Boston Combat - Michael Kiesen - E-Book

Boston Combat E-Book

Michael Kiesen

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Beschreibung

Ein junger Deutscher aus der Provinz ist neugierig auf ameri­kanisches Nachtleben. In der Titelgeschichte "Boston Combat" trifft der Erzähler in einer Bar auf einen jungen Mann und zwei Frauen, die ihn mitnehmen in ihre schillernde, ­turbulente Welt. Auch während seiner Aufenthalte in New York, Denver und Südkalifornien begegnet er vielen Menschen, die seine ­Neugier wecken. Seine Reise ist erfüllt von spontanen Freundschaften und Sinnlichkeit und er taucht immer tiefer ein in die Gesellschaft, in der das Multikulturelle allgegenwärtig ist. Michael Kiesen hat amerikanisches Leben auch in den Romanen "Freunde in ­Manhattan" und "Hollywood Boulevard" dargestellt.

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Seitenzahl: 210

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Michael Kiesen · Boston Combat

Michael Kiesen

Boston Combat

Erlebnisse in Boston, New York,

Denver und Südkalifornien

PENDRAGON

Inhalt

Boston

Boston Combat

Es begann in einer Essbar

Strandidylle

Elite

Regennacht

Nackttanz

New York

Davidstern oder Die Versöhnung

Verfängliche Frage

Faggot

Nachschlapper

Fast eine Liebe

Denver

Achtung vor dem Gesetz

Jedem das Seine

„I feel love“

Südkalifornien

Unbehagen

Erweiterung des Horizonts

Begegnung auf dem Hollywood Boulevard

Mut

Unglaublich schön

YMCA

Boston

Boston Combat

Zunächst etwas aus seinem Alltag.

„Jetzt fahren wir nach Roxbury, ein gefährliches Schwarzenviertel. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich fahre fast jeden Tag hin, sie kennen mich dort, für mich ist es nicht gefährlich. Sie werden auch dir nichts tun.“

Angst empfand ich nicht. Ich glaubte, was er sagte. Allenfalls bildete sich eine ganz leichte Spannung in mir, eine Abwehrhaltung, als ob man in dichten Nebel trieb. Diese Zeitungsmeldung vor ein paar Jahren … eine weiße Frau, die sich hier in ein Schwarzenviertel begeben hatte und mit Benzin übergossen und angezündet worden war … Ich sprach ihn auf den Vorfall nicht an.

Um uns herum ein weites unbebautes Gelände, niedere Büsche, Gras, Steinbrocken, eine schmale gerade Straße führte hindurch.

Seine schlanken Hände am Steuer, die nackten muskulösen Unterarme, das blassblaue T-Shirt, der Kopf unbewegt, Seitenansicht, hellbraune Locken, in die Stirn gekämmt, Sonnenbrille, der Nasenrücken fast unmerklich gekrümmt, flacher Schnurrbart, ausgeprägtes Kinn, Bartstoppeln unterhalb der Wangen, am Hals.

Plötzlich befanden wir uns zwischen mehrstöckigen Wohngebäuden. In eine Seitenstraße, auf einen Parkplatz.

Wir hielten. Vor uns ein schwarz angestrichener Bau.

„Da muss ich rein. In den fünften Stock. Willst du mitkommen?“

Warum nicht? In seiner Begleitung. Ich bejahte. Wir stiegen aus. Er öffnete die hintere Tür des Kombiwagens. Er beugte sich ins Innere, zog zwei der vollgepackten hellbraunen Papiertragetüten zu sich her, hob sie an, stellte sie auf den Asphalt des Platzes. Er holte zwei weitere Tüten heraus, dann noch eine, ließ die Tür zufallen.

Der Wagen … da in dieser Gegend, wir im Haus … „Johnny, soll ich nicht lieber beim Wagen bleiben?“

„Wie du willst.“

Er packte drei Tüten, bewegte sich auf das Gebäude zu. Er machte rasche kleine Schritte, der Rücken leicht gekrümmt von der Last. Er verschwand hinter einem Rundbogen, an dem vermutlich eine Vorhalle begann. Ich stand da, meinen Knirps in der Hand. Sollte ich Johnny helfen? Wenn wir uns nicht getroffen hätten, müsste er es auch alleine tun. Es war sein Job. Das Zeug war schwer … meine Bruchanlage …

Aber wie wirkte es auf ihn, wenn ich nur so herum stand? Meine gesundheitlichen Mängel wollte ich nicht erwähnen. Ich trat zu den beiden Tüten am Heck des Wagens, eine war ganz, die andere zu drei Vierteln gefüllt. Konservendosen waren darin, Milch in Pappbehältern, Orangen, Bananen, Schachteln, deren Aufdruck ich nicht näher ansah … Die dreiviertel volle Tüte hob ich an, sogar sie erschien mir sehr schwer. Johnny tauchte vor mir auf, ergriff zu meiner Erleichterung beide Tüten. Ich folgte ihm, vielleicht konnte ich ihm eine Tür aufhalten.

„Sie sind schwer“, bemerkte ich.

„Ja. Aber ich bin daran gewöhnt.“

Diese fünf Taschen in den fünften Stock… das konnte ich ihn doch nicht allein tun lassen … eine würde ich wohl verkraften … Und der Wagen, in dem die restlichen Tüten standen? Durch den offenen Rundbogen in einen Gang, der auf der anderen Seite des Gebäudes wieder ins Freie führte. Die Haustür in diesem Gang, an der Wand zur Rechten. Eine Art des Eingangs, wie ich sie von barocken Palästen kannte; und so etwas hier, nur bescheidener, nicht für Kutschen gebaut, nur für Fußgänger.

Die drei Tüten, die Johnny zunächst getragen hatte, standen neben der Tür. Er stellte seine Last ab. „Das alles in den fünften Stock?“, fragte ich.

„Ja. Erst mal rüber zum Aufzug.“

Ah, es gab einen Aufzug. Durch das Glas der Tür sah ich auf den plattenbelegten Boden eines Flurs. Ich öffnete die Tür, hielt sie auf. Johnny packte drei Taschen, eilte zu einer roten Tür neben einer Treppe. Er holte die beiden zurückgebliebenen Tüten, schleppte sie zu den anderen. Er drückte auf einen Knopf.

„Manchmal tut er’s nicht. Dann muss man alles nach oben tragen.“

Er drückte noch einmal auf den Knopf.

„Der Wagen draußen. Geht das?“, fragte ich.

„Ja, ja. Mach dir keine Sorgen!“

Hinter der roten Tür ein leichter Knall, ihre beiden Flügel trennten sich scheppernd, Licht brach hervor, in seinem Schein eine große Gestalt, ein junger Schwarzer, er sah mich an, seine Züge reglos, wie aus schwarzem Marmor gemeißelt, er ging zwischen uns hindurch. Johnny zog zwei Tüten in den Aufzug, ich eine, er die beiden letzten.

Johnnys Zeigefinger auf einem der Knöpfe. Eine gemächliche zuckelnde Fahrt nach oben. Ein starker Ruck, Stillstand, die Tür bewegte sich nicht … doch, nun wichen die Flügel voneinander. Drei Schwarze standen vor uns, ein Junge, ein ergrauter Mann und ein athletischer Typ, wohl Mitte zwanzig. Johnny zerrte zwei der Taschen über die Laufschienen der Tür. Die drei Leute kamen herein. Ich deutete auf die restlichen Tüten und bemerkte, die müssten auch noch raus; ich ergriff zwei, zog sie hinter mir her, drängte mich an den Schwarzen vorbei. Johnny holte die letzte. Er zog nun drei Taschen auf dem Boden entlang, bog um eine Ecke des Flurs. Ich folgte mit zwei Tüten, machte es wie er. Die Wände hellgelb angestrichen, in größeren Abständen braune Türen, der Boden sauber. Offenbar kein Elendsquartier.

Johnny stand an einer offenen Tür, als ich wieder auf ihn achtete. Er sprach mit einer recht umfänglichen Schwarzen mittleren Alters. Ein Mann schob sich an ihr vorbei auf den Flur, nahm wortlos die beiden Tragetüten, die ich gebracht hatte, trug sie in die Wohnung. Die Frau lachte, Johnny lachte.

Er kam zu mir, wir gingen zurück. Die Tür des Aufzugs war offen. In der Kabine standen der ergraute Mann, der Junge, der athletische Typ, dessen Hand am Schalterbrett war. Wir traten in den Aufzug. Sie hatten auf uns gewartet. Johnny bedankte sich. Eine knappe gemurmelte Erwiderung des Athleten. Der Aufzug bewegte sich. Schweigen bis ins Erdgeschoss.

Die Schwarzen verließen vor uns den Aufzug. Wir folgten ihnen durch die Haustür. Sie gingen ohne Gruß zur Vorderseite des Gebäudes, wir nach hinten.

Der Wagen stand noch da, eine Scheibe war nicht eingeschlagen, die Reifen nicht aufgeschlitzt.

Wir stiegen ein. Johnny nahm das dünne Brett, an das ein Blatt geheftet war, die Liste der Kunden, die er aufsuchen musste. Er nahm einen Kugelschreiber, der zwischen uns auf der durchgehenden lederbezogenen Bank lag, führte sein hinteres Ende zwischen die Lippen, starrte auf das Papier. Er senkte den Kugelschreiber auf das Blatt, machte einen Strich, legte das Brett und den Stift weg.

Ich bemerkte, es sei nett gewesen, dass die drei Schwarzen im Aufzug auf uns gewartet hätten. Er bejahte beiläufig.

Er fuhr an, stieß rasch zurück, beschrieb auf dem fast leeren Parkplatz eine weite Kurve, dann vorwärts zur Straße. Geradeaus, nach rechts, nach links … Er hielt in einer stillen Straße, schlanke, nicht besonders hohe Laubbäume wuchsen aus den Gehwegen. Wie in Berlin. Hinter Vorgärten aneinandergebaute Backsteinhäuser mit Erkern. Wie in London.

„Warte! Ich bin gleich zurück.“

Er stieg aus. Er klappte die hintere Tür hoch, hob zwei Tüten heraus, dann noch eine, schleppte alle drei in einen Vorgarten. Aus der Haustür trat eine Frau, rundliches Gesicht, dunkelbraune Haut, breite Lippen, krause Löckchen, langes schwarzes Gewand. Sie ließ ihn an sich vorbeigehen, folgte ihm.

Auf dem Gehweg ein alter Mann in einem dunkelgrauen Anzug mit Hut und eine junge Frau, die ein helles Kleid anhatte; Afroamerikaner, hellbraune Haut. Der alte Mann sagte etwas, die Frau verharrte, ging zögernd weiter, er nahm ihren Arm, drehte ihren Körper etwas. Er ließ sie los. Sie tappte langsam vor ihm auf das Haus zu, in dem sich Johnnny aufhielt. Die Blinde und der Alte gingen hinein. Gehörten sie zur Familie von Johnnys Kundin? Würde er den beiden jetzt begegnen? Was empfand er dabei? Mitleid? Unbehagen? Nichts?

Johnny erschien unter der Tür, bei ihm die ältere Afroamerikanerin. Lächelnd hob er zu ihr hin die Hand. Er ging schnell durch den Vorgarten. Er kam in den Wagen.

„Ich bin zwei Stunden zu spät dran. Sie hat sich nicht beklagt. Ich bin immer nett zu den Kunden, und sie sind nett zu mir.“ Er nahm das Brett mit der Liste, betrachtete sie. „Na, wohin gehen wir als nächstes?“

Und so acht Stunden am Tag. Manchmal eine oder zwei Überstunden.

Auf einen solchen Tag hin eine Nacht wie die nun folgende.

Aus der künstlichen Kühle des Restaurants in die laue Luft der Spätsommernacht. Satt. Im Bauch ein Omelette und ein Bier, von Schlitz. Auf dem Gehweg der Tremont Street nach Westen. Jenseits der Fahrbahn der Park „Boston Common“. Bläuliche runde Lichter unter den Kronen der Laubbäume. Die Wiesen fast leer, nur vereinzelte Gestalten erkennbar, Leute, die nichts verlieren konnten oder stark genug waren, sich nichts nehmen zu lassen.

Ich überquerte zwei Seitenstraßen. Stand schließlich an einer dritten. Sie führte zu meinem Hotel. Sollte ich mein Zimmer aufsuchen und mich hinlegen? Später noch ausgehen. In irgendein Tanzlokal. Es war Donnerstag, da herrschte wohl kein Gedränge. Aber dieses Omelette in mir. Ich musste noch eine Zeit lang umherwandern. Weiter auf der Tremont Street. Eine größere Kreuzung. Die Querstraße stieß südlich von hier in den „Combat“, Bostons Reeperbahn. Dorthin? Eine Weile zwischen den Sexshops, Pornokinos, Nachtlokalen hindurch, mich eingliedernd in den Reigen der Neugierigen. Ich bog also ab.

Am Beginn des „Combat“ links eine Bar, die ich bisher bei meinen Rundgängen nicht bemerkt hatte. Beide Flügeltüren des Eingangs offen. Musik floss heraus. Vielleicht ein Platz mit netten Leuten, an dem man in Frieden ein Bierchen trinken konnte. Mehrere Stufen hinauf in einen langgestreckten Raum. Er wurde fast ganz von einer Theke ausgefüllt, die ein großes Rechteck umschloss, das durch ein halbhohes flaschengefülltes Regal in zwei Hälften geteilt wurde.

Das Regal war an einer Stelle um ungefähr zwei Meter unterbrochen. Dort tanzte ein junger Mann, er trug nur einen hellblauen Stoffstreifen über Geschlecht und Hüften. Ich sah auf die Leute, die an der Bar saßen oder an den Wänden lehnten. Fast nur Männer, einige Frauen in Paaren.

In meiner Nähe ging ein Blonder auf einen Afroamerikaner zu und umarmte ihn mit einem Aufschrei. Ich machte einen Schritt rückwärts, schaute noch einmal auf den Tänzer. Hellbraune Locken über einem schmalen regelmäßigen Gesicht, flacher Schnurrbart; Beine, Becken, Brustkorb, Schultern, Arme in zuckender Bewegung entsprechend dem stoßenden Rhythmus der lauten Musik … vielleicht war er in Jazzballett ausgebildet. Seine Gestalt muskulös, harmonisch … wie ein griechischer Athlet … der Diskuswerfer von Myron … ja, es schien mir, als sei er dem Diskuswerfer ähnlich, vor dem ich in diesem kleinen runden Raum der vatikanischen Palastanlage lange gestanden war, überall Kraft, aufsteigend von den Beinen zu dem gedrehten Oberkörper, zu den Armen, zu den Fingern, welche die Scheibe umklammerten; die Anmut in seinen Zügen, die wirklich erscheinende, unwirkliche Anmut … auch das schmale schöne Gesicht des Tänzers passte … und die nach vorn gekämmten Locken, die allerdings weiter in die Stirn fielen als beim Diskuswerfer. Dieser junge Mensch war ein Stück Schönheit, das mir hingeworfen wurde. Schön das Gesicht und die Gestalt der Marilyn Monroe, der Grace Kelly, des Alain Delon, des Tom Cruise …

Ich ging an der linken Seite der Bar entlang. In der hinteren Hälfte waren mehrere Hocker unbesetzt; ich stieg auf einen, ließ zwischen mir und dem nächsten Gast zwei Plätze frei. Der Kellner tauchte vor mir auf, rundliches Gesicht, dünnes blondes Haar, weiche Stimme. Ich bestellte ein Bier: Schlitz.

Ich betrachtete den Go-go-boy, seine angenehmen Züge, die hellbraunen Locken, die fast nackte Gestalt, die kraftvollen Bewegungen. Der Kellner stellte das Bierfläschchen und ein Glas vor mich hin, nannte den Preis, ich bezahlte. Der Tänzer fuhr mit beiden Daumen unter den hellblauen Stoff, schob ihn etwas abwärts; Schamhaare und ein Teil des Glieds wurden sichtbar. Der Kellner trat zu ihm, schlug ihm auf eine Hand, sagte dann sehr ernst etwas zu ihm, einen Satz wie: „Don’t do this again!“

Der Go-go-boy zog den Stoff wieder hoch.

Ein neues Lied ertönte, melodiös, ziemlich langsam. Auch diesem Tempo passte sich der Go-go-boy an, der Körper wiegte sich in Wellenlinien.

Ein kleiner Mann mit dunklem Haar stellte sich vor den Tänzer, sprach auf ihn ein. Der junge Mann verharrte, erwiderte etwas, der andere antwortete mit mehreren Sätzen. Der Go-go-boy verließ die Platte, auf der er sich bewegt hatte, eilte an dem halbhohen Regal entlang, schlüpfte unter einem Brett der Theke hindurch, verschwand im Hintergrund der Bar.

Er erschien wieder in blassblauen Jeans und hellgrauem T-Shirt.

An der hinteren Schmalseite des Raumes befand sich eine Plattenbar, die ein DJ bediente. Davor eine leere Tanzfläche. Hektische Musik brach los. Der junge Mann begann, mit Armen und Beinen zu zucken, wirbelte los.

Die kleine Tanzplattform betrat ein großer muskulöser Schwarzer, auch nur mit einem winzigen Slip bekleidet. Er machte langsame Schrittchen vor und zurück, lustlos, wie mir schien, dem Stück nicht gerecht werdend. Ich sah wieder zu dem jungen Weißen vor der Plattenbar hin. Ich beneidete ihn. Eine Gnade, so tanzen zu können. Gnade?

Plötzlich hörte er auf, ging rasch an der mir entgegengesetzten Seite der Bar entlang, ließ sich auf einem freien Hocker nieder. Der Kellner brachte ihm ein Bierfläschchen. Der junge Mann nahm es, setzte es an den Mund, schluckte mehrmals, stand auf, begab sich wieder nach hinten, tanzte weiter.

Nach einiger Zeit blieb er stehen. Er kam langsam den Gang an der Seite der Bar, wo ich saß, herauf. Es schoss mir in den Sinn, ihn anzusprechen, meine Bewunderung auszudrücken, ihn zu fragen, ob er wieder auftrete. Er würde mich für schwul halten. Er war nur noch ungefähr zwei Meter von mir entfernt. Mochte er von mir meinen, was ihm beliebte, er war eine faszinierende Erscheinung, ich wollte mit ihm sprechen. Er war schon fast an mir vorbei.

Ich rief in die lärmende Musik: „Excuse me, please!“ Er sah zu mir her, blieb stehen. Ich sagte, er tanze ausgezeichnet, ob er noch einmal auftrete. Er erwiderte, auf Wunsch („upon request“) sei das möglich, er sei hier nicht angestellt, ich solle mich an den Kellner wenden. Ich fragte, ob er eine Ballettausbildung durchlaufen habe. Er bejahte. Wo das gewesen sei, wollte ich wissen. Er nannte einen Namen, den ich nicht recht verstand. Ich fragte, in welchem Staat diese Stadt liege. In Connecticut. Ich bemerkte, er sei also nicht aus Boston. Nein, er sei hier hergekommen, um ein Engagement als Tänzer zu erhalten. An einem Theater? Ja, am besten dort, aber das sei sehr schwer; am leichtesten beginne man in einer „gay bar“; er sei nicht schwul („I am a straight guy“); er sei hinter Mädchen her, immer schon, seit dem Alter von elf Jahren; in solchen Bars komme man jedoch am ehesten unter. Ich meinte, das mache ja nichts; wichtig sei, man komme mal irgendwo rein. Ich fügte hinzu, ich würde seinetwegen mit dem Kellner sprechen. Er lächelte, bedankte sich, ging weiter. Er wanderte um den vorderen Teil der Bar herum, ergriff die Bierflasche, die ihm der Kellner vorhin gegeben hatte, trank, kehrte zur Tanzfläche zurück.

Zwei Tage war ich nun in Boston … die vergoldete Kuppel des „State House“ … Backsteinkirchen … Hochhäuser … Untergrundbahn… Staub … Gesichter, weiße, schwarze, gelbe, braune … unter zahllosen Menschen allein. Jetzt erkannte ich ein Ziel: Ich konnte versuchen, einem jungen Talent zu helfen.

Ein junger Mann mit Vollbart setzte sich rechts von mir auf den übernächsten Hocker. Der Kellner trat zu ihm, entfernte sich, brachte ihm ein Glas, gefüllt mit einer grünlichen Flüssigkeit, in der Eiswürfel schwammen. Ich winkte den Kellner her. Ich bestellte ein weiteres Bier, obwohl mein Glas noch fast voll war. Er holte das neue Fläschchen. Ich bezahlte, gab ein doppelt so hohes Trinkgeld wie gewöhnlich. Nun musste ich zugunsten des Tänzers etwas anbringen … eine Äußerung, die zu diesem Lokal passen sollte. Ich stellte mich unwissend. „Entschuldigen Sie, bitte, tritt dieser schöne junge Mann mit dem Schnurrbart wieder auf?“ „Schöner junger Mann“… das war gut. Der Kellner lächelte. „Ja, später.“ „ Ah, wunderbar! Danke!“ Der Kellner ging weiter. So leicht hatte ich das geschafft.

Der Schwarze wurde von einem jungen Weißen abgelöst, der nur ein grünes Armeehemd anhatte und sich darin wie ein Stripteasetänzer wand, sein Gesicht breit mit starken Backenknochen, der Mund groß, zu einem Grinsen verzerrt.

Der „schöne junge Mann mit dem Schnurrbart“ raste immer noch vor der Plattenbar. Ich machte mir Sorgen. Er verausgabte sich. Wenn er aufgefordert wurde, sich auf die kleine Plattform zu begeben, war er vielleicht schon erschöpft.

Endlich verließ er die Tanzfläche wieder, schlenderte an meiner Seite der Bar entlang. Er war nun auf meiner Höhe. Er sah mich nicht an. Ich hielt ihn am Arm fest. Ich berichtete, der Kellner habe geäußert, er dürfe wieder tanzen. Ich fragte ihn, ob er das Stuttgarter Ballett kenne. Wie? Nein. John Cranko sei dort mal ein bekannter Choreograph gewesen. Diesen Namen hatte er, so schien es ihm, schon gehört. Ich erwähnte, die Stuttgarter hätten schon öfter an der Metropolitan Opera gastiert. Nun glaubte er doch, mal was über sie gelesen zu haben. Ich sagte, ich sei aus Stuttgart. Wo das genau liege. In Deutschland. Das wisse er, er meine, wo in Deutschland, im Norden oder im Süden. Südwesten. Aha; er murmelte unvermittelt, ich möge ihn einen Moment entschuldigen. Er trat neben den jungen Mann mit dem Vollbart, beugte sich über die Theke, sprach mit dem Kellner. Ich verstand, wie der Tänzer sagte: „… some kind of a businessman …“ Er hielt mich also für einen Geschäftsmann … schwuler junger Manager. Vom Kellner glaubte ich zu vernehmen, das habe er nur so gesagt. Drecksack! Ein leeres Versprechen, um zu vermeiden, dass ein Gast wegging. Der Tänzer redete auf den Kellner ein. Schließlich trennten sie sich. Der Tänzer ging an mir vorbei, sah zu Boden. Ich rief ihm nach, ob er nun wieder auftrete. Ja, in einer Weile. Also doch. Er ging weiter, begann wieder, vor der Plattenbar zu tanzen. Warum das? Er musste doch mit seinen Kräften haushalten!

Der Kellner kam in meine Nähe. Ich rief ihn her. Ich gab ihm fünf Dollar und bedankte mich, dass dieser „schöne junge Mann“ wieder tanzen dürfe. Der Kellner lächelte huldvoll.

Der mit dem breiten Gesicht hatte das Armeehemd abgelegt, trug nur noch einen Slip, grinste, schlängelte sich. Seine Darbietung setzte sich während eines weiteren Liedes fort, überdauerte noch ein Stück. Endlich gab er die kleine Plattform frei. Er rannte nach hinten, wo der „schöne junge Mann“ immer noch herumtollte.

Der Go-go-boy ging auf den „Diskuswerfer“ zu, der aufhörte zu tanzen, sie sprachen miteinander, bewegten sich auf die linke Wand zu, die im letzten Drittel des Raumes um ungefähr zwei Meter nach innen versetzt war und die beiden aufzusaugen schien.

Der „Diskuswerfer“ schälte sich wieder aus der Mauer, lief zu dem Podest. Er trug ein hellblaues seidenglänzendes Mieder, an dessen unterem Rand lange Fransen hingen, und den entsprechenden schmalen Slip. Ich fand den Aufzug jahrmarkthaft, weiblich. Aber diese rhythmischen Bewegungen, der ansprechende Kopf, genau vor dem jungen Mann, mir schräg gegenüber, saßen zwei blonde Mädchen, die ihn anlachten. Er lächelte ihnen auch zu.

Ich klatschte laut, als das Stück zu Ende war. Die Mädchen taten das ebenfalls. Auch ein älterer Herr und ein junger Mann, die dem Eingang zu saßen. Mein „Schützling“ schien anzukommen, wenn sich auch der Rest der Meute passiv verhielt, zu scheu oder unempfänglich für das Besondere oder damit beschäftigt, einen Partner für die Nacht zu finden.

Endlich legte der „Diskuswerfer“ das Jäckchen ab, zeigte diesen vollkommenen Körper. Er richtete seinen Tanz immer mehr auf die beiden Mädchen aus.

Meine „Mission“ … ich musste sie fortführen. Ich wandte mich an den jungen Mann mit Vollbart, entschuldigte mich, sagte dieser Go-go-boy sei doch wirklich gut. Finde er auch, erwiderte er, seine Stimme war für das bärtige Gesicht überraschend weich. Ich bemerkte, das freue mich; dann käme nicht nur ich mit meinem seltsamen europäischen Geschmack zu diesem Urteil. Er lachte.

Der Kellner näherte sich, lächelte zu mir her. Ich beugte mich vor, äußerte, dieser junge Mann tanze ausgezeichnet, und diese wunderbare Figur, das klassische Gesicht, er sei eine echte Attraktion. Das Lächeln des Kellners verstärkte sich, ja, er sei schon gut, und er selbst müsse dabei arbeiten.

Der „griechische Athlet“ schien sich von Lied zu Lied zu steigern, wirkte leidenschaftlich kraftvoll, zwischendurch, wenn uns eine langsame Melodie umgab, sanft geschmeidig, bildete immer wieder neue Ketten von Bewegungen. Abermals das Spiel mit dem Slip, die Schamhaare, ein Teil des Gliedes sichtbar. Der Kellner schüttelte gequält grinsend den Kopf, schritt jedoch nicht ein. Der Diskuswerfer rückte von selbst den Slip zurecht.

Schließlich wieder dieser kleine dunkelhaarige Mann vor dem „ Athleten“, sprach mit ihm, entfernte sich. Der „Diskuswerfer“ tanzte weiter, blieb stehen, als das Lied verebbte und ein neues heranbrauste. Er trat von dem Podest herab, bückte sich, hob das Mieder vom Boden auf, rannte an mir vorbei, ohne herzusehen. Heftige Neugier brandete in mir empor. Ich musste ihn näher kennenlernen, erfahren, wie er lebte. Ich sprang auf, lief nach hinten, erreichte ihn in einem Seitengang, der zur Linken der Tanzfläche abzweigte.

Ich sagte, er habe hervorragend getanzt. Er bedankte sich. Der „Diskuswerfer“ unmittelbar vor mir, mittelgroß, mindestens einen halben Kopf kleiner als ich, jetzt, wo ich auf ihn hinabsah, wirkte er eigentlich nicht mehr erhaben, „göttlich“ vollkommen, eher verletzlich in seiner Nacktheit, fast wie irgendeiner im Freibad; und doch das sympathische Gesicht, die wachen blassblauen Augen, die auf mich gerichtet waren. Ich brauchte einen Grund, um an ihn heranzukommen. Als Schriftsteller? Was sonst? Ich erklärte, ich sei Jurist, würde aber auch Romane verfassen; er scheine ein interessanter Mensch zu sein, vielleicht könne ich über ihn eine Geschichte schreiben; ob ich ihn zu einem Drink einladen dürfe, damit wir uns unterhalten könnten. Allerdings, wer war ich denn? Bestseller waren meine Bücher jedenfalls nicht. Ich ergänzte, er möge mich bitte nicht missverstehen, ich sei noch nie mit einem Mann ins Bett gegangen. Nun ja, diese Party in Hollywood, bei der ich geduldet hatte, dass Larry mein Glied in den Mund nahm, wie zuvor Lisa … Der „Diskuswerfer“ lachte, ergriff meine Rechte, drückte sie, rief: „Good! I’ll be right with you.“ Er ging durch eine braune Tür, auf der weiß „No admittance“ stand.

Auf der Tanzfläche mehrere Paare, zwei Schwarze, ein Weißer und eine Weiße, ein Schwarzer und ein Weißer, zwei weiße junge Männer.

Der „Diskuswerfer“ plötzlich wieder bei mir, in seinen Jeans und dem hellgrauen T-Shirt, barfuß. Er murmelte etwas von zwei Mädchen, ich solle mitkommen. Zwischen den Tanzenden hindurch, an der linken Seite der Bar entlang, von uns aus gesehen. Er streckte mir im Gehen die Hand hin. „My name is Johnny.“ Ich schlug ein, nannte meinen Vornamen. Johnny blieb bei den beiden blonden Mädchen stehen, die ihn während seines Tanzes angelacht hatten.

„Hi“ und „Hello“ und zwei weibliche Namen, die ich nicht verstand, und sein Vorname, meiner und „er ist Deutscher“. Die eine hatte ein längliches Gesicht, sie sagte zu mir: „Vous parlez français?“ „Mais oui.“ Die andere, ihr Gesicht rundlich: „No, you have to say: Sprecken Sie Deutsch?“ „Ja, ja, ich spreche Deutsch.“ Die mit dem rundlichen Gesicht war recht mollig, trug eine schwarze Cordhose und einen dünnen weißen Pullover. Ihre Freundin hatte Jeans an, eine schwarze Wolljacke und einen grauen Pullover.

Ich sagte, ich hätte ihre Namen nicht verstanden. Die Mollige hieß Mary, die andere Debbie. Johnny trat ganz nahe an den Hocker von Mary, umarmte sie, drückte sie an sich, küsste sie auf den Mund. Ich behauptete, in Deutschland komme man sich nicht so rasch näher. „Wirklich?“, rief Mary aus, offenbar sehr erstaunt.

Ihre Freundin wollte unvermittelt wissen, welcher Abkunft Johnny sei. Er lächelte, zögerte etwas, dann äußerte er, seine Eltern seien „Italiener“. Ihre auch, erwiderte Debbie. Ich hakte nach, weil für mich Italiener eher dunkelhaarig waren. Doch, es stimme. Dann müsse ihre Familie aus Norditalien stammen, wohl Abkömmlinge von Langobarden. Sie streckte die Arme aus, als ob sie mich umfassen wollte, schrie: „Yes, that’s it!“ Johnny gab Neapel und Sizilien als Heimat seiner Vorfahren an. Neapel … griechische Gründung … Johnny vielleicht tatsächlich ein griechischer Athlet. Mary war polnischer und irischer Abstammung.

Johnny zog Mary zur Tanzfläche. Ich fragte Debbie, ob sie auch tanzen wolle. Sie lehnte ab. Ich nahm auf dem leeren Hocker neben ihr Platz. Ihr Gesichtsausdruck fiel mir auf. Sie sah mich mit leicht zurückgelehntem Kopf, nicht ganz geöffneten Lidern und unbewegten Zügen an, als ob sie vollgesogen mit Hochmut sei. Um etwas zu sagen, bemerkte ich, sie habe trotz ihrer italienischen Abkunft so einen neuenglisch stolzen Ausdruck im Gesicht. Sie entgegnete, das komme daher, weil sie reich sei. Reichtum der Eltern als Grund für Stolz, und sie sprach es auch noch aus. Die materialistische Kehrseite dieses schönen Landes. Ich lächelte, sagte nichts. Es folgte das Gerede, welchen Beruf ich hätte, warum ich hier sei, was ich so tagsüber tue … Sie besuchte das Boston College. Aha, welche Fächer …

Mary und Johnny traten zu uns. Debbie stand auf, wollte mit Mary tanzen.

Mary zu mir: „Wir sind nicht lesbisch. Sie tut nur so.“ We are not gay.