Botschaft in Stücken - Cole Brannighan - E-Book

Botschaft in Stücken E-Book

Cole Brannighan

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Beschreibung

Bankdirektor Magnus Farstad hat ein gutes Leben, bis eines Tages ein blutiges Päckchen vor seiner Haustür liegt. Der Inhalt: eine menschliche Nase. Die Botschaft dazu: die schriftgewordene Hölle. Ein grausamer Sadist treibt sein Spiel mit ihm, zerstückelt Menschen und raubt dem beschaulichen Odda am norwegischen Sørfjord den Atem. Um seinem Peiniger auf die Schliche zu kommen, wird Magnus selbst kriminell und verstrickt sich in die Geheimnisse und Intrigen, die unter der Oberfläche seiner kleinen Gemeinde brodeln. Dabei ahnt er nicht, was der Sadist wirklich mit ihm vorhat ...

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Cole Brannighan

Botschaft in Stücken

Norwegen-Thriller

Kacar, Ali: Botschaft in Stücken. Norwegen-Thriller. Hamburg, edition krimi 2021

Originalausgabe 2021

ePub-eBook: 978-3-948972-25-7

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print: 978-3-948972-24-0

Lektorat: Robien Schmidt-Jansen, Bergheim

Korrektorat: Lilly Pia Seidel, Hamburg

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: Wald © francesco paggiaro/pexels.com; Struktur & Karton © pixabay.com

Mehr zum Autor auf Instagram unter »cole_brannighan« und auf seiner Webseite unter »www.cole-brannighan.de«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© edition krimi, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Inhalt

„Prolog“

„1 Alltagsgeschäft“

„2 Müsliriegel“

„3 Entführt“

„4 Armut stinkt“

„5 Angriff ist die beste Verteidigung“

„6 Knochenbrecher“

„7 Hunger und Verzweiflung“

„8 Beifang mit fadem Nachgeschmack“

„9 Verschwörung“

„10 Schnüffelleien“

„11 Aydaleyn“

„12 Unter Beobachtung“

„13 Rygg & Staub“

„14 Blendlicht“

„15 Geisterleuchten“

„16 Eingeritzte Herzen“

„17 Einbruch“

„18 Besuch aus den 80ern“

„19 Kenne deine Freunde“

„20 Schokokuchen“

„21 Chaos“

„22 Mohnblumen“

„23 Lavendel“

„Der Autor“

»Die fassbaren Dinge in dieser Welt sind stets begrenzt. Bedenke daher, was immer du auch bist, sei stets unfassbar.«

Prolog

Der Lauf der Pistole schmeckt seltsam, dachte Magnus und versuchte, seinen Würgereiz zu überlisten. Bitteres Waffenöl, die Kälte des Metalls und eine Spur Ruß waren nichts, was man leicht ignorieren konnte. Er bemühte sich, seine Konzentration aufrechtzuerhalten, doch sein Körper ließ sich nicht so leicht beherrschen, wie es tibetanische Mönche suggerierten.

Die Waffe schabte unangenehm über seine Schneidezähne, während er sie so positionierte, dass die Kugel sein Gehirn und nicht bloß seine Wange durchschlagen würde.

Sein Herz raste und das Blut rauschte ihm in den Ohren. Seine Tränen waren getrocknet und hatten einen Film hinterlassen, der sich wie Klebestreifen anfühlte, die unter der Bewegung seiner Mimik rissen.

Im Fernseher, dessen Bildschirm einen Sprung hatte, flimmerte eine Dokumentation über die Wanderung von Forellen in kanadischen Flüssen. Der Erzähler sprach mit sanfter Stimme und berichtete vom Leben und Sterben der Fische. So sehr sich die Schwimmer auch abmühten, war ihr Tod unausweichlich. So wie seiner.

Magnus saß im Wohnzimmer seiner Villa. Stellenweise löste sich das hellbraune Papiervlies von der Glasfront und entblößte kleine Durchgucke auf den Wald dahinter. Das Kreppband hielt nicht gut auf den glatten Flächen.

Alles war kaputt und zerschlagen. Die Gemälde waren von den Wänden gerissen und lagen in Fetzen auf dem Boden. Bücher, Regalböden und Glasscherben kaputter Skulpturen bildeten ein Chaos auf dem teuren Perser­teppich. Magnus hasste Unordnung, dennoch war es nicht das, was ihn störte.

Vor ihm stand ein Laptop.

Er hatte das unfassbare Video gesehen. Es war der Höhepunkt eines perversen Spiels, das der Sadist mit ihm gespielt hatte. Ein Teil von Magnus wollte das alles nicht wahrhaben, doch das kleine, blutige Bündel neben dem Laptop sprach eine unumstößliche Wahrheit. Schon vor dem Auspacken war ihm klar gewesen, dass dieses Päckchen sich von all den anderen Päckchen unterschied, die er bisher erhalten hatte. Es war auf eine Art anders, die ihm wie Eis unter die Haut gekrochen war. In seiner Erinnerung packte er es noch immer aus. Das Brotpapier, in dem das Grauen eingewickelt gewesen war, hatte unter seinen Händen geknistert. Schicht um Schicht hatte er das Paket wie an einem unendlich grausamen Weihnachtsabend ausgewickelt. Nun lag es vor ihm, als würde es auf ihn zeigen.

Ein abgetrennter Finger. Blutig. Fahl.

Die letzte halbe Stunde seines Lebens hatte sich in sein Gehirn eingebrannt wie ein Bild auf Polaroidpapier. Vor dem heutigen Tag hatte er über Wörter wie Herzschmerz gelacht. Ein Organ konnte nicht vor Trauer schmerzen, denn es war nur ein Muskel und nicht der Sitz der Gefühle. Doch der Finger und das Video stachen wie ein Messerstich in seine Mitte, eine Gräueltat, die ihn wie ein kleines Mädchen hatte heulen lassen.

Nach einer Weile war seinem Körper die Kraft ausgegangen und er erbebte nur noch sachte unter den letzten Nachwehen einer Reihe von tiefen Schluchzern. Seine Reserven waren verbraucht. Eine tiefe Resignation hatte sich seinen Willen und seinen Leib einverleibt. Er hatte keine andere Wahl, dies war sein Ende.

Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Ein letztes Mal streiften die Erinnerungen an die Ereignisse der letzten zwei Wochen seine Gedanken. Es hatte ihn Jahre gekostet, sein Leben aufzubauen und nur wenige Tage gebraucht, um alles zu vernichten.

»Ich werde oft gefragt, was einem Menschen, der sich selbst das Leben nimmt, so durch den Kopf geht. Darauf antworte ich – an meinen zynischen Tagen – mit zwei Worten: Eine Kugel.«

Dr. Eric Mørkved, aus der Reihe: Psychologie der Polizei, Band 1, Die Macht der Entscheidung

1 Alltagsgeschäft

Mit einem leichten Summen fuhren die automatischen Jalousien hoch und rasteten ein. Regentropfen liefen die Scheibe herunter, vereinten sich mit anderen und flossen wie durch Adern über das Glas. Vor der Villa wippten die jungen Kiefern des Waldes im Wind sachte in der Morgen­dämmerung hin und her.

Magnus rieb sich den Schlaf aus den Augenwinkeln und richtete sich im Bett auf. Seine Glieder fühlten sich steif an. Wo bin ich, dachte er. Odda, Norwegen, zu Hause, antwortete der Teil seines Verstandes, der weniger wehtat.

»Aufwachen, Schlafmütze!«, rief Medina aus dem Erdgeschoss.

Magnus erinnerte sich, dass er mit ihr Wein getrunken und sie mit nach Hause genommen hatte. »Verdammt«, murmelte er und wuchtete sich aus dem Bett. Ein Pochen in den Schläfen verriet ihm, dass er mit neununddreißig Jahren nicht mehr so trinken konnte wie während seiner Ausbildung zum Bankkaufmann.

Er stand auf, zog sich seine Boxershorts an und ging zum Badezimmer. Vor dem Spiegel stellte er sich der Bestandsaufnahme: Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab, das Lindgrün seiner Augen wirkte matt über den Ringen unter seinen Lidern. Sie waren fein und dezent und doch zeugten sie von einem Leben, das sich langsam in die andere Richtung neigte.

Wann zum Teufel hatte er den Scheitelpunkt überschritten?

Er fuhr sich mit der Hand über das stoppelige Kinn mit dem Grübchen. Die vereinzelten weißen Barthaare passten zu den grauen Haaren an seinen Schläfen. Beides störte ihn, störte seine Eitelkeit. Vielleicht war es an der Zeit, mit dem Haarfärben zu beginnen.

»Du hast es immer noch drauf«, sagte er zu sich selbst. »Du bist dynamisch, siehst gut aus und kannst junge Frauen klarmachen.« Während die Worte seine Lippen verließen, fehlte seinen Augen der Glanz des unerschütterlichen Selbstbewusstseins, das vor zehn Jahren noch ein anderes gewesen war. Er nahm sich den Trockenrasierer aus der Schublade unter dem Waschbecken und begann, sich fertig zu machen.

* * *

Medina stand in der Wohnküche und drückte eine Taste auf der Kaffeemaschine. Mit einem Brummen startete der Apparat, mahlte die Bohnen und schäumte dann die Milch für den Caffè Latte auf.

Während Magnus sich im Stehen abmühte, seine Krawatte zu binden, genoss er Medinas Anblick.

Sie war zweiundzwanzig und eine wahre Schönheit. Ihr langes, glattes, braunes Haar fiel ihr über die Schultern. Es strahlte im Licht der Deckenleuchten. Um ihre schmale Hüfte trug sie einen senfgelben Gürtel, der einen Kontrast zu ihrem blauen Hosenanzug bildete. Sie nahm sich ihre Ohrringe von der Küchenanrichte und steckte sie an.

Auf der Kochinsel mit den Barhockern standen Knäcke­brot, brauner Käse und Erdbeermarmelade bereit.

»Wie siehst du denn aus?«, fragte Medina und sah Mag­nus an, der sich mit seiner Krawatte abmühte. Sie lief zu ihm und unterstützte ihn beim Knoten. »Hast du gestern einen Albtraum gehabt? Du hast gezuckt und gestöhnt, voll spooky.«

»Weiß nicht, kann mich nicht erinnern.« Magnus ließ sie gewähren, da sich sein Kopf anfühlte, als wolle er bersten. Im Gegensatz zu ihm sah sie fit und wach aus.

»Ich habe im Internet gelesen, dass Leute, die am Anfang des vierzigsten Lebensjahres stehen, nicht so heftig feiern sollten. Der Stoffwechsel sei nicht mehr derselbe.«

»Nicht mehr derselbe? Quatsch! Ich muss nur mehr Sport machen, das ist alles«, log Magnus. Alter ­passte nicht zu dem Bild, das er von sich selbst hatte. Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. »Sag mal, was ist mit deinem Freund?«

»Mit Murat?«, fragte Medina, band die Krawatte etwas zu fest, setzte sich an den Küchentisch und kramte einen Schminkspiegel aus ihrer Handtasche. »Was soll mit dem sein?« Sie klang gereizt.

Magnus lockerte den Knoten und klappte den weißen Kragen herunter. »Du bist noch nie über Nacht geblieben. Wird er sich keine Gedanken machen?«

»Nee, der ist dumm wie Brot. Hat beim Boxen den Gong nicht gehört. Ich habe ihm gestern eine Message geschickt, dass ich bei meiner Tante Leyla übernachte.«

»Und was, wenn er diese Tante fragt?«

»Er hasst diese Tante. Auch wenn er eifersüchtig ist, würde er sie nie anrufen.«

»Sicher?«

»Ganz sicher, sie hat ihn mal verprügelt.«

»Was? Murat ist 1,90 m groß!«

»Tante Leyla ist 1,60 m. Also keine Angst, wenn sie ihn schon vermöbeln kann, tut er dir nix.«

»Ich habe keine Angst vor ihm«, stellte Magnus klar und setzte sich an den Tisch. Er nahm sich ein Knäckebrot und bestrich es mit Butter. Insgeheim hatte er Respekt vor dem Erwischtwerden, da das eine Menge Ärger nach sich ziehen würde. Doch das war ja das Gute an einer Affäre. Das Spiel mit der Gefahr, die verbotene Frucht und vor allem der knackige Hintern von Medina waren es wert, diese Affäre zu unterhalten, auch wenn es ihn ein Vermögen kostete.

Medina trug Eyeliner auf, klappte den Spiegel zusammen und zückte ihr Handy. Ihre Finger mit den langen Nägeln klackten wie Trommelfeuer über das Display. »Beeil dich, du musst die Bankfiliale aufschließen, Chef.«

»Ja, keine Sorge, wir schaffen es rechtzeitig. Ach, übrigens, wir verkaufen diese Woche Bausparverträge.«

»Wird denn in Odda so viel gebaut? Wir haben ja nicht mal 8.000 Einwohner.«

»Ist doch egal. Das bringt Kohle. Die Direktion gibt eine gute Provision für jeden Abschluss. Hast du Verwandte, die einen Bausparvertrag haben wollen?«

»Vergiss es. Ich trenne Berufliches von Privatem.«

»Und du sitzt bei deinem Chef zu Hause am Tisch?«, bemerkte Magnus und zog die linke Braue hoch.

»Das ist was anderes und hör auf, mich auszufragen, iss lieber etwas.«

Magnus wollte in sein Knäckebrot beißen, doch er entschied sich dagegen. Allein beim Gedanken an feste Nahrung rebellierte sein Magen. Stattdessen griff er nach dem Caffè Latte und gönnte sich einen Schluck. »Das Frühstück werde ich auslassen. Wieso isst du denn nichts?«

Medina wandte die Augen nicht vom Bildschirm ab. »Neue Diät, morgens nix, mittags Nudeln und abends Salat.«

»Ist das wieder aus einem dieser Frauenblogs?«

»Ja.«

»Du weißt, dass das Müll ist, oder?«

»Sagt der Silberrücken«, erwiderte sie und hielt ihr Handy so, dass sie ein Selfie von sich schießen konnte.

Magnus grinste schief. Er liebte ihre kecke Art. »Sag mal, diese Ohrringe sehen teuer aus. Hab ich dir wieder ein Geschenk gemacht, von dem ich nichts weiß?«

»Ja, danke übrigens. Hab dir die Kreditkarte wieder in den Geldbeutel gesteckt. Schön, dass du mich hin und wieder mit Kleinigkeiten verwöhnst, du bist sehr aufmerksam.«

»Gern geschehen, ich wusste nicht, dass ich so ein guter Lover bin. Da wir beide nichts vom Frühstück haben, sollte ich mal wieder ans Geldverdienen denken, damit ich mir weiterhin diese Geschenke leisten kann. Ich würde sagen, ich fahre vor und du kommst nach. So bekommt Grethe nichts mit.«

»Echt jetzt?«, fragte Medina, legte den Kopf schräg und machte ein Duckface, nur um ein weiteres Selfie zu schießen. »Sie mag in den Fünfzigern sein, doch das heißt nicht, dass sie nicht checkt, was abgeht. Bei nur zwei Angestellten in deiner kleinen Bankfiliale ist es gar nicht möglich, dass sie das nicht mitkriegt.«

Magnus biss sich auf die Unterlippe. Ihm schmeckte der Gedanke nicht, dass seine wertvollste Angestellte wusste, was er privat so trieb und mit wem. Hoffentlich würde das Arbeitsklima nicht leiden. »Okay, dann fahren wir gemeinsam los«, sagte er resigniert.

Sie räumten noch schnell das Frühstück ab, bevor sie sich auf den Weg machten.

Während Medina schon das Haus verließ, nahm sich Magnus den Schlüsselbund von der Anrichte und blieb an der Haustür stehen. Auf der Eingangsstufe lag ein kleines, braunes Päckchen. Durch den Regen, der mittler­weile abgeebbt war, hatte sich die Oberfläche gewellt und die Tinte war verlaufen. Der Empfänger war nicht zu erkennen. Nicht selten landete ein Paket für den Nachbarn bei ihm vor dem Haus, doch er hatte im Moment weder die Zeit noch den Kopf, um sich mit solchen Belanglosig­keiten herumzuschlagen. Er legte es auf dem Schuhschrank ab, schloss die Tür und warf Medina den Schlüssel zum SUV zu.

Magnus war kalt und er überlegte, eine Jacke mitzunehmen, doch er entschied sich dagegen. »Fahr du heute, ich brauche noch eine Weile, bis ich auf dem Damm bin.«

Medina ließ den BMW an, rollte mit dem Wagen vom Hof auf die Straße und gab Gas.

Magnus bereute, dass er die 211-PS-Version gewählt hatte, da ihm die Beschleunigung den Kopf entschieden zu stark in die Kopfstütze drückte. »Muss das sein? Wir fahren doch kein Rennen!«

»Hab dich nicht so, wozu hast du so ein Auto, wenn du damit nicht Gas gibst?«, tat sie seine Beschwerde ab und fuhr schwungvoll die kurvige Straße, vorbei an den anderen Villen, hinab nach Odda.

Die roten und senfgelben Häuser schmiegten sich in das Tal zwischen zwei schroffen Bergen, deren Spitzen mit Schnee bedeckt waren und sich auf dem Wasser des Sørfjords spiegelten. Magnus blinzelte, als das Licht der aufgehenden Sonne golden auf dem Schnee glänzte und das Tal langsam mit Licht flutete. Damit ihm bei den Serpentinen nicht schlecht wurde, fixierte Magnus den Holzturm der alabasterfarbenen Kirche, der sich von den Gebäuden am Ufer abhob. Er hoffte, dass Medina zumindest in den verkehrsberuhigten Zonen innerhalb der schmalen Gassen und Straßen das Tempo verlangsamen würde. Doch bis dahin hielt er sich am Haltegriff fest und versuchte, die abrupten Bewegungen auszupendeln.

Nach jeder Kurve betete er, dass er sich nicht in sein neues Auto übergab.

Medina parkte das Fahrzeug im Hinterhof der Bank und schnallte sich los. »Siehst du, war doch gar nicht so schlimm«, sagte sie und überprüfte ihr Make-up, bevor sie ausstieg.

Magnus machte die Tür auf und hatte das Gefühl, als würde er ein Boot verlassen, das ihn durchgeschaukelt hatte. Der feste Boden beruhigte seinen Magen und half ihm, seine Gedanken zu klären. Danach folgte er Medina über einen schmalen Gang zwischen Büschen und niedrigen Lampen zum Personaleingang auf der Rückseite des Gebäudes. Das Piepen des Chipscanners schrillte laut in seinen Ohren, während er eintrat.

Grelle Deckenlampen spiegelten sich auf dem kiesgrauen, polierten Fliesenboden zwischen Beratungs­büro und dem doppelten Kundenschalter, der schräg zum Eingangs­bereich stand.

Grethe rückte die mannsgroßen Pappaufsteller im Türkis­blau der Bank zurecht und inspizierte kurz die Auszahlungs- und Kontoauszugautomaten.

Medina verschwand hinter einer Sicherheitstür in Holzoptik in den Bereich, der mit Panzerglas geschützt war.

Magnus lief zu Grethe und sah, dass schon Kunden vor der gläsernen Tür draußen warteten. Einer von ihnen, ein alter Mann mit breitkrempigem Hut, zeigte mit verkniffenem Gesichtsausdruck mit dem Zeigefinger auf die Uhr an seinem Handgelenk.

Magnus nickte ihm zu und wandte sich an seine Mitarbeiterin. »Guten Morgen, Grethe.« Ab einem Meter Abstand erfasste jeden, der sich ihr näherte, ihr Duft der Marke Kettenraucher-Nummer-Fünf.

Sie ließ von den Automaten ab und bedachte ihn von oben bis unten mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß. Sie stemmte die Hände in die breiten Hüften ihres grauen Hosenanzugs und blickte hoch zu Magnus. Als sie ihren Kopf sachte schüttelte, bewegte sich ihr Pferdeschwanz, mit dem sie ihre weißblonden Haare zusammengefasst hatte. »Du bist zehn Minuten zu spät, wo warst du so lange? Die Kunden warten bereits«, zischte sie. Wie üblich hatte sie diesen konzentrierten Gesichtsausdruck, der einen Waldbrand zu Eis erstarren ließ. Mit dem Zeige­finger schob sie sich die rote Brille hoch und ging zu Medina hinter den Schalter.

Magnus ließ die Bemerkung unkommentiert. Statt­dessen kramte er seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloss die Eingangstür auf. Zwei Frauen, drei Kleinkinder und der alte Mann, der ihn böse anblickte, traten ein und gingen zu seinen Mitarbeiterinnen.

Magnus lief zu seinem Büro, das sich schräg gegenüber der Schalter befand, machte die Tür zu und stellte die Jalousien so ein, dass sie nur wenig Tageslicht einfallen ließen. Trotzdem konnte er die unzähligen Fotos an der Wand, die ihn bei den Einweihungsfeiern des Schwimmbads, des Bürgersaals, eines Kinderspielplatzes und bei der Neueröffnung der restaurierten Kirche zeigten, noch gut erkennen.

Danach setzte er sich hinter seinen Schreibtisch. Das Leder furzte Luft unter seinem Gewicht.

Auf dem Telefon blinkten zehn rote Tasten – was einen harten Arbeitstag versprach. Er leitete mit wenigen Eingaben alle Anrufe an Grethe weiter und fuhr seinen Computer hoch. Nachdem er seinen Usernamen »Winnertakesitall« eingegeben hatte, öffnete sich ein Fenster mit seinem Terminkalender. Heute standen zwei Beratungen an:

Herr Ruud, 14:00 Uhr, Girokontoeröffnung

Frau Kristiansen, 15:00 Uhr, Auflösung Sparkonto

Magnus bereute, dass er für heute Termine ausgemacht hatte. Vielleicht würde sein dicker Schädel in ein paar Stunden besser werden. Doch zumindest konnte er heute früher Schluss machen als sonst. Nach dem zweiten Termin würde er nach Hause gehen und sich auf die Couch legen.

* * *

»Nein, Frau Kristiansen, das mache ich gerne für Sie«, sagte Magnus und tippte auf seiner Tastatur herum. Er bestätigte den Endsaldo und gab in der Maske den Befehl zur Löschung des Sparkontos. »Ich hoffe, die zweitausend Euro reichen für das Auto ihres Enkelsohns, die Preise von heute sind nicht wie damals.«

Frau Kristiansen lehnte ihren Gehstock an die Schreibtischplatte und schob sich eine weiße Haarsträhne unter ihren fliederfarbenen Hut. Danach tippte sie kurz an ihr Hörgerät und machte ein Gesicht, als könne sie dem Gespräch nicht folgen. »Reicht das nicht, Herr Farson?«

»Nein, Farstad«, berichtigte Magnus.

»Sag ich doch, Farson. Sind Autos heute teurer?«

»Ja, der Unterhalt, die Versicherung und die Wartung sind nicht billig.«

»Die Versicherung läuft über mich. Der Junge muss doch zu seiner Arbeit fahren, meine Tochter kann ihn nicht ewig kutschieren.«

»Na ja, vielleicht reicht ja auch ein kleines Auto«, sagte Magnus mit erhobener Stimme, damit sie ihn verstehen konnte. »Nur an der Sicherheit mangelt es«, warf er beiläufig ein. »Ich habe vor Kurzem so einen Kleinwagen auf der Autobahn gesehen, Unfall, der Fahrer war total eingequetscht wie in einer Sardinenbüchse. Die Feuerwehr war gerade dabei, ihn herauszuschneiden.« Magnus füllte noch die leeren Kästchen in der Maske mit dem Sparkonto aus.

»Was, eingequetscht?«

»Ist nicht schlimm, man kann einfach das Dach abschneiden, um jemanden da herauszuholen.«

»Um Himmels willen, Herr Farson! Ich will kein kleines Auto für meinen Enkel. Groß soll es sein und sicher.«

»Also doch kein Kleinwagen?«

»Nein, der Junge soll gesund bleiben. Was kostet so ein sicheres Auto?«

»Na ja, rechnen Sie mal mit zehntausend Euro.«

Frau Kristiansen kratzte sich an der Wange. »So viel habe ich nicht.«

Magnus schwieg und tippte weiter.

»Herr Farson, können Sie mir helfen?«

»In Ihrem Alter …«

»Bitte, Herr Farson.«

Er drehte den Kopf zu ihr, kniff die Augen zusammen und lächelte sie an. »Eigentlich ist es schwierig, einer Kundin in Ihrem Alter einen Kredit zu organisieren. Doch für Sie mache ich eine Ausnahme. Wenn Sie eine Restschuldversicherung abschließen, können wir auf einen zweiten Kreditnehmer verzichten, dann bleibt das unter uns.«

»Sie sind ein Schatz«, sagte sie, kramte aus ihrer Tasche einen Zehneuroschein und schob ihn über den Tisch.

»Nein, Frau Kristiansen, so etwas machen die Schweden und die Dänen, wir müssen hier doch besser als die sein, oder?«

»Da können unsere Nachbarn noch von uns lernen, junger Mann.«

Magnus gab den Schein zurück und öffnete ein weiteres Fenster auf seinem PC. »Hat Ihr Enkel eine Freundin?«

»Was?«

»Ob Ihr Enkel eine Freundin hat.«

»Ja, sie ist so hübsch wie eine Puppe, diese russischen, wissen Sie, und sie ist so lieb. Sie sagt immer Großmama zu mir.«

»Gut, dann scheint das Zukunft zu haben. Ihr Enkel sollte sie heiraten und ein Heim für den Nachwuchs bauen. Sie wissen ja, ein Haus, ein Kind, ein Baum. Allerdings ist der Unterhalt des Autos teuer. Die Benzinpreise steigen.«

»Der Junge soll heiraten, das Leben ist so kurz. Können wir da nicht etwas machen?«

Magnus legte den Kopf schräg und biss sich auf die Unterlippe. »Ich denke, was Sie brauchen, ist ein Bausparvertrag. Den können Sie später dem Enkel überschreiben und ihm jetzt schon die Zinsen sichern. Und zu Ihrem Glück bekommen Sie Prozente für den Abschluss der zweiten Versicherung.«

Frau Kristiansen fasste sich an die Brust und strahlte übers ganze Gesicht. »Gott hab Sie selig, Herr Farson. Danke, dass Sie einer alten Frau wie mir helfen.«

»Nicht der Rede wert, Frau Kristiansen.« Magnus machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand.

Vom Drucker unter dem Tisch kamen zehn Seiten Papier mit Kleingedrucktem heraus. Währenddessen füllte Magnus seinen Beratungsbogen aus, fasste alle Papiere zusammen, machte jeweils ein X an die Stellen, die zu unterschreiben waren, und legte der Dame alles vor.

Ohne sie sich durchzulesen, unterzeichnete Frau Kristiansen die Dokumente.

»Gut, Frau Kristiansen«, begann Magnus, stand auf und gab der Dame die Hand. Seine Stimme war noch immer laut genug, dass sie ihn nicht überhören konnte. »Dann haben wir die Kuh vom Eis geholt und der Zukunft des Enkels steht nichts mehr im Weg.«

»Danke, Herr Farson, Sie sind ein guter Mensch.« Frau Kristiansen verließ das Büro.

Magnus griff sich in den Nacken und massierte sich die Muskulatur. Die Kopfschmerzen waren besser geworden und da er heute neben einer Girokontoeröffnung und einer Sparkontenauflösung jeweils einen Bausparvertrag und eine weitere Versicherung verkauft hatte, fühlte er sich gut.

Es klopfte an der Tür.

»Herein.«

Grethe betrat das Büro. Sie hatte einen Stapel rosa­farbener Mappen in der Hand. »Ich habe die Vorgänge überarbeitet, dies sind die Rückläufer von der Zentrale. Du musst nur noch unterzeichnen.«

»Was würde ich nur ohne dich machen, Grethe?«, sagte Magnus und legte sein charmantestes Lächeln auf.

»Bei mir zieht das nicht. Und ja, ohne mich wärst du aufgeschmissen. Wollten wir nicht über die Gehalts­erhöhung sprechen?«

»Was? Äh, ja, natürlich. Trage mir einen Termin für nächste Woche in meinen Kalender ein.« Magnus nahm die Mappen entgegen und stellte sie neben die Tastatur.

»Da steht schon ein Termin für Donnerstag, dreizehn Uhr.«

»Diese Woche ist schlecht. Die Zentrale sitzt mir im Nacken, wir müssen Bausparverträge verkaufen.«

»Ich wusste nicht, dass die Menschen in Odda so viel bauen.«

»Ja, ich bin auch ganz überrascht. Die Nachfrage ist groß, erst vorhin habe ich zwei Stück verkauft. Die Leute betteln mich praktisch an.«

Grethe wurde schmallippig. »Dann eben nächste Woche.« Sie verließ das Büro und machte die Tür gerade so fest zu, dass man merkte, dass mehr Kraft als nötig in dem Schwung steckte. Unter der leichten Erschütterung wackelten die Bilderrahmen an der Wand.

Nicht, dass er sie nicht verstehen würde. Bei der Annahme der Direktion der kleinen Filiale hatte er sie zusammen mit dem Inventar vom vorherigen Leiter übernommen. Obwohl sie praktisch alles über das Bankgeschäft wusste, hatte sie bislang keine Gehaltserhöhung erhalten. Was nicht schlimm war, doch als er Medina eine Erhöhung gewährt hatte, obwohl sie erst ein halbes Jahr am Schalter arbeitete, fühlte sie sich übergangen.

Magnus klappte die Mappen auf und unterzeichnete jeweils die Papiere, die darin lagen. Danach meldete er sich an seinem PC ab und verließ das Büro.

»Hallo Frau Gunerson, stellen Sie Ihren Gehstock ruhig am Tisch ab. Und, sind Sie zufrieden mit der Unfallversicherung, die Sie gestern abgeschlossen haben?«

»War ich denn gestern hier, junger Mann? Mein Kopf ist mit knapp neunzig nicht mehr derselbe wie in meiner Jugend.«

»Kein Problem, meine Dame. Sie sehen mir aus, als würde Ihnen eine Unfallversicherung gut stehen.«

Magnus Farstad, Halter des Verkaufsrekords der Bergener Nordbank im Jahr 2019

2 Müsliriegel

Magnus fuhr die Auffahrt hoch, ließ den Motor aufheulen und stellte das Auto ab. In einem Punkt hatte Medina mit ihrem shoppingverseuchten Verstand recht: Wozu hatte er so ein Auto, wenn er es nicht entsprechend fuhr?

Er blickte in den Rückspiegel und betrachtete seine grauen Schläfen. Neben ihm – auf dem Beifahrersitz – lag eine Packung Haartönung, die er noch schnell im Supermarkt gekauft hatte. Schon morgen würde er ­unverkatert und in voller schwarzer Haarfarbe in seiner Bank erscheinen.

Als er aus dem Auto stieg, entfernte er ein paar orangefarbene Laubblätter aus dem Scheibenwischerfang, dann blickte er hinab ins Tal. Die letzten lachsfarbenen Strahlen der Sonne küssten das Wasser des Sørfjord, das wie Tausend durchscheinende Bernsteine glitzerte.

Magnus überlegte, ob er die Winterreifen aufziehen lassen sollte, da es langsam Herbst wurde. Außerdem machte das Auto, seit er Medina ab und an mal fahren ließ, Geräusche auf der rechten Fahrwerksseite. Was es auch sein mochte, heute musste es warten.

Magnus verriegelte über die Funkfernbedienung den Wagen und ging zur Haustür. Er schloss auf und warf seine Schlüssel in die Silberschale auf der Schuh­kommode. Dabei fiel ihm das Päckchen von heute Morgen auf. Bei einem genaueren Blick entzifferte er in der verschwommenen Druckertinte auf dem Empfängerfeld seinen Namen. »Habe ich was bestellt?«, murmelte er und nahm es mit in die offene Wohnküche. Er warf es auf die Couch, schob sich eine Tiefkühlpizza in den ­Backofen und schaltete den Fernseher ein. Danach nahm er sich eine Handvoll Gummibärchen aus der Schale vom Glastisch und rückte eine der Segelbootskulpturen aus Glas gerade, die in einem der Bücherregale als Deko saß. Er mochte die See nicht, nicht einmal das Nasswerden, doch er liebte elegante Formen, die ein Gefühl für Agilität vermittelten. Auf den Gemälden setzte sich dieses Thema fort; stilisierte Bootskörper schnitten wie glänzende Messer durch indigofarbenes Wasser, während sich die Gischt wie Watte an ihnen aufbauschte. Die Bücher in den Regalen, die mit ihren Blautönen farblich zu den Gemälden passten, waren mehr dem dekorativen Element geschuldet als seinem Leseinteresse, das irgendwo im Graubereich zwischen Analphabet und Toilettenleser vor sich hin dümpelte.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles perfekt angeordnet war, setzte er sich auf die rote Ledercouch.

Im Fernsehen lief der Wetterbericht und versprach eine regnerische Woche.

Magnus kaute auf den Gummibärchen herum und nahm sich das Paket vor. Es war nicht größer als eine Schachtel Margarine und wog kaum ein halbes Kilo. Er nahm sich ein Tapetenmesser aus der Küchenschublade und setzte sich wieder an den Wohnzimmertisch. Nachdem er die Klebestreifen aufgeschnitten hatte, nahm er das Innere heraus, das nicht mehr als ein Bündel aus Papier war. Als er es halb ausgewickelt hatte, stieß er auf rote Farbe, die das umliegende Papier durchdrungen hatte. Er tippte darauf, dass er Medina wohl schon wieder ein Geschenk gemacht hatte, wahrscheinlich einen irrsinnig teuren Nagellack oder etwas Ähnliches, das den Transport nicht überstanden hatte.

Am Kern angelangt, war er einen Moment irritiert über das, was er sah. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz.

Er ließ den Inhalt des Päckchens auf den Tisch fallen und zuckte mit den Händen zurück.

»Was zum …!?« Magnus atmete angestrengt und rang um Fassung. Er musste ein zweites Mal hinsehen, da er nicht wahrhaben wollte, was da vor ihm lag. Es war eine menschliche Nase. Die winzigen Poren, das Blut, die Schnittkanten und die Art, wie die Nasenflügel ohne Oberlippe ins Leere griffen, sprangen ihn förmlich an.

Ihm wurde übel und sein Magen gab endgültig den Dienst auf. Kaum hatte er die Küchenspüle erreicht, schoss es ihm sauer aus dem Mund. Mit den Unterarmen an den Rändern des quadratischen Edelstahlbeckens kotzte er sich das halbe Wurstbrötchen vom Mittag aus dem Leib, bevor er den Wasserhahn aufdrehte und sich mit kaltem Wasser wieder und wieder das Gesicht wusch. Doch das Grauen konnte er nicht entfernen.

Seine Hände zitterten, als er sein Handy aus der Hosentasche zog und den Notruf wählte. Es klingelte zweimal.

»Polizeinotruf der Provinz Hardanger, Larson, was kann ich für Sie tun?« Die Stimme klang männlich.

Magnus wollte sich mit der freien Hand durch die Haare fahren, bis er merkte, dass er noch immer das Teppich­messer hielt. Er ließ es in die Spüle fallen.

»Ich, äh, eine Nase …«

»Hat Sie jemand ins Gesicht geschlagen, sind Sie verletzt?«

»Nein, mit mir ist nichts. Denke ich. Die Nase, sie liegt auf meinem Tisch.«

»Eine Nase liegt auf Ihrem Tisch? Haben Sie ­Schwindel oder Kopfschmerz, nehmen Sie Drogen, sehen Sie Doppel­bilder?«

»Nein, verdammt!«, schrie Magnus. »Mit mir ist nichts. Auf meinem Tisch liegt eine Nase.«

»Und wie kommt die dahin?«

»Mit dem Lieferanten, nein, also denke ich.«

»Ist gut, bleiben Sie ruhig. Sagen Sie mir erst einmal Ihren Namen und die Adresse, sind noch andere Personen bei Ihnen?«

»Nein, ich bin allein und wohne in der Eidesåsen 14, Magnus Farstad.«

»Ich schicke Ihnen eine Streife.«

Magnus legte auf und steckte das Telefon wieder ein. Er fühlte sich wie benommen und taumelte zum Wohnzimmertisch, um sich noch einmal zu vergewissern, dass er nicht träumte.

Das Organ lag auf seiner Papierverpackung auf dem Glastisch, echt und real.

Während er die Lieferung betrachtete, fiel ihm ein gefaltetes Blatt in der Kartonschachtel auf. Er schluckte, nahm es vorsichtig heraus und klappte es auf.

Audiomitschnitt – Verschriftlichung für Magnus Farstad

Mit dem Kinn an der Brust schläft Freyja noch auf dem elektrischen Stuhl. Keine Sorge, Magnus, es wird kein Strom fließen, wir sind hier nicht in Texas, doch dieses Möbelstück bietet alle Vorteile, die ich für mein Vorhaben brauche. Seine Ledergurte riechen nach Gerbstoff und sind im Laufe seiner Lebens­jahre geschmeidig geworden wie ein Sattel, der mit dem Einreiten weicher wird, sich Ross und Reiter anpasst.

Ich habe Freyja auf dem Stuhl fixiert. Eigentlich wollte ich sie auf einer Trage festbinden, doch ich will nicht riskieren, dass sie bei eintretender Bewusstlosigkeit ihren Zungengrund verschluckt und daran erstickt. Sie wäre tot und all meine Vorbereitungen wären umsonst gewesen. Wach muss sie sein, leiden und egal, wie laut sie schreien mag, niemand wird sie durch den schalldichten Raum hören.

Ich habe einen Infusionsständer mit Kochsalzlösung bereitgestellt und das Gemisch fließt bereits über Schläuche in ­Freyjas Armbeuge in ihren Blutkreislauf. Diese Frau wird Kraft und Flüssigkeit brauchen, weil sie von beidem viel verlieren wird.

An der Wand steht ein alter Krankenhauswagen mit hellblauen Blechen und einigen Roststellen, wo der Lack abgeplatzt ist. Ich habe ihn auf einem Flohmarkt erstanden und musste nur die Rollen darunter auswechseln. Ich mag die Patina des Alters, wenn man das Gelebte aus einem Gegenstand herauslesen kann. Ob das, was ich tun will, auch ein Teil seiner Geschichte wird?

Auf dem Wagen liegen eine Knochensäge, ein Skalpell, eine Zange und ein elektrischer Brennstempel bereit. Alles ist sauber und steril, obwohl es keinen Unterschied machen würde, wenn es schmutzig wäre.

Eben merke ich, wie Freyja aufwacht. Die Augenlider flattern hoch und entblößen sehr viel Weiß. Dies ist der Moment, da der Nebel der Bewusstlosigkeit langsam weicht und der Verstand aufklart. Wie lange Freyja wohl brauchen wird, um zu realisieren, was ich vorhabe?

Ich lege mir eine Metzgerschürze aus Kunststoff an. Auch wenn ich mich freiwillig dieser Sauerei stelle, ist mir Sauberkeit wichtig. Für später habe ich auch bereits einen Schlauch vorbereitet, um das Gröbste vom Fliesenboden in den Abfluss zu waschen. Ich werde mir die Arbeit einteilen müssen, Stück für Stück, sonst macht es keinen Sinn. Was für ein seltsamer Gedanke – muss denn etwas »Sinn ergeben«? Was soll das überhaupt bedeuten?

Ich schalte den Stempel ein. Eigentlich ist er für Holz­arbeiten gedacht, man kann sein eigenes Signum damit in eine Holzoberfläche brennen. Früher habe ich es oft benutzt, als ich in meinem Keller Möbel zusammengebaut habe, ein Hobby, das einem viel gibt. Das Beste kam immer zum Schluss, meine Prägung, als wäre es die Unterschrift in der Ecke eines Gemäldes. Nur funktioniert der Stempel anders als ein Stift oder Pinsel. Das Metall muss sich langsam aufheizen, auch bei 200 Watt kann das schon eine Weile dauern. Keine Sorge, das alles habe ich schon bei Hunden ausprobiert – bei Menschen dürfte es kaum einen Unterschied geben.

Freyja ist nun wach, schreit um Hilfe und zappelt in ihrer Fixierung.

Während ich mir Handschuhe anziehe, wechselt Freyja die Taktik und bettelt um Gnade, bietet mir Geld und sexuelle Gefälligkeiten an. Ihre Stimme klingt panisch und atemlos.

Ich nehme Zange und Skalpell, packe ihre Nase mit den Metall­backen und beginne zu schneiden. Freyjas Schreie verändern sich, rutschen in ein wildes Kreischen ab. Zwischendurch gibt sie auch gurgelnde Laute von sich, da wahrscheinlich Blut in den Rachenraum eindringt.

Freyja kann sich nicht abwenden, sich nicht wegdrehen, dieser Lage nicht entkommen, da es einfach unausweichlich ist. Ihr Schritt verfärbt sich, es riecht nach Urin.

Die Klinge gleitet sauber an den Nasenflügeln entlang. Freyja verliert das Bewusstsein, die Schreie enden abrupt. Ich gelange nun zum Knorpel, schneide ihn vom Knochen ab und entferne die Nase. Überall ist Blut, nichts, womit ich nicht gerechnet hätte. Der Stempel ist bereits heiß, jetzt muss ich schnell sein. Ich lege das Organ und das Werkzeug beiseite und kauterisiere die Schnittstellen. Das heiße Metall zischt dort, wo ich Haut und Fleisch versenge und miteinander verschmelzen lasse. Der aufsteigende Qualm riecht nach Rauch und Speck. Das erinnert mich an mein Frühstück, vielleicht esse ich morgen wieder Räucherspeck?

Etwas in mir sollte Mitgefühl und Gnade empfinden. Doch so, wie ich die Nervenenden meines Opfers versenge, sind auch meine Rezeptoren für Empfindlichkeiten zerstört. Mit dem Unterschied, dass es bei mir kein elektrischer Stempel, sondern weißglühende Wut war. Hast du gewusst, Magnus, dass sich Pein so intensiv in eine menschliche Seele brennen kann, dass man das Gefühl hat, ein Flammeninferno einzuatmen? Mein Innerstes sieht so aus wie Freyjas Gesicht – eine grausame Ruine, der die Gnade der Heilung verwehrt bleibt.

Bis bald, dein X«

Auch wenn Magnus in einem Winkel seines Verstandes gehofft hatte, dass dies nur ein Versehen, ein Streich oder Ähnliches sein mochte, war seine Hoffnung damit zerschlagen. Sein Geist war noch wie betäubt von dem Wahnsinn, der in so sachlicher Form geschrieben stand, als seziere jemand einen Frosch. Der Geruch von Verbranntem lag in seiner Nase, so, als könne er ihn tatsächlich riechen. Blühte auch ihm dieses Schicksal? Jemand hatte ihn auf dem Kieker, ganz bestimmt. Doch wer?

Magnus überlegte angestrengt, doch er hatte keine Ahnung, wer etwas Derartiges tun sollte, vor allem, weil er selbst ein Wohltäter war. Die Gelder, die er der Gemeinde zuschoss, für den Kinderspielplatz, den Bürgersaal und auch die Ehrenmitgliedschaften, verschafften ihm in der Stadt großes Ansehen. Dennoch keimte in ihm die Saat des Zweifels auf, ein Unmut, den er sich nicht erklären konnte.

Hatte ihn Murat vielleicht ertappt?

Das Läuten der Türklingel riss ihn aus den Gedanken. Hastig zerknüllte er das Schreiben und steckte es sich in die Hosentasche.

»Oberkommissar Eirik Solberg«, sagte der Mann, der mit etwa 1,90 m Magnus um zehn Zentimeter überragte. Der Mann stopfte sich das weiße Hemd in die Jeanshose und richtete sich das schwarze Sakko. »Dies ist Kommissarin Björnsdottir.« Er hielt inne und deutete auf die uniformierte blonde Frau, deren rechte Hand auf dem Knauf ihrer Pistole am Waffengürtel ruhte. Im Gegensatz zu ihm, der mit seinem Vollbart und seiner entspannten Haltung eher gelassen wirkte, hatte sie einen wachsamen Blick.

Magnus schätzte den Mann auf Anfang vierzig.

»Meine Kollegin und ich haben den Notruf von der Zentrale erhalten. Also, Herr …«

»Farstad, Magnus Farstad.«

»Also, Herr Farstad. Was finden wir, wenn wir Ihr Haus betreten?«

»Sehen Sie es sich selbst an«, antwortete Magnus und ließ die beiden eintreten.

»Was riecht hier so verbrannt?«, wollte Solberg wissen.

»Was? Oh verdammt, meine Pizza!« Magnus rannte zum Ofen, riss die Klappe auf und hustete, als ihm der Qualm und die Hitze entgegenschlugen. Mit tränenden Augen riss er ein Fenster auf und stellte den Ofen ab. »Da, auf dem Tisch«, sagte er und blieb hinter der Kochinsel.

Solberg ging auf den Tisch zu und legte den Kopf schräg, als würde er ein Bild betrachten.

Seine Kollegin lugte an ihm vorbei, erhaschte einen Blick auf den Tisch und zog die Waffe. Auch wenn sie die Pistole nach unten hielt, ließ ihre Miene erkennen, dass sie Magnus als potentiellen Mörder und Sadisten betrachtete.

Das passte ihm gar nicht. Statt sich beeindrucken zu lassen, schaltete er auf stur. »Ich bin ein angesehener Bürger von Odda, Sie sollten lieber erst einmal Ermittlungen anstellen, bevor Sie die Waffe auf Leute richten, deren Monatsgehalt höher ist als das, was kleine Beamtinnen im Jahr verdienen!«

»Sie nehmen jetzt die Hände hoch …«

»Alles gut, Frau Björnsdottir. Ich denke nicht, dass Herr Farstad etwas damit zu tun hat«, unterbrach der Oberkommissar das Geschehen.

Die Polizistin senkte die Waffe und steckte sie wieder ins Holster, wobei sie einen unglücklichen Eindruck machte.

»Frau Björnsdottir, holen Sie die Kollegen von der Spurensicherung. Ich werde inzwischen Herrn Farstad befragen.«

Für einen Moment warf sie Magnus noch einen zweifelnden Blick zu, dann ging sie hinaus zum Polizeiwagen.

Solberg nahm einen Kugelschreiber aus seiner Sakkoinnentasche und stupste damit gegen die Nase auf dem Tisch. Danach zückte er einen Notizblock und schlenderte zu Magnus. »Also, Sie sind Magnus Farstad, ja?«

»Ja.«

»Geben Sie mir bitte Ihren Ausweis.«

Magnus fischte sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und gab ihm das Dokument.

Solberg begann zu notieren, nahm die Rückseite des Kugelschreibers in den Mund, kaute darauf und schrieb weiter.

Magnus war angewidert. Wie konnte er das Ding in den Mund nehmen, wenn er noch vorher das Amputat damit untersucht hatte?

»Wann und wo haben Sie die Nase gefunden?«, wollte Solberg wissen.

»Heute Morgen vor der Tür.«

»Dann rufen Sie erst jetzt die Polizei?«

Magnus schnaufte frustriert. »Nein, natürlich nicht. Ich habe das Paket hereingeholt, bin zur Arbeit und habe es erst vorhin geöffnet.« Gab es denn bei der Polizei niemanden, der zu logischem Denken fähig war?

»Droht Ihnen jemand, haben Sie Feinde?«

Magnus schluckte. Für einen Moment dachte er an Murat, den Mann, mit dessen Freundin er schlief. War er doch nicht so dumm, wie Medina ihn glauben machen wollte? Vielleicht war es besser, diese Sache für sich zu behalten, denn es würde seinem Ruf schaden, wenn ganz Odda wusste, dass der Chef es mit seiner Angestellten trieb, die auch noch viel jünger als er war. »Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Vielleicht will Sie jemand erpressen? Sie scheinen nicht unvermögend zu sein als Chef der örtlichen Nordbank. Man kennt Sie hier.«

»Keine Ahnung. Und wenn schon, ich lasse mich nicht einschüchtern!« Magnus hatte seinen Mut wiederge­funden.

»Vielleicht sollten Sie heute Abend nicht hier übernachten. Besuchen Sie einen Freund, Bekannte oder Verwandte. Und bleiben Sie in Odda, falls wir noch Fragen haben.«

»Bin ich jetzt verdächtig? Ich wurde hier zum … Opfer!«

Solberg steckte das Schreibmaterial weg. Danach kramte er einen Müsliriegel aus seiner Tasche und pickte die Stoffflusen davon herunter. Als die Zwischenmahlzeit einigermaßen sauber war, biss er ab.

Magnus runzelte die Stirn. Der Mann war widerlich.

»Nein, Herr Farstad, Sie sind nicht verdächtig. Ich denke nicht, dass Sie ein Mensch sind, der zu so etwas fähig ist. Allerdings müssen Sie dennoch für unsere Ermittlungen zur Verfügung stehen, es geht letztlich um Ihre Sache. Außerdem würde ich Sie bitten, dass Sie diesen Vorfall erst einmal für sich behalten, aus ermittlungstaktischen Gründen.«

»Na gut, machen Sie Ihre Arbeit. Ich kenne den Polizeidirektor, ich werde ihn nach den Fortschritten fragen, aus ermittlungstaktischen Gründen, versteht sich. Ziehen Sie einfach die Tür zu, wenn die Spurensicherung durch ist, ich gehe jetzt etwas trinken.«

* * *

Magnus saß an der Theke seiner Stammkneipe Zum ­Löwen. Aus den Lautsprechern dröhnte irgendein Popsong, den man durch den Lärm der anderen Gäste kaum wahrnehmen konnte. Ein besoffener Fischer, der einen langen Ölmantel trug, hatte sich eine Krawatte um die Stirn gebunden und taumelte wie ein Tanzbär vor einer Meute grölender Männer herum. Er stolperte kurz, krachte in ein Fischernetz, das als Deko in einer Nische hing, und machte weiter.

Magnus drehte sich auf dem Hocker nach hinten und suchte zwischen den Tischen und stehenden Gruppen nach Håkon Svendsen, seinem alten Schulkameraden. Noch war er nicht zu sehen.

»Hier Bro, dein Bier«, sagte der Barbesitzer hinter ihm.

Magnus drehte sich zur Theke und nahm sein Glas von Murat entgegen.

Murat wischte sich die Hände an einem Lappen ab, den er um den Hals trug und wickelte seinen Hemdsärmel hoch. Er legte seinen Unterarm auf dem Tresen ab und präsentierte sein neuestes Tattoo. »Siehst du diesen Drachen, der die Welt in seinen Pranken hält? So ein Motiv findest du nirgendwo ein zweites Mal zwischen hier und Oslo.«

Magnus schaute auf die transparente Plastikfolie, die das frische Tattoo abdeckte. Die Haut war noch rosa und die Farben strahlten in Efeugrün und Teerschwarz. Während Murat den Arm bewegte, spielten dicke Muskelstränge unter seiner Haut und ließen den Drachen lebendig wirken.

»Sieht gut aus«, meinte Magnus. »Sag mal, ist das bei Muslimen nicht verboten?«

»Ich bin meine eigene Religion und nur weil ich Türke bin, muss ich nicht gleich religiös sein. Ich finde, dass das cool aussieht. Da stehen die Mädels drauf«, ­erwiderte Murat und fuhr sich mit der freien Hand über seine schwarzen Haarstoppel auf dem Kopf. »Und die Leute haben Respekt vor mir, wenn sie das sehen.«

Magnus wusste nicht, was er von Murats Gebaren halten sollte. War es nur Begeisterung oder ein Einschüchterungsversuch? Stammte das Paket von ihm oder nicht?

»Also einer wie ich lässt sich nicht von so etwas einschüchtern«, stellte Magnus klar.

Murat zog seine Brauen zusammen und brachte seinen Kopf auf Höhe von Magnus’ Gesicht.

Magnus versuchte, keine Miene zu verziehen und hielt stand.

Murat zog sich zurück und grinste. »Keine Angst, das ist mein Gangsterface. Mein Boxtrainer sagt, dass ich es täglich üben muss, um meine Feinde nieder zu starren. Ist alles Psychologie.«

Ein Gast am anderen Ende des Tresens hob die Hand und Murat wandte sich von Magnus ab.

Magnus war nicht schlauer als vorher und blickte hoch zu den präparierten Fischköpfen über der Bar, die ihn mit ihren Glasaugen anstarrten, als wollten sie ihn verhöhnen.

»Hey.« Jemand fasste Magnus an die Schulter.

Magnus zuckte zusammen und hätte fast sein Bier umgekippt. »Håkon, schleich dich nicht so an!«

»Was ist denn mit dir los, sonst bist du nicht so schreckhaft«, sagte Håkon und setzte sich auf den freien Nachbarhocker. Eine Elektrikerzange und ein Zollstock lugten aus den Taschen seiner blauen Handwerkerhose, auf der getrocknete Farb- und Putzreste klebten, heraus. Er legte seine schwarze Hornbrille ab und band sich die graubraunen Locken zum Pferdeschwanz. Danach setzte er sich die Sehhilfe wieder auf und zog sich die Kapuze seines Hoodies über den Kopf.

»Was soll das, Håkon? Hast du Angst, dass dich jemand entdeckt?«

»Du weißt doch, Hedda will nicht, dass ich nach der Baustelle trinken gehe. Seit ich mir den teuren Dieselgenerator geleistet habe, kontrolliert sie sogar meine Kreditkartenabrechnungen.«

»Und, war es das Teil wert?«

»Das wird sich herausstellen. Hast du gewusst, dass die Regierung uns für dumm hält? Auf bestimmten Webseiten gibt es Dokumente, die belegen, dass beim Bau des Folgefonntunnels Giftmüllfässer aus den Zeiten des Schmelzwerks einbetoniert wurden.«

»Das passt doch zeitlich gar nicht zusammen. Da liegen Jahrzehnte zwischen.«

»Das Zeug wurde eingelagert und dann hat man es später wieder herausgeholt.«

»Also das machst du, wenn du stundenlang vor dem PC hängst. Verschwörungstheorien und Hacken.«

»Ich verstehe mich als Verschwörungspraktiker. Dass wir am Telefon abgehört werden, war auch nur eine Theorie, so wie die unerlaubte Sammlung unserer Daten und viele andere Dinge, die vom Hirngespinst zum Fakt wurden. Die da oben wollen uns dumm halten, doch Informationen sickern durch und dann ist es eh zu spät. Stell dir vor, es gibt eine Krise und man sagt dir, dass es keine Nahrungsmittelknappheit geben wird. Doch wenn du täglich vor den leeren Regalen stehst, merkst du, dass dich dein Verstand in den Hintern beißt. Was mich angeht, ich will bereit sein, wenn die Krise kommt.«

»Welche Krise denn?«

»Na ja, die Krise, Apokalypse, Weltuntergang, du weißt, also das, was kommen wird.«

»Manchmal wundert es mich, dass du überhaupt noch vor die Tür gehst.«

»Hedda zieht mir gerne mal den Stecker, wenn ich zu lange vor dem PC sitze. Sie hat Angst, dass ich als Hacker Probleme ins Haus hole.«

»Deine Frau ist ja ein echter Spaßkiller. Wieso musstest du sie unbedingt heiraten?«

»Du warst doch in derselben Schulklasse mit uns. Sie war schwanger, was hätte ich sonst tun sollen?«

»Abschießen, das Land verlassen, auf See hinausfahren, Fährmann auf einer Eisscholle in Alaska werden. Alles, nur nicht Hedda heiraten.«

»Du und ich, wir haben damals so viel Mist gebaut, dass mein Vater kurz davorstand, mich in ein Internat zu stecken. Als das mit der Schwangerschaft kam, wollte mein Vater, dass ich wie ein Erwachsener zu meinen Taten stehe. Außerdem wollte er seine Elektrofirma nur an mich weitergeben, wenn ich mich erwachsen verhalte.«

»Und du hast das Unternehmen erwachsen gegen die Wand gefahren.«

»Nicht jeder kann so ein guter Unternehmer wie du sein, Magnus. Eine zu frühe Hochzeit, ein kleines Kind und eine Menge Probleme drücken dich wie Blei ins Wasser. Dein Leben hätte ich auch gerne, ohne Probleme und in Freiheit«, erwiderte Håkon und klopfte sich Baustaub von seiner Schulter. »Als Angestellter geht es mir besser, kein Papierkram, keine komplizierte Steuer und keine Kundensuche. Auch wenn ich damit nicht reich werde.«

Magnus blickte Murat missmutig an, als er Håkon sein übliches Feierabendbier hinstellte und wieder die anderen Gäste bediente.

»Was ist los, Magnus, habt ihr beiden Probleme?«, wollte Håkon wissen.

Magnus wartete, bis Murat von einem Gast zum anderen Ende des Tresens gerufen wurde, bevor er den Kopf schief legte und ihn angrinste.

»So schaust du doch nur, wenn du mich in irgendeine Scheiße reinziehst?«, flüsterte Håkon.

»Keine Sorge, hat nichts mit dir zu tun. Nur mit Medina, seiner Freundin.«

»Was? Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Doch, schon seit einiger Zeit. Ich weiß nicht, ob er etwas gemerkt hat.«

»Dein Leben würde ich gerne haben, du Casanova! Die ist echt heiß. Allerdings bist du tot, wenn Murat es erfährt. Er ist Boxer.«

»Ich lasse mich von niemandem einschüchtern«, erwiderte Magnus und blickte kurz zu Murat, der gerade zwei Metallbecher mit Eis füllte, ineinandersteckte und zu schütteln begann. Dabei lächelte er Magnus an und zwinkerte.

Magnus wandte sich wieder Håkon zu. »Ich weiß nicht, was ich von diesem Typ halten soll. Entweder weiß er es und hält mich zum Narren oder er ist tatsächlich so dumm, wie ihn Medina beschreibt und ich bilde mir das nur ein.«

»Das ist eine schwierige Lage, denn wenn du ihn darauf ansprichst, verrätst du es ihm, wenn er es doch nicht weiß. Manchmal bringen dich deine Affären in Schwierigkeiten, vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, ob du nicht vorsichtiger sein solltest. Gerade du müsstest das wissen. Denkst du noch an …«

»Nein, denke ich nicht, das ist Vergangenheit.« Magnus kippte sein Bier in einem Zug hinunter und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund.

* * *

Magnus schloss die Tür der Kneipe und lief zu seinem Auto. Es war bereits dunkel und das Licht der Laternen spiegelte sich in den Pfützen, die auf dem unebenen ­Pflaster den Gehweg wie ein Giraffenmuster marmorierten. Nieselregen fiel auf die Wasseroberflächen und wurde vom auffrischenden Wind für einen Moment zur Seite gedrückt.

Als Magnus aufstieß, bereute er, dass er schon wieder mehr getrunken hatte, als er wollte. Erst der Wein mit Medina und dann die drei Bier mit Håkon. Zumindest verursachten drei Bier keine Kopfschmerzen am nächsten Tag.

Er ging um die Ecke in den Hinterhof und entriegelte sein Auto. Dabei sah er den Wagen von Murat, einen älteren Mercedes, in den er sehr viel Geld gesteckt hatte. Die Aluminiumfelgen waren so groß, dass mehr Metall als Gummi auf den Rädern war. Und das Auto lag so tief, dass der Frontspoiler fast auf der Straße klebte.

Magnus fiel auf, dass der Kofferraumdeckel nicht komplett geschlossen war, weil etwas im Spalt klemmte. Als er den Deckel öffnete, sah er Tapetenrollen, einen Eimer Kleister und Tapezierwerkzeug. Ein langes Messer, das im Rahmen lag, hatte das Schließen der Klappe verhindert. Auf dem rostbraunen Holzgriff prangte ein großes MS, das wohl für den Namen Murat Sertkaya stand.

Wenn Murat tatsächlich versuchte, ihn einzuschüchtern, wollte Magnus ihm etwas entgegensetzen. Er nahm das Messer und lief zum vorderen Reifen. Nachdem er das Messer mit beiden Händen gepackt hatte, stieß er es in den Reifen. Doch die Sache lief anders als geplant. Zwar drang die Klinge durch den Widerstand des Gummis, doch Magnus rutschte ab und ein Stück des Messers blieb stecken.

Magnus nahm Abstand und betrachtete sein Werk voller Genugtuung. Dieser Anabolika schluckende Prolet würde sich wundern, was mit seinem teuren Reifen geschehen war.

Danach stieg Magnus in sein Auto und warf das halbe Messer auf den Rücksitz.

Sein Handy klingelte. Das Display zeigte keine Rufnummer an. »Ja, hallo?«

»Oberkommissar Solberg. Sind Sie es, Herr Farstad?«

Natürlich, wer denn sonst, du Blechkopf, dachte Magnus. »Ja, ich bin es.«

»Gut. Wir haben die Spurensuche abgeschlossen.«

»Und, gibt es etwas Neues?«

»Es ist tatsächlich eine menschliche Nase.«

Magnus seufzte. »Braucht man dazu eine Spurensicherung, ernsthaft?«

»Das ist nicht wie im Film, Herr Farstad«, sagte Solberg. »Wir müssen klarstellen, ob es sich um einen Scherz oder ein Verbrechen handelt und dazu müssen wir alles untersuchen. Am Paket konnten wir nichts finden, keine Fingerabdrücke, da muss jemand mit Handschuhen gearbeitet haben. Wir jagen noch eine Blutanalyse durch den Computer und vergleichen die Sache mit anderen Fällen in Norwegen. Gab es sonst noch etwas, das Ihnen aufgefallen ist?«

Magnus hörte in der nachfolgenden Stille die Schmatzgeräusche, die Solberg am anderen Ende der Leitung machte. Wahrscheinlich aß er wieder einen Müsliriegel, während er vor eine Leiche stand. »Nein, das ist alles.«

»Keine Forderungen?«

»Nein, ich denke, dass mir nur jemand Angst machen wollte. Nichts, was ich nicht schon erlebt hätte.«

»Okay. Dann können Sie wieder in Ihr Haus. Geben Sie mir Bescheid, wenn noch etwas sein sollte. Und übrigens, wir ermitteln in Richtung Mord, bevor wir Näheres wissen. Also verreisen Sie vorerst nicht.« Solberg legte auf.

Hatte ihm dieser Mann gedroht? Ahnte er, dass Magnus ihm etwas vorenthalten hatte? Egal was hier vor sich ging, morgen würde es ein Gespräch mit dem Chef der Polizei geben. Schließlich hatte die Nordbank der Tochter vom Leiter der Dienstelle einen Autokredit vermittelt. Was konnte ein dahergelaufener Bulle schon ausrichten, wenn Magnus seine Kontakte spielen lassen würde?

»Mittlerweile reihen sich Behörden in den Bewertungswahn des aktuellen Zeitgeists ein. Dazu stellen sie tolle Fragen, zum Beispiel: WIE ZUFRIEDEN SIND SIE?

Merken die doofen Beamten denn gar nicht, dass bereits das zweite Wort der Frage eine Farce ist?«

Magnus Farstad

3 Entführt

Das Licht der Glühbirne, dessen Glas orangebraun angelaufen war, schaffte es nur schwerlich, den heruntergekommenen Raum auszuleuchten. Sie war schwach und flackerte von Zeit zu Zeit. An ihrer Spitze bildete sich ein Wassertropfen, der aus den verkalkten Rissen, die über die ganze Decke wie Spinnweben verteilt waren, sickerte. Auch an der Stromleitung, die sich quer über die Decke bis zur Glühbirne zog, hatte sich Feuchtigkeit gesammelt und ließ das schwarze Kabel ölig wirken.

Marit blinzelte. Als sie die Decke über sich als oben begriffen hatte, kehrte ihr Geruchssinn zurück. Die Luft barg eine starke Note nach verrottender, modriger Matratze. Auch ihr Körpergefühl meldete sich wieder. Sie bewegte ihre Finger, schmeckte die Trockenheit in ihrem Mund und winkelte die Beine an. Sie lag auf dem Rücken und wollte sich zur Seite drehen, doch ihr Kopf schmerzte. Es war ein dumpfer Schmerz, der tief in ihrem Kopf zu sitzen schien. Er wummerte hinter ihren Augen.