstellen. Jedenfalls solltet ihr wissen, dass sie dort wohnt. Mit ihrem Hund.«

»Und warum wohnt sie dort?«

Sie hustete. Die rauchige Luft kratzte in Nase und Hals. Noch immer stieg aus dem abgebrannten Gebäude Rauch auf.

»Es gehen ein paar Gerüchte um. Über ihre Vergangenheit, meine ich. Dass sie zu ihrer Schwester gezogen ist, um über ein schreckliches Erlebnis hinwegzukommen.«

Er runzelte die Brauen, und seine Stimme troff vor Sarkasmus:

»Über einen psychopathischen, gewalttätigen Mann mit einer pyromanischen Veranlagung vielleicht?«

Sie wurde rot.

»Getratsche, demnach«, stellte Wagner fest.

Sie fuhr unverdrossen fort, während die Stiefel im Gras quatschten, das die Löschschläuche der Feuerwehrleute in Eismatsch verwandelt hatten. Er wusste genauso gut wie sie, dass man auf Getratsche hören musste. Dass es mit zu dem Gesamtbild gehörte, sowohl in der Journalistik wie bei der Polizeiarbeit. Manchmal repräsentierte das Getratsche die Wahrheit, auch wenn sie das nicht zugeben mochten.

»Irgendetwas mit einem Mann jedenfalls«, sagte sie und wäre beinahe ausgerutscht, sodass sie nach seinem Arm greifen musste. Er wartete geduldig, bis sie wieder fest auf den Füßen stand. »Es ging um Gewalt. Die Details hängen davon ab, wer mir was erzählt, wenn ich einen Gang mit dem Hund mache. Aber die Frau hat eine Geschichte, daran besteht kein Zweifel.«

Sie blieb stehen. Versuchte, die Stimme neutral zu halten, und dachte an den vergangenen Abend. Wann hatte sie die Schwester zuletzt gesehen?

»Ich habe nur so ein dummes Gefühl.«

Sie wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, als ein Feuerwehrmann etwas aus der rauchenden Ruine rief.

»Ein Überlebender«, kam es trocken von seinem Kollegen, der etwas aus einer kleinen Tüte zog.

Als sie näher kamen, sahen sie, dass es ein kleiner gelber Bär war. Vorn auf seiner blauen Strickjacke stand in weißen Buchstaben der Name Simon.

Wagner lächelte. Eine gewisse Schläue kroch in seine Stimme.

»Du sagst, du willst etwas über die Møllevang-Schule hören. Eine Exklusivstory, nehme ich an.«

Sie zuckte mit den Schultern. Das war doch nicht so schwer verständlich. Sie musste ihrer Arbeit nachgehen, und wie alle anderen Redakteure liebte es auch Kaiser, wenn sie etwas hatten, was die anderen nicht hatten.

»Ich schlage vor, du rufst Jan Hansen im Präsidium an und erzählst ihm, dass sie Simon gefunden haben. Er kann dir die Story erzählen«, sagte Wagner und drehte ihr den Rücken zu.

5

Der erste Gedanke galt ihrem Vater.

Ob er die Nachricht verkraften konnte. Ob er Zuflucht in den Ecken des Gemüts und des Vergessens suchen würde, wie er es nach dem Tod ihrer Mutter für kurze Zeit getan hatte.

Karen dachte wieder daran, als sie Timbo hinausscheuchte und mühselig die zertrümmerte Küche aufzuräumen begann. Sie hatte nicht einen Augenblick gezweifelt, dass er es heute erfahren sollte. Sonst würde es ihm über Umwege zu Ohren kommen, oder er würde es in der Zeitung lesen. Aber wie? Wie sollte sie ihm erzählen, dass sein Lebenswerk abgebrannt und sein Elternhaus dem Vandalismus zum Opfer gefallen war? Ihr Elternhaus, was das anging, aber daran dachte sie nicht weiter. Sie war es gewohnt, zuerst an ihn zu denken. Und an Inger.

Während sie in dem unüberschaubaren Durcheinander der Küche stand, spürte sie wieder den stechenden Schmerz, als würde jemand eine Ahle in ihr Fleisch bohren. Sie schien mit der Sorge um Inger geboren worden zu sein. Als höre die Verantwortung für die kleine Schwester nie auf. Inger erinnerte sie an das Mobile mit den Glasvögeln, das über der Heizung gehangen hatte. Die warme Luft hatte die Vögel in konstanter, rastloser Bewegung gehalten, in einer Bewegung, die immer nur zum Ausgangspunkt zurückführte. Einer Suche nach dem Glück, der Liebe, dem Glauben. Offen und verwundbar, süß und verwirrt. Und verdammt gefährlich für sich selbst. So war ihre Schwester, und Karen fühlte, wie die Kälte sich bis in die Knochen ausbreitete. Was um alles in der Welt war mit Inger geschehen?

Die Polizei war gerade gegangen. Sie wollten sie zur Fahndung ausschreiben, schienen aber seltsam gleichgültig. Sie hatten gefragt, ob es nicht möglich sei, dass ihre Schwester woanders übernachtet habe. Ob sie einen Freund oder eine Freundin habe, die man anrufen könne.

Zumindest schienen sie Inger nicht der Brandstiftung zu verdächtigen. So dumm waren sie nun doch wieder nicht. Sie meinten, dass ein Jungenstreich ein böses Ende gefunden habe. Die Täter waren von der Rückseite in die Scheune eingedrungen. Sie hatten etwas Diesel über einen Heuhaufen geschüttet und das Ganze mit Petroleum abgebrannt. Vielleicht hatten sie noch eine Weile dagestanden und zugesehen. Vielleicht hatten sie nicht damit gerechnet, dass das Feuer sich bei dem Frost breit machen, vielleicht hatten sie geglaubt, dass der Schnee die Flammen bremsen würde.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht.

Sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde und Søren sich im Windfang die Stiefel auszog. Seine schweren Schritte näherten sich der Küche, an deren einem Ende sie angefangen hatte, die zerbrochenen Tassen und Teller aufzufegen und sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen.

»Was hat der Tierarzt gesagt?«

Kjeldsen war glücklicherweise sofort gekommen, als sie angerufen hatten. Er hatte auch geholfen, einen Stellplatz für die Pferde zu finden.

Søren blieb kurz in der Küchentür stehen. Einen Augenblick meinte sie, er schwanke leicht, aber das war bestimmt nur Einbildung, auch wenn er es schwer nahm, besonders das mit den Tieren. Was für eine Heimkunft nach den Ferien.

»Natürlich sind sie gestresst und unruhig, aber keins hat ernsthafte Verbrennungen. Ein paar Wunden und versengte Schweife, das ist alles. Aber die anderen ...«

Seine Stimme brach. Er holte tief Luft.

»Hier. Setz dich.«

Sie schob ihm einen Küchenstuhl hin. Er setzte sich schwerfällig und starrte in das Durcheinander und ins Nichts zugleich. Eine Tasse Kaffee, dachte sie. Ich mache eine Tasse Kaffee. Oder eine warme Suppe.

»Ich will mich nur eine Weile setzen«, murmelte er. »Es ist viel zu tun. Auch hier drinnen.«

Sie wandte ihm den Rücken zu, auch wenn es ihr widerstrebte, ihn nicht ansehen zu können. Aber er war ein erwachsener Mann und musste diesen Schlag verkraften, genau wie er die anderen verkraftet hatte. Sie wusste auch, dass er das würde.

»Und gerade jetzt«, sagte sie, ihm den Rücken zugewandt. »Zu Lichtmess.«

»Hmm?«

Sie drehte sich um. Natürlich dachte er nicht an so etwas. Sie war diejenige, die die Religion brauchte und woanders Trost suchen konnte als hier. Er hatte seinen Boden und seine Tiere.

»Lichtmess«, wiederholte sie. »Die Messe des Lichts. Am zweiten Februar wird gefeiert, dass wir die Mitte des Winters erreicht haben, und die Kerzen, die im Kirchenjahr gebraucht werden, werden geweiht.«

Er sah sie verständnislos an, und ohne weiter darüber nachgedacht zu haben, flossen die Worte des Psalms in ihrem Mund zu Tönen zusammen, die selbst er kennen musste.

»Vergangen ist die dunkle Nacht, der Tag schon erhellt die Gefilde. Nun scheint die Sonne in voller Pracht, die Vögel, die singen so milde.«

Zu ihrer großen Verwunderung mischte sich in den letzten beiden Strophen seine raue Stimme mit ihrer: »Gott gebe Gedeihen und gutes Glück, uns send das Licht seiner Gnade.«

Er lächelte sie bleich an, und sie wusste, dass er sich ihretwillen zusammennahm. So war es schließlich immer gewesen, sie hatten sich nie hängen lassen.

»Ich hoffe, der da oben hat sein Hörgerät an«, sagte er und wandte die Augen zur Decke.

Sie dachte an die lange Nacht und dass sie noch lange nicht vorbei war, dass sie mittendrin standen. Wieder spürte sie die Verlassenheit, als hätte sie keine Verbindung mehr zu dem Gott, an den sie geglaubt hatte. Die Verlassenheit, die sie bereits gespürt hatte, als sie mit dem Auto auf den Hofplatz eingebogen waren und der Anblick der Verwüstung sich ihnen dargeboten hatte. Der heruntergebrannte Stall und die Feuerwehrleute. Und vielleicht war es in Wirklichkeit dieses Gefühl, das ihr am meisten zu schaffen machte, zusätzlich zu ihrem Vater und Ingers Verschwinden.

Sie schauderte, setzte aber trotzdem Kaffeewasser auf, um etwas Normales zu tun.

Sie hatte bisher erst zweimal erlebt, dass Gott sie verlassen hatte, sodass sie nicht einmal ihre üblichen Gespräche mit ihm führen konnte. Beide Male, als sie im fünften Monat eine Fehlgeburt hatte.

Aber das lag zwanzig Jahre zurück, und sie hatte den Kontakt wiederhergestellt und mit Müh und Not Glauben und Licht wiedergefunden. Konnte man das noch, wenn man über die fünfzig war? Konnte man sich davon überzeugen, dass das Böse den Kampf verlieren und das Licht über das Dunkel siegen würde?

 

Sie dachte wieder daran, als sie sich ins Auto setzte, um nach Tilst zu fahren. Vorsichtig versuchte sie, die Verbindung zu Gott wahrzunehmen, die sie sonst immer spürte; als wäre sie eine Puppe, die an einer Schnur hing. Nicht fest, aber auch nicht locker. Ausreichend, dass sie auf vernünftige Weise durch den Tag und die Stunden kam.

Aber die Schnur schien gekappt.

Ihr Vater saß in seinem Rollstuhl in der Sonne, eine Decke über den Knien. Halb hoffte sie, dass er sie heute nicht erkennen würde und ihre Worte ihn nicht erreichten. Aber dann hob er den Kopf, und sie sah das Licht in den hellblauen Augen und wusste, dass er sich freute, sie zu sehen, und dass sie jetzt seine Freude trüben würde.

»Hallo, Vater.«

Sie beugte sich zu ihm hinunter und griff nach seiner Hand, die schlapp in seinem Schoß lag. Umarmungen und Küsschen waren bei ihnen nie üblich gewesen.

»Da bist du ja«, brummte er.

Sie kam zweimal die Woche.

»Wir waren in Urlaub. Ski laufen. Daran erinnerst du dich doch.«

Er nickte ärgerlich.

»Ich bin doch nicht senil.«

Sie kommentierte das nicht weiter, sondern zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Es ist eiskalt draußen. Aber schön. Die Fenster sind ideal, so bekommt ihr etwas Sonne.«

Er fuchtelte ärgerlich mit der Hand herum. Jetzt sah sie, wie der alte, ungeduldige Blick sich regte, und sie sah die Runzeln in seiner Hand und die Leberflecken, die schmutzigen Regentropfen glichen.

»Ich muss dir etwas erzählen, Vater«, sagte sie und wusste nicht, wie sie die Nachricht behutsam überbringen sollte. Deshalb platzte sie damit heraus. »Es geht um den Hof. Der Stall ist heute Nacht abgebrannt, und jemand hat das Wohnhaus verwüstet.«

Sie beobachtete ihn. Eine goldene Haut schien sich über seine Augen zu legen. Sie sah seine Wut und keuchte, als seine Hand nach ihrem Arm griff und zudrückte.

»Diese Teufel. Das ist die Rache.«

Er schlug mit der anderen Hand auf die Armlehne des Rollstuhls. Sie sah, wie Spucke aus seinem Mundwinkel tropfte, dort, wo die Hirnblutung die Nerven betroffen hatte.

»Die Polizei ermittelt«, sagte sie und versuchte, die Stimme ruhig zu halten, während sie ihre Hand freimachte. »Sie meinen, dass es ein Lausbubenstreich war.«

Ein Laut kam aus seiner Kehle, den sie als Missbilligung interpretierte. Er hatte nie Vertrauen in die Autoritäten gesetzt, dachte sie.

»Wo ist Inger?«, fragte er plötzlich. »Sollte sie nicht auf das Haus aufpassen?«

Hin und wieder hatte er ein Gedächtnis wie ein Computer. Sie nickte langsam. War nicht darauf vorbereitet, auch das zu erklären.

»Aber vielleicht ist sie ja mit irgendeinem Mann abgehauen. Mit so einem Wundertäter«, meinte er. »Mit einem, der ihre Seele retten soll.«

Er schwitzte. Karen sah, wie Schweißtropfen an seiner Stirn hinunterliefen. Sie stand auf.

»Hier ist es zu warm. Ich fahre dich ins Zimmer.«

Er protestierte nicht, als sie die Bremse löste und mit ihm den Gang hinunterfuhr. Auch andere Heimbewohner saßen in der Sonne, und sie nickte ihnen zu. Manche hatten Besuch. Das Heim in Tilst war gut, und trotzdem fühlte es sich falsch an. Trotzdem sollte niemand so enden, ohne seine Angehörigen, dachte sie wie immer. Empfand es als unmenschlich, selbst für die Menschen, die in ihrem Leben nicht immer menschlich gehandelt hatten.

Das Zimmer war hell und freundlich, das Bett gemacht. Sie parkte ihn und setzte sich an den kleinen Sofatisch. Von hier aus hatte man Aussicht auf den Rasen, den jetzt mehr der Frost als der Schnee zudeckte – jeder einzelne Grashalm ein weißes Stäbchen.

Er blickte zum Bett hinüber, und sein Blick wurde nachdenklich. Dann sah er sie mit einer Mischung aus Schläue und kindlicher Unschuld an, die sie hin und wieder an ihm erlebte.

»Wer schläft dort?«

Sie schluckte und wusste, dass die Vernunft sich erst einmal verabschiedet hatte.

»Du, Vater. Das ist dein Bett. Und dein Zimmer.«

Er nickte verständnisvoll. Einen Moment saß er ganz still, aber dann sah er sie wieder an.

»Schlafe ich alleine?«

Sie musste trotz allem lächeln. Ihre Mutter war seit über dreißig Jahren tot, aber man konnte ja nie wissen. Irgendwo hatte sie gelesen, dass reiche Amerikaner in Pflegeheimen ein Vermögen dafür ausgaben, sich Sex zu erkaufen.

»Davon gehe ich aus, Vater. Aber das weißt du wohl am besten.«

Es war besser, unverpflichtend miteinander zu reden, über ein unproblematisches Thema. Jedenfalls besser, als über das andere, von dem sie hoffte, dass er es nicht mehr erwähnen würde. Es war nicht vergessen, das wusste sie.

So saßen sie eine Weile. Sie holte Kaffee, und sie aßen den Kuchen, den sie unterwegs im Supermarkt in Tilst gekauft hatte. Sie machten Smalltalk, und sie wartete darauf, gehen zu können. Zu Hause warteten das Aufräumen und das Problem mit Inger auf sie.

Als sie schließlich aufstand, kam wieder Leben in seine Augen.

»Die reinste Rache«, nörgelte er, und sie hoffte, jetzt nicht lang und breit aufgezählt zu bekommen, wie viele Menschen möglicherweise einen Grund hatten, sich an ihm zu rächen. Bestimmt nicht wenige, denn er war immer unversöhnlich und hart gewesen. Wie die Steinbeile, die er manchmal auf den Feldern gefunden und im Wohnzimmerfenster ausgestellt hatte.

»Das ist die Rache des Müllers!«, rief er ihr nach, als sie die Tür schließen wollte. »Die Rache des Müllers, vergiss das nicht!«

Sie zog die Tür hinter sich zu.

6

Der Frost lag wie ein grauweißer Film über der Landschaft, und der Himmel drückte gegen die Erde, als Dicte im alten Skejby abbog und bei Ny Mølle das Auto den Hang hinuntermanövrierte, vorbei an der landwirtschaftlichen Versuchsstation und den Wiesen, auf denen im Sommer Kühe weideten. Jetzt saß nur ein einsamer Mäusebussard auf einem Zaunpfahl. Er sah verfroren aus. Als Dictes Wagen näher kam, schwang sich der Vogel auf breiten Flügeln in die Luft und wurde zu einem dunklen Schatten vor der Watte des Himmels. Sie erschauderte. Sie hatte das Gefühl, plötzlich die Töne einer verborgenen, dunklen Sinfonie ahnen zu können. Als wollte die nasse, frostige Landschaft mit den nackten Bäumen und dem Mäusebussard oben am Himmel ihr eine Geschichte erzählen, die sie nicht hören mochte.

Sie schaltete das Gebläse ein, damit die Scheiben nicht noch mehr beschlugen. Ein eiskalter Hauch blies ihr ins Gesicht, und die Müdigkeit schmerzte in Armen und Fingern. Der Schlafmangel schien sie einzuholen, und der letzte Schluck Wein, den sie längst bereut hatte, ließ ihren Kopf brummen.

Der Arbeitstag hatte sich in die Länge gezogen, weil die Story über das Maskottchen geschrieben und ein Bild gemacht werden musste. Jan Hansen im Polizeipräsidium hatte ganz gerührt geklungen, als sie angerufen und erzählt hatte, dass der Teddy gefunden worden war. Sie wäre sich sonst auch ein wenig dumm vorgekommen. Das war nicht gerade die Exklusivstory, die ihr vorgeschwebt hatte, aber im Lauf des Gesprächs mit Hansen hatte sie doch eine Perspektive sehen können. Für die Kinder der unteren Klassen, deren Klassenzimmer abgebrannt waren, war der Teddy ein Licht im Dunkeln. Sie selbst hatte bei den Schäden mehr an die Millionen gedacht, die das kosten würde, aber dann hatte sie begriffen, dass auch etwas Unersetzbares in Rauch aufgegangen war. Die Zeichnungen der Kinder aus dem ersten Schuljahr. Ihre Kuscheltiere und ihre Bücher. In gewisser Weise vielleicht sogar ihre Kindheit.

Man hatte ihr erlaubt, mit Hansens Tochter Kamilla zu sprechen, und sie hatten ein Foto gemacht, auf dem sie mit dem Teddy im Arm vor der abgebrannten Schule stand. Ja, das war eine Story, die das ganze Gefühlsregister ansprach, und ja, Kaiser hatte sie gefallen, und er hatte sie auf die Titelseite gesetzt. Und außerdem war das keine gestellte Geschichte, die den Zeitungsverkauf ankurbeln sollte.

Als sie in den Topkærvej einbog, sah sie eine Rauchsäule, die sich aus den Überresten des nachbarlichen Stalls in die Luft wand. Vor ihrem inneren Ohr hörte sie das angstvolle Wiehern der Pferde und verband es mit dem Bild des kleinen Mädchens mit dem Teddy im Arm, das vor der Schule stand. Mit dem traurigen, müden Gesicht, das aus dem Kragen der Daunenjacke guckte, und dem im Wind leicht wehenden Haar. Kamilla hatte Dicte anvertraut, dass ihr eigener Teddy, Peter, auch irgendwo in dem abgebrannten Gebäude lag. Sie hatte es nicht über das Herz gebracht, es ihrem Vater zu sagen.

»Stell dir mal vor, wenn Peter unter all den Trümmern liegt. In dem ganzen Wasser. Er tut mir so leid.«

Dicte atmete tief ein und stieß die Luft mit einem schweren Seufzer wieder aus.

 

Sie sah auf die Uhr. Es war halb fünf. Rose war bestimmt schon zu Hause. Sie fuhr schneller, und langsam verflog die Traurigkeit. Das Auto rutschte geradezu auf den Parkplatz, und einen Moment ärgerte sie sich über ihre eigene Dummheit, als ein Stein gegen die Windschutzscheibe knallte. Sie hatte den ein Jahr alten Fiat gerade erst gekauft, nachdem der alte an einer natürlichen Ursache, wie Rose es nannte, verschieden war. Er war fünfzehn Jahre alt gewesen und hatte allen Versuchen, sein Leben zu verlängern, getrotzt.

Schnell sammelte sie ihre Tasche und die wenigen Einkäufe zusammen und wurde in der Diele stürmisch von Svendsen in Empfang genommen. Ein ganz gewöhnlicher Tag, dachte sie hoffnungsvoll. Die Mutter kommt zu Hund und Kind nach Hause. Alles ist, wie es immer ist, und um es ganz perfekt zu machen, ruft der Freund der Mutter an und sagt, dass er vorbeikommt und ein paar Pizzen mitbringt.

Dann kam Rose ihr entgegen, und plötzlich sah sie – in einem kurzen Moment –, dass etwas anders war. Wann war das passiert? Von einem Tag auf den anderen? Oder hatte sie nur nicht gesehen, dass ihre Tochter erwachsen geworden war?

»Svendsen! Runter!«

Roses Stimme hatte Autorität. Auch das war ihr noch nie aufgefallen. Der Hund gehorchte und hielt seine vier Pfoten auf dem Boden, während er eifrig um sie herumwieselte und sie begrüßte.

»Hallo, Schatz.«

Die Umarmung war, wie sie gehofft hatte. Aber da war dieser Blick. Erwachsen. Bekümmert, als wäre Dicte das Kind.

»Bist du okay, Mama?«

Sie hatte von der Redaktion aus angerufen und Rose auf den abgebrannten Stall vorbereitet. Kurz von den nächtlichen Ereignissen erzählt.

»Ja, sicher«, murmelte sie und bahnte sich mit den Supermarkttüten ihren Weg ins Haus. »Mir ist es nie besser gegangen.«

Rose trottete hinter ihr her in die Küche, an den Füßen die Lammfelllatschen, die sie von ihrem praktischen Jan zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. »Ein Sonderangebot aus dem Einkaufszentrum«, hatte Bo säuerlich kommentiert. Jan war ein vernünftiger junger Mann.

»Was ist mit dir? Geht es dir gut?«

Ach, du meine Güte. Hatten andere Mütter auch solche Schwierigkeiten, ihre siebzehnjährigen Töchter zu fragen, ob sie bei dem Freund gut geschlafen hatten?

Rose sah sie mit ihrem Erwachsenenblick an. Plötzlich vermisste Dicte das Funkeln des Silberrings im Nasenflügel. Er war zumindest ein kleines Zeichen von Jugend und Aufruhr gewesen, aber Jan hatte er nicht gefallen, und Rose hatte ihn schon lange entfernt.

»Sie haben die toten Pferde abgeholt«, sagte Rose. »Die Feuerwehr, glaube ich. Mit einem Kran. Das muss schrecklich gewesen sein, Mama.«

Roses dünne Arme schlangen sich um Dictes Hals.

»Ich bin stolz auf dich. Wenn man bedenkt, dass ihr die meisten gerettet habt.«

»Aber nicht alle.«

Roses Nase berührte ihre.

»Du hast getan, was du konntest, Mama.«

Sie setzten sich. Rose kochte Tee. Dicte hatte ein Vollkornbrot gekauft und machte ein paar Käsebrote. Keine Butter für sie, aber dick Butter und Käse für Rose.

»Die Nachbarn sind aus den Ferien zurück«, sagte Rose und biss zu. »Das muss ein Schock gewesen sein.«

Dicte nickte. Sie wollte gerade vorschlagen, hinüberzugehen und zu fragen, ob sie mit etwas helfen könnten, als Roses ernster Blick ihren einfing und die Unruhe ihren Rücken hinaufkroch und von hinten nach ihrem Hals griff. Sie konnte noch denken, dass das eine Art Vorwarnung war, so wie der Mäusebussard vorhin.

»Ich muss dir etwas erzählen, Mama.«

Sie hatte ein paar Sekunden, um Vermutungen anzustellen, während alle Instinkte in Alarmbereitschaft versetzt wurden. Vielleicht war das so, wenn man an einer der Scheidelinien des Lebens stand, vielleicht versuchte man dann, die Notbremse zu ziehen. Sie unterschied sich wohl kaum von den meisten.

»Mehr Tee? Vielleicht hätten wir besser Kaffee machen sollen«, schlug sie vor und stand auf.

Ihre Handflächen waren nass geschwitzt, und sie trocknete sie an der Hose ab.

»Nein, jetzt weiß ich es. Wir brauchen etwas Süßes.«

Sie öffnete den Schrank und nahm die Windbeutel heraus, die sie eigentlich als Nachtisch vorgesehen hatte.

»Hausgemacht.«

»Mama.«

Roses Blick holte sie in die Wirklichkeit zurück.

»Setz dich.«

Sie setzte sich. Rose räusperte sich und stellte ihre Teetasse ab, bevor sie den Blick hob.

»Wir haben uns ein kleines Haus angesehen.«

»Ein Haus?«

»Ein Reihenhaus. In Lystrup.«

»Ein Reihenhaus?«

Roses Blick war zärtlich. Sie streckte die Hand aus. Dicte sah auf die schlanken Finger, die sich mit ihren eigenen verflochten.

»Es würde dir gefallen«, log ihre geliebte Tochter. »Es hat zwei Stockwerke. Und einen Garten.«

Ach, du meine Güte. Sie hatte damit gerechnet und doch wieder nicht.

»Das meinst du nicht. Das kannst du nicht machen.«

Aber sie hörte selbst, wie hoffnungslos das war und dass sie wie das Echo vieler Müttergenerationen klang. Sie schämte sich, konnte aber nicht anders.

»Du bist zu jung.«

Rose schüttelte langsam den Kopf.

»Jan hat gespart, und sein Vater hilft uns mit dem Rest der Bezahlung. Die Belastung ist nicht sehr hoch«, fügte sie hinzu.

Die Belastung ist nicht sehr hoch. Dicte wollte hinausschreien, dass eine Siebzehnjährige solche Worte nicht in den Mund nehmen sollte. Dass sie lieber von Kinobesuchen mit den Freundinnen und coolen Typen, von durchfeierten Nächten mit Massen von Wodkadrinks und Fahrten zum Magenauspumpen reden sollte. Aber Roses Teenagerzeit war kurz gewesen. Ein Jahr auf dem Vulkan, dann hatte sie Jan getroffen, der eine Lehre in der Wirtschaftsprüfungsfirma seines Vaters machte.

Jan, der seine Geschenke im Einkaufszentrum kaufte und ein eigenes Auto fuhr.

Sie wollte sagen, dass das nur über ihre Leiche geschehen würde. Dass sie es verbot. Sie musste sich fast die Zunge abbeißen, während Wut und Unruhe durch ihren Körper wirbelten. Und dann war die Müdigkeit wieder da. Die Unvermeidbare. Das Bewusstsein, dass die Zeit auf Roses Seite war und nicht auf ihrer.

»Wann?«

Rose wand ihre Finger um ihre.

»In sechs Wochen, wenn wir zusagen.«

Genauso gut konnte man auch zum Tode verurteilt werden. Der Henker stand bereit, und nur noch ein letzter Wunsch wurde gewährt. Dicte schickte ihr Gebet gen Himmel. Ein Jahr, bat sie. Nur noch ein Jahr, dann bin ich bereit.

Sie leerte ihre Teetasse und nickte.

»Das wird aufregend«, sagte sie erwachsen. »Sollen wir kurz zu den Nachbarn rübergehen?«

 

Das Haus in Lystrup rückte eine Zeit lang in den Hintergrund, als sie schellten und Karen Graugaards Gesicht hinter der Tür auftauchte. Das Haar war silbergrau und zu einer Pagenfrisur geschnitten. Das Gesicht braun von den Tagen auf Skiern, die Falten deutlich und die Augen verletzlicher, als Dicte sie in Erinnerung hatte.

»Wir wollten fragen, ob wir mit irgendetwas helfen können«, sagte Dicte.

Karen Graugaard öffnete die Tür ganz und ließ sie eintreten.

»Sie haben doch schon geholfen, und wir sind Ihnen sehr dankbar«, sagte sie und führte sie durch die Verwüstungen in die Küche. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«

Sie nahmen die Einladung an und setzten sich auf Hockern um den Küchentisch.