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Auf das Heilige Compostelanische Jahr 2010 fiel auch das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010. Die Wohnungslosenhilfe des SKM-Rhein-Sieg unternahm eine Pilgerreise mit Betroffenen nach Santiago de Compostela. In 8 Tagen ging eine Gruppe aus 7 Betroffenen und 2 KollegeInnen die letzten 170 km von O Cebreiro nach Santiago de Compostela auf dem Camino Frances. Dies als Aktion zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, besonders, da Pilgern sehr viele Parallelen mit dem Wohnungslos-Sein hat: Von Herberge zu Herberge ziehen und um Aufnahme bitten. Die Betroffenen erlebten hier, dass der Zustand der Durchreise ein gemeinsames Ziel haben kann. Aber wir wollten damit auch auf die besondere Lage armer Menschen hinweisen. Es gibt z.B. rund vier Millionen Obdachlose in der Europäischen Union, davon leben rund 250.000 in der Bundesrepublik. Eine offizielle Statistik gibt es allerdings nicht. Rechnet man die Menschen hinzu, die in spezifischen Hilfeeinrichtungen eine vorübergehende Bleibe gefunden haben, kann von einer Million Menschen die Rede sein. Die Wohnungslosenhilfe des SKM-Rhein-Sieg erreicht ca. 600-700 Menschen pro Jahr. Und es ist zu befürchten, dass es wegen der schlechten kommunalen Finanzlage in den nächsten Jahren zunehmend schwieriger wird, die notwendigen Standards auszubauen!
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Seitenzahl: 239
Veröffentlichungsjahr: 2021
Auf das Heilige Compostelanische Jahr 2010 fiel auch das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010. Die Wohnungslosenhilfe des SKM-Rhein-Sieg (ambulante Hilfen, Betreutes Wohnen gem. § 67 SGB XII) unternahm eine Pilgerreise mit Betroffenen nach Santiago de Compostela. In 8 Tagen ging eine Gruppe aus 7 Betroffenen und 2 KollegeInnen die letzten 170 km von O Cebreiro nach Santiago de Compostela auf dem Camino Frances. Dies als Aktion zum „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ – besonders, da Pilgern sehr viele Parallelen mit dem „Wohnungslos-Sein“ hat: Von Herberge zu Herberge ziehen und um Aufnahme bitten. Die Betroffenen erlebten hier, dass der Zustand der „Durchreise“ ein gemeinsames Ziel haben kann. Ferner hatte das Vorhaben allen Beteiligten eine Zeit der Besinnung geboten – eine ruhige Zeit gemeinsam auf dem Weg zu sein?
Aber wir wollten damit auch auf die besondere Lage armer Menschen hinweisen. Es gibt z.B. rund vier Millionen Obdachlose in der Europäischen Union, davon leben rund 250.000 in der Bundesrepublik. Eine offizielle Statistik gibt es allerdings nicht. Rechnet man die Menschen hinzu, die in spezifischen Hilfeeinrichtungen eine vorübergehende Bleibe gefunden haben, kann von einer Million Menschen die Rede sein. Die Wohnungslosenhilfe des SKM-Rhein-Sieg erreicht ca. 600-700 Menschen pro Jahr. Und es ist zu befürchten, dass es wegen der schlechten kommunalen Finanzlage in den nächsten Jahren zunehmend schwieriger wird, die notwendigen Standards auszubauen!
Siegburg 2019
Bert Becker
Axel Strempler,
Jörg Bonath,
Monika Schwertner,
Sascha Hofmann,
Uwe Stasiak,
Vidal Bravo Lorenzo,
Wilfried Krieger,
und
Wolfgang Theunissen
danke ich für die gemeinsamen Erfahrungen.
"Kommt mit und seht selbst, wo ich wohne!" Joh 1,38
Allen, die
in dieser Welt
ohne Wohnung,
ohne festes Dach über dem Kopf,
umherziehen müssen...
...die vertrieben sind
und nicht wissen,
wohin sie heute
Abend ihren Kopf
betten sollen.
Zum Buch
Kapitel 1: » Eine Sturzgeburt «
Kapitel 2: » Die wilden Kerle «
Kapitel 3: » Mentales Gruppentrainig «
Kapitel 4: » Going West «
Kapitel 5: » Erfüllte Sehnsucht «
Kapitel 6: » Schmerzensmänner «
Kapitel 7: » 100 km «
Kapitel 8:
»
Don Quijote & Hobbits
«
Kapitel 9: » Der kurze Marsch «
Kapitel 10: » Odysseus unter Zyklops Bandidos «
Kapitel 11: » Das Hindernisrennen «
Kapitel 12: » Finaler Triumphzug «
Kapitel 13: » Zurück «
Anhang 1 » Mein Jakobswegtagebuch von O Cebreiro nach Santiago de Compostela von
Wilfried Krieger
«
Anhang 2 » Interviews «
Vidal
Axel
Sascha
Uwe
Monika
Jörg
Wolfgang
Willi
Bert
Ich lernte Vidal im Sommer 2004 kennen, damals war er 42 Jahre alt. Er lebte mit einem seiner Söhne in einer kleinen Wohnung in Troisdorf. Mit einem Kollegen der Stadt Troisdorf suchte ich ihn zum ersten Mal auf. So traf ich hier einen Spanier im Rollstuhl an, mit maurischen Zügen und langen schwarzen Krussel-Haaren, die zu einem Zopf zusammengebunden waren, einem sympatisch verwaschenen spanischen Akzent und ca. 2500,-- € Mietrückständen – kurz vor der Räumungsklage...
Vidal war im Jahr 1999 in seiner Heimatstadt Zamora als Zuschauer eines Stierkampfes verletzt worden. Er hatte in der 3. Reihe der Arena gesessen und der Stier ist wutschnaubend über die Brüstung gesprungen. 3 Zuschauer wurden schwer verletzt. Seitdem war Vidal querschnittgelähmt und an den Rollstuhl gefesselt.
In Deutschland hatte er als Mitglied der spanischen Armee das Konsulat in Düsseldorf bewacht und hier eine Deutsche geheiratet, von der er mittlerweile geschieden ist.
Er hat 2 Söhne – für die Damenwelt sei es gesagt: sehr hübsche Spanier – und eine Tochter.
Nun, in der Folgezeit sorgten wir dafür, dass Vidal mit seinem Ältesten in seiner Wohnung bleiben durfte, dass er seinen Rentenantrag durchzog, seine Sozialhilfeschulden zurückzahlte und ihm aus Spanien eine Abfindung zugesprochen wurde. Durch diese wäre er schlagartig 180.000,-- € reicher, wenn sich die Gemeinde Zamora und der Bauherr der Arena nicht als chronisch zahlungsunfähig herausgestellt hätten. Da läuft nicht viel für ihn.
Ja, und dann bin ich sein Finanzminister: Er setzt so viel Vertrauen in mich, dass er sein Geld über unsere Einrichtung verwalten lässt. Er geht wohl davon aus, dass er nicht gut mit Geld umgehen kann.
Dann ist es ihm lieber, wenn er dies einem anderen überlässt. Ich kann das nachvollziehen, aber weiß auch, dass es eigentlich daran liegt, dass er ein guter Vater sein will. Meist verzichtet er darauf, seinen Sohn – denn der eine lebt ganz bei ihm - zu verpflichten, sich an der Mietzahlung zu beteiligen. So lebt er mit seinem Pflegegeld und seiner Rente unter dem sogenannten Satz des Lebensnotwendigen. Aber da ist er unverbesserlich.
Was seine Behinderung angeht, so hat er sich mit ihr nicht nur arrangiert. In einem vertraulichen Gespräch sagte er mir mal, dass es eine zweite Chance für ihn sei und dass er nun ein besserer Mensch sei... Das hatte mir durchaus imponiert.
Es ist auch seine Art trotz aller Beschwerden zu lachen und so ließ er sich den spanischen Satz „Todo me toca a mi“ – Mir geschieht alles oder alles berührt mich (oder so) – auf den linken Unteram tätowieren. Mittlerweile erkenne ich aber, wenn ihm ein Tag schwer fällt. Aber er steckt nie auf und lacht gerne. Soweit vorläufig genug zur Vita von Vidal, der sicher eine ganz entscheidende Person für unser Vorhaben war.
Also, dieser Vidal sagte irgendwann im Herbst 2009 zu mir, dass er gerne meine Frau und mich auf eine Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela einladen wolle, weil er sich erkenntlich für meine Hilfe über die Jahre zeigen wolle. Er habe da eine Abschlagszahlung aus der Abfindung zu erwarten.
Aber ich musste nicht lange überlegen, denn solche Geschenke dürfen wir in unserem Job nicht annehmen. So sagte ich ihm zuerst natürlich ab.
Trotzdem blieb dieses Anliegen in meinem Kopf, denn ich spürte durchaus, dass es auch ein tiefer Wunsch Vidals war. Er ist zwar kein überaus religiöser Mensch, aber legt, wie man es wahrscheinlich Spaniern generell unterstellen kann, trotzdem großen Wert darauf, dass er katholisch-christlich ist. Deswegen ist er ja auch immer beleidigt, wenn ich ihn wegen seines Aussehens als „Alten Mauren“ bezeichne – „De Spanisse Katär“ (El Gato español) ist ihm schon lieber. Einmal war mir auch aufgefallen, dass sich hinter einer Schranktür, als er sie öffnete, einige Glaubensdevotionalien – man könnte es auch ein Altärchen nennen – befanden.
Also: so richtig ließ mir das keine Ruhe mehr, zumal ich auch selber sehr angetan war von der Idee mit Vidal – als Person – zu pilgern. Zumal da ja auch eine ganze Menge Vorlagen waren: Hape Kerkeling hatte gerade sein Buch „Ich bin dann mal weg“ geschrieben und selbst der Wolfgang Overath, der für den Verein, für den ich arbeite, sehr wichtig ist, hatte dann im Mai 2010 eine solche Pilgerreise nach Santiago de Compostela angekündigt – und später auch durchgezogen.
Und wie das so ist mit Gedanken, die einwirken, kam mir dann die erlösende Idee:
Wir pilgern mit betroffenen Menschen aus der Wohnungslosenhilfe, dem Fachbereich, dem ich seit 10 Jahren vorstehe.
Das war´s! Zudem lief im Jahr 2010 das Aktionsjahr der Europäischen Kommission „2010 – Europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“! Das war das Motto! Betroffene Wohnungslose, ehemals Wohnungslose und Helfer machen einen gemeinsamen Weg – wie Maria und Josef in Bethlehem tagtäglich Obdach suchend -, einen Pilgerweg, auf dem auch viele andere Menschen unterwegs sind und auf dem letztlich soziale und finanzielle Mauern fallen. Waren hier nicht alle gleich?
Ich glaube, dass Vidal nicht ganz so begeistert war, als ich ihm dann die Idee unterbreitete. Immerhin, es war ja April oder Mai 2010 und ich hatte nur eine vage Idee von dem, was ich da plante. Etwas blauäugig und mit Gottvertrauen dachte ich mir, dass das schon irgendwie hinhauen würde.
Das ist bei mir manchmal so, dass ich von einer Sache ein inneres Bild vor mir habe, welches sich dann umsetzen will. Das konnte Vidal natürlich nicht sehen, aber war dann trotzdem bereit mit mir zu planen und auch seine Verwandtschaft in Zamora mit einzubeziehen. Ich musste mich aber ab diesem Moment erst mal um die Gelder kümmern, denn natürlich hatten Betroffene in meinem Arbeitsbereich nur ein Einkommen, über die s.g. Hartz-Leistungen, was natürlich nicht annähernd für ein solches Unternehmen ausreichend war.
Immerhin konnte eine ganz wichtige Hürde durch die Billigflüge genommen werden. Flüge von Weeze an der holländischen Grenze nach Valladolid würden pro Person, hin und zurück etwa zwischen 50,-- und 70.-- € kosten. Das schien mir durchaus machbar.
Also stellte ich erst mal, und das war Anfang Juni 2010, einen internen Antrag auf eine Vorfinanzierung für Flüge im September 2010 in meinem Verein. Ich weiß, viele würden mich für verrückt erklären, eine solch kurze Zeit zu planen, aber irgendwie musste das nun sein. Man kennt das ja: Jetzt oder nie!
O.k.: Intern – vom Verein und aus einem Fonds – wurden 1000,--€ bereitgestellt! Startschuss!
Anfang Juli 2010 würde ich nun die Flüge buchen können! Aber dafür müssen ja noch Kandidaten gefunden werden. Hm, ausser unkonkreten Anfragen an Personen hatte ich noch nichts...
Und Spendenaufrufe gingen raus, wofür ich eine Vorlage entworfen hatte s.u. – sowie auch die Lokalpresse wurde informiert, die sich, dann dankbar vor der Sommerpause, für pilgernde Wohnungslose interessierte. Ich muss schon sagen: ich war erstaunt über den Zuspruch, den wir dann von allen Seiten für unser Vorhaben erhielten. Von Stiftungen, die wir anschrieben, bis zu vielen Einzelpersonen, erhielten wir Unterstützung, finanziell, aber auch mental. Das machte Mut!
Trotzdem war zu der Zeit, als ich die Flüge buchen wollte, noch nicht klar, ob finanziell alles Geld zusammenkommen würde. Aber da war das „Jetzt oder nie“ und ich verließ mich darauf, dass uns schon keiner hängen lassen würde: weder der Verein, weder die ein oder andere Stiftung mit „Vielleicht-Zusagen“ , noch die vielen Menschen, die sich – durch die Pressearbeit aufhorchend – bei uns meldeten.
Auch im Verein muss man dem Engagement einiger danken! Christa und Annerose, selber schon nach Santiago gepilgert, entwickelten sich zu wertvollen Ratgebern! Mir fiel auf, dass ich mir über gewisse Details der Ausrüstung und Vorgehensweise gar kein Bild gemacht hatte. Ich habe mir doch zuvor nie Gedanken über Wandersocken ohne Naht, Sicherheitsnadeln zum Aufhängen trocknender Handtücher oder Unterhosen am Rucksack und die Behandlung von blasigen Füssen gemacht! Hape ist da keine Hilfe gewesen, denn der hat ja genug Geld im Rücken gehabt. Nun, die beiden gaben uns einen Grundkurs in „Pilgern für Anfänger“. Im Grunde begleiteten die beiden die Gruppe und beeinflussten auch entscheidend die Materialbeschaffung. Denn die musste nun auch anlaufen, da sich einige bekannte Sport- und Trekkingausrüster auf unsere Anfragen bezüglich Materialspenden nie zurückgemeldet hatten. So mussten wir die meisten Bestandteile der Ausrüstung käuflich erwerben, soweit keine Sachspenden von Privatpersonen reichten. Hier muss man auch einigen ehrenamtlichen Kolleginnen danken, die schon einige Rucksäcke an Land gezogen hatten. Trotzdem war ich froh, dass es Internet gibt. Schlafsäcke, Herbergsschlafsäcke, Regenponchos, Campingbestecke, Campingservice, Rucksäcke, Isomatten, Hordentopf....: alles ist dort zum Glück für kleines Geld zu haben. Wie gesagt: natürlich konnte man nicht von den Teilnehmern erwarten, dass sie diese Dinge selber bezahlen würden. Aber, in einer Einrichtung wie der Wohnungslosenhilfe, erfüllen diese Utensilien dann auch einen doppelten Zweck: Sie dienten den Pilgern und später auch wohnungslosen Menschen, deren Ausrüstung abhanden geraten ist. So wird der eine oder andere noch davon profitieren, dass man ihm einen Schlafsack, eine Isomatte u.a. als Sachhilfe überlassen kann.
Ganz gut: Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen – und das im Zeitalter des Recyclings!
Aber Ende Juli drängte dann die Zeit schon sehr und es begann das Warten auf das Eintreffen der Bestellungen: Würde alles pünktlich geliefert werden? Schließlich wollte ich ja die zweite Augusthälfte noch mit meiner Familie in den wohlverdienten Sommerurlaub fahren – der aber eine wettermäßige Katastrophe war, was aber ein anderes Buch sein könnte.
Immerhin, man muss es ja sagen, die Firmen sind in 2010 hervorragend auf den Online-Handel eingestellt und auch von der Qualität war ich nicht enttäuscht.
Ach ja, ein Highlight ist schon noch zu erwähnen. Ich hatte mich lange mit dem Gedanken herumgeschlagen, ob ich ein T-Shirt bedrucken lassen soll. Mit dem Slogan des Europäischen Jahres und unserer Einrichtung. Es schien mir zuerst zu teuer, dann wieder schienen mir zu wenig Spendenmittel da zu sein oder mir kam es zu uniform vor. Aber schließlich entwarf ich noch schnell ein Shirt und ließ dann für jeden Teilnehmer eines anfertigen. Es war die richtige Entscheidung, auch wenn uns unterwegs das dauernde Tragen der T-Shirts geruchs-technisch an unsere Grenzen brachte! Aber für das Gruppengefühl waren sie unersetzbar, wobei es auch unterwegs einen hohen Wiedererkennungswert hatte. Bei Pilgern, die sich unterwegs immer wieder begegnen, ist das schon viel wert und eine schöne Sache. Schließlich hatten wir schon den Slogan auf deutsch (auch wenn er auf den T-Shirts in Englisch stand: „2010 – European Year for Combating Poverty and Social Exclusion“) auf unseren Lippen: „Wir laufen gegen Armut und soziale Ausgrenzung“! So ging’s dann: Während die 3 Musketiere riefen: „Alle für einen, einer für alle", riefen wir: „Gegen Armut und soziale Ausgrenzung“...
Unser Merkblatt zur Spendenakquise und Presse:
Aber da fehlen ja noch die Weggefährten! Klar, das bin ich x-mal gefragt worden: „Wie haben Sie denn die Leute ausgewählt?“
„Haben die sich alle auf einen Aufruf gemeldet?“
Ich glaube, dass ich das natürlich nicht sagen kann. War es Intuition?
Klar, Vidal war natürlich keine Option, sondern ein Muss. Aber auch da habe ich nicht drüber nachgedacht, was das bedeutet einen querschnittsgelähmten Rollstuhlfahrer mitzunehmen, der seiner Blase nicht Herr war. Mir war genug, dass er es sich selber zutraute, und das tat er! So nahmen wir nicht nur ihn mit, sondern auch seine 60 Katheder und seinen allmorgendlich klopfenden Tremor in den Beinen...
...aber auch seinen Optimismus und seinen ungeahnten Willen zur Sache.
Also, gut: Vidal war dabei, das war ja so Fakt wie der Mond am Nachthimmel.
Aber habe ich die Anderen ausgesucht nach Kompatibilität zu Vidal und mir?
Wichtig war mir in erster Linie, was nicht sein durfte: Die Kandidaten durften keine akuten, nassen Alkoholiker oder/und hart drogenabhängig sein! Nein, das würde nicht gehen. Auch sollten sie nicht körperlich so angeschlagen sein, dass keine Leistung mehr drin ist, denn durchhalten sollten schon alle können. Und das ist ja klar, dass man in unserem Arbeitsfeld viele körperlich abgebaute Menschen finden kann. Das wäre zu risikoreich.
Religiosität stand erst ganz hinten auf dem Index.. Viele Menschen, die bei uns mit ihrem Leben ringen, haben wichtigere Sorgen, als ihr Seelenheil bei Gott. Gebete und Gott kann man nicht essen – erst recht nicht drin wohnen. Im Übrigen: Beten hilft auch nicht auf den weiten, seelenlosen Gängen der Ämter, ARGEn und JobCenter in Deutschland, auch wenn sich mancher Sachbearbeiter wie ein Hilfs-Gott gebärdet.
Aber man sollte natürlich keinem Menschen ein intuitives Gespür für Transzendenz und Höhere Wesen absprechen. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der dies nicht in seinem Herzen trägt und spürt.
Die Hauptmotivation, welche – das kann ich natürlich erst jetzt im Nachhinein so sagen – die Mitglieder unserer Gruppe antrieb, war, dass jeder sich erhoffte, dass diese Anstrengung und Selbstkasteiung irgend eine Wende, irgendeinen Effekt auf die eigene Person haben könnte.
Ich kann nicht mehr sagen warum, aber direkt am Anfang kam mir Axel in den Sinn, den ich schon 10 Jahre kannte und dessen Lebenssituation sich in den Jahren nur wenig verbessert hatte. Mit dem 15. Lebensjahr landete er schon wohnungslos auf der Straße und in der Drogenszene. Er hatte eine ganze Menge in seinem Leben mitgemacht, womit ich seinen eigenen Mist nicht entschuldigen will. Axel galt bei allen Kolleginnen und Kollegen als schwierig – vielleicht auch kaputt oder hoffnungslos. Bei vielen Angelegenheiten, in Ämtern und wenn man ihm ernsthaft näher kam, fuhr er immer seine Stacheln aus. Das machte dann bei vielen den Anschein, als sei er nur voll von frustendem Horror-Müll und schwärzestem englischem Ätz-Sarkasmus. Ich hatte jedoch seit einem Jahr das Gefühl, dass da ein Zugang war, den ich vielleicht gefunden hatte. Ich hatte irgendwie Gefallen an dem Gedanken, diesen kleinen drahtigen Mann, der Tage hinter seiner X-Box verbringen konnte, aus seinem spärlich und lieblos mit Müll-Möbeln ausgestatteten, schmuddeligen Einraum-Appartement herauszulocken. Es schien eine Herausforderung zu sein, dass er wieder mal in eine neue Realität eintaucht, wo ja seine eigentliche Verbindung zur Außenwelt seine Onlineverbindung der X-Box und deren Headset, durch das er mit seinen Cyberfreunden quasselte, waren. Ich konnte gar nicht sagen, wie er sich in einer Gruppe entwickeln würde, deren Zusammensetzung ich ja selber noch gar nicht kannte. Aber das stand ziemlich früh fest: Diesen Mann wollte ich irgendwie dabei haben. Vielleicht würde das ja bei ihm noch was drehen. Ganz überzeugt war ich, nachdem ich ihn bei einer Geldauszahlung in meinem Büro fragte, ob er sich vorstellen könne, auf solch einer Pilgerfahrt mitzugehen. Er antwortete sichtlich verwundert, aber auch geehrt: „Ja, aber wieso gerade ich?“
Es hörte sich so an, als hätte er nie damit gerechnet, dass er überhaupt von jemandem für wert befunden wurde ein solches Angebot zu erhalten. Wie auch immer: Er fuhr seine Stacheln nicht aus und sagte zu...
Man sollte hier bemerken, dass es gut war, dass Hape eine solche Vorarbeit geleistet hatte. Ihm war es sicher zu verdanken, dass jeder was mit dem Jakobsweg anfangen konnte...
Erst hinterher dachte ich so bei mir: „Hoffentlich hält dieser schmächtige kleine Mann das auch körperlich durch. Besonders ohne zu kiffen...“
So rutschte es mir dann auch raus, aber er versicherte mir, dass er sowieso das letzte Jahr nicht mehr rauche. Aber er sehe ein Problem ohne seine X-Box – er schob seinen Unterkiefer vor, bekam starre, wie hypnotisierte Augen, krümmte sich nach vorn, verkrampfte seine Finger, zuckte mit den Daumen, als ob er seinen Gamekontroller bedienen würde, und stammelte einige Geräusche:
„Bzzzzing,dingenelingbrrrazong!“. Ich verstand, denn das ist Axels typische Art mit dem ganzen Körper zu sprechen!
So zog ich nun noch Anfang Juli mit Axel los und machte Einkäufe:
Gute, stabile Schuhe, Wandersocken, Hose, Hemd, etc. Das Geld nahm ich vorerst aus einem Fonds für Bedürftige. Ehrlich gesagt:
Das hat uns beiden durchaus Spaß gemacht, so gemeinsam loszuziehen. Axels Humor wurde dann auch etwas weicher. So wie wir loszogen hatte es was von großem und kleinem Bruder und ich hatte das Gefühl, dass er es sichtlich genoss.
Fortan lief Axel in seinen neuen Schuhen – denn die mussten ja eingelaufen werden. Die Alten flogen noch im Geschäft in den Müll, denn wir hatten darauf geachtet, dass die neuen Schuhe auch alltagstauglich waren.
Ach, und schließlich waren da noch die Badeschlappen für 3,95 € zu erwähnen. Diese sollten noch besondere Berühmtheit erlangen...
Der zweite, den ich ansprach, war Wilfried oder „Willi“. Willi lebte zu dieser Zeit noch in seinem Lager unter einer Eisenbahnbrücke an der Sieg. Seit ca. 6-7 Jahren. Er kam fast täglich in unsere Einrichtung, trank im Aufenthaltsraum Kaffee und holte seine Post.
Mit ihm verbanden mich durchaus die eine oder andere Auseinandersetzung. So begleitete er mit einer Robin-Hood-Manier die Einführung eines Kostenbeitrags von einem Euro für den warmen Mittagstisch in unserer Einrichtung. Die Hintergründe der Notwendigkeit möchte ich hier nun nicht ausbreiten, denn wir sind ja bei einem anderen Thema. Aber er mischte zu der Zeit die halben Besucher unserer Einrichtung auf.
Ein anderes Mal verwehrte ihm einer unserer Hausmeister früh morgens den Zugang, weil die Nutzer unserer Notschlafstelle – ein Nachtquartier für akut Wohnungslose – noch nicht mit dem Frühstück fertig waren. Das brachte ihn völlig aus der Fassung, da fallen auch mal dumme oder nicht stubenreine Worte. Als ich mich einmischte und den Hausmeister in Schutz nahm, nahm er auch mich verbal „zwischen“. Ich weiß, er würde jetzt sagen, dass das nicht so schlimm war, aber es platzte mir nun auch der Kragen und ich sagte im Wegdrehen zur Beendigung der Auseinandersetzung: „Sie (Anm: Wir siezen unsere Besucher generell aus Achtung vor der Person) sind ein Arschloch!“ Familiär, nicht wahr? Nun, er beschwerte sich bei meiner Vorgesetzten. Er wusste ja nicht, dass ich nach zwanzig Jahren Sozialarbeit mit Wohnungslosen durchaus auch für mich beanspruchte, dass ich nur ein Mensch bin. Die Chefin fand das auch so. Willi und ich setzten uns daraufhin trotzdem zusammen und hatten ein gutes klärendes Gespräch. Jedoch denke ich, dass er zuvor zuwenig auch seine eigenen Anteile an den Miseren in seinem Leben betrachtete. Man kann den Brotteig des eigenen Lebens nicht walken und kneten, wenn man der Meinung ist, dass nur andere ihre Finger in meinem Teig haben.
So wird es nie mein Brot, sondern immer nur das der anderen...
Nun, aber, da saß er: Gestutzten Vollbart, sauber, Klamotten die witterungstauglich sind und das einzige, was verriet, dass er kein gewöhnliches „bürgerliches“ Leben führte war, dass ihm im Oberkiefer die Schneidezähne fehlten: Ausgeschlagen, als er auf seiner Platte mal überfallen worden war. Eine gepflegte Konversation war immer mit ihm zu führen, denn er hatte ja auch mal bessere Zeiten erlebt.. Zuerst war er sich nicht so ganz sicher, ob das hinhauen würde, denn er hatte da noch Hoffnung auf ein kombiniertes Wohnungs- und Arbeitsangebot. So sagte er nicht sogleich zu. Aber ich glaube, dass er sich auch mit Vidal ausgetauscht hatte, bei dem er ab und an unterkam. So sagte er schließlich doch zu, weil er vorhabe, diesem unterwegs behilflich zu sein.
Das entsprach durchaus seiner Art, dem typischen Robin Hood, erst an andere zu denken, die es vermeintlich schlechter haben. Aber es motivierte ihn, auch wenn er vielleicht zu Beginn nicht zugeben wollte, dass er es auch ein wenig für sich macht. Willi ist halt auf der einen Seite der Altruistische, Ruhige, Nachdenkliche – manchmal etwas eigenbrötlerisch Wirkende.
Ich war mir sicher, dass er die richtige Wahl war...
Eine andere besondere Wahl war die meines Pendants, meines Counter-Parts aus der Sozialarbeit. Ich durfte ja nicht vergessen, dass ich, bei allen Selbstfindungsversuchen, natürlich auch eine gewisse Verantwortung, nicht nur organisatorisch, für die mitreisende Gruppe hatte. Als Organisator war das ein Rechtsverhältnis und es musste dafür Sorge getragen werden, falls ich ausfallen sollte. Zudem hatte ich auch nicht die Absicht, wenn mal was nicht gelänge, für alle Lust und allen Frust verantwortlich zu sein. Eine starke Begleitung wäre da schon eine entscheidende Stütze.
Ich gebe zu: Auch hier dachte ich nicht lange nach. Ich fragte Monika, die zu dem Zeitpunkt in einem unserer Häuser für Betreutes Wohnen für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten arbeitete. Auf der einen Seite war ich mir sicher, dass es sie reizen würde. Sie ist verrückt genug verrückte Dinge zu denken und umzusetzen, manchmal ohne Rücksicht auf ihr eigenes Image. Sie ist zudem auch eine Person, die spirituell durch eine Pilgerreise angesprochen würde. Und: Wir kannten uns nun 10 Jahre und hatten auch immer wieder unsere Meinungsverschiedenheiten ausgefochten und Schlachten geschlagen. Man könnte auch sagen, dass wir immer wieder mal Schwierigkeiten hatten einen Draht zueinander zu finden. Damals, als sie noch Streetworkerin in meinem Team war und auch kürzlich noch...
...aber ich wusste auch: Sie würde der Versuchung nicht widerstehen können und: Sie macht nie aus ihrem Herzen eine Mördergrube und spricht vielfach auch unbequeme Wahrheiten an (je nachdem auch mal sehr emotional), ist hundertprozentig zuverlässig und wir beide hatten gemeinsam, dass wir die Pilgerfahrt auch für uns im kollegialen Sinne als Chance betrachten würden.
Sie bat zuerst um Bedenkzeit. Sie wollte auch zuhause noch mal alles klären, denn Ihre Kinder wären dann einige Zeit allein, besonders da sie eine Woche nach der Pilgerfahrt noch einmal unterwegs und nicht zuhause sei. Zudem habe sie in unserem Team ja einen neuen Kollegen als direkten Mitarbeiter, den sie unter Umständen nicht so lange allein lassen wolle – ich sah da keine Probleme, denn das Team war groß und bat auch neuen Kollegen immer Hilfemöglichkeiten an.
Wie dem auch sei, ich war mir sicher: Sie hatte angebissen! Entsprechend war auch nach ein paar Tagen ihre verbindliche Zusage, unter der Vorraussetzung, dass es bei den ganzen Männern nicht so „zotisch“ zugehen solle – was auch immer sie damit meinte...
Jörg mein alter „Rostocker“ lebte schon seit Jahren in einer kleinen Wohnung in Siegburg. Das Leben auf der Straße hatte er schon weit hinter sich gelassen, wie auch seine Aufenthalte in unserer Schlafstelle für Wohnungslose. Aber irgendwie gehörte er zur Familie, zu den sogenannten „Trabanten“ unserer Einrichtung. Familie im Rhein-Sieg-Kreis hat er nicht, so dass ihm wohl nichts anderes übrig blieb, als uns zu adoptieren. Aber man konnte sich immer auf ihn verlassen. Wenn er irgendetwas versprach, dann hielt er es auch. Er hatte sich eine kleine Musikanlage zusammengestellt und arbeitete ab und an als freiwilliger DJ – womit er uns schon des Öfteren bei Sommerfesten und sonstigen Events beglückt hatte. Er hatte auch schon mal einen Monat als Hausmeister in unserer Einrichtung gearbeitet und war auch bei zwei Ferienfreizeiten unserer Einrichtung mit von der Partie.
Zudem, eine Sache war immer sicher: Sein typischer Schmuddel-Humor, mal über, aber meist unter der Gürtellinie. Ich kann nicht sagen, wie er es schafft auch jeden Ferkel-Witz zu behalten. Aber nicht nur das, er besitzt auch die Fähigkeit diese zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit so zu reproduzieren, dass man immer wieder neu schmunzeln musste, wenn auch angenehmangewidert abwendend und auch wenn man den Gag schon kannte – ja, beim Barte des Propheten!
Es blieb auch abzuwarten, ob er einer Gruppe damit nicht auf den Senkel gehen kann. Für mich überwog aber die Erwartung, dass er damit in der Lage war schwere Situationen zu überspielen und dass seine eigenwillige Verkörperung des „Think-positive“ eher hilfreich war.
Sicher war ich mir auch, dass er mit Religion nichts am Hut hatte.
In der ehemaligen DDR aufgewachsen, war das nun wirklich nicht zu erwarten. Zudem, als alter Seebär hat er sicher im Sturm und wenn es brenzlig wurde doch gebetet.
So sprach ich ihn als „Familiemitglied“ an und seine Antwort war:
„No klor!“, was nicht bedeutete, dass er ein Gegner von Chlor in Schwimmbädern war:
Ab da begann er sich professionell vorzubreiten. Er kam eines Tages in mein Büro und sagte:
„Hör mal, ik heff mi een Boch toleggt. Den Hape Kerkeling!“
„Ach, ja! Sag mal, Du liest Bücher?“ erwiderte ich erstaunt – Ich duzte ihn zu der Zeit, weil er ja schon mal bei uns als Hausmeister gearbeitet hatte.
„Nee, als Hörbuch natürlich – kanns ook haben? Is bei mir auf’m Stick...?“
Da war mir klar, dass er sicher vor hatte mitzugehen. Wobei er sich vom Arzt zuvor noch auf Herz und Nieren untersuchen ließ, damit dieser ihm Tauglichkeit bescheinigen konnte.
Also, mit seinen Worten: „Wat hasu gesait? Min Päärd scheelt? A, nu runner vum Hoff!“
An einem Tag, an dem mir die Kandidaten-Ideen ausgingen, fragte ich die Kolleginnen und Kollegen in meinen Teil-Einrichtungen des betreuten Wohnens an. Daniel sagte mir, dass er da einen ganz netten und nicht ungebildeten Kerl habe, der über den Streetworker direkt von der Straße in sein Haus in eine Maßnahme gezogen sei.
Uwe (1916) hatte wohl so einiges hinter sich: vom Juso-Vorsitz im Rhein-Sieg-Kreis etabliert in Beruf und Partnerschaft, verlor er auch alles wieder durch Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Straße. Seine Versuche, die Misere zu besiegen, überzeugten meinen jungen Kollegen. So sagte ich zu ihm, dass er dafür sorgen solle, dass Uwe mitfährt.
Uwe zögerte wohl zuerst. Was sollte er denn als alter Atheist auf dem Jakobsweg?
Ich bin meinem Kollegen dankbar, dass er den Uwe offenbar lange genug genervt hatte, denn schließlich entschied er sich für die Tour und das sehr konsequent.
Darüber konnte ich froh sein, denn er sollte unterwegs auch für mich noch sehr wichtig werden.
Pathologisches Kaufen und eine Impulskontrollstörung waren seine Probleme. Wolfgang ist hochintelligent – vielleicht war er auch in der Kindheit unerkannt hochbegabt – hat Abitur, konnte aber seine Fähigkeiten in seiner bewegten Vergangenheit leider nie gewinnbringend für sich nutzen.
Keine abgeschlossene Berufsausbildung, immer wechselnde Wohnorte, wechselnde Jobs, keinen zuverlässigen (homosexuellen) Partner und ein Leben, das von zahlreichen Haftaufenthalten zerrissen ist. Seine begleitende affektive Störung machte es ihm fast unmöglich Entscheidungen zu treffen. Auch wenn er in der Lage ist, komplexe Zusammenhänge schnell zu erfassen und zu analysieren, kann er nur schwer flexible Entscheidungen auf akute Anforderungen treffen. Er plant sein Leben, seinen Alltag, mit „Zirkel und Millimetermaß“, malt innere Roadmaps, die er dann zwingend versucht - um jeden Preis - zu erfüllen. Jeder Einfluss von außen, der seine innere Karte verwischt, kann ihn auf die Palme bringen. Dann beginnt er den Prozess der Kartierung seines Lebens neu, plant wieder alle Möglichkeiten mit ein, wenn, dann, vielleicht, ja aber... Und wieder eine Störung...
Ich lernte ihn über eine andere Einrichtung kennen, die therapeutische Möglichkeiten für ihn suchte. Die sind in der Regel nicht leicht zu finden. So sprang ich ein – ich bin nebenbei auch.