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Mord in Südspanien: Ein ungewöhnliches Mutter-Tochter-Duo ermittelt Sonnenuntergänge und spanischer Rotwein statt Winterdepressionen und Schneematsch – darauf hoffen die digitale Nomadin Clara und ihre Mutter Anneliese, als sie sich für einige Monate in Granada einquartieren. Und sie haben Glück: Ihr charmanter Vermieter Manuel zeigt den beiden verborgene Ecken der Stadt und zwischen Anneliese und ihm bahnt sich eine Romanze an. Doch der sorglose Spanienaufenthalt nimmt mit einem Todesfall in ihrem Umfeld schon bald eine düstere Wendung, die Clara und Anneliese dazu treibt, auf eigene Faust zu ermitteln. Dass die Schatten über der Alhambra dunkle Geheimnisse verbergen, merken sie erst, als es fast zu spät ist … Für alle, die sich in den Süden sehnen und das Matschwetter gerne gegen Sonnenuntergänge und Flamenco eintauschen würden!
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Schatten über der Alhambra
Susanne Beck, 1977 im Bayerischen Wald geboren, unterrichtet Strafrecht und Rechtsphilosophie in Hannover und forscht dort zu Themen wie Künstliche Intelligenz, Hate-Speech oder Menschenhandel. Vor ihrem Umzug nach Niedersachsen hat sie viele Jahre in Australien, China und Großbritannien gelebt, und zahlreiche Länder bereist – natürlich auch Spanien. Dort hat die Alhambra sie so tief beeindruckt, dass sie ihren ersten Urlaubskrimi auf der Festung und im umliegenden Granada spielen lässt.
Zum Buch: Sonnenuntergänge auf der Terrasse und spanischer Rotwein statt Winterdepressionen und Schneematsch – darauf hoffen die digitale Nomadin Clara und ihre Mutter Anneliese, als sie sich für sechs Monate im südspanischen Granada einquartieren. Und es könnte kaum besser laufen: Ihr charmanter Vermieter Manuel zeigt den beiden die verborgenen Ecken der Stadt, und zwischen Anneliese und ihm bahnt sich eine Romanze an. Doch der sorglose Spanienaufenthalt nimmt mit einem Todesfall in ihrem Umfeld schon bald eine düstere Wendung. Warum scheint die Polizei nie die richtigen Fragen zu stellen? Clara und Anneliese beginnen, auf eigene Faust zu ermitteln. Sie ahnen jedoch nicht, wie dunkel die Geheimnisse in den Schatten der Alhambra sind ...
Susanne Beck
Ein Andalusien-Krimi
Ullstein
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 102. Oktober
Kapitel 2 02. Oktober
Kapitel 3 12. Oktober
Kapitel 430. Oktober
Kapitel 515. November
Kapitel 617. November
Kapitel 717. November
Kapitel 817. November
Kapitel 918. November
Kapitel 1018. November
Kapitel 1118. November
Kapitel 1218. November
Kapitel 1318. November
Kapitel 1418. November
Kapitel 1518. November
Kapitel 1619. November
Kapitel 1719. November
Kapitel 1819. November
Kapitel 1919. November
Kapitel 2021. November
Kapitel 2127. November
Kapitel 2203. Dezember
Kapitel 2303. Dezember
Kapitel 2403. Dezember
Kapitel 2504. Dezember
Kapitel 2604. Dezember
Kapitel 2706. Dezember
Kapitel 2806. Dezember
Kapitel 2907. Dezember
Kapitel 3007. Dezember
Kapitel 3107. Dezember
Kapitel 3208. Dezember
Kapitel 3308. Dezember
Kapitel 3409. Dezember
Kapitel 3509. Dezember
Kapitel 3610. Dezember
Kapitel 3711. Dezember
Kapitel 3812. Dezember
Kapitel 3913. Dezember
Kapitel 4013. Dezember
Kapitel 4114. Dezember
Epilog
Dank
Leseprobe: Meeresdämmerung
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Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Einmal mehr verschwindet die Sonne hinter dem Horizont. Sanfte Dämmerung legt sich über die Stadt. Doch Ruhe wird noch lange nicht einkehren auf den Straßen Granadas. Die Bewohner lieben die Dunkelheit, treffen sich zum Abendessen auf den Plätzen, lauschen den melancholischen Klängen der Straßenmusiker, tanzen und atmen den Duft von Jasmin, Gewürzen und Lebenslust.
Granada. Treue Begleiterin, über all die Jahrhunderte.
Was haben wir beobachtet. Wie viele Geschichten, auf deinen Straßen, in meinem Schatten. Tausende Frühjahre, erwachende Natur, aufblühendes Leben. Die schweren Sommer, in denen heiße Luft zwischen den Häusern am Tag alle Tätigkeit lahmlegt und die sternenverhangenen Nächte noch wilder werden lässt. Goldene Herbste, in denen in den angrenzenden Dörfern die Weinlesefeste stattfinden, voller überbordender Lust. Graue Winter, die Wasser und Kühle bringen, und Ruhe, um den Kreislauf erneut beginnen zu lassen.
Die Erinnerung daran ist in immer neue Steine gemeißelt, überdauert alle meine Umgestaltungen, neuen Gebäude und Räume, edlen Verzierungen oder radikalen Zerstörungen. So wie der Wind, der an meinen Mauern entlang und über meine Dächer hinwegbläst, immer neu und doch immer auch derselbe Wind ist. Der immer gleiche Himmel, die immer gleiche Sonne, die immer gleichen Sterne – in Materie gegossene Zeit, wie ich.
In all dieser Zeit habe ich über unzählige Menschenleben gewacht. Habe sie beschützt, vor der Unbill der Jahreszeiten, den Gefahren durch wilde Tiere, vor Angreifern von außen.
Alle Menschen, so gleich in ihrem Sein, in ihren Wünschen und Hoffnungen, und doch oft voller Hass gegeneinander.
In meinen ersten Jahrhunderten entwickelte ich mich zu einer rettenden Festung für die diese Erde nur so kurz besuchenden Menschen. Vielen von ihnen habe ich Schutz und einige zusätzliche Lebensjahre geschenkt. Erst später wurde mein wahres Ich erweckt, auf den Ruinen meiner früheren Leben. Einige meiner alten Steine wurden wieder verwendet, doch auch viele neue, wertvolle Materialien herangekarrt, manche aus weiter Ferne. Nun stammen meine Teile nicht mehr nur aus meiner spanischen Heimaterde, und doch bin ich mehr Einheit als je zuvor, ein ausgeglichenes Ganzes. Kraftvolle Schönheit vereint mit funktionaler Klugheit. Doch nein.
Mein Ich ist das Klare und Achtsame, das von den Menschen mit den fortschrittlichen Sitten und Gewohnheiten, der feinen Art der Bewegung und Konversation, den sauber duftenden Körpern und ihren ausgefeilten Intrigen hervorgebracht wurde – sie haben mich zu dem Wunder umgestaltet, das ich heute bin. Die märchenhaften Gärten mit den kühlenden Wassergräben und den Blumen und Bäumen, die die ganze Schönheit Südspaniens einfangen, den schattenspenden Hecken, hinter denen vor vielen Jahrhunderten stets Pläne geschmiedet, Liebesschwüre zwischen Küssen geflüstert und philosophische Fragen diskutiert wurden. Die kraftvollen Mauern der Festungsanlage, die Wohnbereiche für Soldaten, Diener, Gärtner, Köchinnen, Zimmermädchen, Wissenschaftler und Amüsierdamen. Die wuselnden Menschen in all ihren Rollen, mit ihren Wünschen und Hoffnungen, ihrer Verzweiflung und ihren Dramen.
Die Herrscher. Die königlichen Kämpfer, Gelehrten, ihre raffinierten Frauen und tapferen Söhne. Muhammad I. ibn Yusuf ibn Nasr, auch bekannt als Al-Ahmar, Eroberer, Herrscher, mutiger Kämpfer bis zum Ende. Yusuf I. Muhammed V. In ihren Händen liefen alle Fäden der maurischen Regentschaft Spaniens zusammen. Den Menschen ging es gut, das Verständnis für die Welt war weit gediehen. Sie schenkten mir innere Schönheit. Obwohl, ist nicht auch meine Fassade erhaben, Ausdruck meiner bedeutsamen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?
Doch wie meine Gestalter betonten, soll bei mir, wie bei Menschen, die wahre Schönheit im Inneren zu finden sein. Meine Gärten sind wohldurchdacht, perfekt proportioniert und symmetrisch, trotzdem wild genug, um Lebendigkeit zu erlauben. Meine Innenhöfe sind von delikater Zärtlichkeit und ausgeglichener Ruhe. Sanftes Plätschern der Brunnen befriedet den Geist. Und dann meine Räume. Meine Räume!
Was könnte überwältigender sein als der Gang durch die Räume der Palacios Nazaries. Einer ergreifender als der andere.
Ihre Perfektion ist nicht in Worte zu fassen. Einzig zu begreifen an dem Moment der Atemlosigkeit, der jeden erfasst, der sie betritt. Niemand geht unberührt durch den Löwenhof, kniet nicht gedanklich nieder in der Sala de los Abencerrajes oder weint nicht innerlich ob der unsterblichen Kraft des Königssaals.
Der Turm der Gerechtigkeit. Der Saal der Gerechtigkeit. Eine hehre Illusion, als ob es jemals Gerechtigkeit gäbe. Die Guten sterben zu früh. Kinder werden in die Armut geboren. Krankheit wählt nicht nach Moral. Und die das richtige Handeln predigen, sind oft die Schlimmsten. Aber auch wenn ich nicht an Gerechtigkeit glauben kann nach allem, was ich bis heute sehe, woran ich glaube, ist die Legende, nach der der Tag, an dem die in die Justiztür geschnitzte Hand und der Schlüssel des inneren Bogens vereint werden, nicht nur meinen Fall, sondern auch den Untergang der Welt bedeuten wird. Hoffen wir, dass dieser Tag noch viele Jahrtausende entfernt liegt.
Die Gelehrten früherer Zeiten wussten um die Bedeutung auch des Inneren der القلعة الحمراء, der al-qal‘at al-ḥamrā’. In dem Hügel, auf dem ich throne, finden sich Gänge, Kellerräume, wie ein gut geplanter Termitenhügel, der ihre Herrschaft von innen unterstützte. Heute sind sie verfallen und vergessen. Obwohl?
Die Zeiten wandeln sich. Ich war gerne das Zentrum weltlicher Macht von Weisheit und Fortschritt. Doch auch heute bin ich zufrieden, mit den Besucherströmen aus aller Welt, die durch meine Gärten wandeln, in meinen Höfen Platz nehmen und mich später in ihren Erinnerungen bei sich tragen.
Der Dank für meine Existenz gilt den Verputzern, Maurern, Stuckateuren, Malern, Gärtnern, Wasserplanern sowie ihren Frauen und Kindern, die Leben in meine Mauern brachten. Ich hoffe, dass der ein oder andere Gedanke meiner heutigen Besucher auch diesen Erbauern und ihren Familien gilt. Denn ihrer Hände Arbeit sind oft wichtiger als die Klüngeleien der Oberen. Die hart arbeitenden, in der Geschichte nicht benannten Menschen haben mich erschaffen. Ich werde mich für die gesamte Dauer meiner Existenz an jeden von ihnen erinnern.
Nun magst Du, lieber Leser, meinen Stolz auf meine Schönheit als oberflächlich empfinden. Aber es gibt solche und solche Schönheit, solchen und solchen Stolz. Meine Schönheit ist Gebet. Mein Stolz ist Dankbarkeit. Meine Weiterexistenz bedeutet Unsterblichkeit für meine Erbauer. Ich bin ein Buch, das ihre Geschichten erzählt. Wenn Du nun hier die Geschichte der Menschen in meinem Umfeld liest, mit ihnen leidest und hoffst, schließ die anderen Geschichten aus all den anderen Häusern unter meiner Wache und die Geschichten meiner Erbauer, der Herrscher und Herrscherinnen, aber auch all der vermeintlich niedrig-rangigeren Menschen in deine Gedanken ein. Und wenn du diese Geschichte liest, denk daran, dass manches nur erdacht ist, um sie erzählen zu können. So ist es natürlich nicht einfach, in meine Gemächer zu gelangen – Hunde und Draht, Strom und Waffen halten Eindringlinge wirksam ab.
Doch erinnere Dich an mich nicht als Festung des Krieges, des Hasses und der Intrigen, sondern als Ort des Fortschritts und des Wandels, der unsterblichen Schönheit und Lebensfreude.
Möge auch von Dir freudvolle Schönheit überdauern.
»In Granada anzukommen, bedeutet Heimkehr. Die Menschen erleben sich hier mit der Kraft von hundert Sonnen, der Intensität von tausend Sommern. Sobald sie den Transit verlassen.«
(Alhambra)
»Wir sind überpünktlich. Ein gutes Zeichen!«
Anneliese zeigte auf die Uhr in der Gepäckhalle. Claras Blick folgte dem Finger ihrer Mutter, während sie Koffer und Taschen auf den Gepäckwagen stapelte. Tatsächlich, 14.30 Uhr.
»Und warm ist es! Schau, die Leute laufen im T-Shirt rum.«
Clara musste über die Begeisterung ihrer Mutter lächeln.
»Wie versprochen – in Spanien verlängern wir unseren Sommer.«
Vorsichtig schoben sie den Wagen in Richtung der Taxis, von spätsommerlicher Wärme eingehüllt.
»Die Wohnungsvermittlung öffnet erst um 17 Uhr wieder. Die Gepäckstücke, die wir vorausgeschickt haben, warten dort auf uns. In dem Gesamtpaket ist dann der Transport zur Wohnung enthalten, sobald wir die Schlüssel erhalten und den Vertrag unterschrieben haben«, erklärte Clara ihrer Mutter auf dem Weg. Anneliese nickte abwesend, während sie nach der Schönheit Granadas suchte. Aber bis auf den blauen Himmel und die Palmen am Rand des Parkplatzes fand sie erst einmal nur einen von vielen Parkplätzen, die sich weltweit vor allem durch die Marken der Autos und Anzahl der Dellen pro Auto unterschieden.
»Haben wir nicht schon unterschrieben?«, hakte Anneliese schließlich doch nach.
»Das hat mich auch verwirrt. Ist anscheinend so üblich, dass man vor Ort unterschreibt. Dafür übernehmen sie dann sogar unsere Anmeldung bei der Stadt.«
Anneliese zog den Gepäckwagen eilig zu der Taxi-Ecke.
»Schnell, Clara, da stehen nur noch zwei Wagen!«
Das erste Taxi wurde ihnen von einer vorbeieilenden, teuer gekleideten Dame weggeschnappt. Aber dank Annelieses schneller Reaktion – sie ließ den Gepäckwagen los, fiel in ihren Nordic Walking Schritt, sprintete die letzten Meter und riss die Wagentür auf – waren sie beim zweiten Wagen erfolgreich. Clara blickte zu dem älteren Herrn, der nun hinter ihnen verloren auf dem Parkplatz stand und sich nach einem Transportmittel umschaute. Seinem schwarzen Gewand und Kragen mit einem weißen Fleck in der Mitte nach handelte es sich um einen Pfarrer.
»Können wir Sie mitnehmen?«, rief sie zu ihm auf Spanisch hinüber.
Der Pfarrer musterte erst sie, dann ihre Mutter von oben bis unten. Clara war in Jeans und verwaschenem T-Shirt der Band KISS gekleidet – schon darauf folgte ein irritierter Blick des Priesters. Vor allem aber Annelieses verwuschelte blonde Haare, locker in einem Knoten zusammengebunden, ihr buntes Maxikleid mit lebensfrohem Ausschnitt und die zahlreichen langen Klimperketten riefen bei ihm einen angeekelten Gesichtsausdruck hervor. Er antwortete nur mit einem angedeuteten Kopfschütteln und drehte sich demonstrativ weg.
Na, das war ja eine freundliche Begrüßung von Granadas Klerus.
Clara zuckte mit den Schultern in Richtung ihrer Mutter, die auf Spanisch antwortete, sodass es der Priester auf jeden Fall hören musste: »Wer nicht will, der hat wohl sehr bequeme Schuhe.«
Letztlich war Clara froh, dass der Priester abgelehnt hatte. Obwohl sie zahlreiche Pakete mit Büchern, Kleidung und Malutensilien vorausgeschickt hatten, trugen sie immer noch zahlreiche Koffer mit sich herum. Hoffentlich kam man für das Zurücklassen älterer Kleriker nicht in die Hölle.
Wie der Taxifahrer das Gepäck in den Kofferraum stapelte, erinnerte an das Gameboy-Spiel »Tetris«. Als er triumphierend die letzte Tasche untergebracht hatte, quetschten sich Clara und Anneliese zum Handgepäck auf den Rücksitz.
»Calle Bodegones, 2, bitte«, nannte Clara dem Taxifahrer die Adresse der innerstädtischen Gepäckaufbewahrung.
Die Palmen, Olivenbäume und vereinzelten Johannisbrotbäume neben der Stadtautobahn hießen sie in Andalusien willkommen. Nach zwanzig Minuten fuhren sie durch die immer enger werdenden Straßen und Gassen der Innenstadt, und Clara beobachtete ihre Mutter, wie sie die Altstadt entdeckte. Clara lächelte, während Anneliese bewundernd auf einen dekorativen goldenen Springbrunnen zeigte, dessen Fontäne weit in die Luft stieß, und ihre Tochter gleichermaßen begeistert auf eine riesige Palme in einem Park und auf eine schlichte, reizende Marienstatue in der Nische eines Gebäudes hinwies.
Anneliese deutete außerdem auf die vielen kleinen Hunde, die um diese Zeit Gassi geführt wurden.
An der Gepäckaufbewahrung half ihnen der Taxifahrer, ihre Sachen in Schließfächern zu verstauen.
»Eine Stunde Freizeit«, verkündete Clara.
»Eine Stunde? Ich habe jetzt den Rest meines Lebens Freizeit!« Anneliese lachte und hob ihr Gesicht zur Sonne. Sie wollte ihre Tochter unterhaken, doch die schob den Arm sanft zur Seite und lief voran in Richtung der Kathedrale.
»Ja, ja, reib mir das nur unter die Nase«, antwortete Clara über die Schulter.
Nach wenigen Metern bogen sie um eine Häuserecke, und auf einmal standen sie vor der Kathedrale. Der Platz davor öffnete den Blick auf das historische Gebäude: Bögen mit kraftvollen Verzierungen, in den Himmel ragende Säulen und ein hinter Häusern aufragender massiver Turm, der durch Fenster und Dekorationen trotzdem leicht wirkte. Der Platz vor der Kathedrale war gesäumt von gelben und hellroten Häusern, die fröhliche Stimmung verbreiteten. Am Rand des Platzes entdeckten sie ein Straßencafé mit freien Tischen, auf das sie ohne zu zögern zusteuerten.
»Jetzt beginnt der Urlaub. Danke, meine Liebe, dass du mich überredet hast. Stell dir vor, fast hätte ich wegen meines Dickkopfs diesen Anblick verpasst!« Anneliese ergriff über den Tisch die Hand ihrer Tochter und tätschelte sie.
»Ach, ich hätte weiter genervt, bis du mitgekommen wärst«, antwortete Clara. »Aber ja, es ist eine wunderbare Stadt.«
Sie bestellten Café con leche, auch wenn nur Touristen nachmittags Milchkaffee trinken, so jedenfalls die Auskunft des Reiseführers. Aber sie stellten Genuss über die Schmach, als Tourist erkannt zu werden. Der Kaffee schmeckte genauso, wie er musste: nach Urlaub, Sonne und Temperament. Auf dem Unterteller lag ein Mini-Croissant mit Schokoladenfüllung.
Clara genoss den ersten Spanien-Nachmittag mit ihrer Mutter und freute sich auf viele weitere. Das erste Mal seit Claras Auszug zum Studium, zwei Jahrzehnte war das nun her, würden sie zusammenleben. Sie würden sich neu kennenlernen und dabei Granada und den Rest von Andalusien entdecken. Gut gelaunt wies sie ihre Mutter auf den Fliesentisch hin, auf dem ihre Tassen standen, bemalt in zarten, smaragdgrünen und leuchtend orangefarbenen Ornamenten, die so typisch für Granada waren.
»Ja, das strahlt in echt noch mal ganz anders, nicht wahr? Für diese Schönheit haben wir den Mauren zu danken. Hast du noch im Kopf, wie lange die hier waren? Bis nach 1000 n. Chr., glaube ich, oder?«, fragte Clara ihre Mutter.
»Noch viel länger, bis 1492! Achthundert Jahre haben sie hier geherrscht, und ja, Granada ist bis heute geprägt davon.« Anneliese hatte sich vor der Anreise intensiv eingelesen. »Und die Bilder, die wir uns vorab angeschaut haben, werden der Wirklichkeit nicht gerecht. Da wartet viel Inspiration auf uns, oder?«, fuhr ihre Mutter begeistert fort.
»Absolut! Neue Farben für die Websites, die ich für die Layouts verwenden kann!«
»Und ich kann mich endlich wieder beim Malen austoben.« Anneliese drückte ihre Hand. Clara zog ihre Hand unauffällig zu sich und kramte in ihrer Tasche, bevor sie den Blick schweifen ließ.
Am Nebentisch saß ein Mönch, mit rundlichem, gemütlichem Gesicht. Er hatte ihren Café con leche entdeckt, hielt seine Tasse schief hoch, sodass sie darin ebenfalls das touristische Getränk entdeckten, und reckte grinsend den Daumen nach oben. Anneliese reagierte lächelnd mit derselben Geste. Der Geistliche rief etwas in ihre Richtung. Clara und Anneliese schauten sich fragend an. Keine hatte den starken andalusischen Akzent verstanden.
»Oje, hoffentlich sprechen nicht alle so undeutlich …«, flüsterte Anneliese ihrer Tochter auf Deutsch zu.
Auf Spanisch rief sie zum Mönch: »¿Perdón?«
Der lachte und wiederholte etwas deutlicher: »Gute Wahl! Genießen Sie, mit Gottes Segen!«
Clara runzelte die Stirn, unsicher, was Gottes Segen in ihrem Kaffee verloren hatte. Aber sie ließ die Aussage stehen.
»Na komm, nicht so grummelig. Er hat das doch nett gemeint«, raunte ihre Mutter ihr zu. Wobei der Mönch den deutschen Kommentar sicherlich ohnehin nicht verstehen würde. Clara zog eine Augenbraue hoch, lächelte dem Geistlichen dann aber zu.
In dem Moment lief ein Priester vorbei, in schwarzem Gewand und priesterlichem Kragen, mit breitem lila Gürtel. Wenn Clara sich recht erinnerte, bedeutete das, dass er gerade von einer Beerdigung kam. Der Mann entdeckte den Mönch, anscheinend kannten sie sich. Während der Mönch ihm freundlich zunickte, blickte der Priester fast wütend auf den Kaffee und dann zur Uhr am Turm der Kathedrale.
»Wie immer, genug Zeit für einen genussvollen Kaffee?«, rief er dem Mönch zu, doch bevor dieser antworten konnte, hatte der Priester sich schon abgewandt und wollte weiterlaufen. Dann fiel Clara ein junger Mann in einem Hoodie auf, der über den Platz in ihre Richtung gelaufen kam. Auf seinem Pullover prangte ein interessantes Graffito, ein verfremdetes Kleinkind im Stil von »El Niño«, dem Banksy von Granada. Das Gesicht des Mannes war unter der Kapuze kaum zu erkennen, entfernt erinnerte er Clara an einen jungen Keanu Reeves. Er hielt auf den Priester zu. Auch der schien ihn zu kennen. Hier hat also die Jugend noch Bezug zur Kirche, dachte Clara.
Der junge Mann blieb direkt vor dem Priester stehen. Er grüßte nicht. Einen Moment lang war die Szenerie eingefroren, niemand bewegte sich. Dann lehnte sich der Mann nach vorne, sein Gesicht weiterhin unter der Kapuze verborgen. Er griff in die Bauchtasche seines Kapuzenpullovers und zog etwas hervor. Clara hielt kurz die Luft an und wollte schon aufspringen. Doch es war nur eine Spraydose.
Der Jüngere richtete die Dose auf den Priester und sprühte in aller Ruhe einen Punkt auf dessen Talar. Einen Kreis um den Punkt. Vier kleine Striche.
Eine Zielmarkierung.
Anschließend blieb er noch einen Atemzug lang stehen, blickte dem Priester ins Gesicht. Dann drehte er sich um und ging weg. Seine Schritte waren gelassen, er rannte nicht davon.
Clara war aufgesprungen, wollte hinterherlaufen, etwas tun, ihn anschreien. Doch ihre Mutter zog sie am Arm nach unten.
»Lass, das geht uns nichts an. Mach keinen Ärger.«
Clara blieb in der Luft, halb sitzend, halb stehend.
»Aber … Der kann doch nicht einfach …«
Anneliese schüttelte vehement den Kopf. Und zog ihre Tochter zurück auf den Stuhl.
»Jetzt setz dich wieder! Dem ist das doch peinlich genug.« Mit einem Nicken zeigte sie in Richtung des Priesters.
»Und der andere geht einfach seiner Wege?« Clara deutete zu dem Mann, der den Platz bereits zur Hälfte überquert hatte und, ohne sich umzudrehen, weiterlief.
Die Menschen auf dem Platz gingen ebenfalls weiter und unterhielten sich, als wäre nichts geschehen. Nur der Priester stand noch schockstarr da, den Blick auf den Boden gerichtet. Dann zog er ein Taschentuch aus einer Tasche und wischte auf dem Talar herum. Geistesabwesend, ohne den Blick zu heben.
Clara blickte fassungslos um sich. Dann zu ihrer Mutter.
»Und wir tun jetzt einfach so, als wäre nichts passiert?«
»Was willst du denn machen, Kind? Den Mann verhaften? Den Priester wegen Verschmutzung ins Krankenhaus fahren?«
Das saß. Dabei war sie doch hier die Einzige, die sich nicht merkwürdig verhielt. Nach einer Weile angespannten Schweigens an ihrem Tisch beobachtete Clara, wie der Priester sich gebückt davonstahl.
»Wir kennen die Hintergründe nicht, wer weiß, was da los war«, brach Anneliese das Schweigen.
»Das kann schon sein, Ma. Trotzdem …«
Anneliese schüttelte den Kopf.
»Komm, lass uns das abhaken. Das hat uns beide überfordert.« Sie zwang sich sichtlich zu einem Lächeln. »Wie geht es denn jetzt weiter?«
Clara war nicht wohl dabei, einfach so zu tun, als wäre nichts geschehen. Zugleich fiel ihr nichts Besseres ein.
»Zur Wohnungsvermittlung. Anschließend zur Wohnung, auspacken und Abendessen irgendwo in der Nähe.«
»Na komm, dann auf!«
Schweigend liefen sie zur Vermittlung auf der Reyes Catolicós, irritiert und ohne Blick für die Schönheit um sie herum.
»So viele Missgeschicke, kleine wie große Katastrophen geschehen den Menschen in meinem Schatten seit Jahrtausenden. Keiner entkommt ihnen, keiner lebt ohne Leid. Doch wie sie damit umgehen, unterscheidet sie fundamental.«
(Alhambra)
»Was soll das heißen, Sie haben die Buchung nicht erhalten? Ich habe doch vorgestern noch mit Ihrer Kollegin telefoniert und Details zu den Nebenkosten geklärt!«
Clara versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten und gleichzeitig gegen die Welle der Verzweiflung anzukämpfen, die sie durchflutete.
»Was sollen wir denn jetzt machen?«
Die schlanke, dunkelhaarige und in ihren Gesten fahrige Rezeptionistin, die Clara auf nur etwas jünger als sich selbst schätzte, nickte ihr verständnisvoll zu.
»Ich kann mir auch nicht erklären, was passiert ist. Aber ich kann nichts machen, die Mieter haben die Wohnung schon bezogen, und wir sind völlig ausgebucht. Es tut mir sehr leid. Wir sind gerne bereit, Ihnen einen Gutschein auszustellen.«
Clara holte tief Luft. Ruhig bleiben. Die Rezeptionistin konnte nichts dafür. Aber trotzdem …
»Einen Gutschein?«
Was nutzte ihnen ein Gutschein? Sie standen ohne Wohnung da. Ihr Gepäck stapelte sich direkt hinter ihr an der Wand im Büro der Wohnungsvermittlung, und sie wusste nicht, wohin damit. Sie waren müde von der Reise, dem frühen Aufstehen, der Aufregung des Tages. Sie wollten doch einfach nur die Füße hochlegen und den ersten spanischen Rotwein öffnen.
Doch bevor sie all das der Rezeptionistin erklären konnte, wurde sie von ihrer Mutter unterbrochen.
»Reg dich nicht auf, Liebes. Das bringt nichts.«
Wie so oft hatte sich ihre Mutter besser im Griff und wandte sich mit freundlichem Lächeln an die Rezeptionistin.
»Vielen Dank für das Angebot, Sofia.«
Clara wunderte sich, woher ihre Mutter den Namen kannte, bis sie das Namensschild auf der Theke der Rezeption entdeckte.
»Ich bin Anneliese, die zweite Mieterin. Uns ist bewusst, dass das auch für Sie und Ihr Unternehmen eine unangenehme Situation ist. Aber Sie wissen ja auch, dass ein Gutschein das nicht lösen kann. Doch wir sind gerne bereit, mit Ihnen über eine Lösung nachzudenken.«
Sofia nickte, immer noch lächelnd, wenn auch erzwungen. Clara trat einen Schritt zurück und blickte aus dem Fenster. Der wuselige Platz mit seinen fremdartigen Pflanzen war so lebendig und fröhlich, dass es ihr einen Stich versetzte – denn vielleicht würde ihre Zeit in dieser wunderbaren Stadt enden, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Für alle denkbaren und undenkbaren Alternativen hatte sie vorausgeplant, sich in Bezug auf jedes Detail mit verschiedenen Dienstleistern rückversichert. Doch wer konnte damit rechnen, dass die Vermittlung doppelt buchte und ihre Wohnung vergeben war?
Seit sie sich vor Jahren für das digitale Nomadentum entschieden hatte, genoss sie den Luxus, in vielen Ländern zu wohnen und zu arbeiten. So etwas wie hier war ihr in all der Zeit nie passiert. Und nun das, gerade jetzt, wenn sie ihrer Mutter eine entspannte Zeit ermöglichen wollte.
Ihre Mutter sprach weiter mit der Rezeptionistin. Deutlich flüssiger als vorhin mit dem Mönch. Zum Glück kamen bei ihnen beiden die spanischen Vokabeln zurück, jetzt, wo es darauf ankam. Und Sofia war auch besser zu verstehen als der Mönch.
»Wir hätten hier noch ein Einzimmerapartment, das wäre in drei Wochen frei.« Inzwischen las die Rezeptionistin von einem Bildschirm Wohnungsalternativen vor. Allerdings war die von Clara schon vor Monaten gebuchte Dreizimmerwohnung, zentral, aber an einem kleinen Bach, mit Balkon und Supermarkt für die alltägliche Versorgung direkt daneben, nicht eben leicht zu ersetzen. Clara bemerkte, dass Sofia besonders langsam sprach, damit sie sie verstanden. Sie rechnete ihr das hoch an, die Situation war für sie bestimmt auch anstrengend.
»Wir können nicht zu zweit in einem Zimmer leben. Und wir müssten die Zeit bis dahin überbrücken«, warf Clara ein.
Anneliese legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm.
»Einzimmerwohnungen haben in Spanien ja zwei Zimmer, oder?«, fragte sie Clara. Die nickte, ja, die Einteilung war anders, aber dann war es immer noch nur ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer. Zu wenig.
»Wissen Sie was, Sofia, reservieren Sie doch mal die nächste freie Wohnung.« Anneliese blickte aufmunternd zu Clara. »Zur Not halte ich es mit dir doch sogar in einer Hundehütte aus, meine kleine Terrierin.«
Clara war nicht zum Lachen zumute, sie machte sich Sorgen. Wahrscheinlich würde es sogar auf eine Hundehütte hinauslaufen, wenn sie nicht bald eine Unterkunft fänden.
Verdammt, sie hatte sich doch so auf die niedliche Wohnung gefreut. Ihre Mutter sollte es schön haben, nach all den Jahrzehnten, in denen sie sich für ihre Patienten aufgeopfert hatte. Es hatte Monate stetiger Bearbeitung bedurft, bis sie endlich zugestimmt hatte, den ersten Winter ihrer Rente mit Clara gemeinsam in Granada zu verbringen. Und nun hatten sie buchstäblich kein Dach über dem Kopf. Mussten sie zurück in den kalten deutschen Winter?
Das konnte doch alles nicht wahr sein.
Sie ballte ihre Faust. Irgendwie musste sie ihrem Ärger Luft machen. Die Vermittlung hatte das verbockt, wieso sollte sie nett bleiben? Etwas Verständnis für ihre Situation war doch wirklich nicht zu viel verlangt. Doch da legte ihre Mutter ihre Hand zart auf die Faust und drängte Clara sanft von der Rezeption weg. Stilles Kopfschütteln, mehr war nicht nötig. Clara schwieg. Mürrisch blickte sie zu den Kofferbergen und überlegte, wo sie die nun unterbringen sollten. Es half nichts, sie mussten sich ein freies Hotelzimmer suchen. Sie zog ihr Handy hervor, vielleicht ließ sich ja schon mit einer Buchungs-App etwas finden. Das würde ihr Budget verknappen, gerade wenn sie so kurzfristig buchten.
Vielleicht würde es ihr gelingen, sich die Kosten der Wohnungsvermittlung als Schadenersatz erstatten zu lassen?
Der Gedanke gefiel ihr. Sie erlaubte sich sogar, einen Blick auf die zuerst angezeigten, teuren und schicken Hotels zu werfen. Auf einem Foto erspähte sie einen verlockenden Pool mitten auf einem Flachdach. Und eine Hotelbar mit Blick auf die Alhambra. Da konnte man ja mal anrufen und sich zunächst mit einem Teil der Koffer einquartieren. Die von der Wohnungsvermittlung hatten das verbockt, dann konnten sie sich auch um die Koffer kümmern.
»Können wir zumindest unser Gepäck …«, setzte sie zu einer Frage an. Doch Sofia hörte gar nicht zu, tippte auf dem Computer. Also sprach sie nicht weiter. Stattdessen wandte Anneliese sich an sie.
»Willst du mal Thorben anrufen, er hatte doch noch einige andere Immobilien-Agenturen gespeichert?«
Clara rechnete – hier war es 17 Uhr, also acht Uhr morgens in Vancouver. Thorben, ihr Partner, war wahrscheinlich noch nicht wach. Aber das hier war ein Notfall. Also setzte sie sich an den Besprechungstisch in der Ecke des großzügigen Büros und versuchte, ihn zu erreichen. Wie sie erwartet hatte, ging ihr Anruf direkt auf die Mailbox. Sie fasste das Drama zusammen, bat um Rückruf und zuckte mit den Schultern in Richtung ihrer Mutter. Die war jedoch schon wieder auf den Bildschirm konzentriert und mit Sofia weiter auf der Suche nach anderen freien Wohnungen.
»Sofia, wir möchten wirklich versuchen, das Problem gemeinsam zu lösen. Aber Sie müssen uns eine realistische Alternative anbieten. In drei Monaten ist die Hälfte unserer Zeit hier schon vorbei, da brauchen wir keine Wohnung mehr.« Anneliese blieb freundlich, mittlerweile hörte Clara jedoch aus ihrer Stimmlage deutlich die Anspannung heraus. Sofia nickte, runzelte verzweifelt die Stirn und tippte erneut lautstark auf der Tastatur herum. Clara unterdrückte ein Seufzen. Das war doch sinnlos. Außerdem lag sie in Gedanken schon im Pool auf der Dachterrasse.
»Lassen wir kurz doch den Computer mal Computer sein, Sofia«, änderte Anneliese die Taktik. »Fällt Ihnen niemand ein, der ein paar Zimmer zu viel hat, sich ein paar Euro dazu verdienen möchte, der den Winter in noch wärmeren Gefilden verbringt oder uns einfach direkt die Schlüssel zur Alhambra übergibt?«
Sofia schwieg. Und schwieg. Plötzlich streckte sie den Finger in die Höhe und erinnerte Clara dabei an Wickie den Wikinger, wenn er eine gute Idee hatte. Nur dass Sofia statt roter tiefschwarze Haare hatte und ihre Haut olivfarben statt sommersprossig war. Die Augen jedoch stimmten überein, ebenfalls zwei schwarze, große Knöpfe, mit sympathischen Lachfalten. Clara wunderte sich über die ausgeprägten Falten bei der Frau, die vielleicht Mitte, Ende dreißig war. Die Sonne, wahrscheinlich. Und sie war sehr dünn, ihre Arme schlackerten aus dem Blazer heraus.
»Natürlich!« Sofia strahlte die beiden an. »Lassen Sie mich telefonieren, ja?«
Sofia schnappte sich ihr Smartphone und verließ die Rezeption durch die Hintertür. Fast hätte man von »hüpfen« sprechen können. Clara wandte sich an ihre Mutter.
»Na, da bin ich mal gespannt. Ach, Ma, mir tut das so leid. So sollte dein Erholungswinter nicht anfangen.«
»Da kannst du doch nichts dafür! Und überhaupt, ich bin doch eh nicht so gut im Entspannen, wenn sich gar nichts tut. Nein, nein, so ein kleines Abenteuer kommt mir gerade recht.« Sie grinste und drehte an ihrem langen türkisfarbenen Ohrring herum, wie immer, wenn sie nicht wusste wohin mit ihrer Aufregung. Clara dagegen hätte auf diese Art Abenteuer gut verzichten können.
Da öffnete sich die Tür, und Sofia trat strahlend ein.
»Und?«, fragte Clara gespannt.
»Ich habe vielleicht eine Lösung gefunden. Ich bin selbst gerade erst umgezogen, aus dem Haus meines Vaters – ich musste mich abnabeln, Sie verstehen?«
Clara blickte zu ihrer Mutter und dachte daran, dass sie eigentlich gerade das Gegenteil machte – wie man das wohl nannte? Zurück-Nabeln? Renaveling?
»Bei meinem Vater hatte ich eine eigene Wohnung im Erdgeschoss, zwei Schlafzimmer und eine Küche. Wäre das was?«
Clara und Anneliese blickten sich unsicher an. Das klang fast zu gut, um wahr zu sein.
»Na, sehen Sie! Mein Vater ist schon unterwegs, er holt Sie und Ihr Gepäck ab und bringt Sie zu sich nach Hause. Und sollte Ihnen die Wohnung nicht gefallen, finden wir eine andere Lösung.« Sofia schien erleichtert, dass sie das Problem erst einmal gelöst hatte.
Clara sollte es recht sein. Im Notfall zog sie halt morgen ins teure Hotel. Wenn sie es sich recht überlegte – niemand zwang sie, die Wohnung zu mögen. Sie hatte schließlich keinen Außenpool. Aber für eine Nacht wollte sie mal nicht so sein.
»Komm, dann setzen wir uns noch ein paar Minuten hin. Wir brauchen beide eine Pause. Schau mal, hier sind sogar Fußschemel vor den Sesseln, setz dich, leg die Füße hoch und lass Sofia doch alles klären.« Clara dirigierte ihre Mutter zu den bunt verzierten, schnörkeligen und eher steif aussehenden Sesseln. Kaum hatten ihre vier Buchstaben die Sitzfläche berührt, sank sie wider Erwarten ein in die farbige Fülle. Sie legte die Füße hoch und schloss für einen Moment die Augen, um kurz die Welt auszublenden.
Ein sanftes Knuffen gegen die Schulter weckte sie wieder auf. Sie schreckte hoch, konnte sich nicht sofort orientieren. Doch dann erkannte sie das Strahlen ihrer Mutter, die vor ihr stand, an der Seite eines Mannes um die sechzig, ein Südspanier wie aus dem Bilderbuch, dunkle Haare, dieselben Kohlenaugen wie Sofia, ein charmantes Lächeln und ein Hemd, das für Claras Geschmack ein paar Knöpfe zu weit geöffnet war. Doch die leichte Verbeugung, mit der er sie begrüßte, machte das wieder wett.
»Señoras, wenn Sie mir folgen mögen, bringe ich Sie mit meiner Kutsche in Ihre neuen vier Wände. Und da können Sie sofort weiterschlafen.«
Clara blickte suchend nach ihren Koffern, doch die waren schon verräumt. Sie rieb sich die Augen, blickte verschlafen von Sofia zu Anneliese und wieder zurück zu dem Mann.
»Mein Name ist Manuel. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie ließ sich von ihm nach oben ziehen.
»Clara, und das ist …« Sie zeigte zu ihrer Mutter.
»Wir haben uns schon vorgestellt«, warf Anneliese ein und zwinkerte Manuel zu.
Also folgte sie den beiden zur »Kutsche«, einem klapprigen VW-Golf, eines der frühesten Modelle, wenn sie sich nicht täuschte. Ohne zu wissen, wie, fanden sie alle drei noch Platz unter und zwischen den unzähligen Koffern und Taschen. Und nur wenige Minuten später hatte Manuel geparkt, und sie folgten ihrem Retter in der Not durch eine kleine, verspielte Gasse, ein maurisch verziertes Tor zu einem versteckten Garten. In dessen Mitte stand ein verwachsenes buntes Häuschen, nur zwei Stockwerke hoch, und doch genau das, von dem sie geträumt hatte, seit sie das erste Mal von dem verheißungsvollen Ort »Granada« gehört hatte.
Manuel öffnete ihnen die Wohnungstür, und auch wenn Clara vor Müdigkeit kaum noch stehen konnte, musste sie trotzdem mit ihrer Mutter gemeinsam die Räume bestaunen. Manuel führte sie herum. Die Fliesen in Küche und Bad hätten direkt der Alhambra entnommen sein können. Die Wände in den Schlafzimmern waren bunt gestrichen, die Möbel entstammten verschiedensten Jahrhunderten, sahen aber alle gemütlich und schick aus. Zusammengewürfelt, gepflegt, mit großem Fenster zum Garten, durch das man vom Sofa aus die Palmen bestaunen, sich im Himmel verlieren und träumen konnte.
Das Schicksal meinte es gut mit ihnen.
Ihr neues Zuhause.
Genau hier gehörten sie hin.
Clara umarmte ihre Mutter. Ihre Mutter umarmte Manuel. Und dann lief Clara wie ferngesteuert in ihr Schlafzimmer. Mit der Welt versöhnt, zog sie sich gerade noch die Schuhe aus, fiel ins Bett, und schon umfingen sie spanische Träume voller Gitarrenklänge und Flamencotänze.
»Der Beginn der Liebe – nie sind die Menschen so sehr sie selbst und nie so wenig bei sich. Das Beobachten dieses Rausches, in dem jeder Makel magisch erscheint, erzeugt in mir gleichermaßen Neid und Freude. Ohne Endlichkeit ist so viel Gefühl nicht möglich.«
(Alhambra)
»Na, wie sehe ich aus?« Anneliese lehnte sich an den Türrahmen des Wohnzimmers. Knapp eine Woche waren sie erst hier, aber Annelieses Kleidung war bereits spanischer als die jeder Spanierin. Gestenreich verwies sie auf ihr rüschenbesetztes knallrotes Kleid und die rote Stoffblume in ihren locker hochgesteckten blonden Locken. Clara lächelte stolz.
»Toll, Mama. Wirklich schick!«
»Hat sich die Mühe also gelohnt. Na, da bin ich froh.« Anneliese richtete keck ihre Frisur, schnappte sich eine Stola, schlüpfte in ihre hohen Schuhe und öffnete die Wohnungstür. Clara ergriff die Schlüssel und eilte hinterher.
»Manuel! Wir sind so weit!«, rief Anneliese fröhlich über die Treppen in Richtung des Apartments ihres neuen Vermieters. Noch vor ihrem letzten Wort öffnete sich die Tür, als hätte Manuel direkt dahinter gewartet. Er erblickte Anneliese und blieb mit offenem Mund stehen.
»Wow!«, rief er aus, nachdem er ein paarmal schlucken musste. »Du siehst fantastisch aus!«
Anneliese winkte ab.
»Ach, der alte Fetzen …«, zwinkerte sie ihm aber gleichzeitig zu. Clara drehte sich peinlich berührt um und schloss die Wohnungstür ab. Zugleich freute sie sich aber über den fröhlichen Flirt zwischen den beiden. Schon seit dem ersten Tag war die Spannung zwischen ihnen mit Händen greifbar. Und nun, seit der Einladung gestern, war klar, dass Manuel dieser Spannung nachgehen und Anneliese näher kennenlernen wollte. Auch wenn er dieses Mal noch Clara miteingeladen hatte, als Alibi oder um nicht unhöflich zu sein. Ihr sollte es recht sein.
Manuel schloss ebenfalls ab, mehrmals sogar. Dann überprüfte er, dass wirklich abgeschlossen war. Clara war schon aufgefallen, dass er bei seiner Tür übervorsichtig war. Er schloss sie sogar zu, wenn er selbst in seiner Wohnung war. Er schien etwas Unschönes erlebt zu haben. Anschließend sprang er schneller die Treppen herunter, als es seinen über sechzigjährigen Gelenken gutzutun schien, denn unten angekommen, rieb er sich erst einmal den Knöchel. Doch dann öffnete er flink die gemeinsame Haustür für sie beide und winkte sie mit einer angedeuteten Verbeugung hindurch. Wieder folgte die Endlos-Abschließen-Überprüfen-Prozedur.
Lachend und voller Vorfreude quetschten sich Anneliese und Clara mit ihren zu engen Kleidern und zu hohen Schuhen in das wartende Taxi. Im Anschluss an den Flamenco-Abend, für den Manuel ihnen gestern Tickets geschenkt hatte, wollten sie feiern und tanzen gehen, da kam Manuels eigenes Auto nicht infrage. Manuel setzte sich neben den Taxifahrer und fing sofort an zu plaudern. Kannte er etwa jeden Bewohner Granadas?
»Feiern wir heute eigentlich auch den Nationalfeiertag? Das ist doch heute, oder? Gratuliert man euch dazu?«
Manuel und der Taxifahrer schauten sich fragend an und lachten. »Wir haben es beide fast vergessen, deshalb lachen wir«, entschuldigte sich Manuel. »Wenn heute nicht frei wäre, hätte ich gar nicht daran gedacht. Das ist ein Tag, an dem die Königsfamilie vor dem Palast winkt. Oder? Was genau machen die eigentlich?«, fragte er den Fahrer. Der zuckte lachend mit den Schultern. »Jedenfalls müsst ihr nicht gratulieren. Wir sind das ganze Jahr stolze Spanier!« Manuel lächelte Anneliese amüsiert an. Und sie lächelte fröhlich zurück.
Schon bald kurvte das Taxi den Hügel in das Viertel Sacromonte hinauf, das mit seinen weißen Gebäuden, verzierten Metall-Balkonen und blumengeschmückten Fensterbänken in seiner Schönheit vor ihnen lag. Die Dämmerung legte einen magischen Schleier über die Szenerie. Von der Rückbank aus sah Clara ein erleuchtetes großes Haus mit einem eleganten Treppenaufgang, rotem Teppich und noch röterem Vordach. Neben dem Teppich unter dem Vordach standen bunte Aufsteller, beklebt mit unzähligen kleinen wie großen Fotos von Flamenco-Tänzerinnen, gekleidet in allen Farben des Regenbogens. Das große Foto in der Mitte zeigte Flor de Granada, die Tänzerin, die sie an diesem Abend erleben wollten. Ihr Blick war durchdringend, ihre Haltung stolz. Gerade als das Taxi auf dem Halteplatz vor dem roten Teppich stoppen wollte, überquerte ein Priester die Straße so knapp vor dem Wagen, dass ihr Fahrer eine Vollbremsung hinlegen musste. Zum Glück waren sie entgegen spanischen Gewohnheiten in Taxis alle angeschnallt und wurden von den Gurten aufgefangen. Ohne auf den Wagen zu achten, stellte der Priester sich auf den roten Teppich und starrte mit vor Zorn verengten Brauen auf die Szenerie.
»Schande!«, rief er den vor der Tür Stehenden entgegen. »Das ist eure Art, euren Gott zu ehren? Es reicht nun mit der Unmoral in dieser Stadt, ihr werdet Gottes Macht noch spüren!« Er drehte sich um und rauschte mit angewidertem Gesicht ab. Clara war fast sicher, dass sie den Mann wiedererkannt hatte und es sich um den Priester handelte, der an ihrem ersten Tag von dem jungen Mann angesprüht worden war. Der Talar war jedenfalls sauber. Sie fühlte Fremdscham für diesen Gefühlsausbruch und wandte sich unsicher zu ihrer Mutter und Manuel um. Doch Manuel hatte sich weggedreht, blickte nach hinten. War ihm das Verhalten des Priesters auch peinlich?
Da lief der Priester um das Taxi herum und fixierte ihren Vermieter mit bohrendem Blick.
»Manuel? Gehst du etwa auch in diese sündhafte Präsentation weiblicher Reize?«, rief er ins Taxi. Manuel blickte weiterhin in die andere Richtung. Doch der Priester war schon weitergestapft. »Das wird Folgen haben – und nicht erst im Fegefeuer!«, rief er noch.
Nun tauschten Anneliese und Clara einen entsetzten Blick. Was war das gewesen? Und woher kannte dieser Verrückte Manuel? Gleichzeitig schauten sie fragend zu ihrem Begleiter. Der schüttelte resigniert den Kopf.
»Ich kenne ihn von der Arbeit, und da ist das alles schwierig genug. Lassen wir uns davon bitte nicht den Abend verderben, ja? Kommt, gehen wir in die Show. Vergesst ihn einfach. Machen die anderen auch, schaut!«
Tatsächlich, alle vor dem Theater Wartenden gingen hinein, lachten schon wieder.
»Wir sind auch wirklich schon spät dran«, warf Clara nun ein und scheuchte die anderen beiden aus dem Taxi.
Manuel winkte ab und drückte dem Fahrer das Geld in die Hand, wobei der Mann noch etwas über den Priester loswerden zu wollen schien. Clara wurde nervös, die Ticketverkäuferin zog bereits die Vorhänge vor ihrem Verkaufsfenster zu, der elegant gekleidete Kontrolleur blickte zur Uhr über dem Eingang. Sie würden nicht mehr eingelassen, wenn die weiter so trödelten!
Irgendwann, zahlreiche Verabschiedungsfloskeln später, stieg Manuel endlich aus, half Anneliese aus dem Auto und wollte gerade zu einem weiteren Kommentar über den Priester ansetzen. Doch Clara winkte energisch in Richtung der Tür.
»Gehen wir rein, und du erzählst uns das später, ja? Der Kontrolleur geht schon zur Tür.« Fast hätte sie die beiden angeschoben, doch da wurden sie entdeckt und herangewunken.
»Manuel, wie schön, dich zu sehen. Willkommen, Señoras!«
Erwartungsvoll blickte der Mann ihnen entgegen. Manuel lächelte Anneliese an, diese erwiderte das Lächeln. Alle drei schwiegen für einige Sekunde, bis Clara einschritt.
»Wer hat denn die Tickets?«
Anneliese blickte von Clara zu Manuel.
»Na, ich habe sie nicht«, sagte sie, sehr überzeugt.
Nun schüttelte Manuel amüsiert den Kopf.
»Oh, meine Liebe! Die hatte ich dir gestern doch gegeben …«
Innerhalb von einer Sekunde wurden Annelieses Wangen tiefrot, sie schlug ihre Hand über den Mund.
»Oh nein! Du hast recht! Das habe ich total vergessen.«
Mit großen Augen, offenkundig beschämt über ihre Vergesslichkeit, blickte sie zu Clara, die schon seit zwei Tagen von nichts anderem redete als der Flamenco-Aufführung.
»Die Karten …« Sie musste ein paarmal schlucken, bevor sie weitersprechen konnte. » … liegen unten in der Stadt, auf der Kommode im Flur. Ach, Mensch! Das tut mir so leid!«
Clara war im ersten Moment zu geschockt, um zu antworten. Sie hatte sich so gefreut! Was war nur mit ihrer Mutter los?
Manuel dagegen lächelte Anneliese mitfühlend an.
»Das ist doch ein fantastischer Start!« Von was, sagte er nicht, stattdessen trat er neben Anneliese, legte sanft seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie kurz an sich. »Ich mag Menschen, die auch mal Fehler machen. Die sind viel weniger anstrengend. Und so werden wir uns ganz sicher für immer an diesen Abend erinnern.«
Anneliese schüttelte den Kopf. Das war ihr kein Trost. Clara hatte zwar ihren ersten Schock überwunden, ihr fiel aber auch nichts Tröstendes ein. Sie war enttäuscht, zugleich tat ihre Mutter ihr leid. Clara wusste, dass Anneliese sich nun tagelang Selbstvorwürfe machen würde.
Manuel dagegen fand weitere tröstende Worte.
»Ich kenne den Besitzer des Theaters und bekomme bestimmt neue Karten – wenn ich ihm die Geschichte erzähle, wird er sich wahrscheinlich so amüsieren, dass er noch ein paar Begrüßungscocktails drauflegt.«
Clara war mit dieser Auskunft fast besänftigt und warf ihrer Mutter ein leises Lächeln zu. So viele Verabredungen hatten sie in Granada sonst nicht, bisher kannten sie kaum jemanden außer Manuel und seiner Tochter.
Aber solche kurzen Bekanntschaften wie die mit Sofia waren ja keine, mit denen man sich abends verabredete, zumindest noch nicht. Sie würden also schon bald einen Termin für den neuen Besuch finden. Dann dauerte die Vorfreude noch etwas länger.
Auch Anneliese schaute zumindest etwa zehn Prozent weniger geknickt. Manuel ging zum Kontrolleur und informierte ihn über ihr Missgeschick. Als er zurückkam, grinste er triumphierend.
»Oh, lassen sie uns auch ohne Tickets rein?«, empfing Anneliese ihn strahlend.
Manuel schüttelte den Kopf, grinste aber weiterhin.
»Leider nicht, so gut kennen der Kontrolleur und ich uns nicht, dass er gegen die Vorschriften verstoßen würde. Aber … Mir ist ein aufregender Plan B eingefallen. Habt ihr Lust?«
Erwartungsvoll wartete er auf die Antwort seiner beiden Begleiterinnen. Clara hob vorsichtig eine Schulter und schaute ihn gespannt an. Natürlich hätte sie am liebsten die berühmte Tänzerin Flor de Granada in Aktion gesehen, aber sie mochte Reservepläne. Also, warum nicht. Und ihre Mutter hatte »aufregend« gehört und war nicht mehr zu halten. Clara wandte sich ab, um ein Lächeln zu verbergen: An Manuels Seite verhielt ihre Mutter sich immer mehr wie ein verknallter Teenager.
»Aber natürlich. Verrätst du uns, was?«, fragte Anneliese, hakte sich bei ihm unter, und die beiden entschwanden in die spanische Nacht. Clara eilte hinterher. Es fiel ihr erstaunlich schwer, mit den beiden Älteren Schritt zu halten.
Natürlich verriet Manuel nichts über ihr Ziel. Stattdessen begann er eine kleine Führung durch das Viertel, blieb an einigen Häusern stehen und erzählte Geschichten über ihre geschichtliche Bedeutung und die ehemaligen Bewohner, wies seine Begleitungen auf kunstvolle Brunnen hin, auf seltene Pflanzen oder reizvolle Schaufensterauslagen. Die Geschäfte waren noch geöffnet, das Leben pulsierte auf den Straßen Granadas, trotz der späten Stunde und der kühler werdenden Nacht. War das Plan B? Eine Führung durch das abendliche Granada? Clara sollte es recht sein, es war wunderbar in diesen Gassen.
Die Menschen lachten, riefen sich über die Straße Grüße und Gerüchte zu, bestaunten die schönen Kleider in den Schaufenstern der Boutiquen, aßen, tranken, lebten.
Aus einem Fenster wehten fremdartige Gitarrenklänge zu ihnen hinunter, eine rauchige Frauenstimme sang in einer ihr unbekannten Sprache, melancholisch und so gefühlvoll, dass Clara sie auch ohne Worte zu verstehen glaubte.
Die Energie Granadas durchflutete sie. Nach langen arbeitsintensiven Monaten konnte sie sich endlich einmal wieder treiben lassen.
Amüsiert beobachtete Clara eine bunt gekleidete Frau, die mit einer gebackenen Kartoffel in der einen, einem fast vollen Glas Rotwein in der anderen Hand wild gestikulierte, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, und alle an ihrem Tisch bestens zu unterhalten schien. Gerüche nach andalusischen Gewürzen und Kräutern – Kardamom und Rosmarin meinte Clara zu erschnuppern – vermischten sich mit einem Hauch von Minze und hüllten sie ein.
Ihre Mutter genoss den nächtlichen Spaziergang offensichtlich ebenfalls. Sie zeigte auf eine Statue an einer Hauswand, lauschte Manuels Geschichten und blickte immer wieder fröhlich zurück zu Clara.
Plötzlich blieb Anneliese stehen. Clara konnte gerade noch abbremsen. Dann erstarrte auch sie. Unerwartet, hinter der Straßenecke, wurden sie von der auf dem Hügel thronenden Alhambra überrascht. Die natursteinernen, königlichen Gebäude raubten Clara jedes Mal den Atem.
»Oh, Manuel, danke für den Umweg! Sie ist beleuchtet so viel schöner!«, rief Anneliese begeistert.
Clara stimmte zwar zu, hoffte aber insgeheim, dass Manuels Überraschung noch mehr beinhaltete. Im selben Moment empfand sie sich als undankbar und schloss sich ihrer Mutter an.
»Ja, absolut, wirklich wunderschön.«
Manuel lächelte stolz. Dann blickte er auf die Füße der beiden, die für die geplante Flamenco-Show ihre schicken Schuhe mit hohen Absätzen angezogen hatten.
»Nehmen wir wieder ein Taxi?«
Was hatte er nur vor? Anneliese betonte entrüstet, dass sie selbstverständlich mehrere Kilometer wandern könnte, wenn nicht sogar Berge besteigen oder Wattwanderungen überstehen. Manuel und Clara lachten, hatte sie doch gerade erst ihren Fuß kurz aus dem Schuh gehoben und massiert.
Ganz der klassische Gentleman, nahm Manuel die Schmach auf sich: »Ehrlich gesagt, brauche ich das Taxi.«
Erstaunlich schnell fanden sie ein leeres Gefährt, und Manuel teilte dem Fahrer das geplante Ziel flüsternd mit. Schon nach kurzer Fahrt wurde Anneliese und Clara klar: Es ging auf den Alhambra-Hügel. Direkt zur Festung.
Was würde dort oben auf sie warten?
Das Taxi hielt vor den Absperrbändern, die tagsüber die unzähligen Touristen in Schach hielten. Gespannt stiegen Anneliese und Clara aus. In einer Woche würden sie selbst hier stehen, die Tickets waren schon ausgedruckt, und sie versüßten sich die Vorfreude immer wieder mit neuen Informationen, Geschichten, Gedichten, die sie sich gegenseitig in Vorbereitung auf ihre Besichtigung vorlasen.
Aber vielleicht ließen sich in der Umgebung spannende historische Spuren der Mauren entdecken? Oder gab es möglicherweise eine bei den Bewohnern beliebte Bar?
Manuel stellte sich neben Anneliese, die ihren Schal enger um ihre Schultern zog und ihn gebannt anschaute. Clara wandte rasch den Blick ab. Die Schwärmerei ihrer Mutter war ihr ein wenig unangenehm. Manuel war reizend, der Abend wunderbar, aber welche Tochter mochte es, wenn ihre Mutter einen Mann anhimmelte?
»Meine Damen«, begann Manuel mit ausgebreiteten Armen. »Ich präsentiere …« Er machte eine lange Pause. »Die Alhambra!«
Begeistert strahlte er sie an, wartete offensichtlich auf eine Reaktion. Aber Anneliese und Clara schauten sich nur stirnrunzelnd an. Dass sie vor der Alhambra standen, wussten sie auch. Sie blickten direkt auf die Außenmauer. Das ratlose Schweigen der beiden hing einen Moment lang in der Luft. Da griff Manuel in seine Jackentasche, und heraus zog er: einen Schlüssel. Langsam dämmerte Clara, was Manuel vorhatte.
Beide Frauen hielten den Atem an, wagten nicht zu denken, was diese Geste vermuten ließ. Doch tatsächlich!
Manuel steckte den Schlüssel in die Tür zur Besucherhalle, präsentierte dann eine Karte und legte sie an ein kleines Kästchen neben der Tür und tippte auf einem Zahlenfeld herum.
Und dann öffnete sich die Tür.
Zur Alhambra.
Mitten in der Nacht.
Nur für sie.
Clara bekam weiche Knie.
»Oh, Manuel«, hörte sie ihre Mutter atemlos flüstern.
Langsam und bedächtig schritt sie durch das Tor. Die ersten Schritte waren unspektakulär, eine Halle mit Ticketschaltern, Garderobenfächern, Toiletten. Doch dann ging es in den ersten Innenhof der berühmtesten maurischen Festung Europas.
Sie hielt den Atem an.
Ein sanftes Orange erleuchtete die Innenhöfe. Clara fühlte sich wie in Tausendundeiner Nacht. Sie ergriff die Hand ihrer Mutter und strahlte sie an. Eine nächtliche Führung durch die Alhambra!
Doch … Was war da? In Claras Augenwinkel bewegte sich ein Schatten. Rasch drehte sie sich um. Zu spät. Wer auch immer an ihnen vorbeigehuscht war, hatte sich zurückgezogen. Auch Manuel blickte nun in die Richtung und schüttelte verärgert den Kopf.
»Hält sich eigentlich noch jemand an Absprachen?«, flüsterte er zu sich selbst. »Am anderen Ende der Burg sind noch die Nacht-Führungen unterwegs, das ist wohl einer der Angestellten, der noch aufräumt«, sagte er laut zu Clara.
Dann hakte er Anneliese unter und zog sie weiter. Clara folgte. Die unwirkliche Schönheit der Alhambra nahm sie vollkommen in Beschlag. Sie sahen bisher nur einige Gebäude von außen, scheinbar zufällig angeordnet, aber jedes für sich prächtig. Kraftvoll. Clara konnte sich nicht erinnern, jemals so überwältigt von einem Gebäude gewesen zu sein. Die Alhambra besaß eine eigene Persönlichkeit. Eine Aura. Sie war stark, unerschütterlich, gelassen und voll innerer Schönheit.
Wie ein kleines Kind auf einem Jahrmarkt lief Clara weiter, von einem Wunder zum nächsten. Auch in der schwachen Beleuchtung waren die zart gearbeiteten Zimmerwände der perfekt ausbalancierten Eingangshallen zu erkennen, die wie aus einem Elfenland stammende Schönheit des Löwenhofs, die einschüchternde Herrschaftlichkeit des Botschaftersaals und das anheimelnde Mysterium des Harems. Jeder der Säle war schöner als der vorherige. Der Saal der Gerechtigkeit, der Saal der zwei Schwestern, der Ajimeces-Saal – alle mit wunderschön verzierten Mauern, geheimnisvollen Schatten, unbeschreiblicher Schönheit. Schönheit, die Clara fast zum Weinen brachte. Wie konnten Menschen so etwas geschaffen haben. Sie war voller Bewunderung und Ehrfurcht und wusste schon jetzt, dass sie diesen Abend in ihrem Leben nie wieder vergessen würde.
»Menschliche Erinnerung ist flüchtig im Trubel des Alltags, an das Gute wie an das Schlechte, an die Liebe wie an den Hass. Meine Erinnerung dagegen ist in Stein gemeißelt, ungetrübt und zeitlos. Ich werde keinen von euch je vergessen.«
(Alhambra)
Lautstarkes Klopfen unterbrach Clara mitten im Satz. Noch bevor sie reagieren konnte, wurde die Klinke ihrer Zimmertür heruntergedrückt, und Annelieses Gesicht erschien in dem schmalen Spalt. Genervt rief Clara ihr zu: »Ich zoome mit Thorben!«
Die Klinke ging wieder nach oben, und Anneliese gab zurück: »Alles klaaahaaar!«
Clara atmete hörbar aus. Nun wohnten ihre Mutter und sie schon einige Wochen zusammen hier in der Wohnung, aber an Regeln hielt sich Anneliese nur, wenn sie Lust dazu hatte.
»Ist sie wieder einfach ins Zimmer gestürmt?«, fragte Thorben.
»Na ja, fast.« Clara sagte nichts weiter dazu, Thorben und sie hatten andere Probleme.