BonJour Liebes Leben ... - Rose Hardt - E-Book

BonJour Liebes Leben ... E-Book

Rose Hardt

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Beschreibung

Eine traumhafte Villa, eine Witwe in den besten Jahren, eine demenzkranke Schwiegermutter, ein (selbst)verliebter Schwager und eine geldgierige Stieftochter – alles ist ziemlich normal! Doch was geschieht, wenn die Witwe beschließt ein neues Leben zu beginnen? Sie auf dem Friedhof auf ihre erste große Liebe trifft? Und ihre beste Freundin, eine Immobilienmaklerin, ihr anbietet ein Objekt in Südfrankreich zu besichtigen? – Das Chaos ist vorprogrammiert! Während die Witwe mit dem Verliebt-Sein bereits auf Du und Du ist, ihr ein charmanter Franzose (endlich) das liebe Leben erklärt, wird ihre Existenz von der eigenen Familie demontiert.

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Rose Hardt

BonJour Liebes Leben ...

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

BonJour Liebes Leben…

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Impressum neobooks

BonJour Liebes Leben…

***

Ob das Glück wohl vor uns niederkniet,

wenn wir zu blind sind es zu beachten?

Nein, das tut es nicht!

Wir sind für unser Glück selbst verantwortlich!

***

Prolog

Ein Jahr ist nun vergangen da ihr geliebter Ehemann – nein, wir wollen schon bei der Wahrheit bleiben und ihn auch nicht übermäßig mit Worten loben oder ihn gar auf ein Podest stellen das ihm nicht zusteht – also, da ihr angetrauter Mann, dem sie die kostbarste Zeit ihres Lebens schenkte, das Zeitliche segnete und an dieser Stelle überkommt Charlotte ein Verlustschmerz, nicht der Verlust seines Lebens, sondern ihres eigenen.

Fast Dreijahrzehnte war sie die Frau an seiner Seite, die Frau die ihm den Rücken stärkte, so dass er einen Erfolg nach dem anderen an seine Fahnenstange heften konnte – nein, sie war nicht unglücklich, sie war ja die Frau an seiner Seite, die Ehefrau die bei öffentlichen Empfängen ihres Mannes mitbedacht und bei jeder Belobigung im Nachsatz mit erwähnt wurde zwangsläufig musste sie, jedenfalls nach außen hin, glücklich sein. Sie war die treusorgende Seele die sowohl Haus und Hof versorgte als auch seine Koffer packte, sie war die modebewusste Frau die seine Hemden kaufte und darauf achtete, dass die Socken zum Anzug passten – aber wie gesagt – sie möchte sich keinesfalls beklagen! Auch möchte sie sich nicht darüber auslassen, wenn mal die eine oder andere Hotelrechnung irrtümlich an seine Privat-Adresse ging, auf der wiederum versehentlich – wie er immer behauptet hatte – Doppelzimmer abgerechnet wurden, nein, auch darüber gab es keinen Grund zu jammern. Was sie jedoch aus tiefstem Herzen berührte war mitansehen zu müssen, wie die Demenzkrankheit ihrer Schiegermutter, mit der sie in all den Jahren einen freundschaftlichen Umgang pflegte, Geist und Körper zerstörte. Ach ja, und da gab es noch eine Stieftochter aus erster Ehe mit seiner verstorbenen Frau deren Erziehung nach dem Motto: Das Beste ist gerade gut genug bestand und so war es nicht verwunderlich, dass sich daraus ein egoistisches Biest entwickelte – aber dazu später mehr!

Kapitel 1

Charlotte Grafenberg hatte ihren Wagen in einer Seitenstraße des Waldfriedhofs geparkt, genau an der gleichen Stelle wie sie es nun schon seit einem Jahr tat, seit dem Tag als Gustav Grafenberg hier beerdigt wurde. Es war ein lauer Frühlingstag und es dämmerte bereits. In den Händen hielt sie eine Kerze und eine Streichholzschachtel, es war schon fast zum Ritual geworden, dass sie jeden zweiten Tag eine Kerze an sein Grab brachte. Doch heute stellte sich ihr die Frage warum sie das eigentlich tat. Ja, warum? Unvermittelt blieb sie stehen, sie wusste nicht wieso, aber sie war plötzlich des Gehens, der Routine müde geworden. Gleich neben dem Eingangsportal zum Friedhof entdeckte sie eine Holzbank mit einem kleinen Messingschild worauf in schwungvoller Schrift geschrieben stand: “Ich hab gelebt und den Lauf, den das Schicksal gegeben, vollendet“ (Lucius Annaeus Seneca). Nachsinnierend wie sie das Zitat wohl interpretieren sollte, setzte sie sich seitlich auf die Kante der Bank – wobei ihr das Schild mit dem Spruch nicht ganz geheuer war. Im nächsten Moment ging eine ältere Dame – die immer zur gleichen Zeit wie sie hier war – ganz nah an ihr vorüber, in ihren Händen hielt sie ebenfalls eine Kerze. Die Dame grüßte sie und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln wobei in ihrem Gesicht eine eigenartige Mischung aus Demuth, Bitternis und Zufriedenheit lag. Warum lächelt sie dir zu?, ging es ihr durch den Kopf. Nur weil ich hier sitze? Oder weil ich wie sie Witwe bin? Erneut liest sie das Zitat. KLAR!, kam es ihr ernüchternd in den Sinn. Wir führen wir das gleiche Schicksal mit uns, und sie, sie fühlt sich mit dir solidarisch! Nachdenklich sah sie der alten Dame nach und jetzt erst bemerkte sie ihren schleppenden, leicht gebeugten Gang. Mit Sicherheit lastet noch immer ihr ganzes Eheleben, das jahrelange Schuften im Haushalt, Job, Kindererziehung und weiß Gott was noch alles auf ihren Schultern, und nur, weil sie vielleicht ihrem Mann, über den Tod hinaus, noch Dankbarkeit zu Schulden glaubt, stellt sie ihm tagtäglich eine Kerze auf sein Grab. Mit bestürzender Deutlichkeit wird ihr mit einem Male ihr eigenes Leben vor Augen geführt. Ihr Blick schweift erneut über das Zitat, dann zur Kerze in ihren Händen und letztendlich wieder zur alten Dame, die unter der Last ihrer Vergangenheit fast zu zerbrechen drohte. Nein, sträubte sich etwas in ihr, keinesfalls möchte ich mich ihr verbunden fühlen und erst recht nicht die Hälfte meines Lebens hier auf dem Friedhof verbringen wollen „Nein!“, kam es leise und resolut über ihre Lippen, „alles hat schließlich mal ein Ende“, schob sie noch zähneknirschend hinterher. Abrupt stand sie auf, streifte mit beiden Händen über ihre Kleidung und somit ihre Vergangenheit ab. Fest entschlossen ein neues Leben zu beginnen marschierte sie mit energischen Schritten zu Gustavs Grab. Sie zündete die Kerze an, stellte sie in die dafür vorgesehene Grableuchte, atmete tief durch und sagte laut: „So, mein lieber Gustav das ist die letzte Kerze – also genieße sie! Das Ende unserer Ehe begann schon zu Lebzeiten, um es genauer zu sagen, mit deinen vielen Affären und hat sich schon viel zu lange hingezogen, als dass es jetzt noch eine Fortführung geben würde. Ab sofort werde ich meine regelmäßigen Besuche einstellen! … Nur, damit du Bescheid weißt!“ Danach folgte ein befreiender Seufzer der ihr ganzes Eheleben zu beinhalten schien. Endlich, es war Vollbracht! Nach all den Jahren hatte sie das erste Mal die Stimme gegen ihn, den großen und dominanten Gustav Grafenberg, erhoben. Und gerade als sie ihm gedanklich noch einige klärende Worte hinterherschicken wollte, hörte sie ihren Namen.

„Charly …? Ich meine Charlotte? Bist du es? Bist du es wirklich?“

Charlotte sah sich erstaunt um und entdeckte einen Mann der in der zweiten Grabreihe hinter ihr stand und erwartungsvoll zu ihr hinsah. Das erste was sie dachte war, er wird dir doch nicht zugehört haben? Sich ihrer Worte erinnernd zog eine leichte Verlegenheitsröte über ihr Gesicht.

„Doch du bist es!“, sagte der Mann und schien auch noch sichtlich erfreut sie zu sehen.

Während sie ihn, mit zusammengezogenen Augenbrauen, erstmal kritisch beäugte, ihn systematisch nach Wiedererkennungsmalen abtastete, lief ihr Langzeitgedächtnis bereits auf Hochtouren. Verzweifelt versuchte sie ihn unter einer Vielzahl von Gesichtern, von Menschen die ihr einst begegnet waren, herauszufiltern. War das etwa …? Nein! … Oder doch? … NIEMALS!

Aber der Mann schien es besser zu wissen. Er hielt die Hand an seine linke Wange, lachte laut auf und sagte: „Ja, verflucht noch mal du bist es! Ich fass‘ es nicht. Das letzte an das ich mich bei unserem Abschied noch erinnern kann, ist deine schallende Ohrfeige die du mir gegeben hast.“ Während er sich zwischen den Gräbern zu ihr hindurch schlängelte, fügte er augenzwinkernd an: „wow und die war nicht von schlechten Eltern.

Und erst in dem Moment als er vor ihr stand kam ihre Erinnerung etappenweise zurück. „Henning … der Henning Bleibtreu?“ drang es zunächst als rhetorische Frage aus ihr heraus, und mit dem zweiten Blick in seine dunklen, fast schwarzen Augen spürte sie tief in ihrem Herzen einen kleinen, stechenden Schmerz des Wiedererkennens. Sie wusste nicht wieso, aber unbewusst trat sie sofort einen Schritt zurück um einen gebührenden Abstand zwischen ihnen zu schaffen.

„Ja, genau, der Henning“, antwortete er mit einem schelmischen Grinsen.

„Du Schuft du … na, du traust dich was“, gab sie barsch zurück. Zeitgleich sieht sie vor ihrem geistigen Auge, wie sie ihn ohrfeigt. Aber warum? Weshalb hatte sie ihn damals eigentlich geohrfeigt? Und bevor sie weiter in ihrer Erinnerungsschatulle stöbern konnte, hatte er wieder das Wort ergriffen.

„Ja, ja … ich weiß, du sagtest damals, dass ich dir niemals mehr unter die Augen treten soll. Dabei war alles … aber wirklich alles ganz anders …“

Charlotte unterbrach ihn mit einem kurzen Verlegenheitslachen und sagte: „ja, jetzt … jetzt weiß ich’s wieder! Ich erinnere mich aber auch, dass du das öfter sagtest“, nachdenklich sah sie ihn an, „hm … ich glaube mich sogar zu erinnern, dass es dein Standardspruch war!“ Und mit ihrer eigenen Aussage kehrte sukzessive ihr Erinnerungsvermögen, samt dem ohnmächtigen Gefühl des Betrogen-Werdens, auch des Gekränkt-Seins, an die damalige Zeit zurück und ohne, dass sie es wollte, schoss eine bissige Bemerkung aus ihr heraus: „Aber sag, mein lieber Henning Bleibtreu, liebst du noch immer die Vielweiberei oder …

„… ich meine liebe Charly, ich liebe nur noch Greta“, unterbrach er sie augenzwinkernd, dann steckte er Daumen und Zeigefinger zwischen seine Lippen und pfiff.

Charlotte sah sich neugierig um, doch es regte sich nichts.

„Greta komm her“, befahl er nun in einem scharfen Ton.

Endlich kam die besagte Greta hinter einem Grabstein hervorgewackelt. Es war eine in die Jahre gekommene Hundedame, ein grau-brauner, zerzauster Rauhaardackel der alleine schon beim Anblick Mitleid erregte.

„Darf ich vorstellen, das ist Greta, das einzige Wesen …“ abrupt stoppte er, Trauer überzog sein zuvor noch lachendes Gesicht „ja … das mir noch geblieben ist“, fügte er schließlich bedächtig und leise an.

Obwohl Charlotte seinen Stimmungswechsel registriert hatte, so musste sie beim Anblick der Hundedame dennoch schmunzeln. Ja, keine Frage, sie war wirklich eine bedauernswerte Kreatur. Während ihr Blick zwischen den beiden hin und her wechselte, dachte sie, na, die beiden passen irgendwie gut zusammen, sowohl Hennings Frisur als auch seine Haarfarbe – die zwischenzeitlich mehr grau als braun war – ähnelte Gretas Fell, und beide schienen vom Leben nicht gerade verwöhnt worden zu sein, wie sie bei genauerer Betrachtung resümieren konnte: Seine Kleidung war nicht mehr ganz aktuell, der braune Lederblouson wirkte zwar jugendlich aber stark abgetragen, nur das Hemd war blütenweiß und ließ das Braun seiner Haut noch intensiver erscheinen. Ach Gottchen! Verwaschene Jeans trägt er noch immer, stellte sie mit einem süffisanten Lächeln fest. Und je länger sie ihn in Augenschein nahm, desto deutlicher traten Bilder aus der Vergangenheit hervor, und mit ihnen erwuchs ein Rachegefühl – Rache für das was er ihr damals angetan hatte.

„So ist das, lieber Henning“, sagte sie, „wenn Mann sich für eine Frau nicht entscheiden kann“ dann wechselte ihr Blick zur Hundedame, „dann kommt Mann zwangsläufig auf den Hund. Ihr seid wirklich ein entzückendes Paar!“, fügte sie verächtlich an.

Seinem gedanklichen Tief wieder entrissen konterte er mit einem nachsichtigen Schmunzeln: „Ja, ja … ganz die alte Charly … und wie immer sehr charmant! Wenn ich mich recht erinnere, so fand ich deinen Zynismus schon damals sehr prickelnd.“ Dann trat er einen Schritt zurück, musterte sie ebenfalls von Kopf bis zu den Füßen und sagte: „Du, meine liebe Charly, das kann ich dir ja heute sagen, warst die einzige Frau, die mich, mit wenigen Worten, manchmal auch nur mit einem herablassenden Blick, in den Wahnsinn treiben konnte.“

Sie lächelte und kramte währenddessen noch etwas tiefer in ihrer Vergangenheit, und je intensiver sie in dort stöberte, desto aufdringlicher stolzierten längst vergessene Gefühle durch sie hindurch, erinnerten sie an das, was man damals Liebe nannte.

„Gut siehst du aus! Wie eine Dame die es zu etwas gebracht hat“, stellte er bewundernd fest, dabei glitt sein Blick erneut an ihr herunter, diesmal bewusst langsamer, „sehr gut sogar“, schob er mit einem Augenzwinkern hinterher.

Leichte Röte stieg ihr zu Kopf. Sie wusste nicht wieso, aber sie fühlte sich irgendwie nackt unter seiner Beschauung. „Danke für die Blumen“, antwortete sie irritiert, wobei bereits jede Sehne ihres Körpers leicht vibrierte, auch in ihrem Oberstübchen herrschte Chaos, und zu allem Überfluss gesellten sich auch noch poetische Zeilen aus RilkesLiebes-Lied hinzu …

Auf welches Instrument sind wir gespannt?

Und welcher Geiger hat uns in der Hand?

… ja, damals war es ihr Lieblingsgedicht und fast, ja fast wären ihr die Zeilen über die Lippen gesprudelt. Doch im letzten Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie vor Gustavs Grab standen. Großer Gott ich muss hier weg, schoss es ihr durch den Kopf, wobei die neue Situation ihrem eh schon aufgekratzten Inneren Zündstoff gab.

Doch dem nicht genug. Eine ganze Weile stand er regungslos da und sah sie mit großen Augen verzückt an, er sah sie so an, als ob er sein Glück – sie, endlich nach all den Jahren wieder zu sehen – noch immer nicht fassen konnte.

„Was ist?“, fragte sie und kramte verlegen in ihrer Handtasche. „Warum siehst du mich so an?“, hakte sie schließlich nach wobei ihr Herz – ganz im Gegensatz zu ihrem Kopf – bereits leise jubilierte.

Mit einem bezaubernden Lächeln antwortete er: „Sieh an … Komplimente verunsichern dich noch immer … süß!“

Charlotte fühlte sich von ihm, seiner ganzen Art und Weise wie er dastand, was er sagte, völlig überrumpelt und so brach es nur schnippisch aus ihr heraus: „Nun, wie du weißt, mein lieber Henning, bekommt jeder das im Leben was er verdient. Aber was machst du eigentlich hier?, fragte sie das Thema wechselnd, „… wenn ich das überhaupt fragen darf!“

„Du darfst! … Was ich hier mache?“ wiederholte er verwundert. „Ja, weißt du das denn nicht? Mein Vater ist im letzten Jahr verstorben und er liegt genau hinter …“ mitten im Satz stoppte er, um die Grabinschrift auf dem Grabstein, vor dem sie stand, laut zu lesen: „Gustav Grafenberg“, fragend sah er sie an. „Wer war Gustav Grafenberg?“

„Er? … Ach, er war mein treusorgender Ehemann. Wobei treusorgend auf viele Arten interpretiert werden kann“, fügte sie ironisch leise, vielmehr für sich an, wobei sie gerade jetzt an sein ausschweifendes Liebesleben denken musste, und just in diesem Moment, verspürte sie nochmals Rachegelüste – diesmal gegen ihren Ehemann – Rache die sie zu seinen Lebzeiten nur gedanklich ausüben durfte, da diese, bevor sie sich zur vollen Blüte entwickeln konnte, schon im Vorfeld durch die diplomatische Geschicklichkeit ihrer Schwiegermutter heruntergespielt wurde.

Mittlerweile hatte Greta neben Gustavs Grab ihre Notdurft verrichtet. Eine biologische Regung die Greta in diesem Moment Pluspunkte einbrachte.

„Brav Greta“, kam es spontan, gemäß der immer noch sehr lebhaften Erinnerung an Gustavs Affären und überhaupt an all das was er ihr angetan hatte, über ihre Lippen, „ganz offensichtlich ist sie ein sehr sensibles Wesen, das Gedanken lesen kann“, schob sie ironisch hinterher.

Henning verstand, grinste übers ganze Gesicht und sagte: „Jaaa … das ist meine Charly … so wie ich sie damals liebte.“

Diese Aussagebrachte sie nun endgültig auf die Palme. Völlig perplex sah sie ihn an. Was erlaubt er sich! Mit vorgespieltem Erstaunen fragte sie: „Oh, wir liebten uns? Nein, das kann nicht sein … das lieber Henning … das wüsste ich!“

Doch sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Mit seiner Aussage war alles wieder präsent! Es war als hätte er das Liebesband, das beide einst verbunden hatte, wieder zusammengeführt.

Ein warmes kribbelndes Gefühl kroch langsam und beharrlich in ihr hoch.

Ich muss hier weg, weg von dem Liebesgesäusel, seinen Anspielungen, weg von längst vergangenen Gefühlen, weg von … dann fiel ihr Blick auf Gustavs Grab, auch weg von ihm, weg von all den verletzenden Erinnerungen. Mit einer schnellen Handbewegung bekreuzigte sie seine letzte Ruhestätte, warf den Kopf in den Nacken und eilte Richtung Ausgang davon.

Ganz offensichtlich hatte sie nun endgültig Hennings Interesse geweckt, denn er folgte ihr auf dem Fuße und war dabei bemüht die Konversation weiter aufrechtzuerhalten. „Und du Charly“, rief er der Flüchtenden hinterher „du bist also Witwe?“ wobei er nochmals, nur um seine Frage bestätigt zu wissen, zurück zum Grab blickte.

Plötzlich machte sie auf dem Absatz kehrt, sah ihn eindringlich an und sagte: „Bilde dir bloß nicht ein, dass wir unsere alte Liebe wieder auffrischen könnten. Nie und nimmer!“ Anschließend machte sie eine abweisende Geste um das äußerst sensible Thema, das unaufgefordert ihr Denken und Handeln zu manipulieren versuchte, zu beenden.

Erstaunt, mit einem spitzbübischen Lächeln antwortete er: „So so wir liebten uns also doch!“

Sprachlos, ihrer eigenen Worte erneut überführt, wandte sie sich abrupt um und eilte den Friedhofsweg hinunter, wobei sie das Gefühl hatte, dass sein Lächeln ihr aufdringlich hinterherlief.

Von ihrer Empörung nicht im Geringsten beeindruckt, ging er weiter hinter ihr her wobei er genüsslich grinste.

Mittlerweile war Charlotte an ihrem Wagen angelangt. Während sie mit zitternder Hand, nervös in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund suchte, konnte sie aus den Augenwinkeln beobachten, wie Henning langsam um ihren Wagen schlich.

Als er schließlich den Wagen in aller Ausführlichkeit begutachtet hatte kommentierte er: „Ahhh … Madam fährt einen Porsche! Respekt, Respekt!“ Nicht-glauben-Wollend umrundete er nochmals das Luxusgefährt, nickte mehrmals bewundernd, schenkte ihr dann einen verführerischen Augenaufschlag und sagte: „Na, meine kleine Charly ist ja eine richtig gute Partie!“

„Ach Henning“, antwortete sie, dabei versuchte sie so gelassen wie nur irgend möglich zu bleiben, „du bist ein unverbesserlicher Macho. Mach dir bloß keine falschen Hoffnungen, so schlecht kann es mir gar nicht gehen, dass ich dir wieder eine Chance geben würde … und im Übrigen, auch wenn wir uns damals liebten, so war ich nie dein! Niemals“, zischte sie ihm entgegen.

Woraufhin er erstaunt die Augenbrauen hochzog und lächelte.

Es war dieses besondere Lächeln dem man sich, wenn man es einmal erfasst hatte, nicht mehr entziehen konnte.

Ihre Gefühle ein weiteres Mal bestätigt krocheine leichte Verlegenheitsröte sympathisch über ihr Gesicht.

Was ihn sichtlich zu amüsieren schien. Breitgrinsend sagte er schließlich: „Warte, ich hab‘ etwas für dich“, er griff in seiner Jackeninnentasche, zog eine Visitenkarte hervor und überreichte sie ihr mit den Worten: „Hier, nur für alle Fälle.“

Etwas widerwillig, mit spitzen Fingern, nahm sie das Kärtchen entgegen, sah es aber nicht an, sondern hielt es wie ein Fremdkörper fest.

„Hey, ich verrate dir etwas, du darfst es gerne lesen, es ist nichts Unanständiges“, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand. Im nächsten Moment sah er zur Hundedame und sagte: „Greta komm‘ wir gehen“, sein Blick glitt erneut an ihr herunter, „wir sind der Lady zu gewöhnlich“, sagte er mit einem anzüglichen Unterton in der Stimme. Anschließend schlenderten beide, in gemäßigten Schritten, davon – wobei Henning bemüht war sein Tempo der alten Hundedame anzupassen.

Charlotte las die Visitenkarte auf der in großen Lettern stand: HENNING BLEIBTREU der MANN FÜR ALLE FÄLLE! Darunter waren Anschrift und Telefonnummer aufgeführt. „Tzzz“ … allein sein Nachname Bleibtreu sprach schon Bände und Mann für alle Fälle … naja, dann erinnerte sie sich an den Henning von damals. Na, ganz offensichtlich hatte er seine Vorlieben für die Damenwelt später zum Beruf gemacht, doch dann las sie das Kleingedruckte Geschickte Hände erledigen Ihre Gartenarbeiten. „Tzzz … Henning und Gartenarbeit!“, grummelte sie vor sich hin, „das ich nicht lache.“ Mit Sicherheit ist das nur eine Tarnung und in Wahrheit verdient er sein Geld als Lover-Boy? Wie waren noch seine Worte ich wäre eine richtig gute Partie! Beim Einsteigen in den Porsche kam ihr so ein Gedankenblitz: Vielleicht ist er ja ein Heiratsschwindler! Erst neulich hatte sie in der Tageszeitung einen Bericht darüber gelesen, dass der Friedhof der ideale Platz sei um einsame und betuchte Witwen kennenzulernen. Sie neigte den Kopf zur Seite, sah ihm nach und dachte, naja jedenfalls versprüht er noch immer diesen gewissen Charme dem noch nie eine Frau widerstehen konnte. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf, startete den Motor und ließ den Wagen langsam an ihm vorüberrollen. Sogleich fühlte er sich animiert und winkte ihr mit einem bezaubernden Lächeln hinterher. Und plötzlich, sie wusste nicht wie ihr geschah, zogen Bilder, die bisher nur ungelenk in ihrem Kopf umhertanzten, ganz deutlich an ihr vorüber. Im Besonderen jedoch sieht sie, wie er ihr nach jedem Liebesakt, einen Kuss gibt und sich bei ihr bedankt. Mit einem genüsslichen Schmunzeln dachte sie, ob er noch immer diese perfekte männliche Ausstattung besaß? Ups, jetzt gehst du zu weit, ermahnte sie ihr Verstand, der ihr auch sogleich den damaligen Trennungsgrund – diese super Blondine, die Brigitte Bardot für Leichtmatrosen – vor Augen führte. Wie war noch gleich ihr richtiger Name. Nein! fluchte sie nach innen und stoppte sogleich den vorbeiziehenden Bilderstrom. Darüber solltest du dir jetzt wirklich nicht den Kopf zerbrechen. Außerdem ist das alles lange vorbei. Kopfschüttelnd schob sie die Nachwirkungen dieses kurzen Gedankentrips beiseite.

– Nun ja, jedenfalls hatte sie es versucht, doch so einfach war das nicht –.

Und während der ganzen Heimfahrt bemerkte sie wie Henning sich unaufgefordert ein kleines Plätzchen in ihrem Kopf zu erobern versuchte und immer dann, wenn sie ihn zu verdrängen versuchte, kamen neue Details zum Vorschein. Nein, sie wollte nicht mehr an ihn denken! Keinesfalls wollte sie an den Herzschmerz, den er ihr damals zugefügt hatte, erinnert werden. Voller Wut drückte sie das Gaspedal einmal voll durch, sodass der Porschemotor vor Wonne aufheulte, sie in den Sportsitz drückte und ihr ein berauschendes Gefühl von Macht, ja Freiheit vermittelte. Leider war diese Befreiungsaktion nur eine Momentsache, denn ein kurzer Lichtblitz erinnerte sie an die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Landstraße, zeitgleich sah sie zum Tacho der gerade noch Einhundertfünfzig anzeigte „Mist“, fluchte sie und drosselte sofort das Tempo, das gibt sicherlich Fahrverbot. Gustav würde ihr jetzt eine Szene machen, aber die Gewissheit, dass er es nicht mehr tun konnte, ließ sie, trotz allem, zufrieden schmunzeln. Auch wenn sie die Geschwindigkeit dem Limit der Straßenverkehrsordnung wieder angepasst hatte, so hatten ihre Erinnerungen an Henning – ihrer ersten große Liebe – an Fahrt wieder zugelegt. „Tzzz … Henning … Henning … Henning“, zischte sie verärgert.

Und während der restlichen Autofahrt wurde ihr ganz allmählich bewusst, dass er nicht nur in ihrem Kopf wieder aktiv war, sondern heftig an ihre Herzenspforte klopfte.

Kurze Zeit später parkte sie den Porsche – der zu Gustavs Lebzeiten, neben seinen Affären, zu seinem Lieblingsspielzeug gehörte – in der Garage. Nachdem die Wagentür mit einem sonoren Klack ins Schloss gefallen war, blieb sie einen Moment neben dem sportlichen Gefährt stehen. In Gedanken sieht sie Henning um den Porsche gehen, sie sieht, wie seine bewundernden Blicke langsam über den Wagen gleiten und zu guter Letzt bei ihr, mit einem Augenzwinkern, enden. „Tzzz … gute Partie“, zischte sie erneut, dann trat sie einen Schritt zurück und dachte, eigentlich ist der Porsche viel zu groß, zu protzig und in Anbetracht der Tatsache, dass sie gerade eben geblitzt wurde, auch viel zu schnell für sie, außerdem hatte sie immer das Gefühl, dass der Wagen mit ihr fuhr und nicht sie mit ihm. Sie sollte ihn verkaufen. Ja! Entschlossen wandte sie sich von dem Hochgeschwindigkeits-Geschoss ab und ging mit festen Schritten ins Haus.

„H a l l o … ich bin wieder d a a a!“ rief sie in die Eingangshalle, was, wie sie jetzt empfand, eine völlig überflüssige Handlung war. In all den Jahren in denen sie hier lebte war es ihr zur lieben Gewohnheit geworden ihr Kommen anzukündigen und immer kam von ihrer Schwiegermama Frida ein freudiges Hallo zurück, doch seit ihrer Demenzerkrankung schien die Begrüßung in der Halle auf eine verlorene, ja einsame Welt zu treffen. Für einen Moment hielt sie inne, bewusst ließ sie nun die Umgebung auf sich wirken. Doch mit einem Male schien ihr alles fremd, das sonst so Vertraute war meilenwert von ihr entfernt. Irgendetwas war mit ihr geschehen. Aber was? War es der endgültige Abschied von Gustav? Hatte der Gedanke an ein neues Leben nun auch ihrem Umfeld ein neues Gesicht verpasst? Oder war es die Begegnung mit Henning? – Nein, auf gar keinen Fall. Eine Frage die sie sofort wieder verdrängte. Erneut ließ sie ihren Blick durch die prunkvolle Eingangshalle schweifen. Meine Güte wie groß der Eingangsbereich war, alles, das ganze Drumherum war seit Gustavs Tod eigentlich viel zu groß für sie und die achtzigjährige kranke Frida. Mein Gott, die arme Frida! Was wird nur aus ihr? Wenn sie Gustavs letzten Willen nachgekommen wäre, so wäre sie schon längst in einem Pflegeheim – nein, korrigierte sie sich, es war eine Seniorenresidenz mit integriertem Pflegeheim – darauf hatte ihr Sohn besonders großen Wert gelegt. Für seine Mutter nur das Beste! Aber wie auch immer, sie brachte es einfach nicht übers Herz sie dort hin zu bringen, sie abzuschieben wie einen Gegenstand der unbequem wurde, sie hatte ihr schließlich viel zu verdanken.

Mitten in ihre Gedankengänge drang unvermittelt Fridas Stimme.

„Ich hab‘ dich gesehen!“, rief sie in einem singenden Ton. Im nächsten Moment stand Frida neben Charlotte, tippte ihr mit dem Zeigefinger mehrmals auf den Oberarm und sagte: „Ich hab’s genau gesehen!“, danach sah sie sich verstohlen um legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und flüsterte: „pssst … ich kann schweigen wie ein Grab“, dann trippelte sie zur Terrasse.

Obwohl Charlotte genau wusste, dass Frida seit Wochen schon nicht mehr unbeaufsichtigt aus dem Haus gehen konnte, ja, sie nur noch in ihrer eigenen Welt unterwegs war, machte ihr diese Aussage ein schlechtes Gewissen. Im nächsten Moment zog vor ihrem geistigen Auge das Bild von Henning und ihr vorüber – sie beide, vor Gustavs Grab. Stopp!Warum macht dir das ein schlechtes Gewissen? Die Antwort hatte sie gleich parat: Weil die Begegnung mit Henning sie wieder an die Liebe, an das Leben erinnerte.

Dann plötzlich ein gellender Aufschrei von Frida!

Ihren tiefgründigen Gedanken abrupt entrissen, lief Charlotte sogleich dem Schrei hinterher.

„Sieh doch! … So sieh doch!“, empörte sich Frida „sieh nur!“ Aufgebracht zerrte sie an Charlottes Arm, „so sieh doch was dieser Kerl getan hat!“ Ihre Stimme und ihre Lippen bebten vor Aufregung und schon im nächsten Augenblick packte sie Charlotte bei der Hand und zog sie über die Terrasse zum Garten.

„Sieh nur … sieh!“ Frida ließ ihre Hand los, trippelte in kleinen Schritten – wie sie es in letzter Zeit öfters tat – zum Buchsbaum, blieb erstaunt stehen und sagte enttäuscht: „Sieh nur was der Kerl im grünen Anzug getan hat!“ Im selben Moment schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte. Nein, es war kein Weinen, sondern vielmehr ein wimmern.

Charlotte ging zu ihr hin, legte tröstend den Arm um ihre Schulter und fragte: „Aber was, was um alles in der Welt hat WER denn getan?“ sie verstand ihre Empörung nicht.

Entsetzt sah Frida sie an, dann verwies sie mit ausgestrecktem Arm auf den Buchsbaum, „er, der Mann hat ihm den Kopf abgeschnitten! Sieh doch!“ In kleinen Schritten umrundete sie das Bäumchen, blieb stehen und sagte enttäuscht: „Sieh nur … auch diese Dings, diese Dinger …“ das fehlende Wort ergänzte sie indem sie ihre Arme anwinkelte und wie ein Vogel flatterte „…auch sie sind weg! Er war doch immer ein Piepmatz.“ Unvermittelt erhob sie ihre Stimme und rief flehend: „Er, dieser Kerl im grünen Anzug – mit dem Kerl meinte sie den Gärtner der wöchentlich kam – darf nicht mehr kommen, hörst du?“, Tränen kullerten unaufhaltsam über ihre Wangen.

Jetzt erst verstand Charlotte was sie ihr mitteilen wollte, ihr wäre es womöglich noch nicht einmal aufgefallen, da sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Behutsam nahm sie Frida in ihre Arme, wiegte sie und sagte: „Wir machen einen neuen Vogel aus ihm, das verspreche ich dir.“

Nach einer Weile löste sie sich aus ihren Armen, sah sie befremdlich an, blickte zum Himmel und sagte ganz sachlich: „Es wird dunkel … Gute Nacht“, dann ging sie in normalen Schritten, ganz ohne zu trippeln, ins Haus zurück.

Mein Gott, ihre Demenz wird von Tag zu Tag schlimmer und es war beängstigend wie heimtückisch diese Krankheit ihren Geist zerstörte. Charlotte hörte noch wie Lilo, die gute Seele des Hauses, Frida in Empfang nahm und mit ihr in ihr Schlafgemach ging. Gustav hatte Lilo, kurz nachdem er von ihrer Krankheit erfahren hatte, für ihre Betreuung eingestellt – worüber sie ihm mehr als dankbar war. Ja, im Planen und Organisieren war er unschlagbar. Kurz dachte sie darüber nach, ob seinem Augenmerk je etwas entgangen war – nein, nichts, stellte sie fest! Sein ganzes Leben war bis ins kleinste Detail durchstrukturiert, auch die Menschen um ihn herum hatten alle ihre festen Plätze und hatten sich an seine Regeln zu halten. Diejenigen die sich daran hielten wurden dafür auf großzügige Weise belohnt, doch, wenn jemand seine Regeln zu boykottieren versuchte, konnte er mitunter sehr unangenehm werden. Sie hatte das sehr schnell begriffen, denn als Gegenleistung war es ihr vergönnt ein Leben in Luxus führen. Ein Leben in Luxus! Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Großer Gott, nie hattest du ein eigenes Leben, du hattest es vor Jahren, aus Bequemlichkeit gegen den Luxus – gegen all das hier eingetauscht. Und während ihr Blick über die Rückseite der alten Villa Grafenberg schweifte resümierte sie ihr Leben. Mein Güte, es gibt Momente, da besitzt das Vergangene eine so ungeheure Kraft, dass man glaubt, das Gegenwärtige hätte keine Berechtigung und das Zukünftige keine Chance mehr.

Gerade sah sie noch wie in Fridas Zimmer das große Licht gelöscht wurde, lediglich warf die kleine Nachttischleuchte ein dämmriges Licht in den Raum. Gleich wird sie – so wie jeden Abend vor dem Einschlafen – den alten Plattenspieler betätigen und Musik hören. Kaum zu Ende gedacht perlten auch schon leise Klänge durch das halboffene Fenster. Vor ihrer Krankheit passte sie die Melodien ihrer mentalen Stimmungslage an, doch in letzter Zeit hörte sie, für sie aus unerklärlichen Gründen, immer wieder Chopins Regentropfen-Prélude. Vieles hatte sie zwar vergessen, nur die Musik nicht, sie gehörte zu ihrem Leben, wie die Sonne zum Tag. Ach, die gute Frida, seufzte sie nach innen. In all den Jahren war sie mir nicht nur eine mütterliche Freundin gewesen, sondern auch eine verlässliche Schwiegermutter, die, wenn sie mal wieder von Gustavs unsäglichen Affären erfahren hatte, es durchaus verstand ihm ordentlich den Kopf zu waschen, und danach auch keine Mühe scheute den Postillion d’amour zu spielen.Warum sie diesen liederlichen Draufgänger nicht verlassen hatte, war ganz einfach zu erklären: Sie wiegte sich in sicherer Existenz, alle Sorgen wurden von ihr ferngehalten. Ja und daran gab es jetzt nichts mehr zu beschönigen. Sie hatte ihr Leben vertan. Basta! Eine Erkenntnis die sie traurig und hilflos zugleich stimmte.

Die Musik verstummte, das Dämmerlicht wurde abgedreht. Sie sah zu ihrem Fenster und flüsterte: „Gute Nacht Frida.“ Vielleicht sollte sie Gustavs letzten Willen doch befolgen und sie in die von ihm ausgesuchte Seniorenresidenz bringen! Aber könnte sie das wirklich? Könnte sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren? Jedenfalls erschauderte sie der Gedanke.

„H a l l o … Frau Grafenberg … h a l l o“, unterbrach Lilo mit lautem Zurufen ihre Selbstzweifel, „ich gehe dann mal. Ihre Frau Schwiegermama ist versorgt, ihre Pillen hat sie genommen, wenn auch nur widerwillig. Ich denke sie wird gleich schlafen. Also bis Morgen!“ Auf der Türschwelle blieb sie nochmals stehen, machte auf dem Absatz kehrt, fasste sich an den Kopf und sagte: „Entschuldigung, aber ich habe ganz vergessen Ihnen zu sagen, dass Ihr Schwager, Herr Grafenberg, hier war, er wollte … was wollte er noch gleich?“, nachdenklich zog Lilo die Augenbrauen zusammen, „ah ja, dass er noch etwas mit Ihnen klären müsse … Papierkram wohl! Jedenfalls soll ich Ihnen ausrichten, dass er morgen früh vorbeikommen wird. Gute Nacht, Frau Grafenberg.“

„Danke Lilo … und Gute Nacht!“ Mit einem tiefen Atemzug sah Charlotte zum Himmel. Im Westen zeugte noch ein letzter roter Streifen vom Sonnenuntergang, wogegen im Osten bereits der Mond auf seinem Weg um die Erde war. Alles um sie herum war still. Es schien als würde die Welt vor Anbruch der Nacht sich noch eine letzte Atempause gönnen. Eigentlich hätte sie jetzt weinen wollen, die Situation, ihre Stimmung, alles war wie geschaffen sich vor Selbstmitleid zu ergießen. Aus einem kleinen Seufzer heraus dachte sie, aber was … ja, was würde es nützen. Außerdem war es nie ihre Art gewesen, also warum jetzt damit anfangen.

Während sie zurück zum Haus schlenderte sinnierte sie weiter über ihr Leben und ganz ohne ihr Wollen landete sie wieder bei Henning. „Henning“ kam es flüsternd über ihre Lippen. Damals wie heute hatte er es fertiggebracht, sie sowohl mit Worten, als auch mit Gesten zu provozieren und sie konterte in gleichen Maßen. In Erinnerungen schwelgend umspielte ein erstes Lächeln ihren Mund, doch je tiefer sie in ihrem Gedächtnis unterwegs war, desto schmerzhafter war das, was ihr dort begegnete. An der Terrassentür angelangt stoppte sie ihre zermürbenden Gedankengänge, zähneknirschend fluchte sie: „vergiss endlich diesen Weiberheld!“ Fast drei Jahrzehnte war ich mit so einem Exemplar verheiratet, das braucht keine Frau ein zweites Mal. „Wer ist denn schon Henning!“, grummelte sie verärgert vor sich hin. Angetrieben von einer nie überwundenen Eifersucht schlug sie die Terrassentür zu, gleich so, als könne sie ihre Gedanken, ihre Gefühle an ihn draußen lassen.

Doch kaum, dass sie im Bett lag, ihre Augen geschlossen waren, war er in seiner ganzen Pracht – so wie sie ihn damals kennen und lieben lernte – wieder präsent. Sie sieht sein Gesicht vorüberziehen, sieht den Glanz in seinen dunklen Augen, hört seine Worte und wird von seiner Stimme wohlig berührt, und nein, sie konnte einen längeren Ausflug in jene Zeit nicht unterdrücken. Spontan fiel ihr wieder Rilkes Liebes-Lied ein, leise zitierte sie die erste Zeile –fast wie ein kleiner Hilferuf ihres Herzens – ins Kopfkissen:

Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?

Am nächsten Morgen saß sie am Frühstückstisch und noch immer schwebten die Träume der Nacht, eingehüllt in den bittersüßen Duft der Erinnerung, über ihr. „Es ist schrecklich, fast ein wenig ungerecht wie schnell die Zeit vergeht“, sagte sie zu Frida, die ihr gegenübersaß und routinemäßig in der Tageszeitung blätterte. Kurz lugte sie hinter der Zeitung hervor, setzte zum Sprechen an, doch dann schienen ihr die Worte zu fehlen und es blieb nur bei einem verlegenen Lächeln. Beschämt vertiefte sie sich wieder in die Tagesthemen – augenscheinlich jedenfalls, denn Charlotte bemerkte, dass sie keine Brille trug. Doch bevor sie sich weiter mit Fridas Gesundheitszustand befassen konnte läutete es an der Wohnungstür.

Lilo öffnete die Tür und sagte mit übertriebener Höflichkeit: „Guten Morgen Herr Grafenberg. Welch‘ angenehmer Besuch und sooo früh!“

„Guten Morgen, Lilo. Lilo wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass sie nicht darüber zu urteilen haben, wann ich komme oder gehe – das steht Ihnen nicht zu!“

„Jawohl, Herr Grafenberg“, hörte sie Lilo sagen, die sich im Grund einen Deut darum scherte, was Ludger Grafenberg zu ihr sagte oder er anordnete.

„Einen wunderschönen guten Morgen meine Damen! Ach, ist das nicht ein herrlicher Morgen“, schwärmte er euphorisch, klatschte dabei in die Hände und rieb sie genüsslich.

„Guten Morgen“, sagte Frida, und ohne ihren Blick von der Zeitung abzuwenden streckte sie ihm ihre Hand zur Begrüßung entgegen.

Wahrscheinlich war ihr wieder entfallen, dass er ihr Sohn ist.

Ludger nahm ihre Hand, umschloss sie fürsorglich und sagte: „Guten Morgen Mutter. Hattest du eine ruhige Nacht?“

Frida verzog keine Miene, stattdessen entzog sie ihm abrupt ihre Hand.

Er erwartete auch keine Antwort von ihr, sondern wandte sich sogleich Charlotte zu. Er küsste sie links und rechts auf die Wange, schenkte ihre einen langen und schmachtenden Blick und sagte schließlich: „Ganz bezaubernd siehst du heute wieder aus … ja, ganz bezaubernd.“

„Danke Ludger“, dabei fand sie seinen aufgesetzten Schmus heute besonders unangenehm, und gerade seit Gustavs Tod, waren seine Bemühungen um sie nicht mehr zu überhören. „Was führt dich so früh am Morgen her?“, fragte sie sachlich, um ihm keinen Nährboden für weitere Avancen zu bieten.

Was er natürlich bemerkte. Leicht pikiert über ihre Reserviertheit antwortete er kühl: „Wir müssen reden! Außerdem benötige ich noch dringend einige Unterlagen für die Steuererklärung …“

„… ja, ja! Nun setz dich erst einmal“ unterbrach sie ihn „trink‘ in aller Ruhe einen Kaffee mit uns, danach können wir immer noch über das Geschäftliche reden.“

„Meine liebe Charlotte“, sagte er wichtigtuerisch überspitzt, „die Angelegenheit ist äußerst dringlich. Die Verlängerungsfrist läuft nächste Woche ab“, echauffierte er sich künstlich „und das Finanzamt, meine Liebe, versteht keinen Spaß …“

„… gleich nach dem Frühstück gehen wir in Gustavs Büro“, unterbrach sie ihn erneut, „da kannst du dir die entsprechenden Unterlagen raussuchen.“

Lilo war zwischenzeitlich mit einem Kaffeegedeck gekommen. „Für Sie, Herr Grafenberg“, sagte sie und stellte das Gedeck so unsanft auf den Tisch, dass es kurz aufschepperte – woraufhin sie auch gleich einen strafenden Blick von ihm erntete. „Kaffee steht da“, fügte sie knapp an, dabei verwies sie mit der Hand auf die Kaffeekanne, warf den Kopf zur Seite und machte sich geschwind wieder in die Küche.

Charlotte konnte gerade noch einen Lacher unterdrücken, griff sogleich nach ihrem großen Milchkaffee und schlürfte, wohlwissend ihre Häme gut dahinter versteckt, genüsslich an dem Heißgetränk.

Kopfschüttelnd kommentiere Ludger ihr Verhalten: „Also ich finde diese Lilo ist eine unverschämte Person. Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, so solltest du dich von ihr trennen. Wenn es dir Recht ist, ich meine … ich will mich ja nicht aufdrängen“, sagte er sich einschmeichelnd, „so kann ich gerne für einen adäquaten Ersatz sorgen.“

„So, findest du!“ Wieder so ein gutgemeinter Ratschlag, dachte sie leicht genervt und setzte die Tasse, gemäß ihrem Empfinden, abrupt auf.

„Ja, meine Liebe, du bist jetzt …“ er lachte kurz auf, „wie soll ich’s formulieren …“, fürsorglich tätschelte er ihre Hand, „so ganz ohne männlichen Schutz, und solche Individuen, wie diese, diese Lilo“, sagte er abwertend, „sind bekannt dafür, dass sie ihre Grenzen überschreiten. Gerade aus meinem Berufsalltag könnte ich dir so einige Geschichten erzählen und die, die nahmen kein gutes Ende.“

„Lieber Ludger, was würde ich nur tun, wenn ich dich nicht hätte“, spöttelte Charlotte wobei sie ihm ihre Hand entzog.

„…dann würde es uns richtig gutgehen“, ergänzte Frida laut. Sie reckte ihren Kopf hinter der Zeitung empor, sah sich suchend um und rief: „Lilo, wo ist mein Sohn?“

Lilo kam herbeigeilt, „Frau Frida, was ist denn los?“

„Haben Sie meinen Sohn gesehen? Wo ist er?“

„Ihr Sohn? Aber da ist doch ihr Sohn!“

Alle sahen zu Ludger.

Doch Frida schüttelte energisch den Kopf, „nein das ist nicht mein Sohn … das ist nur der Besuch und der, der möchte gehen!“ Mit Nachdruck legte sie die Tageszeitung auf den Tisch, schenkte Ludger noch einen strafenden Blick und trippelte anschießend davon.

„Aber Mutter … ich bin doch auch dein Sohn!“, echauffierte er sich. „Ich bin doch Ludger! Ja kennst du mich denn nicht mehr?“ Sichtlich enttäuscht, dass seine eigene Mutter ihn nicht mehr erkennen konnte wurde er blass um die Nase.

Mittlerweile war Lilo auf Frida zu gekommen um sie zu beruhigen: „Alles ist gut Frau Frida wir werden gleich einen Spaziergang zum Friedhof machen, und bei der Gelegenheit besuchen wir Ihren Sohn“, ergänzte sie hämisch grinsend. Während sie sich bei der alten Dame unterhakte sagte sie schnippisch: „und der Besuch geht wann er will! Nicht wahr Herr Grafenberg“, anschließend warf sie triumphierend den Kopf in den Nacken.

„Eine äußerst impertinente Person“, knurrte Ludger in den Bart, „aber so was von …“ wobei die Blässe in seinem Gesicht entschwunden war, stattdessen glühten nun seine Ohren vor schäumender Wut.

Und obwohl auch er ihr Sohn war, so schien Frida ihn, aus welchen Gründen auch immer, aus ihrem Langzeitgedächtnis verbannt zu haben. Vielleicht war es damit zu begründen, dass Gustav der Erstgeborne war und sie ihr ganzes Leben, bis auf einige kurze Ausnahmen, unter einem Dach wohnten – aber wer weiß das schon! Vielleicht erinnerte er sie auch nur an ihren verstorbenen Mann, beide trugen nicht nur die gleichen Vornamen, sondern ihr Äußeres war von frappierender Ähnlichkeit.

Wie auch immer, jedenfalls bei Ludgers Anblick, hatte Charlotte sichtlich Mühe nicht laut aufzulachen.

„Wenn Gustav noch am Leben wäre, so hätte er diese Lilo längst rausgeschmissen“, fügte er zähneknirschend an.

„Ach … Gustav … Gustav! Gustav ist nicht mehr unter uns“, unterbrach sie ihn empört, „und nur, dass du es weißt, ER gehört ab sofort der Vergangenheit an – Punkt!“

Für diesen Ausspruch erntete sie einen strafenden Blick. „Also ich muss mich doch sehr wundern, Charlotte“, dein Mann ist gerade mal ein Jahr unter der Erde und du …“

„… ja! Er ist seit einem Jahr mausetot und ich, ich lebe!“ Um jetzt keine Diskussion vom Zaun zu brechen, sagte sie: „Ich denke, mein lieber Ludger, wir sollten ins Büro gehen, da kannst du dir die verdammten Unterlagen raussuchen“, fügte sie genervt an. Ohne eine Antwort abzuwarten stand sie auf und ging schnurstracks zu Gustavs Büro.

Er folgte ihr wie ein gehorsamer Dackel, „duuu Charlotte, wie du weißt, handle ich nur in guter Absicht …“

Unvermittelt blieb Charlotte stehen, „ja ja … ist schon gut. Ich weiß, dass du deinem Bruder versprochen hast auf mich aufzupassen, das hast du bereits des Öfteren erwähnt …“ mitten im Satz stoppte sie, denn ihr war durchaus bewusst, dass sie ohne Ludgers Hilfe – zumindest was die finanzielle Seite anging, ganz zu schweigen von der komplizierten Rentenabwicklung – aufgeschmissen gewesen wäre, dann fuhr sie fort: „mein lieber Ludger, ich bin dir wirklich sehr, sehr dankbar, dankbar für alles was du nach seinem Tod für mich getan hast, das darfst du mir gerne glauben, aber …“ dann hielt sie kurz inne um ihre Worte sorgfältig auszuwählen, denn sie wollte ihm keinesfalls vor den Kopf stoßen oder ihn gar vergällen, „sieh mal, im Trauerjahr war ich nie wirklich alleine. Immer war jemand da … mal ganz abgesehen von Frida. Doch jetzt brauche ich etwas mehr Zeit für mich. Verstehst du? Ich muss meinem Leben wieder einen Sinn geben. Ich muss es neu ordnen!“

Auch wenn er sie mit seinem berühmt-berüchtigten Dackelblick, ganz so als ob er kein Wässerchen trüben könnte, ansah, so lauerte im Hintergrund ein listiger Fuchs, der nur darauf wartete im richtigen Moment zuzuschnappen. Für einen Moment überlegte er, was sie gerade gesagte hatte dann antwortete er: „Meine liebe Charlotte, das verstehe ich durchaus, aber …“

„… ohne Wenn und Aber“, stoppte sie ihn, und mit dieser resoluten Antwort öffnete sie die Tür zum Büro. Muffige abgestandene Luft schlug ihnen entgegen. Seit Gustavs Ableben war sie nur noch selten hier im Raum, wenn, dann höchstens um einige Papiere rauszuholen oder um vielleicht mal die Rollläden hochzuziehen. Es wird Zeit einige Dinge zu entsorgen, dachte sie, mit diesem Gedanken riss sie das Fenster sperrangelweit auf. Während sie die eindringende Luft einatmete sagte sie: „Du weißt in welchem Ordner die Unterlagen sind?“ Was für eine überflüssige Frage! Die zwei Brüder hielten wie Pech und Schwefel zusammen. Sie wussten alles voneinander – oder? Wusste er auch über seine Affären Bescheid? Ein Gedankengang, der ihr sogleich über die Lippen sprudelte: „Sag‘ Ludger, hattest du immer von den Affären deines Bruders gewusst?“

Worte, die ihn wie Wurfgeschosse am Kopf trafen, fast wäre ihm beim Aufprall die Kinnlade runtergefallen, doch im letzten Moment blies er die Backen auf und beim Ausatmen sagte er: „Weißt du Charlotte, das war …“

„… ganz anders als ich denke! Ich weiß“, beendete sie seine Ausrede barsch, „gib dir keine Mühe, Einzelheiten interessieren mich eh nicht. Ich möchte nur eine ehrliche Antwort von dir.“ Mit großen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an.

Verlegen schlug er die Augenlider nieder, blies nochmals die Backen auf, und während er die Luft ausblies nuschelte er, „jaaa … aber ich habe ihm immer gesagt, dass ich das nicht für gut finde …“

„So hast du das?“

„Jaaa! Wie oft habe ich zu ihm gesagt, dass ich dich für eine wunderbare Frau halte und du das nicht verdienst“, achselzuckend fügte er noch an, „was sollte ich denn tun, er war mein älterer Bruder und gegen Ratschläge – wie du selbst weißt – immun!“

Wieso konnte sie ihm das nicht glauben? Jedenfalls hatte ihre Frage ihn sichtlich in Verlegenheit gebracht, er vergrub die Hände tief in seinen Hosentaschen und unter seinem Jackett konnte man die Windungen seines Oberkörpers sehen, gerade so, als wäre ihm seine eigene Haut zu eng geworden. Nein sie gab ihm keine Antwort mehr, stattdessen ließ sie ihn, samt seinem schlechten Gewissen, alleine. Für Charlotte war die Untreue ihres verstorbenen Mannes längst kein Thema mehr. Die letzten Jahre ihres Ehe-Lebens hatte sie in dem Bewusstsein verbracht die Betrogene zu sein. Sie hatten sich, wie es so schön heißt: über die Jahre zusammengerauft, die dunklen Beziehungszeiten gemeistert und sich irgendwann arrangiert! Ja, und daran gab es nichts mehr zu rütteln.

Okay, dachte sie, dein schlechtes Gewissen, lieber Ludger, darfst du gerne bei mir abarbeiten. Auf der Türschwelle blieb sie stehen, sagte das Thema wechselnd: „Im Übrigen, ich wollte den Porsche verkaufen. Könntest du mir dabei behilflich sein? … Ach ja, noch etwas, gestern Abend wurde ich auf der Landstraße geblitzt, könntest du dich auch darum kümmern?“

„Gustavs Porsche?“ fragte er sichtlich erstaunt. Die Frage schien zunächst im Raum zu rotieren bevor er überhaupt in der Lage war sie zu realisieren.

„Jaaa! Oder hast du etwas dagegen?“ fügte sie stirnrunzelnd an.

Ludger legte zunächst nachdenklich die Stirn in Falten, doch schon im nächsten Augenblick überzog ein selbstgefälliges Grinsen sein Gesicht, zögerlich antwortete er: „Ich könnte … ich meine, nur wenn nichts dagegen spricht … so könnte ich den Porsche kaufen!“ nachsinnierend spitzte er seine Lippen, dann brach es laut aus ihm heraus: „Ja, ich kaufe ihn“, mit dem Ausspruch war sein Entschluss Fakt. Und nach dem Strahlen seiner Augen sah er sich bereits in dem sportlichen Gefährt hocken, sah sich mit gemäßigtem Tempo, sodass ihn auch alle sehen konnten, durch die Innenstadt fahren.

Verblüffung stand in Charlottes Gesicht, doch wenn sie es sich recht überlegte, hätte sie diese Entscheidung vorhersehen können. Und soweit sie sich zurückerinnern konnte versuchte er Gustav nachzueifern, alles was er hatte, wollte auch er, und seit seinem Tod, beschlich sie zuweilen das Gefühl, dass es Zeit für ihn wäre einen Platz – hier im Hause und an ihrer Seite, womöglich in ihrem Bett – einzufordern. Ein Gedankengang der sogleich für eine Gänsehaut sorgte. Igitt, Igitt nein!Und überhaupt, er und sie – unmöglich! Stattdessen versuchte sie vor ihrem geistigen Auge, Ludger und den Porsche zusammenzubringen. Sie sieht den drahtigen Ludger – ein junggebliebener Sechziger, im elegant-klassischen Jackett, mit offenstehendem Hemd, dem passenden Halstuch sowie blankpolierten Schuhen und seinem selbstgefälligen Grinsen – im Porsche sitzen. Eigentlich fand sie ihn ja ganz attraktiv, wenn da nur seine Pedanterie nicht wäre. Sein übertriebener Hang zur Genauigkeit konnte jede Frau zur Raserei bringen. Vermutlich war er deshalb auch Single. Auch seine Haarfrisur, die gegelten Haare mit den Kammspuren und dem immer perfekten Seitenscheitel, sagten schon sehr viel über seine Pingeligkeit aus. Dabei fiel ihr auf, dass sein volles dunkles Haar noch keine einzige Spur von einem grauen Haar aufwies, aber wer weiß, vielleicht war es ja nachgefärbt. Ihr Blick vertiefte sich kurz in seinen Haaren. Man neigte immer dazu hineinzufassen um es durcheinander zu bringen – um endlich die Perfektion aus ihm herauszuholen. Ein Wunschgedanke, bei dem Charlotte, trotz allem, lächeln musste, denn ihre beste Freundin, Doro von Sickingen, hatte das einmal, bei einer Geburtstagsfeier und im betrunkenen Zustand, versucht ... oh, da war aber was los. Ja doch, Ludger passte in den Porsche! Mit hundertprozentiger Sicherheit würde er den kleinsten Vogeldreck mit etwas Spucke, auf einem seiner weißen Stofftaschentücher, die alle mit seinem Monogramm versehen waren, sofort wegpolieren. Ein Fantasiegebilde das sie fast ausgesprochen hätte, doch im letzten Moment korrigierte sie ihre Wortwahl und sagte nur: „Schön, dann halte ihn in Ehren … den Porsche!“

Er klatschte in die Hände, zwinkerte ihr zu und sagte freudestrahlend: „Gut, dass wir das schon mal geklärt hätten“, wobei er sich die Hände rieb, als hätte er den Super-Deal seines Lebens abgeschlossen.

Etwas skeptisch beäugte sie sein Verhalten und es war nur zu hoffen, dass sie ihn nicht selbst auf die falsche Spur gesetzt hatte, eine Spur die ihn auf der Zielgeraden zu ihr führte.

„Tja, wo waren wir noch gleich stehengeblieben? Ja, das Knöllchen! Selbstverständlich kümmere ich mich darum. Sei ganz unbesorgt!“ Grinsend, vom Sportwagen träumend stand er noch eine Zeitlang da.

„Ludger? …du wolltest Unterlagen für die Steuererklärung raussuchen … du erinnerst dich!“

„Wie? Ah richtig“, antwortete er. Aus seinem Tagtraum erwacht, klatschte er nochmals in die Hände, grinste wie ein Honigkuchenpferd und sagte mit einem leicht kindischen Unterton in der Stimme: „Na, wo sind denn die kleinen Ordner? Na da sind sie ja!“

Charlotte verdrehte genervt die Augen. „Viel Spaß! Ich gehe dann mal, du kennst dich ja hier bestens aus“, fügte sie überspitzt an.

Während sie zurück zur Terrasse ging, fiel ihr Blick auf den großen Spiegel in der Eingangsdiele. Sie blieb stehen, trat einen Schritt vor um ihr Spiegelbild etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Sie betrachtete es so, als würde sie eine gute Freundin begutachten. Die Frau die sie sah war Anfang fünfzig und ihr Gesamtbild von angenehmer Erscheinung, die dunkelbraunen halblangen Haare hatten immer noch Glanz und Schwung, ein paar Fältchen sprachen für eine lebenserfahrene Frau, die rehbraunen Augen und der volle Mund für Sinnlichkeit, und die kleine Hüftrolle – kurz griff sie zu – war zwar überflüssig konnte man aber gut kaschieren, die Beine waren – Dank regelmäßiger Fitness – wohlgeformt, dann kam der Griff zum Busen, sie rückte den Büstenhalter zurecht um das Dekolleté samt dem Inhalt etwas kritischer zu beäugen …

„Darf ich dich am Wochenende zum Essen ausführen?“ flüsterte Ludger aus dem Hintergrund, wobei ein erotischer Touch in der Modulation seiner Stimme nicht zu überhören war.

Erschrocken fuhr sie zusammen. „Luder! … Stehst du schon lange hier? Du weißt, dass ich das auf den Tod nicht ausstehen kann“, fluchte sie. Sofort trat sie einen Schritt zur Seite und drückte ihren Körper schutzsuchend an die Wand.

In geschmeidig-tänzelndem Gang trat er auf sie zu, lächelte und antwortete: „Lange genug meine Liebe