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Sterben ist eine Kunst für sich – und nicht jeder ist Picasso… Detektiv Max Bittersohn wollte die junge Erbin Sarah Kelling eigentlich zu einer Vernissage in den kuriosen »Palazzo der Madam Wilkins« ausführen und die exquisite Kunstsammlung bewundern – rein freundschaftlich, versteht sich. Und es hätte ein zauberhafter Abend werden können … wäre nicht der Museumswächter vom Balkon und in seinen Tod gestürzt. Schnell ist klar: Hier handelt es sich um Mord! Der Museumsdirektor Mr. Palmerston heuert Bittersohn an, dem Fall nachzugehen – und als Expertin in der Bostoner High Society ist Sarah Kelling natürlich mit von der Partie. Was verbirgt sich hinter den Kunstwerken im Palazzo? Wusste der Wachmann mehr, als er sollte? Und ist der Mörder Teil der illustren Gesellschaft, in der Sarah ein und ausgeht? Band 3 der exzentrischen »Boston Tea Crimes«-Reihe verspricht humorvolle Krimiunterhaltung für Fans von Richard Osman. Alle Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Detektiv Max Bittersohn wollte die junge Erbin Sarah Kelling eigentlich zu einer Vernissage in den kuriosen »Palazzo der Madam Wilkins« ausführen und die exquisite Kunstsammlung bewundern – rein freundschaftlich, versteht sich. Und es hätte ein zauberhafter Abend werden können … wäre nicht der Museumswächter vom Balkon und in seinen Tod gestürzt. Schnell ist klar: Hier handelt es sich um Mord! Der Museumsdirektor Mr. Palmerston heuert Bittersohn an, dem Fall nachzugehen – und als Expertin in der Bostoner High Society ist Sarah Kelling natürlich mit von der Partie. Was verbirgt sich hinter den Kunstwerken im Palazzo? Wusste der Wachmann mehr, als er sollte? Und ist der Mörder Teil der illustren Gesellschaft, in der Sarah ein und ausgeht?
Über die Autorin:
Charlotte MacLeod (1922-2005) wurde in Kanada geboren und wuchs in Massachusetts auf. Sie besuchte das Boston Art Institute und arbeitete als Bibliothekarin und Werbetexterin. Ende der 1970er veröffentlichte sie ihre ersten Kriminalromane und zementierte ihren Ruf als Grande Dame des Genres. Für ihr Lebenswerk wurde sie unter anderem mit fünf American Mystery Awards und dem Malice Domestic Lifetime Achievement Award ausgezeichnet.
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre »Boston Tea Crimes«-Reihe, beginnend mit »Die Familiengruft«.
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eBook-Neuausgabe Dezember 2024
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1982 unter dem Originaltitel »The Palace Guard« bei Avon Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1992 unter dem Titel »Madam Wilkins' Palazzo« bei DuMont.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1981 by Charlotte MacLeod
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1992 by DuMont Buchverlag, Köln
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-580-1
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Charlotte MacLeod
Boston Tea Crimes – Madam Wilkins’ Palazzo
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Beate Felten
dotbooks.
Zu der Zeit, als dieses Buch geschrieben wurde, existierten die Fenway-Studios noch in ihrer ursprünglichen Form; sie waren ein idealer Ort für Künstler zum Arbeiten. Schon wegen der engagierten Menschen, die versuchen, das Gebäude im Originalzustand zu erhalten, und wegen der Künstler, die sich über die Jahre bemüht haben, Bostons kulturelles Leben zu bereichern, hofft die Autorin sehr, daß die einzigartige Schönheit und der architektonische Wert der Fenway-Studios erkannt und gewürdigt werden. Die beiden Mieter, die im Buch auftauchen, sind natürlich frei erfunden. Dasselbe gilt für den Palazzo der Madam Wilkins, denn in Wirklichkeit wäre kein Mensch so tollkühn zu versuchen, die unvergleichliche Mrs. Jack auszustechen. Es gibt noch nicht einmal eine Tulip Street auf dem Hill. Sarah Kelling, ihre Mieter, ihre Freunde und ihre Widersacher existieren nur in der Vorstellung der Autorin. Eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder Ereignissen ist nicht beabsichtigt, und jede Übereinstimmung ist zufällig.
Von dem anfänglich lebhaften, höflichen Applaus war nur noch das vereinzelte Klatschen der besonders wohlwollenden Verwandten der Cellistin zu hören, doch auch diese Beifallsbekundungen gingen schließlich endgültig im lauten Scharren der Stühle unter. Die Touristen schoben sich zum Ausgang am Ende des Konzertsaals, während sich die echten Kunstkenner nach vorn in den Tintoretto-Saal drängten, um sich dort an Wein und Käse gütlich zu tun, den Musikern Komplimente zu machen und den Wachstropfen auszuweichen, die von Madam Eugenia Wilkins’ berühmten Kronleuchtern aus dem 16. Jahrhundert herunterfielen.
Mr. Max Bittersohn, der bekannte junge Kunstexperte, faßte nach dem Ellbogen seiner auffallend attraktiven Pensionswirtin Mrs. Sarah Kelling aus der Familie der Beacon-Hill-Kellings. »Am besten machen wir uns so schnell wie möglich aus dem Staub«, flüsterte er ihr zu. »Die Kleine, die da gerade Boccherini abgeschlachtet hat, hat offenbar mehr Schwestern, Cousinen und Tanten als ein ganzer Chor aus Pinafore.«
Sarah, die eine konservativere Erziehung genossen hatte als ihr Begleiter, zögerte noch. »Wir können doch nicht so einfach weggehen, ohne wenigstens mit Ihrem Freund Mr. Fieringer gesprochen zu haben. Sie wissen doch, daß es ihm jedes Mal das Herz bricht, wenn Sie sich nicht zu seinem neuesten Wunderkind äußern.«
»Was gibt es denn hier Positives zu sagen? Aber gut, wenn Sie möchten, gehen wir so lange auf den Balkon, bis sich die Massen ein wenig verlaufen haben.«
»Ich finde, daß sich der Pianist ganz hervorragend gehalten hat, wenn man bedenkt, unter welchen Umständen er spielen mußte.«
»Oh ja, der gute alte Bernie ist immer noch ein verdammt guter Musiker, wenn er es erst einmal fertiggebracht hat, sich zum Flügel zu schleppen. Ich frage mich, wie Nick es angestellt hat, ihn bis zum Konzert nüchtern zu halten.«
»Mein Gott, was so ein Impresario nicht alles mitmacht!« Sarah legte ihre zarten Arme auf die Balkonbrüstung aus gemeißeltem Marmor und schaute in den Innenhof hinunter, in dem üppige Blumenteppiche zur Feier des Osterfestes oder, in Mr. Bittersohns Fall, zur Feier des Passahfestes, um die Wette blühten.
Am 1. Januar 1903 hatte Eugenia Callista Wilkins, die Witwe eines Eisenbahnbarons, der feierlichen Eröffnung von Fenway Court, in Boston besser bekannt unter dem Namen »Mrs. Jack Gardners Palast«, beigewohnt. Zutiefst aufgewühlt von einer Empfindung, die sie selbst für Verachtung hielt, gelobte sie sich, dieser Mrs. Jack ein für allemal klar und deutlich vorzuführen, wie man so etwas sehr viel besser machen konnte. Dann war sie dem Beispiel eben jener Dame gefolgt und hatte eine Schiffsreise nach Europa unternommen, ihren eigenen Kunstexperten im Schlepptau, und hatte den Laderaum eines Ozeanriesen der Cunard-Linie mit einer noch viel größeren und noch viel wahlloseren Sammlung von echten und falschen Kunstschätzen beladen. Damit war sie schließlich nach Boston zurückgekehrt und hatte am malerischen Ufer des romantischen Muddy River einen noch protzigeren Palazzo erbauen lassen als ihre Konkurrentin und ihre Schätze in einem noch wilderen Durcheinander darin aufgestellt.
Mrs. Wilkins hatte dem völlig sprachlosen Architekten erklärt, daß ihr Atrium einen Wasserfall haben müsse, der drei Stockwerke hoch sein und sich über mehrere Marmorbecken in ein Bassin ergießen sollte, in dem Seerosen wuchsen und sich exotische Fische tummelten.
Sie wollte auf jeden Fall mehr Blumenbeete haben als Mrs. Jack, in denen das ganze Jahr über Blumen blühten, die in Gewächshäusern eigens für sie gezüchtet würden. Sie ließ Wege mit Mosaiken anlegen, deren Bestandteile angeblich während der Ausgrabungen bei Herculaneum heimlich beiseitegeschafft worden waren, und legte sich echte lebende weiße Pfauen zu, die nach allen Seiten herrliche Räder schlagen sollten, wie es ihnen gerade in den Sinn kam.
In Wirklichkeit allerdings neigten die Pfauen eher dazu, ständig in der Mauser zu sein, sich auf den Mosaiken unziemlich zu betragen, gereizt nach den Knöcheln der Besucher zu hacken oder mit diversen komplizierten Vogelkrankheiten aufzuwarten, woraufhin man sie jedes Mal in Windeseile zur Behandlung ins Angell Memorial Hospital transportieren mußte. Trotz des widernatürlichen Verhaltens dieser Vögel galt Mrs. Wilkins’ Palazzo jedoch im Allgemeinen als überaus sehenswert und war sogar für Bostoner Verhältnisse etwas Besonderes.
Die Kellings, die zu den reichsten und am weitesten verzweigten Familien Bostons zählten, waren im Jahre 1911 in Scharen zur Eröffnung erschienen. Bei diesem denkwürdigen historischen Ereignis hatte eine damalige Mrs. Alexander Kelling mit dem den Kellings eigenen Takt- und Feingefühl die Bemerkung fallenlassen, daß der Palast eigentlich weniger wie ein italienischer Palazzo, sondern eher wie ein babylonisches Bordell aussehe. Ein anderer Spaßvogel hatte daraufhin Mrs. Wilkins als die »Madam« des Etablissements bezeichnet, und von diesem Augenblick an hatte Mrs. Wilkins ihren Namen weg. Eugenia Callista hatte jedoch das Beste aus diesem schlechten Scherz zu machen gewußt und prompt auf ihre Visitenkarten »Madam Wilkins« drucken lassen, jedoch niemals mehr eine dieser Karten in einem Kelling-Haus präsentiert.
Selbst nachdem sie gestorben war und ihren Palast der Stadt als Museum hinterlassen hatte, waren die Kellings dem Anwesen der Madam ferngeblieben. Daher betrachtete Sarah jetzt mit dem angenehmen Gefühl, das der Genuß verbotener Früchte mit sich zu bringen pflegt, einen sich mausernden Pfau im Innenhof. Aus unerfindlichen Gründen war der Hof gerade völlig leer, wenn man von den Vögeln, den Fischen im Seerosenteich und einem gelangweilt aussehenden Wächter, der an einen der Pfeiler gelehnt stand, einmal absah. Das Stimmengewirr aus dem Tintoretto-Saal klang wohltuend weit entfernt. Die Strahlen der frühen Aprilsonne fielen durch die riesigen Oberlichte. Sarah blinzelte und gähnte.
Bittersohn lächelte ihr zu. »Müde, Mrs. Kelling?«
Sie siezten sich immer noch, wie es sich für eine Dame, die gerade fünf Monate verwitwet war, und für einen Gentleman, der erst seit Januar in ihrer Pension wohnte, gehörte, doch irgendwie hatte Mr. Bittersohn inzwischen eine Art, sie mit »Mrs. Kelling« anzureden, die Sarah jedes Mal bewußt machte, daß sie eigentlich unverheiratet war. Außerdem schien er sehr viele Freikarten für Konzerte und Theaterveranstaltungen zu bekommen, von denen er annahm, daß sie vielleicht Lust hätte, ihn dorthin zu begleiten. Natürlich nur, wenn sie auch nichts anderes vorhatte, was rein zufällig tatsächlich nie der Fall war. Es machte ihr außerdem großen Spaß, endlich wieder auszugehen, nachdem sie mit einem Ehemann, der doppelt so alt wie sie gewesen war, ein derart zurückgezogenes Leben geführt hatte. Alexander wäre zudem der letzte gewesen, der ihr geraten hätte, eine Freikarte verfallen zu lassen. Also lächelte sie zurück, obwohl es eigentlich kein besonders gutes Konzert gewesen war.
»Das kommt wahrscheinlich von der warmen Sonne und dem Duft der Blumen. Es ist aber auch wirklich wunderschön hier, finde ich. Allerdings frage ich mich, warum Madam offensichtlich der Ansicht war, es sei kultivierter, derartig harte Stühle in den Musik – mein Gott, sehen Sie bloß!«
Plötzlich stürzte etwas Großes, Dunkles an ihnen vorbei in die Tiefe und schlug zwei Stockwerke tiefer dumpf in die rosa- und lilafarbenen Hyazinthen. Ein Pfau und ein Wächter schrien gleichzeitig. Bittersohn war bereits die Marmortreppe hinuntergerannt, bevor das Echo verklungen war.
Sarah eilte ihm nach, so schnell es ihre hohen Absätze und ihr enger Rock erlaubten. Jetzt konnte sie das zusammengekrümmte Etwas im Garten liegen sehen. Es handelte sich um ein Mitglied der Palastwache, dessen grüne Uniform merkwürdig gut mit den grünen Blättern im Blumenbeet harmonierte. Der Wächter im Hof geriet ins Schwitzen; völlig außer sich versuchte er verzweifelt, ganz allein die Menschenmenge abzuwehren, die im Handumdrehen dort aufgetaucht war, wo sich noch kurz zuvor niemand aufgehalten hatte.
»Treten Sie bitte zurück!« rief er. »Mein Herr, Sie können doch nicht so einfach –«
»Ich bin Doktor Bittersohn«, stellte sich Sarahs Begleiter vor. Er war zwar Doktor der Kunstgeschichte, doch der Trick verfehlte seine Wirkung nicht. Die Neugierigen traten zurück, und der Wächter atmete erleichtert auf. Bittersohn beugte sich über den leblosen Körper.
»Schädelfraktur und gebrochenes Genick«, verkündete er. »Wer ist der Mann, kennen Sie ihn?«
»Sicher.« Der noch lebende Wächter befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge. »Ich kann ihn an seiner abgetragenen Uniform erkennen. Das ist Joe Witherspoon, der älteste Angestellte hier. Der war schon hier, als Curley noch Bürgermeister war.«
»Wieso ist er denn dann nicht vom Balkongeländer weggeblieben?« witzelte ein Spaßvogel in der Menge.
Der Wächter schüttelte den Kopf. »Versteh’ ich auch nicht. Joe hatte doch auf dem Balkon überhaupt nichts zu suchen. Sein Posten ist im Tizian-Saal im zweiten Stock. Eine Menge Treppen für einen alten Mann, aber Joe wollte es partout so. Wundert mich eigentlich, daß er seine Freundin auch nur für eine Minute alleingelassen hat, wo sich hier heute viele Besucher aufhalten.«
»Was für eine Freundin?« fragte Bittersohn.
Der Wächter stieß ein verlegenes Lachen aus. »Wir nennen es immer den großen Tizian, es stellt die Schändung der Lucretia dar. Wir ziehen Joe immer damit auf, daß er eine Schwäche für diese Lucretia hat, wissen Sie. Ich meine natürlich, wir haben ihn immer damit aufgezogen.«
Inzwischen waren noch mehr Wächter eingetroffen, und der erste wandte sich erleichtert von seinem toten Kollegen ab. »Ganz unter uns, Doktor, ich glaube, Joe war sowieso in vielen Dingen ein bißchen merkwürdig. Das werden Ihnen die anderen Jungs auch bestätigen können.«
Da die anderen Jungs jedoch wenig Lust zu haben schienen, sich zu diesem Punkt zu äußern, fuhr ihr Sprecher selbst fort. »Sehen Sie, wir haben unten im Keller einen Umkleideraum, wo wir unsere Sachen aufbewahren und uns ab und zu in der Kaffeepause eine Zigarette genehmigen. Gestern Nachmittag bin ich also runtergegangen, und da sehe ich Joe dasitzen, den Kopf aufgestützt, und er sagt keinen Ton. Ich denke mir, vielleicht hält er bloß ein kleines Nickerchen, wie man das manchmal so macht. Ich trinke also meinen Kaffee und lege die Füße hoch. Als meine Pause vorbei ist und ich gehen will, sitzt Joe immer noch genauso da. Ich sage also: ›Was ist denn los, Joe? Wieso sitzt du denn immer noch hier? Ich denke, du kannst es kaum erwarten, zu deiner Freundin zurückzukommen?‹ Da sagt er doch glatt: ›Sie ist nicht mehr wie früher. Sie hat sich verändert. Sie ist nicht mehr da.‹ Können Sie sich da einen Reim drauf machen?«
Als Kunstexperte, dessen Spezialität Fälschungen und Diebstähle waren, konnte sich Bittersohn darauf sehr wohl einen Reim machen. »Ist das Gemälde denn irgendwie verändert?« fragte er vorsichtig.
»Natürlich nicht. Ich bin doch selbst hochgegangen und habe es mir angesehen.«
»Und Sie denken, Sie kennen diesen Tizian gut genug, um eine Veränderung feststellen zu können?«
»Klar, ich habe Joe oft genug vertreten. Außerdem ist es wirklich ein Bild, das sich ein Mann ganz genau ansieht, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Ich verstehe. Warum gehen Sie nicht und sehen nach, ob die Polizei schon benachrichtigt worden ist? Sagen Sie dem Wächter am Eingang, er soll keinen herein- oder herauslassen, bis die Polizei eingetroffen ist. Sie wird sicher viele Fragen stellen wollen.« Bittersohn ließ seinen Blick über die Menge schweifen, die sich inzwischen durch die Besucher aus dem Tintoretto-Saal beträchtlich vergrößert hatte. »Da kann man den Herren allerdings nur viel Glück wünschen.«
Er richtete sich auf und schaute sich nach Sarah um, der es mittlerweile gelungen war, sich einen Weg durch die Menschenmassen an seine Seite zu bahnen. »Meinen Sie, an der Sache ist irgendetwas faul?« flüsterte sie.
»Kann ich noch nicht sagen. Scheint mir ein etwas merkwürdiger Unfall zu sein für einen Wächter, es sei denn, er hat sich tatsächlich zu weit über die Brüstung gelehnt, um einen Blick auf irgendetwas hier unten zu werfen, und dabei das Gleichgewicht verloren. Er war ja nicht mehr der Jüngste, vielleicht litt er auch gelegentlich an Schwindelanfällen.«
»Aber es gab doch gar nichts Besonderes zu sehen. Erinnern Sie sich nicht, wie leer der Garten gerade war? Er ist genau über uns vom Balkon gefallen, also kann er nichts gesehen haben, was wir nicht auch gesehen haben.«
»Stimmt auch wieder. Aber er hat geschrien, oder irre ich mich da?«
»Nein, ich glaube, das war der Pfau. Und der andere Wächter hat im selben Moment auch geschrien. Ich glaube nicht, daß Witherspoon einen Ton von sich gegeben hat.«
Der Wächter im Hof bestätigte Sarahs Beobachtung. Er habe nicht gesehen, wie Joe über die Brüstung gestürzt sei, doch er habe hochgeschaut, als der Pfau schrie, und gesehen, wie Joes Körper auf den Boden aufgeschlagen sei. Sehr wahrscheinlich habe er daraufhin tatsächlich einen Schrei ausgestoßen. Er könne sich nicht daran erinnern, daß Joe irgendeinen Laut von sich gegeben habe – was ihn allerdings nicht verwundere, denn Joe sei sowieso nie sehr gesprächig gewesen.
»Kommen Sie, Mrs. Kelling«, Bittersohn hatte offensichtlich inzwischen eine Art offizielle Funktion übernommen, jedenfalls versuchten die Wächter nicht einmal, ihn und Sarah aufzuhalten, ließen jedoch sonst niemanden auf die Treppe. Es strömten immer noch Nachzügler aus dem Tintoretto-Saal, aber als die beiden schließlich den zweiten Stock erreichten, waren sie ganz allein in dem geräumigen Marmortreppenhaus. Selbst die Wachen vom ersten Stock hatten ihre Posten verlassen, um unten im Hof bei der Bändigung der Massen zu helfen.
»Verdammt gute Gelegenheit zum Klauen«, bemerkte Bittersohn. »Alles völlig unbewacht. Nein, doch nicht, ich habe mich offenbar geirrt. Eine treue Seele hat das sinkende Schiff noch nicht verlassen.«
»Wer denn?« fragte Sarah, die froh war, daß sie sich einen Moment ausruhen und Atem schöpfen konnte, und sah sich um. »Oh, Sie meinen den goldigen kleinen Wächter da unter dem falschen Romney? Herrje, das ist ja mein Cousin Brooks!«
Sie stürzte durch die Halle, die Madam Wilkins den Großen Salon getauft hatte und die mit Sänften und alten Rüstungen vollgestellt war, in die unmöglich einmal irgendjemand hineingepaßt haben konnte.
»Cousin Brooks, was machst du denn hier?«
»Guten Tag, Sarah.« Der ältere Herr begrüßte sie herzlich, behielt jedoch weiterhin seine Umgebung im Blick. »Wie nett du in dem blauen Kleid aussiehst! Deiner Mutter hat es auch immer hervorragend gestanden. Du entwickelst dich ja allmählich zu einer bildhübschen jungen Dame.«
»Wird ja auch langsam Zeit, findest du nicht? Nächsten Monat werde ich immerhin 27.«
»Ach du liebe Zeit. Jem hat mir übrigens erzählt, daß du dein Haus in eine Pension verwandelt hast. Das mit dem armen Alex hat mir wirklich leidgetan. Ich kann mich gar nicht erinnern, ob ich dir überhaupt schon kondoliert habe.«
»Hast du, und zwar in einem sehr lieben Brief aus Süd-Dakota, glaube ich. Du hast dort Vorträge über deine Indianerfunde gehalten.«
»Stimmt. Jetzt trete ich als Vogelstimmenimitator auf Kinderfesten auf. Für den Fall, daß – eh –« Er blickte auf Bittersohn.
Sarah errötete. »Oh, Verzeihung. Darf ich dir einen meiner Pensionsgäste, Mr. Max Bittersohn, vorstellen? Daß Brooks auch ein Kelling ist, brauche ich sicher nicht zu sagen. Ich weiß allerdings nicht genau, um wieviel Ecken herum wir verwandt sind, und ich habe keine Ahnung, was Brooks hier macht.«
»Ich bin genau genommen dein Onkel siebten Grades, und ich bin hier, weil ich einer Freundin einen Gefallen tue. Haben Sie eben Bittersohn gesagt?«
»Ich nicht, aber Ihre Nichte. Ja, Sie haben ganz richtig gehört.«
»Nicht etwa der Max Bittersohn, der dem alten Thaddeus damals seine Corots zurückgebracht hat? Ich wußte doch, ich habe Sie irgendwo schon mal getroffen. Eine Zeitlang war ich Ihr Hauptverdächtiger, erinnern Sie sich? Nett, Sie wiederzusehen, Sir.« Brooks drückte Bittersohns Hand genauso herzlich, als wären sie in derselben Freimaurerloge.
»Meine Güte, das ist wirklich die schönste Überraschung, seit ich eine Hudson-Uferschnepfe über die Hatch Memorial Shell zwei Grad nordöstlich von Harry Ellis Dickson habe fliegen sehen. Darf ich mir die neugierige Frage erlauben, ob Sie mir wieder auf den Fersen sind? Gibt es etwa irgendwelche Unstimmigkeiten bei den Murillos?«
»Wenn ich das nur wüßte.« Bittersohn genoß das Wiedersehen ebenfalls. »Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß ein Wächter namens Joe Witherspoon vor etwa drei Minuten einen Kopfsprung vom Balkon gemacht hat und in den Hyazinthen gelandet ist. Wissen Sie irgendetwas darüber?«
»Deshalb also der ganze Tumult im Hof? Hatte mich schon gewundert.«
»Sie sind nicht hingegangen und haben nachgesehen?«
»Wo denken Sie hin? Woher soll ich wissen, daß nicht alles absichtlich inszeniert wurde, um mich hier von meinem Posten wegzulocken? Natürlich habe ich Witherspoon gekannt. Er hätte eigentlich dort drüben im Tizian-Saal sein sollen.« Kelling zeigte auf die gegenüberliegende Seite des Großen Salons. »Was hat er denn auf dem Balkon gewollt?«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir diese Frage beantworten.«
»Sie können mir glauben, daß ich nichts lieber täte, als Ihnen zu helfen, soweit es in meiner Macht steht, aber ich weiß leider gar nichts. Ich habe Joe das letzte Mal gesehen, als er heute zum Dienst erschien, kurz bevor das Museum aufmachte, und das ist sonntags um ein Uhr, wie Sie vielleicht wissen. Ich habe meinen Kopf zu ihm reingesteckt und ihm gesagt, daß ich heute für Jimmy Agnew einspringe, der sonst normalerweise hier ist. Joe schien mir genauso zu sein wie immer.«
»Sie haben nicht gesehen, wie er aus dem Tizian-Saal gekommen ist?«
»Nein, habe ich nicht. Wie Sie wohl schon festgestellt haben, ist meine Sicht von all den schäbigen, alten, zusammengebrochenen Sänften, mit denen Mrs. Wilkins ihr Heim vollzustopfen beliebte, völlig blockiert.«
»Sah er denn irgendwie deprimiert aus, als Sie mit ihm gesprochen haben?«
»Joe sah immer deprimiert aus.«
»Hat er zufällig den großen Tizian erwähnt? Hat er Ihnen vielleicht erzählt, daß irgendetwas damit nicht stimmte?«
»Mein lieber Mr. Bittersohn«, sagte Brooks Kelling herzlich, »mit Lucretia stimmt alles. Ich bedaure allerdings aus tiefstem Herzen, daß mir noch nie eine Dame mit diesen Proportionen über den Weg gelaufen ist, sonst wäre ich heute mit Sicherheit kein einsamer Junggeselle. Hätte Joe irgendeine Bemerkung in dieser Hinsicht fallenlassen, hätte ich ihm natürlich heftigst widersprochen, aber er hat kein Wort gesagt. Er hat nie sehr viel mit mir geredet. Wenn er überhaupt mit jemandem gesprochen hat, dann wohl eher mit Brown, dessen Aufgabe darin besteht, die Korridore abzugehen und dabei ein möglichst dienstliches Gesicht aufzusetzen. Wenn jemand Joe hat fallen sehen, ist es Brown gewesen. Wenn es einer von uns gesehen hat, dann war es sicher Brown.« Er sprach lauter. »Brown? Brown?«
Niemand antwortete.
»Vielleicht ist er nach unten gegangen«, vermutete Sarah. »Oder vielleicht – wartet mal, ich glaube, da kommt jemand.«
»Das ist nicht Brown«, sagte ihr Cousin verärgert, als ein anderer Wächter sich zwischen den Sänften hindurchschlängelte. »Das ist Vieuxchamp, und der sollte eigentlich jetzt bei den Uccellos sein. Warum bist du nicht auf deinem Posten, Vieuxchamp?«
»Immer mit der Ruhe, Kelling. Keiner hat das Stockwerk verlassen, und die Polizei läßt niemanden hoch. Wer sind denn diese Leute hier, und warum brüllst du nach Brownie?«
»Das ist Mr. Bittersohn, und er möchte gern Brown fragen, wer Joe Witherspoon über die Balkonbrüstung gestoßen hat.«
»Gestoßen? Gott im Himmel, wer hätte das gedacht?« Vieuxchamp drehte sich auf dem Absatz um und steuerte auf die Bogengänge zu. »Ich suche in den Korridoren. Du schaust in der Kapelle nach. Brownie? He, Brownie, wo bist du?«
Es war Sarah, die schließlich den vermißten Wächter fand. Er lag völlig bewegungslos in einem Chorgestühl aus dem zwölften Jahrhundert, hatte die Augen geschlossen und jammerte leise. Cousin Brooks zog eine Ammoniakampulle hervor und zerbrach sie unter der Nase des Mannes. Brown würgte, spuckte und versuchte sich aufzusetzen, was ihm jedoch nicht gelang, denn er war recht beleibt und zu sehr eingeklemmt. Brooks und Max Bittersohn mußten die wuchtige, mit Schnitzereien verzierte Eichenbank hochhieven, um ihn zu befreien. Vieuxchamp, der behauptete, er habe einen beidseitigen Leistenbruch, trug zur Rettungsaktion nur insofern bei, indem er fragte: »Wie zum Teufel bist du bloß unter das Ding gekommen?«
»Weiß ich auch nicht«, erwiderte Brown benommen. »Ich machte gerade meine Runde, und irgendjemand hat mich von hinten überfallen. Fehlt denn irgendwas?«
»Ja, Joe Witherspoon. Er ist vom Balkon gestürzt und hat sich den Schädel aufgeschlagen. Das Gehirn ist über den ganzen Hof verspritzt«, erläuterte Vieuxchamp mit einer Begeisterung, die Sarah entschieden fehl am Platze fand.
»Was du nicht sagst! Was hatte Joe denn? Ist ihm etwa schwindelig geworden oder – ach herrje.« Brown kam mühsam wieder auf die Beine. »Ich verstehe.«
Die Kapelle wurde nur vom Schein einiger Votivkerzen auf einem Kerzenständer erhellt. Es dauerte einen Moment, bis die anderen das Durcheinander von Silbergerätschaften neben dem Altar entdeckt hatten.
»Schaut euch das mal an! Die haben versucht, das Kirchensilber zu stehlen. Ich kam in ihre Nähe, und da haben sie mich einfach niedergeschlagen und unter die Kirchenbank verfrachtet. Joe hat den Krach gehört und ist gekommen, um nachzusehen, was passiert ist, also haben sie ihn über die Balkonbrüstung gestoßen, damit er den Mund hält. Dann ist ihnen bewußt geworden, was sie getan haben, und sie haben beschlossen, daß es besser wäre, abzuhauen und die Beute liegenzulassen.«
»Das klingt mir aber nicht besonders logisch«, meinte Sarah. »Warum sollte jemand all diese unhandlichen Kelche und das ganze Zeug mitten am helllichten Tag aus einem Gebäude herausschmuggeln wollen, in dem es vor Besuchern nur so wimmelt? Die hätten doch wissen müssen, daß so etwas nie gutgehen würde.«
»Sie hätten es einschmelzen können.«
»Und wo? Vielleicht über den kleinen Votivkerzen?«
»Ja, woher soll ich denn das wissen? Ich habe nur das gesagt, was wohl auch passiert ist.«
»Sehr freundlich von Ihnen«, knurrte Bittersohn. »Vieuxchamp, sind Sie bitte so nett und gehen nach unten in den Hof und bitten jemanden von der Polizei, zu uns hochzukommen? Brown, warum sind Sie übrigens so sicher, daß Witherspoon den Krach in der Kapelle gehört hat? Der Tizian-Saal ist immerhin genau auf der anderen Seite des Großen Salons und außerdem ein ganzes Stück entfernt, oder nicht?«
»Das ist richtig, aber –«
»Haben Sie ihn denn gesehen?«
»Nicht, daß ich mich erinnere.«
»Ist er denn öfter herumgewandert?«
»Joe? Eigentlich nicht, aber es ist durchaus möglich, oder? Vielleicht sind die Diebe ja auch zu ihm hineingerannt, nachdem sie mich niedergeschlagen haben, und Joe hat ihre Gesichter gesehen, und sie haben es mit der Angst bekommen und ihn umgebracht. Woher soll ich das schließlich wissen? Ich war doch völlig weg vom Fenster.«
»Sie sagen immer ›sie‹, Brown. Wie viele Silberdiebe waren es denn?«
»Gott im Himmel, das weiß ich nicht. Vielleicht zwei oder drei.«
»Warum sind Sie so sicher, daß es nicht nur einer war? Sie haben doch schließlich niemanden gesehen, oder irre ich mich?«
»Ich habe wahrscheinlich Schritte hinter mir gehört.«
»Und warum haben Sie sich nicht umgedreht?«
»Allmählich reicht es mir aber. Wer sind Sie überhaupt? Lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe Kopfschmerzen. Ich sage kein Wort mehr, bis die Polizei da ist.«
Der verletzte Wächter pflanzte sich auf die wurmstichige Bank, setzte seine beiden großen Füße fest auf den Mosaikfußboden und preßte seine fleischigen Lippen zu einem erstaunlich schmalen Strich zusammen. Die anderen standen um ihn herum und beobachteten ihn, bis ein genervt aussehender junger Mann in einem verknitterten Regenmantel mühsam die drei langen Treppen des großen Treppenhauses heraufkam.
»Du liebe Zeit, Bittersohn, was machen Sie denn hier?« stieß er freundlich hervor. »Ich wußte doch genau, daß ich heute Morgen besser im Bett geblieben wäre. Wieder mal die Aktbilder angestarrt, was?«
»Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß eine Dame anwesend ist«, sagte Bittersohn äußerst würdevoll. »Mrs. Kelling, darf ich Ihnen Lieutenant Davies vorstellen?«
»Guten Tag.« Sarah reichte ihm die Hand. »Erstaunlich, daß wir uns noch nicht kennen. Ich dachte schon, ich hätte inzwischen jeden einzelnen Polizisten hier kennengelernt.«
»Oh, diese Mrs. Kelling sind Sie also?« Lieutenant Davies schüttelte ihre kleine Hand so vorsichtig, als habe er Angst, sie könnte abbrechen. Wenn man bedachte, was den Kellings in der letzten Zeit alles zugestoßen war, konnte man nicht behutsam genug sein. »Jetzt verstehe ich auch endlich, warum die ganzen Jungs in Sie verliebt sind.«
»Tatsächlich? Das finde ich aber sehr schmeichelhaft. Zum Glück bin ich diesmal nur eine unschuldige Zuschauerin. Mr. Bittersohn hatte Freikarten für das Konzert und hat mich eingeladen mitzukommen.«
»Nicht schlecht, Bittersohn, wenn man bedenkt, daß die Konzerte sowieso frei sind und es deshalb so etwas wie Freikarten überhaupt nicht gibt.«
»Herzlichen Dank für die freundliche Aufklärung, Davies. Erinnern Sie mich daran, daß ich Ihnen bei Gelegenheit auch mal einen Gefallen tue. Wo wir gerade von Konzerten sprechen, dieser Gentleman auf der Bank hat ein Lied auf den Lippen, aber er möchte nur für Sie singen. Mich kann er offenbar nicht leiden.«
»Wer kann das schon? Aber bleiben Sie ruhig noch ein bißchen hier.«
»Selbstverständlich. Stört es Sie, wenn der Cousin von Mrs. Kelling uns ein paar von den unbezahlbaren Kunstschätzen vorführt? Ich würde mir gern mal den großen Tizian ansehen.«
»Das dachte ich mir schon«, sagte Brooks und führte sie bereitwillig zu dem Bild. Vielleicht war es wirklich Tizian gewesen, der dieses beliebte Motiv auf die Leinwand gebannt hatte, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls ertrug Lucretia offenbar ihre Schändung mit großer Fassung. Selbst durch eine dicke Schicht aus Staub und altem Firnis war die Dame übrigens eine beträchtliche Augenweide.
»Wenn man eine Vorliebe für dicke Frauen hat, mag sie ja ganz nett sein«, bemerkte Sarah verächtlich. »Aber jetzt verraten Sie mir mal, warum Sie zu diesem Wächter Brown so unfreundlich waren.«
»Weil Brown ein Lügner ist und noch dazu ein verdammt schlechter. Er behauptet, jemand hätte ihn von hinten niedergeschlagen, dabei lag er auf dem Rücken, als wir ihn gefunden haben. Er war so fest unter der Bank eingeklemmt, daß wir sie hochheben mußten, um ihn zu befreien. Die angeblichen Diebe, die doch so sehr in Eile waren, daß sie ihre ganze Beute zurückließen, hätten sich demnach also die Zeit genommen, ihn umzudrehen, das schwere Chorgestühl hochzuheben und auf ihn draufzusetzen. Oder sollen wir glauben, er hätte seinen fetten Wanst eingezogen und sich selbst mit seinen eigenen Händen unter die Bank bugsiert, ohne daß ihm jemand geholfen hat?«
»Aber warum sollte er so etwas denn tun?«
»Vielleicht hat er gesehen, wie Witherspoon über das Geländer gestoßen wurde, es mit der Angst zu tun bekommen und sich versteckt? Vielleicht hat er es auch selbst getan und sich so ein Alibi zu verschaffen versucht? Vielleicht war der Mörder zufällig ein Freund von ihm und hat ihm geraten, sich dünne zu machen, damit er nicht mit in die Sache hineingezogen wurde?«
Brooks Kelling bewegte zustimmend sein gepflegtes graues Haupt. »Genau die Art von scharfsinniger Analyse, die ich von Ihnen erwartet habe, Bittersohn. Natürlich erzählt Brown Märchen. Sogar Sarah hat darauf hingewiesen, daß es absolut unsinnig ist, an einem Sonntagnachmittag mit so viel Publikumsverkehr Kirchensilber zu stehlen. Todsicher hat Brown das ganze Zeug selbst dort hingelegt. Todsicher sind seine Fingerabdrücke darauf, aber die zählen schließlich nicht, weil er immer behaupten kann, er habe das Silber während des Dienstes angefaßt.«
»Wie würden Sie Brown beschreiben, Kelling?«
»Schwammig. Schwammiger Körper und noch viel schwammigeres Gehirn. Dämlich genug, um sich von jemandem mißbrauchen zu lassen. Aber zu dämlich, um einen guten Komplizen abzugeben. Ich nehme an, dieser Jemand hat ihm gesagt, er soll einen Überfall vortäuschen, hat aber vergessen, ihn darüber aufzuklären, daß man meist nach vorn fällt, wenn man von hinten eins über den Schädel bekommt.«
»Ist irgendwer hier besonders intelligent?«
»Mr. Fitzroy, der Hausverwalter, verfügt über einen äußerst scharfen Verstand. Zufällig hat er aber die ganze Woche Urlaub, ein Umstand, dem man Bedeutung beimessen kann oder aber auch nicht. Vieuxchamp zeigt gelegentlich Anflüge von Intelligenz. Was man von Jimmy Agnew, dem Mann, den ich hier vertrete, allerdings nicht behaupten kann. Und Melanson würde nicht mal wagen, ohne Erlaubnis von oben zu denken.«
»Wer ist Melanson?«
»Ein absoluter Hasenfuß. Er hat seinen Posten am Ende des Flurs hier auf dieser Etage bei der italienischen Keramik. Keine Menschenseele, die auch nur halbwegs normal ist, würde zwar auf die Idee kommen, diese abscheulichen Dinger zu klauen, aber Melanson lebt in ständiger Angst, daß irgendein militanter Ästhet mit einem Knüppel zu ihm hereinstürmt und die ganze Sammlung zertrümmert, um Boston zu verschönern. Ich bin sicher, daß er immer noch auf seinem Posten steht. Der rührt sich erst von der Stelle, wenn es ihm jemand erlaubt.«
»Dann wollen wir ihm mal kurz einen Besuch abstatten. Was fehlt Agnew eigentlich?«
»Angeblich irgendein Bazillus, aber wahrscheinlich hat er die Nachwirkungen von einer Überdosis Whiskey zu verkraften.«
»Wieso hat man denn gerade Sie dazu auserkoren, ihn zu vertreten?«
»Jimmys Schwester Dolores hat mich gefragt. Dolores und ich sind alte Freunde.«
»Was hat Dolores Agnew denn mit der Einstellung von Wachen zu tun?«
»Ihr richtiger Name ist Dolores Agnew Tawne, verwitwet seit Gott weiß wie lange. Sie ist hier sozusagen das Öl auf den quietschenden Türangeln. Sie macht die Bilder sauber, staubt die Statuen ab, poliert das Silber, verarztet die Pfauen, schikaniert die Gärtner, arrangiert die Blumen, macht die Kerzen in der Kapelle an und weiß der Kuckuck was sonst alles. Ich vermute, daß Jimmy es einzig und allein ihr zu verdanken hat, daß er noch hier arbeitet. Er ist ein sehr netter Kerl, aber weiß Gott kein besonders fleißiger Mensch. Dolores allerdings ist das Salz der Erde.«
Sarah wußte sofort, was er meinte: eine laute Stimme und eine massige Erscheinung. Brooks war zeitlebens das geborene Opfer für dominante Frauen gewesen.
Sie informierten Davies darüber, was sie vorhatten, und er beschloß, sie zu begleiten.
Den völlig verstörten Melanson fanden sie zusammengesunken zwischen seinem grotesken Nippes. Als er sie sah, sprang er hastig auf.
»Gott sei Dank, daß Sie es sind, Mr. Kelling. Ist es nicht furchtbar? Vieuxchamp hat es mir gerade erzählt.« Er stammelte noch ein- oder zweimal »furchtbar«, dann versagte ihm wieder die Stimme.
»Haben Sie irgendetwas bemerkt, Mr. Melanson?« fragte Davies.
»Um Gottes willen, natürlich nicht. Überhaupt nichts. Bis Vieuxchamp es mir erzählt hat, hatte ich keine Ahnung.«
»Haben Sie von dem ganzen Lärm im Hof denn nichts mitbekommen?«
»Doch schon, aber was konnte ich schon groß tun? Ich wußte gleich, daß irgendetwas Furchtbares passiert sein mußte.«
»Aber Sie sind nicht hingelaufen und haben nachgesehen, was los war?«
»Das ging doch nicht, wir dürfen doch unseren Posten nicht verlassen. Darin ist Mr. Fitzroy sehr streng. Vieuxchamp hätte auch gar nicht kommen dürfen. Ich hoffe, Sie glauben nicht etwa, daß ich ihn hergelockt habe?«
»Das war schon in Ordnung, Mr. Melanson. Die Polizei hat das ganze Stockwerk abgeriegelt. Haben Sie irgendeine Vorstellung, warum jemand Joe Witherspoon hätte töten sollen?« wollte Davies wissen.
Die Frage versetzte das ängstliche Gemüt in schiere Panik. »Die- Diebe«, stotterte Melanson. »Vieuxchamp hat gesagt, es waren Diebe. Es können nur Diebe gewesen sein. Oder etwa nicht?«
»Und warum? Nicht unbedingt. Ich kann mich nicht erinnern, daß im Museum je etwas gestohlen worden ist.«
»Oh nein, gestohlen wurde hier nichts. Jedenfalls nicht«, korrigierte er sich schnell, »soviel ich weiß.«
»Vermuten Sie denn, daß es möglicherweise einen Diebstahl gegeben hat, der nie aufgedeckt worden ist?«
»Um Himmels willen, nein! Ich würde nicht im Traum daran denken, so etwas zu vermuten. Aber wenn sich jemals herausstellen sollte, daß es doch der Fall war, und ich gesagt habe, daß es nicht so war, denkt vielleicht irgendjemand, daß ich –«
»Mr. Melanson«, unterbrach ihn Bittersohn, »können Sie sich daran erinnern, daß sich Witherspoon jemals darüber beklagt hat, daß sich irgendetwas verändert hat?«
»An den beiden Uccellos, meinen Sie? Nein, ich glaube, das war Mr. Fitzroy. Vielleicht irre ich mich auch, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß es Mr. Fitzroy war, der mit Mrs. Tawne gesprochen hat. Fast sicher, meine ich natürlich. Nun ja, relativ sicher.«
»Und was genau hat Mr. Fitzroy zu Mrs. Tawne gesagt?«
»Sie dürfen bitte nicht denken, daß ich absichtlich zugehört habe. Aber Mr. Fitzroy hat kein Blatt vor den Mund genommen, das kann ich Ihnen sagen. Ich glaube, darüber darf ich ruhig sprechen. Ich meine, das bedeutet nicht, daß er – das heißt, eigentlich war es doch Mrs. Tawne, die –«
»Die was?«
»Die Bilder umgehängt hat, weil sie dachte, daß sie so besser aussehen würden. Obwohl Madam Wilkins es ausdrücklich anders angeordnet hatte! Es war – es war –« Er suchte verzweifelt nach Worten.
»Sie müssen wissen, Bittersohn, daß in Madams Testament ausdrücklich festgelegt ist, daß alles genauso zu bleiben hat, wie sie es bestimmt hat.«
Brooks Kelling nahm es auf sich, die Erklärung für Melansons unverständliches Gestammel zu liefern. »Madam Wilkins besaß einen unglaublich schlechten Geschmack.«
»Stimmt«, pflichtete ihm Melanson erleichtert bei. »Und da hingen sie sich also auf einmal gegenüber, wo sie sich doch vorher immer den Rücken zugekehrt hatten. Ich habe es selbst gesehen.«
»Wann war das?«
»Tja – da muß ich mal nachdenken –, ich glaube, das war, als ich den Karbunkel hatte. Vielleicht vor drei, nein vier – meine Güte, es ist so schwer, sich zu erinnern. Ich würde sagen, letzten Oktober vor etwa vier Jahren, aber ganz genau kann ich es auch nicht mehr sagen.«
Bittersohn seufzte. »Können Sie sich an nichts erinnern, was weniger lang zurückliegt?«
»Ich hoffe doch sehr, daß derartige Zwischenfälle nicht sehr häufig sind!«
Glücklicherweise tauchte in diesem Moment Vieuxchamp wieder auf und bewahrte Sarah davor, sich durch einen Kicheranfall zu blamieren.
»Ich habe mich umgeschaut«, erklärte er. »Soweit ich sagen kann, scheint nichts zu fehlen. Doch um ganz sicher zu sein, müßten wir die Inventarliste dazunehmen.«
»Wer ist für die Liste zuständig?« fragte Lieutenant Davies.
»Mr. Fitzroy. Aber er ist erst morgen früh wieder hier.«
»Wer ist der Verantwortliche, wenn er nicht da ist?«
»Man könnte sagen, wir alle. Jeder Wächter ist für seinen eigenen Posten verantwortlich.«
»Mr. Fitzroy ist ein sehr ungewöhnlicher Mann«, warf Brooks ein. »Er glaubt fest an die Würde des Individuums.«
»Außerdem«, sagte Vieuxchamp, »haben wir alle viel zuviel Angst vor ihm, um Mist zu bauen. Stimmt’s, Hasenfuß?«
»Wir haben alle den größten Respekt vor Mr. Fitzroy«, sagte Melanson steif.
»Der Herr stehe Brown bei, wenn Fitzy rausfindet, daß er beinahe jemanden mit der Hostienschale hätte durchbrennen lassen!« fuhr Vieuxchamp fort. »Brownie hat Glück, daß er eins über den Schädel gekriegt hat. Das könnte möglicherweise zusammen mit der Tatsache, daß der arme Joe umgebracht worden ist, als mildernder Umstand angesehen werden.«
»Dann glauben Sie an Browns Hypothese, daß Witherspoon ermordet wurde, damit er die angeblichen Diebe nicht identifizieren konnte?« fragte Bittersohn.
»Tja, ich denke schon. Das klingt doch auch logisch, oder nicht?«
Bittersohn machte sich nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, daß es lediglich dann logisch klang, wenn man Browns plumper Vortäuschung eines Überfalls Glauben schenkte. Wenn Vieuxchamp wirklich gelegentliche Anflüge von Intelligenz hatte, wie Brooks Kelling behauptete, warum schluckte er diese Geschichte so bereitwillig?
»Sie glauben also nicht, daß Witherspoon gefallen oder gesprungen ist?«
Bittersohns Frage schien Vieuxchamp offensichtlich Schwierigkeiten zu bereiten. »Warum hätte er denn springen sollen?«
»Der Wächter unten im Hof sagt, daß Witherspoon sich aufgeregt hat, weil sich an dem großen Tizian, den er so liebte, etwas verändert hat oder er das meinte.«
»An dem Bild? Meine Güte, welcher Mann bringt sich denn schon wegen eines Gemäldes um? Er könnte allerdings auch gefallen sein, jetzt, wo Sie es sagen. Sehen Sie, über dem Hauptausgang hängt die große Uhr. Vom zweiten Stock aus kann man sie nicht sehen, wenn man sich nicht über die Brüstung lehnt. Manchmal tun wir das, um zu sehen, ob schon Kaffeepause ist oder so. Vielleicht hat Joe das auch gerade gemacht, und dabei ist ihm schwindelig geworden. Und dann hat er das Gleichgewicht verloren.«
»Ich wußte gar nicht, daß Joe Schwindelanfälle hatte«, warf Melanson interessiert ein.
»Na klar hatte er die, die ganze Zeit. Vermutlich Arterienverkalkung. Er war ja schließlich kein Jüngling mehr.«
»Wo wir gerade davon reden, wie die Zeit vergeht, fällt mir ein, daß Mrs. Kelling und ich nachschauen sollten, wo Nick Fieringer ist. Er fragt sich bestimmt schon, warum wir uns nach dem Konzert nicht im Tintoretto-Saal haben blicken lassen.« Bittersohn stellte sich hinter Brooks Kelling und veranstaltete eine regelrechte Pantomime, aus der Sarah schließlich »Laden Sie ihn zum Abendessen ein« zu lesen glaubte.
Sie konnte sich zwar den Grund dafür nicht vorstellen, tat ihm jedoch den Gefallen. »Cousin Brooks, es ist schon eine Ewigkeit her, daß wir uns getroffen haben, so daß ich es schade finde, mich jetzt schon verabschieden zu müssen. Magst du nicht nach Dienstschluß bei uns vorbeischauen? Sonntags abends gibt es immer ein informelles Buffet, weil ich nie genau weiß, wer kommt und wer nicht.«
»Das ist aber wirklich nett von dir, Sarah, und ich würde auch gern kommen. Aber ich habe leider schon eine Verabredung. Ich habe nämlich Dolores Tawne eingeladen, mit mir zu essen. In dem kleinen Café drüben an der Kensington Avenue beim Museum of Fine Arts«, fügte er schnell hinzu.
»Warum bringst du sie denn nicht einfach mit? Ich bin sicher, daß wir uns alle freuen würden, sie kennenzulernen.«