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Rauschend feiert die Würzburger Prominenz den 60. Geburtstag von Professor Wulffen, bekannter Denker und selbsternannter Weinpapst, im Weinkeller der Residenz. Bis eine Katastrophe das Fest erschüttert: Einer der Anwesenden überlebt die Party nicht. Bei ihren Ermittlungen stößt die toughe Kommissarin Ines Frank schon bald auf Widerstände, sogar innerhalb der Polizei. Trotzdem macht sie sich mit Unterstützung von Dr. Assmuth, einem technikaffinen Philosophen, auf die Suche nach der Wahrheit. Ob sie im Wein zu finden ist?
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Seitenzahl: 439
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Susanne Beck
Bocksbeutel-Verschwörung
Kriminalroman
Tod in der Residenz Die Würzburger Prominenz hat sich im Residenzkeller versammelt, um den 60. Geburtstag von Professor Wulffen gebührend zu feiern. Doch mitten in der glanzvollen Party des gefeierten Denkers und selbsternannten Weinpapstes wird den Gästen übel, und das nicht etwa wegen der langatmigen Ansprachen. Einer der Anwesenden überlebt die Nacht nicht. Kommissarin Ines Frank, gerade erst nach Würzburg versetzt und noch etwas verloren in der fränkischen Weinmetropole, sieht sich nicht nur mit einer unklaren Todesursache und einem geheimnisvollen Doppelleben des Opfers konfrontiert – ihr Chef blockiert zudem die Ermittlungen. Zum Glück wird sie von Dr. David Assmuth unterstützt, der technikaffine Mitarbeiter von Professor Wulffen. Was folgt, ist weniger eine klassische Ermittlung als ein Tanz auf dem schmalen Grat zwischen Intrigen, Affären und Neid und der Frage, wie viel Wahrheit tatsächlich im Wein verborgen ist.
Susanne Beck schreibt mit Begeisterung Krimis, in denen vielschichtige Charaktere im Mittelpunkt stehen. Sie ist im Bayerischen Wald geboren, in Franken aufgewachsen und dort zum Jurastudium geblieben, ehe sie einige Jahre im Ausland verbrachte. Seit 2013 unterrichtet sie Strafrecht und Rechtsphilosophie in Hannover und forscht dort zu Themen wie Künstliche Intelligenz oder Hate-Speech. Da sie – nach ihrer Großmutter und Mutter schon in dritter Generation – viele prägende Jahre in Würzburg verbracht hat, hat sie ihre Liebe für die fränkische Weinmetropole nun in einem Krimi verewigt.
Bis auf die den historischen Persönlichkeiten zugeordneten Zitate sind alle Ereignisse und Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Auch das Restaurant Residenzkeller gibt es nicht.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © anna-lena / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3472-8
Für meine Mutter und meine Großmutter, die beide vor mir prägende Jahre in Würzburg verbracht und später mit mir die Stadt immer wieder neu erkundet haben. Ihr seid mein Würzburg.
Ich bin der Stein, der Reben hält,
fast täglich von der Sonn erhellt.
Vom Morgenrot bis zum Tau der Nacht,
ich hüte, was der Wein entfacht.
Aus meinem Grund die Rebe sprießt,
die Traube reift, die ihr genießt.
Doch seid gewarnt, was süß euch schmeckt,
birgt oft, was sich zu gut versteckt.
Der Bocksbeutel, ein wuchtig Rund,
trägt Freude meist in seinem Grund.
Doch wo der Kelch zu oft sich füllt,
da gärt das Böse, gut verhüllt.
Der Wein bringt Wahrheit, doch auch Not,
er weckt die Lust, er sät den Tod.
Was in den Fässern tief verborgen,
habt ihr bei Geburt erworben.
Wer sucht die Wahrheit, find’t das Leid,
des Menschen Gier kennt keine Zeit.
Ihr zecht, ihr tanzt, ihr singt mit Mut,
doch tief in mir haust eure Wut.
Silvana von der Rebenhöhe
»Seit Jahrhunderten wache ich über eure Feste, umgeben vom Duft des Sommers und dem Klang eurer Freude. Der Wein fließt, das Lachen tönt, die Sehnsucht wächst. Und dann beginnt der Kreislauf von Neuem.«
Bacchus-Statue im Hofgarten der Residenz
»Sollte es hier nicht zivilisiert zugehen?«, rief Ines laut, um die johlende Partygemeinde zu übertönen. Direkt neben ihnen stieß eine besonders klangvoll feiernde Gruppe an. Die im Kreis angeordneten Männer und Frauen ließen trotz des feinen Zwirns, in den sie gekleidet waren, nur wenig Zurückhaltung walten. Ines kannte einige der Gesichter aus der Lokalzeitung – Politikerinnen, Geschäftsleute, eine berühmte Winzerin – und meinte, dass der in der Mitte stehende Mann eine Art Wissenschaftler war. Anscheinend nahmen sie das Weinfest zum Anlass, sich mehr oder weniger stilvoll zu amüsieren. Dann bemerkte sie noch jemanden in der Gruppe: ihren Chef. Es hatte etwas gedauert, bis sie ihn erkannt hatte, denn Polizeipräsident Windinger hatte seinen gemütlichen Körper für diesen Anlass in edle Stoffe gehüllt.
»Zivilisiert? Allmächd, wer hat das denn behauptet?« Polizeiobermeister Thümmler grinste schief und schob ein paar der vor ihm Tanzenden zur Seite. Eine Frau stolperte auf Thümmler zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Uniform«, verstand Ines nur. Er errötete, schüttelte mit abgewandtem Blick den Kopf und lief weiter.
Ines beobachtete die Gruppe weiterhin. Einer der Männer gab einem Kellner mit einem Tablett voller Gläser einen etwas zu heftig geratenen Klaps auf den Rücken. Das Tablett wackelte bedrohlich, der Kellner schaffte es gerade noch, alles in Balance zu halten. Die Winzerin, eine ältere, in bunte Rüschen gekleidete Dame, wandte sich an den Klapsenden. »Wollen wir uns in den Keller begeben, Achim? Ich glaube, wir alle könnten eine Kalorienbasis für den Wein vertragen.«
Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin entfernte sich die Gruppe, ihr Chef trottete am Ende hinterher. Ines deutete unauffällig auf ihn, und Thümmler nickte, er hatte ihn wohl ebenfalls erkannt. Doch da Ines noch nicht wusste, wie Thümmler zu ihm stand, kommentierte sie dessen interessanten Aufzug nicht und führte stattdessen ihr bisheriges Gespräch fort.
»Das mit dem Anstand habe ich bloß vermutet. ›Weinfest-Klassiker im Hofgarten der Residenz‹ klingt nach Anzug und Cocktailkleid, nach Gesprächen über Probleme mit dem Jacht-Stellplatz und darüber, dass niemand mehr so schreibt wie Thomas Mann. Nach Ausrufen wie ›köstlich, dieser Abgang‹ oder ›ein Hauch von Mango‹. Aber so was?«
Nun musste Thümmler laut lachen. »Hauch von Mango! Na, Sie sind mir eine. Nee, die Zeiten sind vorbei. Obwohl, früher war das fei noch schlimmer. Im Mittelalter haben die Erzbischöfe an Feiertagen von früh bis spät Wein aus dem Vierröhrenbrunnen laufen lassen. Die Mango-Note hat damals sicher auch niemanden interessiert.«
Da musste Ines ihm recht geben. Damals kannte man in Deutschland noch gar keine Mangos.
Mühsam quetschten sie sich weiter durch die Menschenmenge. Ines’ Blick fiel auf zwei ältere Frauen, die auf einer Holzbank unter einem Kastanienbaum saßen. Eine der beiden – sie trug ein fließendes farbenfrohes Kleid – hustete keuchend, sie hatte sich offenbar verschluckt und winkte abwehrend, während die andere ihr besorgt ein Taschentuch reichte und auf ihren Rücken klopfte. Bereit, im Notfall einzugreifen, blieb Ines stehen. Der anschließende dankbare Blick der bunt Gekleideten war so weich, dass Ines unwillkürlich lächeln musste. Für einen Moment vergaß sie den Lärm und die Enge um sich herum und ließ sich anstecken von diesem Miteinander. Hoffentlich würde sie in dem Alter ebenfalls einen derart guten Geist neben sich haben.
Doch der freundliche Schleier über dem Fest wurde schnell wieder gelüftet. Das kurze Stehenbleiben führte dazu, dass der Mann hinter Ines sie mit den Händen auf ihren Schultern weiterschob und irgendwas von »Gehts mal voran« murmelte. Gerade noch konnte sie einen großen Schritt über einen wabbeligen Brei auf der Straße machen, über dessen Ursprung sie lieber nicht nachdenken wollte. Der Mann hinter ihr trat mitten hinein. Ines unterdrückte ein Kichern und lief weiter.
Plötzlich schepperte es direkt neben ihr ohrenbetäubend. Sie drehte sich nach rechts und erspähte die Mini-Version einer Blaskapelle: drei Personen mit Akkordeon, Tuba und einer vor den Bauch geschnallten Trommel, die offensichtlich von Tisch zu Tisch zogen und sich ein paar Münzen in die Hand drücken ließen – ob fürs Anhalten oder fürs Weiterziehen, blieb dahingestellt. Es war zweifellos ein gewisser Promillewert erforderlich, um dieser »Musik« – Ines fiel kein passenderer Begriff ein – etwas abgewinnen zu können.
Ernüchtert – vor allem im Vergleich zu den Menschen um sich herum – musste sie feststellen, dass es ab einer bestimmten Uhrzeit keinen Unterschied machte, wie man das Fest nannte. Oktoberfest, Osterfeuer, Schützenfest, Heckenwirtschaft, Weihnachtsmarkt: Überall dort, wo Alkohol ausgeschenkt wurde, musste man irgendwann nur noch verdammt gut aufpassen, wo man hintrat.
»Aber Sie müssen doch zugeben, dass die Atmosphäre hier neben der Residenz schon etwas Besonderes ist«, fuhr der Kollege fort. »Dieses wunderbare Gebäude, dieser großartige Garten. Sie sollten erst mal den Keller sehen, der ist so was von heimelig! Aber hier oben ist es auch toll. Mit einem Glas Silvaner ein bisschen mit Freunden quatschen …«
Ein echter Fan seiner Heimat. Dem es vor allem leidtat, nicht selbst feiern zu dürfen. Während Ines bedauerte, den Abend nicht zu Hause mit ihrer Mitbewohnerin Milena und einer Runde Netflix verbringen zu können. Aber die Wache in Würzburg war unterbesetzt, wegen eines Neubaus der Kriminalinspektion war nur ein Teil der Beamten gemeinsam mit der Schutzpolizei mitten in der Stadt untergebracht. Und das Fest wurde jedes Jahr größer und die bayerische Politik immer sicherheitsfixierter. Präsenz zeigen und so. Also mussten gelegentlich auch Kommissare auf Streife, Netflix hin, Mediathek her.
Zumindest hatte Ines durchsetzen können, nicht ihre verstaubte Uniform anziehen zu müssen. Als Hauptkommissarin mit Zuständigkeit für den Bereich Tötungsdelikte, Sexualdelikte und Raub musste sie die zum Glück so gut wie nie tragen. Auch heute war ihr Vorgesetzter, Präsident Windinger, ihrer Bitte nachgekommen, wahrscheinlich war ihm selbst klar, dass der Einsatz einer Kriminalkommissarin auf einem Weinfest eher ungewöhnlich war.
Die barocke Wucht der Residenz war ihr zu kitschig, und vom Garten sah man vor lauter Weinfeiernden nicht viel. Aber sie konnte sich vorstellen, wie ein Residenzgarten aussah. Gezähmt, eingebeetet, gestutzt. Nun ja, morgen früh wohl nicht mehr, das Weinfest war wahrscheinlich eine große Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Landschaftsgärtner.
Sie behielt ihre Gedanken für sich, man musste es sich mit dem neuen Kollegen ja nicht schon in der ersten Woche verscherzen. Der wurde ohnehin in dem Moment von einem älteren Herrn angesprochen, der ihn sofort bemitleidete, weil er in offizieller Funktion hier unterwegs war. Thümmler stellte Ines als neue Kollegin vor, man nickte sich zu, dann zuckte Thümmler mit den Schultern und versicherte seinem Gegenüber, dass das sicher nicht sein letzter Abend auf dem Weinfest gewesen sei. »Dann aber!«, versprach er lachend.
Ines schaute sich weiter um, betrachtete die Feiernden, suchte nach Auffälligkeiten. Momentan schien alles friedlich. Da spürte sie plötzlich etwas an ihrem Fuß. Kalt, feucht. Hatte etwa jemand seinen Wein verschüttet?
Der Blick nach unten offenbarte den Übeltäter. Ein Dackel, anscheinend der Hund des Bekannten, hatte Ines wohl mit einem Baum verwechselt, ungerührt das Bein gehoben und ließ es nun fröhlich auf ihre Schuhe plätschern. Teure, handbestickte Converse, wohlgemerkt.
»Ach nee!«, fluchte Ines. Sofort blickten auch Thümmler und der Mann nach unten. Der Hundebesitzer wurde knallrot, während Thümmler erst erschrocken schaute, dann aber loskicherte. Der Mann sah auf, sein Gesicht erinnerte an den »Schrei« von Munch. Geschockt, peinlich berührt, verzweifelt.
»Das tut mir unendlich leid!«, rief er aus. »Das hat er noch nie … Also schon, aber zumindest nicht bei einer Polizistin … Er hätte doch hier jederzeit woanders … Hugo, das kannst du doch nicht machen!«, schimpfte er seinen Hund, der sich ungerührt abwandte und genüsslich mit den Hinterbeinen Gras durch die Gegend warf. Standpauken schien er gewohnt zu sein.
Der gelassene Gesichtsausdruck des Dackels gab Ines den Rest. Auch sie musste jetzt loslachen, und als der Kleine sie dann auch noch völlig irritiert anblickte, weil sie plötzlich so laut war, konnte sie gar nicht mehr aufhören zu kichern.
Der Mann atmete erleichtert aus. »Also … die Schuhe … Thümmler hat ja meine Nummer, die ersetze ich Ihnen natürlich.«
»Nicht der Rede wert, einmal gewaschen, dann sind alle Spuren entfernt.« Ines beugte sich nach unten und knuffelte den Hund. »Von dir werde ich ja sicher keine DNA brauchen, oder wie siehst du das?«
»Wuff«, war die laute und bestimmte Antwort.
Nach weiteren gegenseitigen Versicherungen, dass das alles nicht so gemeint gewesen und halb so wild sei, liefen sie weiter.
»Na, wenigstens war es nur flüssig, gell?«, fasste Thümmler die Situation zutreffend zusammen.
Ines verstand, was Thümmler beabsichtigte. Robustheit abtasten. War die Neue offen für Witze?
»Stimmt, Braun hätte farblich nicht zu meinem restlichen Outfit gepasst.« Nicht ihre beste Replik, aber zumindest überhaupt eine.
Thümmler nickte zufrieden.
»Weiter patrouillieren?«, fragte Ines.
Wieder nickte er, immer noch amüsiert grinsend.
»Und solche Einsätze drohen uns im Sommer jede Woche?«, erkundigte sie sich mit Blick auf ihre vollgepinkelten Schuhe und danach auf die undurchdringliche Menschenmenge. Ob sie bei ihrem Vorgesetzten in München nicht doch auf lieb Kind oder in ihrem Fall auf lieb Kommissarin machen und eine Rückversetzung erreichen könnte? Unwahrscheinlich, leider.
»Nein, mit der ganzen Mannschaft werden wir nur bei den großen Weinfesten in der Innenstadt eingesetzt, solange halt diese Umstrukturierungen laufen. Und die Feste sind nach diesem hier für das Jahr auch vorbei. Wein am Stein hat eine eigene Security, und den Rest bewältigt die Kerntruppe.«
Erleichtert atmete Ines auf.
»Diese Umstrukturierungen – sind die eigentlich auch der Grund dafür, dass der Präsident unser direkter Vorgesetzter ist?« Ines fand das befremdlich, sie hatte vorher nie erlebt, dass sie unmittelbar dem Präsidenten einer Wache unterstand.
»Nee, das ist komplizierter. Soweit ich weiß, gibt es nicht genug Bewerber«, sagte Thümmler.
Schweigend liefen sie weiter. Da entdeckte sie eine Gruppe, die ihrem Bauchgefühl nach zu laut und zu heftig miteinander diskutierte.
»Wollen wir nachschauen, ob die da drüben noch feiern oder sich schon duellieren?«
»Noch feiern oder schon …? Haha, wie der Ikea-Werbespot? Wohnst du noch oder lebst du schon?«
Ines runzelte die Stirn, sie hatte an keine Werbung gedacht. Und sie wusste auch nicht, wie man nicht »schon leben« konnte. Aber solange es Thümmler amüsierte, sollte es ihr recht sein. Die lockere Stimmung mit dem Kollegen half auch ihr, diese Weinfest-Pflicht besser zu überstehen.
Je näher sie kamen, desto härter mussten sie sich jeden Schritt vorwärts erkämpfen. Zwei junge Männer standen sich gegenüber, die stolzgeschwellten Brustkörbe wie aufgestachelte Hähne nach vorne gereckt, die Fäuste geballt. Noch einige Momente und sie würden damit beginnen, sich zu umkreisen.
Ines seufzte. Testosteron und Alkohol, die explosivste aller Mischungen. Sie stellte sich direkt neben die Kampfhähne. »Was ist hier los?«, rief sie in die Menge, die johlte und grölte und die beiden anstachelte. Doch niemand hörte sie. Sie schaute sich fragend nach Thümmler um. Der zuckte nur mit den Achseln. Also steckte Ines zwei Finger in den Mund und pfiff, so laut sie konnte. Und das war verdammt laut. Nicht nur die Streithähne und das auf die Schlägerei wartende Publikum hörten auf zu johlen. Auf einmal war es in einem weiten Kreis um sie herum sehr still. Als hätte jemand auf die Pausetaste gedrückt.
»Meine Damen und Herren, lassen Sie sich nicht stören. Feiern Sie ruhig weiter, es gibt hier nichts zu sehen!«, rief sie. Doch es blieb leise, nur einige Wagemutige flüsterten miteinander. Ines wandte sich wieder den Kampfhähnen zu. »Also, noch einmal: Was ist hier los?«
Nun, als sie die zwei in Ruhe mustern konnte, sah sie, wie ungleich ein Kampf gewesen wäre. Einer der beiden war mindestens einen Kopf größer als Ines, muskelbepackt, die Fäuste erhoben. Vermutlich war er kampferfahren. Sein Gegner war nicht nur kleiner als Ines, auch seine Muskeln konnte sie nur erahnen. Sein Körper war in Verteidigungshaltung erstarrt, die Schultern hatte er nach oben gezogen, den Kopf zur Seite geneigt. Aus seiner Miene sprach Angst. Um ihn zu beruhigen, stellte sich Ines zwischen die beiden.
»Ich wiederhole mich ungern.«
Noch wollte der große Kämpfer, dessen Polohemd durchgeschwitzt war und dessen sorgfältig gestylte Frisur jede Form verloren hatte, seinen Angriff nicht aufgeben. Er verlegte sich auf trotziges Anbellen. »Er hat meine Liebste beleidigt«, grunzte er. »Das lass ich nicht zu!«
Ines zog die Augenbrauen hoch. Doch sie schwieg, um die Situation nicht noch weiter eskalieren zu lassen. Stattdessen blickte sie zu dem kleineren Mann, wartete auf dessen Stellungnahme. Denn schon an seinem entrüsteten Gesichtsausdruck war erkennbar, dass er mit dieser Behauptung keineswegs übereinstimmte.
»Wenn hier jemand beleidigt wurde, dann ja wohl ich«, rief er. »Nur dass ich nicht gleich mit Gewalt reagiere.«
Er wirkte bereits ruhiger. Ines tendierte dazu, ihm zu glauben.
Auffordernd nickte sie ihm zu, und er fuhr fort: »Ich bin einfach nur über das Fest gelaufen und habe aus Versehen die Frau angerempelt, mich aber sofort entschuldigt.« Nun wurde er etwas hektischer. »Dann hat sie gesagt, wie unerträglich es sei, dass die Weinfeste von der Unterschicht überschwemmt würden. Was heißt gesagt – gelallt hat sie!«
Ines schluckte. Das mit der Unterschicht empörte sie sehr.
Doch der Mann sprach bereits weiter. »Und da könnte es sein, dass mir möglicherweise eine passende Antwort rausgerutscht ist.«
Ines hatte das Paar in der Zwischenzeit genau im Auge behalten. Die junge Frau hatte nur mit den Schultern gezuckt. Ihr Begleiter dagegen bekam schon wieder Schnappatmung und einen knallroten Kopf.
»Er hat was über ihre Brüste gesagt! Ihre Brüste! Das geht doch heute gar nicht mehr, da gibt es doch diese Bewegung, die verbietet doch, dass man einfach was über die Brüste einer Frau sagt. Da müssten doch gerade Sie als Frau …«
Was sie als Frau müsste, sagte er nicht. Ihm schien schon wieder die Puste auszugehen. Zum Glück, denn wenn er noch einmal »Brüste« gesagt hätte, wäre Ines die Sicherung durchgebrannt. Sie atmete tief ein und schaute wieder zu dem vernünftigeren Mann, der nun ebenfalls mit den Schultern zuckte.
»Es ist möglich, dass ich ganz allgemein und nicht auf Anwesende bezogen auf eine negative Korrelation zwischen auffälligen Schönheitsoperationen und dem Intelligenzquotienten hingewiesen habe.«
Ines meinte, ein verschmitztes Funkeln in seinen Augen zu entdecken.
»Da hören Sie es«, rief nun der bluthochdruckrote Kopf neben ihr. »Korrelation! So was darf der nicht einfach sagen!«
Damit hatte sie endlich einen Ansatzpunkt. »Nun, Korrelation ist ein völlig neutraler Begriff, nicht wahr? Und generelle Überlegungen zu Statistik sind auf öffentlichen Plätzen keineswegs verboten, unabhängig davon, welcher Schicht die sprechenden Personen angehören.«
An den leeren Gesichtern des massigen Angreifers und der »Liebsten« mit den »Brüsten« war zu erkennen, dass dieses Gespräch in einer ihren alkoholgeschwängerten Geistern nicht mehr zugänglichen »Oberschicht« stattfand.
»Möchte hier jemand Anzeige erstatten?«, fragte Ines deshalb in der Hoffnung, den Vorfall schnell abhaken zu können. Alle Beteiligten schüttelten die Köpfe.
Ines bemerkte, dass der stärkere Mann immer noch die Fäuste geballt hatte. Das Risiko war ihr zu groß. Sie winkte die Frau heran und blickte dem Angreifer fest in die Augen. »Sie beide kommen mit, wir begleiten Sie nach draußen.«
Ines drehte sich um und lief los, ohne sich umzusehen. Die zwei und Thümmler würden folgen. Leider marschierte sie wieder gegen die Wand einer nur langsam vorwärts wabernden Menschenmenge, sodass die Wirkung ihres Abgangs rasch verflog. Aber einige Zuschauer der Szene gingen Ines nun doch aus dem Weg und sie kam ein wenig schneller voran. Um wie viel Uhr endeten eigentlich diese Weinfeste?
Nach viel zu langen Minuten erreichten sie einen Ausgang.
»Der Herr und die Dame entfernen sich freiwillig?«, fragte Ines ihre »Kunden«.
Die Frau nickte eifrig, zog den Mann hinter sich her und über den großen Platz vor der Residenz davon.
Ines atmete durch, endlich ohne die erdrückende Menschenmenge um sich herum. Sie überlegte, ob sie sofort die nächste Runde über das Fest anschließen müsste oder ob sie ein paar Minuten durchatmen könnten.
»Kurze Pause?«, fragte sie Thümmler.
Der nickte lächelnd. »Pausenlänge in positiver Korrelation zur Blutalkohol-Konzentration unserer klassenbewussten Klientel?«, fragte er zurück.
Nun musste auch Ines grinsen.
Zitat
»Unter den prunkvollen Mauern der Residenz fließt der Wein wie ein Versprechen und lässt das Leben schillern. So hell, dass dunkle Geheimnisse im Schatten verborgen bleiben.«
Finn, Student und Kellner
»Fränkische Brotzeit« – was hatte er sich dabei nur gedacht! Natürlich handelte es sich vor allem um Wurst. Und noch mehr Wurst. Und Käse. Und noch mehr Käse. Nur eine kleine Tomate und eine Essiggurke, die sich in Größe und Konsistenz einer Olive annäherte, erinnerten daran, dass es außerhalb des fränkischen Brotzeit-Universums auch so etwas wie Vitamine gab.
David seufzte und schob mit seiner Gabel die Wurst, die schon frischere Tage erlebt hatte, auf seinem Teller hin und her. Wieso hatte er nur von der regulären Karte bestellt und nicht das Menü, das die Wulffens und Walthers für die Feier zusammengestellt hatten? In den Gesichtern der neben ihm sitzenden Gäste erahnte er Mitleid, sobald sie auf sein Gericht schauten. Um Erfreulicheres zu sehen, ließ er den Blick schweifen.
Der Weinkeller der Residenz war ein beeindruckender Anblick. Riesige Holzfässer, viele mit kunstvollen Schnitzereien verziert, standen an den Wänden. Das flackernde Kerzenlicht tauchte den Raum in ein schmeichelndes Halbdunkel und ließ die Schatten über die Wände tanzen.
Dass die alten Steine und das feuchte Holz leicht modrig rochen, fiel am heutigen Abend kaum auf. Denn über dem schalen Geruch lag eine dicke Schicht edler Parfüms und Aftershaves. Noch nie hatte David so viele maßgeschneiderte Anzüge und Designer-Kleider auf einem Haufen gesehen. Wobei »Haufen« ein viel zu profanes Wort für diesen Wohlstand und diese Eleganz war. David fühlte sich in seinem Anzug von der Stange und dem leicht zerknitterten Hemd fehl am Platz. Hätte er doch zumindest das Angebot seiner Vermieterin Frieda angenommen, die das Hemd vorhin noch hatte bügeln wollen. Zu spät.
Suchend blickte er sich nach ihr und dem Lehrstuhl-Team um. Wo waren denn Tina, seine Kollegin, oder Giulia, die Lehrstuhlsekretärin? Was hatte sich Professor Wulffen nur dabei gedacht, sie getrennt voneinander zu platzieren?
Schließlich entdeckte er Frieda nur einige Plätze rechts von ihm. Sie diskutierte lautstark mit einem älteren Ehepaar, das ihr gegenübersaß, über die Entwicklung der Würzburger Weinindustrie. Der männliche Teil des Paares schien sich ähnlich unwohl zu fühlen wie David. War das nicht der lokale Polizeipräsident?
»Haben Sie gehört, dass das Weingut von Katharina, der Organisatorin dieses wunderbaren Fests, schon wieder den Preis für den besten Silvaner gewonnen hat?«, fragte seine Frau mit glänzenden Augen.
David konnte die Begeisterung für solche Preise nicht nachvollziehen. Doch dann schüttelte er den Kopf über sich selbst. Warum war er heute nur so verurteilend?
»Ja, das ist wirklich beeindruckend«, antwortete Frieda. »Wobei, bei der Lage ist das auch kein Wunder, direkt unter unserer wunderschönen Festung. Der beeindruckendste Weinberg Würzburgs – und zu Recht der teuerste. Ich glaube, die ganze Familie lebt gut davon.« Wie immer wirkte jede Bewegung seiner inzwischen fast 80-jährigen Vermieterin elegant und charismatisch.
Nun, er war voreingenommen. Die ehemals weltberühmte Schauspielerin hatte ihn in ihre Villa aufgenommen, als sein Leben in Scherben lag, und ihn mehr unterstützt, als seine Mutter es jemals getan hatte. Dafür hatte sie sich einen festen Platz in seinem Herzen gesichert.
Nun begann Davids Magen laut zu knurren. Er starrte sehnsüchtig auf die Teller mit der leicht nach Knoblauch duftenden Bärlauch-Pasta, die an ihm vorbeigetragen wurden.
»So ein Käse, diese Wurst. Nur weil ich nicht schwer essen wollte …«, murmelte er halblaut. Mike Seufert, der Pächter des Residenzkellers, war sonst doch eigentlich für seine gute Brotzeit bekannt. Irgendwas muss hier bei der Essensauswahl schiefgegangen sein. Er hatte gehört, dass die Winzerin Katharina Walther die Wulffens beraten hatte, da sie ja auch den Wein lieferte.
Die junge Frau neben ihm, gezähmt attraktiv und bisher in ein Gespräch zur anderen Seite hin vertieft, drehte sich zu ihm. Anscheinend hatte sie sein Gemurmel vernommen, das legte zumindest ihr Gesprächseinstieg nahe. »Der Wein jedoch ist exzellent, nicht wahr?«, sagte sie, während sie einen Schluck aus ihrem Glas nahm.
Obwohl er das nicht bestätigen konnte, da er zur Wurst lieber ein Bier bestellt hatte, nickte David mechanisch, während er an seiner trockenen Wurst kaute.
»Runde Geburtstage haben doch immer etwas Bewegendes«, sprach die Frau weiter.
David nickte erneut, diesmal aus voller Überzeugung. Der 60. Geburtstag seines Chefs ließ ihn tatsächlich nicht kalt. Professor Wulffen war der Grund gewesen, warum David sein Studienfach vor fast 20 Jahren gewechselt und es trotz aller familiären und gesellschaftlichen Widerstände gewagt hatte, sich der Philosophie zu widmen. Ein reiner Philosoph war er inzwischen nicht mehr, seine aktuelle Projektstelle bei Wulffen verdankte er vor allem seinen Programmier-Kenntnissen, die er sich im Selbststudium angeeignet hatte. Aber er war stolz auf seine Wurzeln und dankbar für seinen Mentor, der ihn immer unterstützt hatte.
»Er ist aber auch ein großartiger Philosoph«, fuhr die Frau fort, und David meinte, das typische Funkeln in ihren Augen zu erkennen, das viele Frauen und gelegentlich auch Männer befiel, wenn sie über seinen Chef sprachen. Klug, humorvoll, eloquent und durch seine häufigen Fernsehauftritte in diversen Talkshows und Diskussionsrunden so etwas wie Deutschlands Philosoph Nummer eins und weit über akademische Kreise hinaus bekannt und beliebt.
»Ich bin auch Philosoph«, antwortete David und schlug sich im selben Augenblick gedanklich mit der flachen Hand auf die Stirn. Nun war er schon fast 40 und immer noch so was von unsouverän. Peinlicher ging es nicht.
Die junge Frau wies eine beneidenswerte Selbstkontrolle auf. Ihre Mimik veränderte sich nicht, ihr Lächeln war weiterhin freundlich. Sogar ein leichtes Nicken war zu erkennen, wenn auch kein interessiertes. Und damit war die Zeit, die sie dem Small Talk mit ihm widmen wollte, anscheinend vorbei. Langsam genug, um nicht unhöflich zu wirken, bewegte sie ihren Körper mittig zu ihrem Teller mit – natürlich! – Bärlauch-Pasta. Sie drehte sich eine Gabel auf, manövrierte sie zum Mund und machte angemessen erfreute Geräusche. Davids Magen antwortete mit einem lauten Knurren. Das war der letzte Anstoß, nun wendete sich die Frau – erneut langsam, fast unabsichtlich – endgültig in die andere Richtung.
Gestresst von seiner eigenen sozialen Unfähigkeit, die sich schon immer vor allem auf größeren Feiern gezeigt hatte, blickte er sich um. Ein paar Plätze entfernt saßen einige weitere Professoren aus der Fakultät, die in eine hitzige Diskussion vertieft waren. Wortführer war wie immer der Dekan, Konstantin Stiepen, der mit seinem gestutzten grauen Haarkranz und seiner Hornbrille offensichtlich Adorno imitierte. An einer philosophischen Fakultät, an der jeder wusste, wie Adorno ausgesehen hatte!
Leidenschaftlich argumentierte er: »Ethik des Weinbaus! Dass ich nicht lache. Das geplante Drittmittelprojekt von Wulffen mag ihm einen Platz in der Ehrenhalle seiner Weinbruderschaft sichern und wahrscheinlich noch einen ordentlichen Batzen Fördergelder der hiesigen Winzer. Das war es dann aber auch schon mit aktueller gesellschaftlicher Relevanz. Als ob es keine wichtigeren Themen gäbe.«
David hörte interessiert zu. Der Dekan schien bereits das eine oder andere Glas des Getränks, über dessen Ethik es sich seiner Meinung nach nicht zu reden lohnte, intus zu haben. Denn sonst war seine Kritik zurückhaltender, vor allem an Wulffen, der Haupteinnahmequelle der Fakultät. Und dann auch noch an dessen Ehrentag.
Zum Glück sprang Astrid, Professorin für Umweltethik und Davids Verbündete an der Fakultät, dem Jubilar zur Seite. »So einfach lässt sich das Projekt nun wirklich nicht abtun, Herr Kollege. Zentraler Aspekt wird die Verantwortung der Winzer gegenüber der Umwelt sein. Wulffen ist der Meinung, dass wir die Traditionen bewahren müssen, aber auch neue, nachhaltigere Methoden entwickeln sollten. Und das in der Praxis zu untersuchen und mit Winzern zu diskutieren – wo wäre das besser möglich als hier in Würzburg?«
»Nachhaltigere Methoden, na, darauf bin ich gespannt«, schob der Dekan süffisant nach. »Dazu sollte unser Hobby-Winzer ja einiges beitragen können.«
Nun schaltete sich David ein, was bei dem Geräuschpegel im Keller selbst über die wenigen Plätze hinweg nicht einfach war. Er sprach besonders laut. »Später wird es noch eine Ankündigung geben, die hoffentlich zeigt, dass ›Hobby-Winzer‹ nicht ganz zutreffend ist.«
Nach einem Moment der Stille folgte höfliches Nicken. Dann setzte Stiepen das Gespräch fort. David verstand nur noch die Hälfte und konnte sich nicht mehr daran beteiligen. Der Mann, der auf der anderen Seite neben ihm saß, hatte sich von Beginn an auf sein Essen konzentriert, dieses sorgfältig und langsam verzehrt und bisher kein Wort gesprochen. Er blickte weder nach links noch nach rechts, aber seine Pasta schien ihm geschmeckt zu haben.
Die Stunden zogen sich wie ein lästiger Kaugummi am Schuh, und David überlegte, wann er sich wohl verabschieden konnte. Dann fiel sein Auge auf den Nebentisch und er erkannte Dietrich Stauffer, einen bekannten Unternehmer aus Würzburg, der schon mehrere Start-ups gefördert hatte. Neben ihm saßen Johanna Brandner, Geschäftsführerin eines IT-Unternehmens, und Dr. Kiesewetter, Erbe einer Firmendynastie, der sich jedoch zu einem anderen Tisch gewandt hatte und dort das Gespräch zu dominieren schien. David konnte ebenso gut versuchen, die Zeit für berufliche Vernetzung zu verwenden. Als Stauffer ihm einen flüchtigen Blick zuwarf, nutzte David die Pause zwischen den Gängen, stand auf und schlenderte zu dem Tisch nebenan.
»Frau Brandner, Herr Stauffer? Darf ich mich vorstellen? David Assmuth, Mitarbeiter von Professor Wulffen an dem Projekt M.I.A. Wir werden uns diesbezüglich ja am Montag treffen, nicht wahr?«
Die beiden unterbrachen ihr Gespräch, Stauffer reichte David die Hand, Frau Brandner nickte ihm zu.
»Angenehm, Herr Assmuth. Unser geschätzter Gastgeber hat schon viel von Ihnen und dem Projekt erzählt«, antwortete Stauffer. »Das klingt wirklich sehr interessant. Wobei, für KI bist ja eher du zuständig«, bezog er Frau Brandner in das Gespräch ein.
Sie nickte unbestimmt. »Moralisch trainierte KI, richtig?« Frau Brandner schien also ebenfalls bereits gut informiert zu sein. »Das klingt erst mal nicht schlecht.« Sie beugte sich interessiert nach vorn.
»Ja genau. Die Idee ist, die Entscheidungsprozesse von KI so zu gestalten, dass sie moralisch nachvollziehbar und gesellschaftlich akzeptabel sind.«
»Das ist sinnvoll, vor allem angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Tech-Branche. Aber wie wollen Sie das sicherstellen?«
David zog sich einen freien Stuhl heran, und schnell nahm die Diskussion um sein Herzensprojekt Fahrt auf. Doch zunächst blieben die beiden Wirtschaftsgrößen skeptisch. Vor allem glaubten sie nicht an die Rentabilität, egal, wie gut die Idee inhaltlich sein mochte.
Doch gerade als David dazu ansetzen wollte, ihnen auch hierfür Argumente zu liefern, hallte der Ton eines Bestecks, das erst sanft, dann immer lauter gegen ein Glas geschlagen wurde, durch den Raum. Das glockige Geräusch brachte die Gespräche langsam zum Verstummen.
Eine Frau tauchte hinter David auf, die ihren Platz zurückwollte – die Ehefrau von Herrn Stauffer, wie er wusste –, also stand er möglichst schnell auf und rückte ihr den Stuhl zurecht. Verdammt, gerade am entscheidenden Punkt des Gesprächs! Jetzt würden sich bei den beiden bis zur Präsentation am Montag die Zweifel verfestigen, anstatt dass seine Argumente und Statistiken für die Wirtschaftlichkeit von M.I.A. hängen blieben. Das war mehr als schlecht gelaufen.
»Meine lieben Gäste, darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten?«
Die Stimme von Professor Wulffen erfüllte den Raum. Davids Chef stand in seiner gewohnt nonchalanten Präsenz auf der kleinen Bühne. Und schon erinnerte sich David wieder daran, um wen es heute ging: den Gastgeber. Über M.I.A. würden sie mit den Investoren am Montag reden können, und er hatte gute Argumente, um sie zu überzeugen. Außerdem würde ihm dann auch Wulffen den Rücken stärken.
Der Professor trug anlässlich seiner Geburtstagsfeier einen dunkelblauen, natürlich maßgeschneiderten Anzug, das helle Hemd war oben offen, die Krawatte hatte er wie üblich weggelassen. Ab einem bestimmten Punkt der eigenen gesellschaftlichen Bedeutung konnte man auf derartige Symbole verzichten, und Wulffen erspürte soziale Vorgaben stets treffsicher. Inzwischen hatte er diesen Punkt ohnehin um Meilen überschritten. Selbst wenn er hier in Boxershorts erschienen wäre, hätte das sicher nur das eine oder andere amüsierte Augenbrauenzucken zur Folge gehabt.
Während Wulffen sprach, winkte er seine Frau Judith zu sich. David meinte, bei ihr ein subtiles Kopfschütteln zu erkennen. Doch Wulffen nickte auffordernd, und schon gab sie nach. In dem eleganten schwarzen Kleid, das ihre schlanke Figur betonte, bewegte sie sich wie die Hauptdarstellerin aus dem Film »Die Geisha« in voller Montur. Der Weg zur Bühne zog sich, das Schweigen der Gäste begann, unangenehm zu werden.
Zum Glück griff Wulffen ein. »Selbst mit kleinen Schritten hinterlässt sie großen Eindruck«, rief er in den Raum und strahlte seine Gattin an. Mit seiner Linken half er ihr auf die Bühne. Judith Wulffen stellte sich schräg hinter ihren Mann und nickte den Gästen verhalten zu. Wulffen küsste ihre Hand, bevor er sie losließ und sich wieder dem Publikum zuwandte.
»Uns freut es sehr, euch heute Abend hier begrüßen zu dürfen«, begann er und breitete die Arme aus, als wollte er alle umarmen. »Es ist immer wieder eine Freude, so viele bekannte Gesichter in einem Raum zu sehen. Zu sehen, wie ihr euch amüsiert, das Essen und natürlich den wunderbaren Wein genießt. Wie wir Philosophen zu sagen pflegen: ›Ich trinke, also bin ich.‹ Oder war es nicht vielmehr ›Ich denke, also trinke ich‹? In diesem Sinne: Prost, meine Lieben!«
Lautes Auflachen ging direkt in klangvolles Anstoßen über. Anschließend hoben die Gäste ihre Gläser in Wulffens Richtung und prosteten ihm und seiner Frau zu. David schmunzelte. Sein Chef wusste, wie man gute Stimmung erzeugte. Während das Lachen nachhallte, fiel Davids Blick auf Judith Wulffen. Sie stand noch immer steif auf der Bühne, ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Ihre Augen wanderten durch den Raum, ohne jemand Bestimmten zu fokussieren.
Wulffen sprach weiter, begrüßte die Würdenträger, enge Freunde, Familienmitglieder, sein Team. Er nannte keinen von seinen Mitarbeitern beim Namen. Wahrscheinlich war das auch besser so, sonst wäre der übliche Konkurrenzkampf ausgebrochen. Gerade als er sich in verschiedenen Anekdoten aus den letzten 60 Jahren seines Lebens verlor und es langsam seltsam anmutete, dass der Hauptredner an diesem runden Geburtstag der Jubilar selbst war, erhob sich eine Frau, die David nur allzu gut kannte.
Katharina Walther. Die berühmte Matriarchin einer alteingesessenen Winzerfamilie, der fast alle wichtigen Weinberge in der Gegend gehörten. Außerdem war sie eine Freundin seiner Vermieterin Frieda und deshalb häufig in der Villa anzutreffen, in der sich auch Davids Einliegerwohnung befand. Und deshalb wusste er auch von dem besonderen Geschenk, das sie Wulffen nun überreichen würde.
Weit über 70 musste sie inzwischen sein, sie war nicht besonders groß und ihre ausladenden Formen waren in viele bunte Rüschen und funkelnde Klunker verpackt, betonend statt versteckend. David kannte sie als äußerst lebendiges Energiebündel, wenn auch manchmal etwas herrisch. Er freute sich auf ihre Rede, denn Katharina Walther war immer unterhaltsam.
Auch sie brauchte beim Betreten der Bühne Hilfe von Wulffen, doch sobald sie darauf stand, hüpfte sie wie ein Flummi zum Mikrofon, zog es zu sich herab und strahlte die Gäste an.
»Guten Abend, liebe Feiergemeinde«, begann sie mit ihrer kräftigen Stimme. »Lieber Achim, vielen Dank für die Einladung zu diesem wunderbaren Fest. Obwohl – heute stellen wir den Wein, da bist du um uns nicht herumgekommen.« Bei diesen Worten zwinkerte sie dem Publikum zu, das in der folgenden kurzen Pause brav lachte. »Im Ernst: Es ist mir eine große Ehre, heute Abend hier zu sein und unserem lieben Professor Wulffen ein besonderes Geschenk zu präsentieren.« Sie hielt kurz inne und ließ sich von einem ihrer fünf Söhne – David brachte sie immer durcheinander, glaubte aber, dass es Anton war – einen Bilderrahmen reichen. Mit großer Geste zeigte sie das Bild zunächst Achim, der sich gerührt an die Brust fasste, und drehte es dann, dramatisch langsam, zum Publikum.
»Urkunde« stand in riesigen Buchstaben oben auf dem gerahmten Dokument. Darunter folgten ein Text, kunstvolle Verzierungen sowie Illustrationen von Weinreben, Gläsern und Flaschen.
»Im Namen der Weinbruderschaft von Würzburg möchte ich dir, lieber Achim, den Ehrenvorsitz andienen. Dies ist als Auszeichnung für deinen unermüdlichen Einsatz als einer unserer ›Amigos‹ für die Würzburger Winzer und ihre Verdienste um den Weinanbau in unserer Region gedacht.« Sie übergab das Dokument an Wulffen, der es mit strahlenden Augen entgegennahm. Der ganze Saal brach in Applaus aus, der von den Wänden des Kellers widerhallte. Anschließend ergriff die Winzerin, erneut aus den Händen ihres Sohnes Anton, einen großen Bocksbeutel, der einen besonders edlen Tropfen zu enthalten schien, denn sie präsentierte das Etikett Wulffen und seiner Frau, die beeindruckte Gesichter machten. Sie schenkte ein, stieß mit ihm an und stellte sich neben ihn, fasste die Urkunde ein weiteres Mal und drehte sie wieder zum Publikum.
»Danke, danke! Tausend Dank«, sagte Wulffen ergriffen und verneigte sich. »Das ist wirklich eine große Ehre.« Seine Stimme brach sogar leicht.
David grinste. Der Mann, der schon mit dem Bundespräsidenten diskutiert, unzählige Preise erhalten hatte und in alle wichtigen Akademien aufgenommen worden war, ließ sich doch noch erschüttern. Würzburger Wein war seine große Leidenschaft. Demonstrativ hob er sein Glas und nahm genussvoll einen großen Schluck. Er blickte nicht so begeistert, wie es der teure Bocksbeutel hätte vermuten lassen, aber das mochte auch daran liegen, dass er in dem Moment zu seiner Ehefrau schaute. Davids Blick folgte dem von Wulffen. Das Lächeln von Frau Wulffen erreichte ihre Augen nicht, ihre Finger spielten nervös mit einem Anhänger an ihrer Halskette. Sonst war sie nicht so angespannt, was war heute nur mit ihr los?
Die Reden und die für David immer anstrengendere Feier nahmen weiter ihren Lauf. David hatte immer noch keinen Gesprächspartner gefunden, die Minuten zogen sich in die Länge. Wann er wohl verschwinden konnte, ohne unhöflich zu wirken? Doch er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn er bemerkte, dass sich die Stimmung im Raum schlagartig änderte.
Der Gast neben ihm blickte ihn nun doch an. Seine Augen waren erschrocken und weit aufgerissen. Sein Gesicht war leichenblass. Seine Hand zitterte, als er sich an den Bauch griff und versuchte, aufzustehen. Doch kaum hatte er sich erhoben, schwankte er und konnte sich nur im letzten Moment am Tisch festhalten. David sprang auf und fasste den Mann am Arm. Dieser zog an Davids Anzugärmel, so fest, dass der Stoff zu reißen drohte. Immer noch sagte er nichts. David blickte sich hilfesuchend um. War der Mann betrunken? Nein, er hatte doch kaum an seinem Wein genippt. Ein Herzinfarkt?
Was konnte er tun? Er hatte doch keine Ahnung von Erster Hilfe. Er brauchte einen Arzt! Hier waren doch sicher einige Ärzte anwesend.
Als er um sich blickte, wurde David klar, dass ihm so bald niemand helfen würde. Und dass es kein Herzinfarkt war. Denn immer mehr Gäste verhielten sich ähnlich wie der Mann neben ihm. Sein Blick suchte nach den Menschen, die er kannte.
Astrid, die gerade noch angeregt diskutiert hatte, fuchtelte mit den Armen und schüttete dabei ihr Glas vor sich um. »Mir ist so schwindelig«, flüsterte sie schwach, bevor sie in sich zusammensank.
David stolperte über seinen Stuhl und stieß mit dem Arm an den Tisch. Er wollte zu Astrid, zugleich hielt er immer noch den Mann neben sich fest. Er versuchte, ihn langsam in eine sitzende Position zu bringen. Der Mann schwankte, ließ sich dann zu Boden gleiten, krümmte sich in eine Embryohaltung und übergab sich. Sein lautes Aufseufzen ging David durch Mark und Bein. Nachdem er sichergestellt hatte, dass der Mann nicht ersticken würde, rannte er zu Astrid und kniete sich neben sie. Fühlte ihren Puls. Sie atmete, ihr Herz schlug. Doch ihr Gesicht war blass, sie schwitzte. Was war nur los?
In dem Moment hörte David einen lauten Knall. Katharina Walther war von der Bühne gestürzt. Der Fall war schwer und laut gewesen, die Gäste um ihn herum zuckten erschrocken zusammen. Professor Wulffen hatte sich auf die Bühne gesetzt, den Kopf in den Händen verborgen. Seine Frau stand neben ihm und strich ihm über die Haare.
Ein kurzer Blick durch den Raum zeigte David, dass immer mehr Anwesende an Vergiftungserscheinungen litten. Seine Sitznachbarin hielt sich den Bauch. Ein Mann in Davids Nähe fiel vornüber auf den Tisch, das Gesicht schmerzverzerrt.
»Mir ist so schlecht«, stöhnte nun auch Stiepen, der sich bisher aber noch auf seinem Stuhl halten konnte. Auf seiner Stirn sammelten sich Schweißperlen, auch er musste sich kurz darauf übergeben.
David spürte, wie die Panik der Gäste von Sekunde zu Sekunde zunahm. Einige rannten zur Tür. Der Weinkeller, in dem gerade noch eine so ausgelassene Stimmung geherrscht hatte, war plötzlich erfüllt von Stöhnen, Gejammer und hektischem Gedränge.
Ein Kellner stürzte herbei, versuchte, die Anwesenden zu beruhigen. Doch das Drängeln wurde schlimmer, inzwischen bestand die Gefahr, dass sich die Menschen in Panik gegenseitig verletzten.
David wurde klar, dass er am meisten zur Deeskalation beitragen konnte, indem er Hilfe holte. Da es in dem Keller keinen Handyempfang gab, musste er hierfür durch die aufgebrachte Menge gelangen. Die Menschen um ihn herum stießen Stühle um, mehrere Ellenbogen wurden ihm in die Seiten geschlagen und einmal wurde er an der Anzugjacke nach hinten gezogen. Doch er kämpfte sich frei und Meter für Meter voran. Es war keine Zeit, seine Absicht zu erklären. Endlich stolperte er aus dem Keller. Frische Luft, Stille.
So schnell er konnte, rannte er zum Ausgang der Residenz. Die Angst der Gäste, das Gestöhne – all das hallte in ihm nach. Sein Herz schlug überdeutlich.
Noch während er sein Telefon hervorzog, um den Notruf zu wählen, fiel sein Blick auf den Sanitätswagen am Rand des Weinfests. Natürlich, das Weinfest!
Ohne zu zögern, rannte er darauf zu. Viel zu früh begann er, in die Richtung der Menschengruppe, die vor dem Wagen stand, zu schreien. »Hilfe! Wir brauchen sofort Hilfe! Kommen Sie in den Keller, schnell!«, rief er immer wieder, bis er die Gruppe endlich erreicht hatte.
Ein Sanitäter, der gerade dabei war, die Tür des Rettungswagens zu schließen, schaute sich erschrocken um. »Kommen Sie erst einmal zu Atem. Und nun noch einmal in Ruhe: Was ist passiert?«, fragte er in behutsamem Ton. Doch die Sorge war ihm anzusehen, sein Blick fixierte David. Sein Ausdruck musste den Schrecken spiegeln, den er eben erlebt hatte.
»Im Keller! Alle sind umgefallen, ohnmächtig, haben sich erbrochen. Vergiftungen, irgendwie so was, schnell!«, rief David immer noch außer Atem, mit ersten Anzeichen von Seitenstechen.
Der Sanitäter nickte. Er öffnete die Tür des Wagens wieder. Noch während er hineinstieg, rief er seinen Kollegen zu: »Ruft Verstärkung! Alles, was geht. Notärzte, Feuerwehr, noch mehr Rettungswagen.«
Ein Kollege, der bisher geschwiegen hatte, packte sein Funkgerät und sprach etwas hinein. Irgendwelche Zahlen und Aufforderungen. Der andere Sanitäter warf mehrere Taschen zu einer Gruppe Umstehender.
Teil der Gruppe war auch eine Frau in einer Art Hippie-Kleid und Lederjacke, mit sehr roten Haaren, sowie ein uniformierter Polizist. Die Frau drehte sich um und winkte den Polizisten zu sich. »Wir holen unseren Erste-Hilfe-Kasten, geben alle Daten durch, fordern ebenfalls Verstärkung an und sind sofort wieder da«, rief sie in Richtung der Sanitäter. Der Rest der Gruppe stürmte los zum Keller.
David schloss sich ihnen an und lief hinterher. Das Stechen in seiner Seite wurde mit jedem Schritt schmerzhafter, doch er musste durchhalten. Kämpfte sich weiter, Meter für Meter. Er musste doch auch helfen!
Am Eingang des Kellers angekommen, sah er, dass die Sanitäter bereits mit den ersten Patienten beschäftigt waren. Menschen wurden behandelt, die Rettungsassistenten flößten ihnen etwas ein oder legten Zugänge für Infusionen. »Wir brauchen hier mehr Platz!«, rief einer der Sanitäter, während er versuchte, seinen Bereich zu ordnen.
David fügte sich in die allgemeine Vorgehensweise ein, half dabei, die Gäste zu besänftigen, und folgte den Anweisungen der Profis. »Bleiben Sie ruhig, Hilfe ist unterwegs«, sagte er mit möglichst fester Stimme zu einem Mann, der sich an die Wand lehnte und schwer atmete. »Alles wird gut«, sicherte er ihm zu. Auch wenn er das gerade selbst nicht glaubte.
Zitat
»Nicht alles, was in der Stille gärt, reift. Manches wird faulig, wird bitter, wird ungenießbar.«
Weinfass im Keller der Residenz
»Na los! Schneller!«, rief Ines Thümmler zu, der weit abgeschlagen hinter ihr her keuchte. Ihre Schritte hallten über das Kopfsteinpflaster. Warum hatten sie nur so weit weg geparkt? Von der anderen Seite des großen Platzes der Residenz tönten näher kommende Sirenen, Blaulicht flackerte durch die Nacht.
Endlich erreichte sie den Dienstwagen. Ines tastete ihre Taschen ab. Kein Schlüssel, verdammt. Also musste sie stehen bleiben und auf ihren Kollegen warten, der sich schon jetzt die Seite hielt.
Ines trainierte zwar nicht oft, doch wenn, dann intensiv. Das schien zu reichen, um schneller zu sein als Thümmler, half jetzt nur nichts. Nach viel zu langen Sekunden stolperte er heran.
»Den Schlüssel!« fuhr sie ihn an. Sie wusste, dass das ungerecht war, dass er nichts für die Katastrophe konnte, die sich gerade in diesem Keller ereignete. Doch sie schaffte es nicht, ihre Anspannung zu kontrollieren.
Zumindest hatte er den Schlüssel griffbereit und warf ihn ihr zu. Sie fing ihn auf und öffnete den Kofferraum des Wagens. Dort griff sie nach dem Erste-Hilfe-Koffer.
»Alles da?«, rief Thümmler von hinten.
»Ja, sieht gut aus«, antwortete Ines. Das wäre ja noch schöner, dachte sie, wenn die Erste-Hilfe-Ausrüstung in einem Polizeiwagen nicht auf dem aktuellen Stand wäre.
Schwungvoll zog sie den Kasten heraus und schlug den Kofferraumdeckel zu. Sie öffnete die Fahrertür, als sie bemerkte, dass Thümmler wieder zurücklaufen wollte. Gerade er, dessen Keuchen inzwischen das Stadium eines pfeifenden Teekessels erreicht hatte.
»Wir fahren, Thümmler«, rief sie.
Er stoppte mitten im Lauf, drehte um und nickte. »Klar, wie dalgerd von mir. Macht Sinn.« Er rannte zur Beifahrerseite, riss die Tür auf, stieß sich beim Einsteigen den Kopf an und landete mit einem Seufzer auf dem Sitz.
Ines verstand ihn. Na ja, das fränkische Wort konnte sie nur erraten, es sollte wohl so was wie »ungeschickt« bedeuten. Aber sie wusste, wie er sich fühlte. Auch sie war nervös. Was konnte diese Vergiftung nur verursacht haben?
Während sie fuhr, informierte Thümmler die Zentrale. Hoffentlich würden schon bald alle verfügbaren Kräfte aus Würzburg und Umgebung ihren Weg hierher finden.
So schnell sie konnte, umrundete sie den Residenzplatz auf der Balthasar-Neumann-Promenade und dem Rennweg und parkte den Wagen dann an der Seite, sodass die bereits angekommenen Rettungswagen leicht würden abfahren können.
Beide sprangen aus dem Wagen und rannten los. Nun war Thümmler direkt neben ihr, während der kurzen Fahrt war er anscheinend wieder zu Atem gekommen. Zum Glück, denn nun musste sich Ines an ihm orientieren, sie wusste nicht, wo es zum Keller ging. Sie liefen durch eine Art Innenhof. Die nächtlich angeleuchtete Residenz wirkte unter dem Eindruck der Katastrophe wie ein barockes Geisterschloss. An der linken Seite des Gebäudes, in einer unscheinbaren Ecke, befand sich eine riesige Holztür. Dort war ein Schild angebracht, das zur Tür zeigte und auf dem in großer Kreideschrift »Geburtstag Professor Wulffen – PRIVAT« stand.
Thümmler rannte hin. Ines lief hinterher, und sobald der Kollege die Tür geöffnet hatte, war klar, dass sie hier richtig waren. Die Schreie und das Schluchzen der Gäste drangen die Treppe herauf. So schnell es die ungleichmäßigen Steinstufen erlaubten, stürmte sie hinab. Nur am Rand nahm Ines die Atmosphäre des Weinkellers wahr. Riesige Holzfässer, rohe Steinwände, große Holztische. Alles sehr traditionell, fast mittelalterlich. Die Luft war stickig und roch modrig. Doch innerhalb von Sekunden wurde ihre Aufmerksamkeit von der Not der Menschen um sie herum eingefangen.
Die Sanitäter waren bereits hoch konzentriert damit beschäftigt, die schlimmsten Fälle zu versorgen. Ines versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Wo wurde ihre Hilfe am dringendsten benötigt?
»Ich brauche hier Unterstützung!«, rief ein Sanitäter in dem Moment. Er wollte einem Mann helfen, der bewusstlos auf dem Boden lag. Ines eilte zu ihm. Er zeigte auf eine Frau neben sich, ohne den Blick von seinem Patienten abzuwenden. »Stabile Seitenlage, Rachen frei räumen. Atemmaske.«
Ines nickte und machte sich ans Werk. Obwohl die Frau ebenfalls nicht bei Bewusstsein war, strich sie ihr über die Haare, als sie sie auf die Seite legte. »Durchhalten«, flüsterte sie ihr zu. »Alles wird gut.«
Nachdem sie die Frau – so gut sie konnte – erstversorgt hatte, drehte sie sich um und sah, dass auch Thümmler auf dem Boden kniete und sich um Erkrankte kümmerte.
Auf der anderen Seite, neben Ines, hockte eine Frau an die Mauer gelehnt. Ihr Kopf war zwischen den Knien verborgen, ihre langen dunklen Haare hingen wasserfallartig bis zum Boden, verbargen ihr Elend wie ein Vorhang.
Ines schnappte sich ein Glas Wasser und beugte sich zu ihr. »Können Sie etwas trinken?«, sprach sie sie möglichst sanft an.
Die Haare wackelten hin und her, die Frau schien mit dem Kopf zu schütteln. »Was ist nur passiert?«, flüsterte sie, ihre Stimme war dünn und zittrig.
»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Ines ruhig. »Aber das ist jetzt nicht wichtig, sondern nur, dass es Ihnen bald besser geht. Bitte trinken Sie doch einen kleinen Schluck.«
Schließlich trank die Frau vorsichtig. Als sie ihren Kopf hob, erschrak Ines über das verschmierte Make-up und die eingefallenen Wangen, doch sie ließ sich nichts anmerken. Stattdessen legte sie die Hand auf die Schulter der Frau, half ihr, das Wasserglas zu halten, und nahm es ihr wieder ab, als sie nichts mehr schlucken wollte.
»Versuchen Sie, wach zu bleiben, ja? Bleiben Sie aufrecht sitzen, lehnen Sie sich an. Ich stelle das Glas hier ab, bitte trinken Sie weiter, wenn es geht.«
Aus den Augenwinkeln sah Ines immer mehr Sanitäter die Treppe herunterkommen. Dazu Feuerwehrleute, einige Frauen in Zivil. Möglicherweise waren es Ärztinnen. Und ein paar ihrer Kollegen waren auch dabei. Erleichterung durchflutete Ines. Auch wenn das Chaos im Keller noch lange nicht unter Kontrolle war, sie waren nicht mehr allein. Sie nickte den Kollegen zu, doch die bemerkten sie gar nicht. Alle Ankommenden nahmen sich sofort der Menschen an, die Hilfe benötigten. Nach und nach wurden die Betroffenen an die frische Luft gebracht, einige sicher direkt ins Krankenhaus. Mit jeder Sekunde wurde es ruhiger.
Da fiel Ines in einer etwas dunkleren Ecke ein bekanntes Gesicht auf. Ihr Chef! Sie kämpfte sich in seine Richtung. Auch er saß an der Wand, sah blass und verschwitzt aus, neben ihm eine Frau, wahrscheinlich seine Ehefrau, die Ines bisher noch nicht kennengelernt hatte. Als sie sich neben ihn hockte, dauerte es einige Momente, bis er sie erkannte. Dann brachte er mühsam ein Lächeln zustande.
»Präsident Windinger, wie geht es Ihnen? Können Sie und Ihre Frau aufstehen? Dann helfe ich Ihnen nach draußen, an die frische Luft. Wir finden bestimmt noch einen Helfer …« Schon schaute sie sich um, um zu prüfen, welcher der Sanitäter in der Lage wäre, eine derart imposante Erscheinung wie ihren Chef zu stützen.
Doch dieser winkte ab. Mit schwacher Stimme sagte er: »Wir können laufen, danke. Das schaffen wir auch selbst. Wir sitzen hier nur, um uns noch ein bisschen auszuruhen. Kümmern Sie sich erst mal um die, die mehr Hilfe brauchen.«
Ines nickte, die beiden sahen wirklich nicht ganz so mitgenommen aus. Sie holte trotzdem zwei Gläser Wasser, beide bedankten sich und lehnten dann die Köpfe wieder erschöpft an die Wand. Windinger winkte sie weg, nickte ihr aber vorher noch mal zu. »Alles in Ordnung mit uns« sollte das wohl heißen.
Ines’ Anspannung ließ nach, konzentriert widmete sie sich anderen Personen, half und tröstete. Ein besonders schick und bunt gekleideter älterer Herr hielt sich an ihr fest und seufzte: »Hygieia, göttliche Heilerin, schick deinen Balsam!« Ines schüttelte irritiert den Kopf, achtete dann aber vor allem darauf, dass der Mann aufrecht an der Wand saß und sein Kreislauf stabil blieb.
Als sie sich das nächste Mal umblickte, entdeckte sie den Mann, der zum Rettungswagen gelaufen war und sie alarmiert hatte, nur wenige Meter neben sich. Auch er war über eine Person gebeugt, die vor sich hin stöhnte, und hielt ihre Hand. Er schien die ältere Dame zu kennen, denn er flüsterte: »Frieda, hörst du mich?«
Erst als sie reagierte und der junge Mann sie umarmte, ging Ines weiter. Der Keller wurde immer leerer, die Situation überschaubarer.
In dem Moment realisierte Ines, dass sie hier noch eine andere Aufgabe hatte. Sie war die höchstrangige Polizistin vor Ort – ihren Chef einmal ausgenommen, aber der fiel ja wohl aus. Was immer hier passiert war, Fahrlässigkeit ließ sich nicht ausschließen. Bei derartigen Katastrophen war es wichtig, die Ursache zu ergründen.
Nun betrachtete sie den Raum nicht nur aus der Perspektive der Ersthelferin, sondern auch aus der der Polizistin. Dass es sich um eine Lebensmittelvergiftung handelte, war offensichtlich. Also würde der Abend nicht damit enden, dass die letzten Personen versorgt wurden, sondern mit der Sicherung von Beweisen: Geschirr, Essensresten und was sonst noch relevant sein könnte. Kurz seufzte sie auf. Doch dann wurde ihr bewusst, wie viel besser es ihr im Vergleich zu den schmerzgeplagten Menschen um sie herum ging, und sie riss sich zusammen.
An einer der Mauern stand eine Art Bühne. Von dort würde sie einen guten Überblick über den Raum haben. Vorsichtig, um keinen Helfer zu behindern, bahnte sie sich den Weg in die Richtung.
»Wie ist die Lage? Wo werde ich gebraucht?«, fragte sie unterwegs einen der Sanitäter.
»Die schlimmsten Fälle scheinen wir versorgt zu haben. Bei Vergiftungen kann man das zwar nie so genau sagen, die Wirkung kann sich in den nächsten Stunden verschlimmern, aber ich glaube nicht, dass bei den Personen, die noch im Raum sind, akute Lebensgefahr besteht.«
Erleichterung durchflutete Ines. Ohne dass sie es bisher realisiert hatte, war in den letzten Minuten ihre größte Angst gewesen, dass jemand unter ihren Händen verstarb.
»Aber es gibt auf jeden Fall noch einige Personen, bei denen es gut wäre, wenn jemand sie im Auge behalten würde: aufsetzen, Wasser einflößen, die Arme reiben, den Kreislauf am Laufen halten. Die Frau hier an der Seite scheint mir nicht direkt in die Klinik zu müssen, aber dennoch Unterstützung zu brauchen. Da drüben steht stilles Wasser.«
Ines gab ihm recht, die Frau, die ein paar Meter weiter auf einem Stuhl saß, sah zwar blass aus, konnte sich aber aus eigener Kraft aufrecht halten. Sie wäre nicht ihre erste Wahl gewesen, lagen doch noch einige andere Personen gekrümmt am Boden, aber wer war sie, die Entscheidung eines medizinisch Ausgebildeten zu hinterfragen. Zunächst holte Ines ein Wasser von der Theke, auf der inzwischen Gläser und geöffnete Flaschen standen. Das Personal dachte mit.