Dunkler Paladin - Cole Brannighan - E-Book

Dunkler Paladin E-Book

Cole Brannighan

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Beschreibung

Jahrtausende sind vergangen, seit der Heilige Durhelian mit der Macht seiner Kampfgebete die Dämonen in die Hölle zurückgetrieben hat. Doch kein Sieg währt ewig … Der Straßenjunge Finn hat im Orden der Kampfpriester seine Familie gefunden. Kampfgebete verleihen dem Orden die Macht, sich weit über normale Krieger zu erheben. Als seine Brüder heimtückisch von Dämonen abgeschlachtet werden, schwört Finn Rache. Auf der Suche nach den Mördern trifft er auf die Diebin Khalea, die von der Diebesgilde gejagt wird. Sie öffnet seine Augen für das wahre Übel: Der Dunkle Paladin kehrt zurück! Und alle Morde sind mit seiner Wiederkehr verbunden. Die Ereignisse spitzen sich zu, und Finn muss trotz allem Verrat lernen, zu vertrauen. Alleine kann er nicht gegen den Dunklen Paladin bestehen …

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Cole Brannighan

Dunkler Paladin

Weltendämmerung

Brannighan, Cole: Dunkler Paladin. Weltendämmerung. Hamburg, Lindwurm Verlag 2021

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-948695-37-8

PDF-eBook: ISBN 978-3-948695-36-1

Dieses Buch ist auch als Print-Titel erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ISBN: 978-3-948695-35-4

Lektorat: Angellika Bünzel

Illustrationen: pixabay.com

Grafische Umsetzung der Karte: © Sarah Engelhardt

Cover: © Giusy Lo Coco

Covergestaltung: © Annelie Lamers

Illustrationen: © pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Lindwurm Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der:

https://www.verlags-wg.de

_______________________________

© Lindwurm Verlag, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.lindwurm-verlag.de

Inhalt

Titelseite

Copyright

Karte

Prolog

Kapitel 1: Bruderfeuer

Kapitel 2: Gefangenschaft

Kapitel 3: Die Trümmerküste

Kapitel 4: Lebe deine Wut

Kapitel 5: Dem Tod so nahe

Kapitel 6: Flucht

Kapitel 7: Rast in Borkenhain

Kapitel 8: Wolfsblut Meena

Kapitel 9: Wie jagt man ein Raubtier?

Kapitel 10: Wranis. Stadt der Dattelpalme

Kapitel 11: Der Eisfall

Kapitel 12: Schauspiel und Schattenspiel

Kapitel 13: Von allen verlassen

Kapitel 14: Der Regent und sein Exarch

Kapitel 15: Wiedersehen macht Unfreude

Kapitel 16: Ein Hauch von Purpur

Kapitel 17: Madame Beranais Geschenk

Kapitel 18: Samildanach

Kapitel 19: Weltendämmerung

Epilog

Bestiarium/ Herbarium

Personenregister

Der Autor

Prolog

Leben ist die Gewohnheit nicht zu sterben, dachte Schwester Irella und heute würde sie mit dieser Gewohnheit brechen. Während sie ihr Eisgreif Armanon auf seinen Schwingen über das Schlachtfeld trug, wehrte sich ihr Verstand gegen das Unabwendbare – die Niederlage. Unter ihr hatte sich ein Kreis von Kampfpriesterinnen um das Zentrum geschart und rang in der Dämmerung des Bluttages verbissen gegen seine Vernichtung. In ihrer Mitte flimmerte das Portal – ein Gewühl aus Rauchschwaden. Davor lagen zwei Leichen; an den amethystfarbenen Roben erkannte Schwester Irella sie als Mitglieder der Magiergilde, welche die Energien des Portals hätten kanalisieren sollen. Ohne diese würde ihr Plan nicht aufgehen.

In den Reihen des Barbarenheers erblickte Schwester Irella den Dunklen Paladin, der auf einem Riesenwolf durch die Truppen preschte und sich den Kampfpriesterinnen näherte. Er setzte über die Leichen der Verteidigerinnen und Barbaren hinweg, hieb mit seinem Schwert nach allen Seiten und folgte dem Weg ins Zentrum. Nichts konnte ihn aufhalten.

»Die Weltendämmerung naht«, flüsterte Armanon in ihrem Geist. So wie alle Unsterblichen besaß er die Gabe der Telepathie.

»Bring mich hinunter zu meinen Schwestern, Armanon«, hauchte sie. All die Planung, all die Mühsal, nichts hatte die heutigen Ereignisse verhindern können. Mit dem Tod der Magier galt es, das Schlimmste zu verhindern.

»Ihr werdet sterben, wenn ich Euch in den Kessel der Schlacht trage, Schwester Irella.«

Sie blickte in das Orange der Sonne, die ihrem Untergang am Horizont entgegenstrebte. Danach legte sie Armanon die Hand auf sein Federkleid.

Er verstand und kippte nach links in einen Sinkflug. Doch bevor Armanon aufsetzen konnte, wurde er aus der Luft gerissen.

Schwester Irella schlug auf dem Grasboden auf. Für einen Moment rang sie nach Luft und blinzelte gegen die schwarzen Flecken an, die ihr Sichtfeld trübten. Speere. Krallen. Schreie. Alles um sie herum verschmolz zu einer Suppe an Sinneseindrücken.

Bleiern haftete ihr die Benommenheit an, dann gelang es ihr, sich zu finden. Neben ihr lag Armanon.

»Haltet ihn mit allen Mitteln auf, Schwester Irella. Er darf das Portal nicht passieren«, insistierte Armanon. Er lag auf der Seite, drei Riesenbolzen ragten aus seiner Flanke. Blut floss aus den Wunden. Viel Blut. Armanon war ein Unsterblicher – und doch starb er. Der Glanz seiner azurfarbenen Augen verblasste, während Schwester Irella ihm die Hand auflegte und die Worte des Lichts sprach. »Möge Euch die Goldmöwe auf ihren Schwingen davontragen.« Macht strömte durch ihren Geist, durch ihren Arm, durch ihre Fingerspitzen, nahm Schmerz und schenkte Frieden.

Irella straffte die Schultern. »Nichts darf durch dieses Portal hindurch«, murmelte sie, stand auf und eröffnete den Schlussakt ihres Lebens. Sie drehte sich um und musterte den Dunklen Paladin.

Er war abgestiegen und näherte sich ihr. Etwa dreißig Schwestern verteidigten noch das Portal gegen die Barbaren, der Rest war gefallen.

Irella mühte sich weder um das Richten ihres Umhangs, noch um die Metallteile, die ihr vom Plattenharnisch abstanden. Sie spie einen Klumpen Blut zur Seite und hob ihren Speer. Schwindel trübte ihre Sinne, doch dies war nicht die Zeit, sich der Schwäche hinzugeben. So lange ihre Beine sie noch zu tragen vermochten, würde sie Widerstand leisten. »Euer Schweigen betrübt mich!«, rief sie ihm über den Kampfeslärm zu.

Die Abendsonne glänzte auf der Klinge des Dunklen Paladins. Er lächelte Irella gequält an und schloss den Panzerhandschuh um den Griff seines Schwertes.

»Dunkelheit naht o Herr. Verleihe mir das Licht, um gegen sie zu bestehen«, betete Irella. Ihre Speerspitze flammte im indigofarbenen Feuer des heiligen Durhelian auf und verbannte die Schatten der Dämmerung.

Ihr Schildarm war gebrochen. Für Schmerzen hatte sie keine Zeit. Es gab lediglich das Portal, das es zu schützen galt. Nichts durfte es durchschreiten.

Hinter dem Dunklen Paladin stahl sich ein Knurren durch den Wind. Es war Reißzahn, sein Riesenwolf. Seine Lefzen zuckten zurück und entblößten ein Maul gespickt mit Todeswerkzeugen.

»ICH BIN KAMPFPRIESTERIN!« Flammen knisterten, als Irella den Speer wirbeln ließ.

Der Dunkle Paladin durschaute ihre Absicht und rannte los.

Es war zu spät.

Schwester Irella drehte sich zum Gewühl aus Rauchschwaden. Bevor der Dunkle Paladin sie erreichen konnte, schmetterte sie ihren Speer dagegen. Mit einer Schockwelle ließ die Portalmagie ihr Bewusstsein in Myriaden von Sternen bersten.

»Unser Leid vor dem Tode ist der Preis für das Leben, das wir gelebt haben. Oder ist es der Obolus, unsere Lider schließen zu dürfen?«

– Aus den Betrachtungen des Todes, Kapitel 1, Satz 1

Kapitel Eins

Bruderfeuer

Finn ritt auf seinem Schlachtross hinter der Kutsche von Exarch Gamrion her. Sein Hintern fühlte sich wie Brei an. So hatte er sich die Arbeit eines Kampfpriesters nicht vorgestellt. Bei der Initiation im Tempel war er durch die Flammen des Heiligen Durhelian geschritten und durfte seitdem im Dienste seines Glaubens wirken. Hätte er damals geahnt, dass unzählige Eskorten auf ihn warteten, hätte er nicht auf den Vorzug seiner Weihe gedrängt. Es war bereits die vierte Eskorte ohne Ereignisse und es wurde nicht besser. Er blickte hoch zum Himmel, der sein Trübsal verdichtete. Die Wolkendecke mäanderte in kieselgrau und ließ sich von der Herbstbrise treiben. Schwarzbirkenzweige am Wegesrand wippten und klagten über das Dunkel des Tages. Seit einer Woche war Licht Mangelware. Und das eklige Essen machte es nicht besser. Drei Tage hintereinander gab es Hannok, einen Resteeintopf von der Beschaffenheit eines Schuhsohlenpürees.

Finn strich sich das silbrige Haar nach hinten und prüfte den Sitz seiner Lahras. Das traditionelle Kurzschwert der Kampfpriester, das sich zum Speer ausfahren ließ, ruhte an seiner Hüfte. Zusammen mit dem Plattenharnisch, den Armschienen und dem Indigoumhang fühlte Finn sich ganz von der Tristesse seiner Aufgabe verschluckt. Mit Eskorten ließ sich kein Ruhm erlangen.

»He, Finn«, meldete sich Bruder Eferus. Er hatte zu ihm aufgeschlossen und drosselte den Galopp seines Gauls zum Trab. »Wollen wir heute wieder mit der Ehrengarde des Exarchen Zwölf und Eins spielen? Letzte Nacht waren mir die Karten gewogen.«

Finn sah ihn missmutig an. »Beim Heiligen, ich bin blank! Du hast gut reden, deine Börse ist dicker als dein Ego. Ich weiß, dass du betrügst, aber leider nicht, wie du es anstellst.«

»Ich? Nein, ich bin ein Kampfpriester. Betrug ist mir fremd. Ich übe mich in innerer Betrachtung«, ereiferte Bruder Eferus sich und ahmte mit hochgezogenen Brauen Großmeister Raukhar nach. Dabei versuchte er sich in einer Unschuldsmiene – ohne Erfolg. Mit den hohen Wangenknochen und der Falkennase ähnelte sein Gesicht einer Hohnmaske. Die Narbe von der linken Schläfe bis zum Kinn tat ihr Übriges.

»Du bist mir so teuer wie ein Bruder. Ein Bruder, dem die Unschuld so gutsteht wie einem Huhn ein Sattel«, bemerkte Finn.

»Ich weiß, die Eskorten zermürben. Obwohl ich nächsten Sommer dreißig werde, habe ich die Mühsal nicht vergessen. Auch ich musste Viehsegnungen, das Einsammeln von Lebensmittelspenden, Pilgerfahrten und Botengänge über mich ergehen lassen. Danach begannen die Eskorten. In fünf Jahren bist du auch dreißig Sommer alt, dann wirst du merken, dass man dem Ganzen auch etwas Gutes abgewinnen kann. Plane deinen Genuss. Er wird dir nicht auf einem Goldtablett serviert. Manche unserer Brüder vertiefen sich in Gebete, andere meistern sich in der Waffen- und Gesellschaftspflege. Oder folge meinem Beispiel, rede mit den Gardisten und Händlern, lausche ihren Geschichten, von denen eine obskurer ist als die andere. Gestern hat mir ein Leibgardist des Exarchen erzählt, dass Frauen aus dem Norden von Tilayndor alabasterweiße Haut haben. Das ist, als würdest du es mit einer Statue treiben.«

»Kampfpriester dürfen keine Frauen haben.«

»Wenn wir in Wranis sind, zeige ich dir die Mutter aller Dämmerhöhlen. Die haben Frischware, die dir bestimmt gefallen wird.«

»Hörst du mir überhaupt zu?!«

»Ich höre deine Worte, aber fehlen dir denn nicht die Vorzüge aus der Novizenzeit? Frauen, Pfeifen voll Dämmerkraut, Schwarzbier, all die Dinge, denen du durch dein Gelübde abgesagt hast.«

»Ich … ja, kann sein.«

»Also, überlass dem Heiligen das Heiligsein, gönn dir was. Deine Menschlichkeit macht dich aus, nicht die Litanei von Großmeister Raukhar.«

»Hm, dass … « Finn wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch Bruder Eferus brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Riechst du das?«, fragte Eferus und schnüffelte. »Schwefel. Bleib wachsam, Bruder. Ich werde die Leibgarde des Exarchen warnen.« Eferus gab seinem Gaul die Sporen und schloss zu den anderen auf.

Finn blickte sich um. Was hatte seinen Bruder alarmiert? Schwefel? War das nicht ein Zeichen für … Finn kam mit seinen Überlegungen nicht weit. Krummlinge preschten aus dem Waldrand und griffen die Eskorte an. Mit ihren dämonischen Körpern, aus sich ständig verdrehenden Ästen und Zweigen, stellten sie die Parodie des Menschen dar. Mit jedem Schritt knackten und knisterten ihre Körper, als schleife man einen Baumstamm durch den Wald.

Eines der Pferde verlor aus Angst die Disziplin, bäumte sich auf und warf seinen Reiter ab.

»Schützt den Exarchen!«, brüllte Jar Delinweyn, der Hauptmann der Leibgarde.

Schwertstahl blitzte und Heiliges Feuer von Eferus Lahras flammte auf.

Finn hämmerte das Herz bis zum Hals und in seinen Ohren rauschte das Blut. Endlich ergab sich eine Gelegenheit, sich zu beweisen. Er zog seine Lahras und ein Druck auf den kleinen Hebel an der Parierstange ließ den Griff zum Schaft herausschnappen.

»Die Dunkelheit naht, o Herr, verleihe mir das Licht, um gegen sie zu bestehen«, betete Finn. Einen Lidschlag später erstrahlte die Klinge seiner Lahras im Indigofeuer des Heiligen Durhelian. Ohne zu zögern, stieß Finn seinem Pferd die Fersen in die Flanke und preschte in den Waldrand hinein. Brombeerdornen und Eschenzweige griffen nach seinem Umhang und seinen Haaren. Er scherte nach links aus und griff die Krummlinge von hinten an.

Einer der Gegner wandte sich ihm zu. Wo das Gesicht sein sollte, sprossen Hörner, Baumpilze und Moose.

Finn stach zu. Flammen fraßen sich durch den Krummling und verzehrten die dämonische Existenz. Noch bevor der Krummling zu Asche zerfallen war, riss Finn an den Zügeln und schlug einen Angreifer mit der Hüfte seines Reittiers zur Seite. Die magische Gegenwart der Kreaturen zog und zerrte an Finns Mut, um ihn zur Panik und Flucht zu bewegen. Doch er hielt stand und kämpfte weiter.

Unter seinem Pferd knirschte es, als die Hufe auf die Brust eines Gefallenen drückten. Die Rüstung war so zerkratzt wie das Gesicht, das in Fetzen vom Schädel hing.

Finn unterdrückte einen Würgereiz. Eine Kralle grapschte nach seinen Stulpenstiefeln und versuchte, ihn vom Pferd zu zerren. Mit einem Daumendruck ließ Finn seine Waffe auf Kurzschwertgröße einschnappen und schlug dem Krummling auf den Schädel, dann blickte er nach vorn.

Bruder Eferus behauptete sich neben zwei berittenen Leibgardisten gegen die Angreifer. Sie standen abseits der Kutsche des Exarchen, an dessen Tür sich ein Krummling zu schaffen machten.

Finn trieb sein Reittier an, erreichte ihn und stieß dem Dämon die Lahras in den Nacken. Dann wendete er und wollte Bruder Eferus unterstützen, doch im Bruchteil einer Sekunde vergingen die Angreifer in einem Schwall aus Rauch und Asche.

»Bei den Verfluchten Sieben, was … «, stammelte Finn.

Jar Delinweyn sprang vom Pferd und beugte sich über einen Verwundeten.

»Gut gekämpft! Du siehst ein bisschen blass aus. Hat Waffenmeister Senash dir nichts über die Taktik der Krummlinge vermittelt?«, schnaufte Bruder Eferus.

Finn wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er sah Jar Delinweyn nach, der in die Kutsche stieg. Seine Männer zogen ihre Kampfgefährten von der Straße.

»Nein, nicht so ganz.«

»Sie machen am Anfang Druck, wenn sich das Blatt wendet, verpufft ihr Angriff im Nichts. Seien es die Krummlinge, Urhana, Skarsdämonen, Flüsterlinge oder andere Unnaturen. Senash hat mich gelehrt, dass es die Kultisten sind, die sie beschwören und gegen uns hetzen.«

»Ich habe keinen von denen gesehen.«

»Ist auch besser so. Kultisten sind Besessene, Getriebene, die keinen Schmerz kennen und im Namen der Dämonengötter das Antlitz der Jorvenlande besudeln. Hast du in Dämonologie nicht aufgepasst?«

»Ich … ich habe mich auf die Kampfkunst fixiert«, gestand Finn.

»Mach dir keine Sorgen. Solange du kämpfen kannst, kannst du auch überleben. Wissen lässt dir keine Körperteile nachwachsen. Wissen bringt dein Herz nicht wieder zum Schlagen.«

Jar Delinweyn stieg aus der Kutsche, nahm seinen Helm vom Kopf und richtete sich den blonden Pferdeschwanz. In seinem Bart trug er Zöpfe, die ihn als Sieger vieler Zweikämpfe auswiesen. »Wir reiten weiter bis zur Dämmerung. Dann dürften wir auf eine Zollstation treffen, wo wir übernachten werden. Er räusperte sich und spuckte Blut, bevor er weitersprach. »Ich habe noch nie Kampfpriester in der Schlacht erlebt. Ihr habt meinen Respekt. Der Exarch lässt Euch seinen Dank ausrichten und bittet Euch, heute Abend mit ihm zu speisen.«

»Wir nehmen die Einladung gern an, Jar Delinweyn«, antwortete Eferus.

»Was ist mit den Gefallenen?«, wollte Finn wissen.

»Die erhalten ein Kriegerbegräbnis, gleich hier, wo sie tapfer gekämpft haben und gefallen sind.«

Das Feuer des Kamins wärmte den Besprechungsraum der Stadtgarde, dessen gemauerte Wände mit überkreuzten Speeren, Schilden und Hasenfallen geschmückt waren.

Zwei Stadtgardisten eilten durch die Tür und trugen das Essen auf.

Finn schob ein Stück Fasanenbrust zwischen zwei Scheiben Schwarzbrot und liebäugelte mit dem Würzwein. Aber stattdessen entschied er sich für einen Becher Wasser und trat an den Kartentisch, an dem sich Bruder Eferus, Jar Delinweyn und der Exarch unterhielten.

In seiner amethystfarbenen Magierrobe überstrahlte Gamrion die Umstehenden. Goldranken wuchsen auf dem Stoff, vom Saum über den Fußknöcheln bis zu den Goldaufschlägen an Hals und Ärmeln. Er nahm kurz sein Barrett ab, fasste seinen Haarschopf zusammen und setzte sich die Kopfbedeckung wieder auf.

»Ich möchte keinen weiteren Überfall riskieren, wählt eine andere Route«, forderte der Exarch im Dialekt der Wranier. Sie hatten eine eigene Form Jorvisch zu sprechen, in der sie Sätzen einen Hauch von Melodie einflößten, als wollten sie einen Singvogel locken. Dazu unterstrichen seine Mandelaugen, die Klarheit und Weisheit vermittelten, seine wranische Herkunft.

»Mein Exarch mit Verlaub, das war kein Überfall. Dämonen attackieren keine Kutschen in Begleitung zweier Kampfpriester und einer Leibgarde, die das Zinnoberrot der Königstruppen trägt. In Tilayndor nennen wir so etwas einen Hinterhalt. Ich rate Euch, Eure Erkundungsreise abzubrechen.« Nach seiner Ausführung stürzte Jar Delinweyn seinen Würzwein in einem Zug hinunter und wischte sich den Vollbart mit dem Ärmel trocken.

»Dann sollten wir zurück und dieses Ereignis mit Regent Escheran in Wranis besprechen. Welchen Weg würdet Ihr mir raten, damit wir nicht riskieren, wieder in einen Hinterhalt zu geraten?«

»Ich würde Euch die Weiterreise über den Seeweg empfehlen. Bis nach Rugand haben wir noch eine halbe Tagesreise, von dort aus könnten wir auf ein Schiff übersetzen, das uns nach Wranis bringt.« Jar fuhr mit einem Finger nach Süden an der Küstenlinie entlang und tippte auf eine orangefarbene Krone, die um eine Dattelpalme prangte.

Bruder Eferus spülte einen Kanten Schwarzbrot mit Wasser herunter. »Mit Eurer Erlaubnis werden Bruder Finn und ich unseren Großmeister in Helinas über den Dämonenangriff in Kenntnis setzen. Vielleicht sind noch andere Reisende Opfer solcher Angriffe geworden.«

»Ebensolche Berichte sind der Anlass meiner Reise. Da die Königstruppen im Norden mit den marodierenden Barbarenstämmen beschäftigt sind, hat der König Söldnern den Schutz im Inneren der Jorvenlande übertragen. Allerdings gibt es seit einem Jahr vermehrt Beschwerden, dass die Mietklingen nicht nur wenig taugen, sondern auch selbst zu einer Gefahr werden. Regent Escheran aus Wranis erwartet von mir einen Bericht, den er dem König vortragen möchte. Ich dachte nicht, dass es so schlimm ist, dass sogar eskortierte Reisende angegriffen werden, daher brauche ich Euch an meiner Seite, Bruder Eferus. Wir wissen nicht, was uns auf dem Weg nach Wranis erwartet. Dennoch muss Euer Ordensführer von den Geschehnissen erfahren. Bruder Finn, bestellt Großmeister Raukhar meine Grüße.«

Finn nahm die Schriftrolle entgegen und sah zum Exarchen auf, der sogar Eferus überragte. »Ich werde Eure Botschaft überbringen.« Sein Kopf nickte, aber sein Herz trauerte um die Gelegenheit, seinen Mut an der Seite seines Ordensbruders beweisen zu dürfen. Andererseits war er froh, dass er nicht mit nach Rugand musste, wo er die schlechten Tage seiner Kindheit durchlebt hatte. Er richtete die Gürtelschnalle aus punziertem Messing an seiner Hose und verließ den Raum.

.

Wolkenrudel marmorierten den Himmel und ließen das Orange der Abenddämmerung durch ihre Lücken blitzen. Eine Herbstbrise wirbelte Finns Umhang umher und ließ ihn vor seinem Sichtfeld flattern.

Er hatte die Handelsstraße nach Helinas erreicht und trabte hinter einem Planwagen her, der sich durch die Furchen arbeitete, die unzählige Handelskarawanen in den Boden gepflügt hatten.

Finn hoffte, dass er beim Vorbeireiten nicht angesprochen und um einen Segen gebeten wurde, denn darauf hatte er mittlerweile noch weniger Lust als auf Eskorten.

Während er den Wagen einholte, scherte vor dem Klappergespann ein gepanzerter Reiter in Zinnoberrot aus. Dieser ließ sein Pferd neben den Wagen zurückfallen und ordnete die graumelierten Haare auf seinem Wuschelkopf. Seine Rüstung zierten unzählige Flickstellen. Ohne Zweifel ein Schlachtenveteran.

Finn sah sich um. Seltsam. War er ohne Geleit? Hatte er eine Mission? Oder wollte ihn sein Herr loswerden?

»Gehabt Euch wohl, edler Herr«, grüßte Finn.

Der Mann drehte sich im Sattel um. Er hatte die Ruhe weg. »Mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen?«

»Ich bin Finn und wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?«

»Jar Istram von Echterdingen. Und was führt Euch hierher?«

Er trug den Ehrentitel Jar, den nur die Helden des Königs im Stahlkreis erhielten. Dieser Mann war kein Niemand, auch dann nicht, wenn er sich selbst zerstörte. Sein Atem verpestete die Luft und peinigte Finns Nase. Die Fahne, die Jar von Saufingen vor sich hertrug, war nicht die seines Hauses. Es war nicht zu leugnen, dass dieser Mann seinen Absturz hinter sich hatte.

»Ich möchte nach Helinas«, antwortete Finn.

»Ah, zum Lichtfest, was?«

»Auch«, antwortete Finn einsilbig, da er das Interesse an dem gefallenen Jar verloren hatte. Zumindest gehörte dieser Mann nicht zum Heer der Scheinheiligen, die sich an Segenssprüchen ereiferten.

Jar Istram musterte ihn. Obwohl er sich mehr am Sattel festhielt und weniger darauf saß, zeugte der Glanz seiner Augen von Intelligenz. Er lächelte. »Sagt mal, Ihr kennt Euch nicht zufällig mit Frauen aus?«

»In der Regel haben sie zwei Brüste und parfümieren sich die Haare.«

Jar Istram schmunzelte. »Vinosch, halt mal kurz an, zeig unserem Gast das Biest.«

Mit einem Ruck kam die Kutsche zum Stehen. Ein untersetzter Junge in beigefarbenem Mantel sprang vom Bock. Auf seinem Ärmel glänzte Rotz, der zu seiner efeugrünen Leinenhose passte. Er zog die Nase hoch.

»Mein Herr, sie beißt«, jammerte er.

»Du verdammter Bastard, tu, was ich dir sage! Wie soll je ein Jar aus dir werden? Du taugst ja nicht annähernd zum Anwärter! Nur weil deine willige Mutter nicht zur Engelmacherin gehen wollte.«

Während der Jar seine Tirade weiter auswalzte, Hunde und Ziegen mit einbaute, zog der Anwärter den Kopf ein und band die Plane vom Wagen los. Als er sie nach oben aufrollte, kam ein Käfig zum Vorschein.

In der Ecke kauerte ein Bündel Elend. Sie hatte ihr Gesicht zwischen den Knien vergraben und trug eine Frisur, die selbst einen Wischmopp wie die neueste Mode am Hof von Tilayndor wirken ließe.

»Das ist eine Ausgekochte! Hat gestern Vinosch in den Fluss gestoßen, weil wir sie waschen wollten. Der Junge hat jetzt die Rotzseuche. In seinem Hohlschädel is’n Haufen voll Schleim. Nicht dass ihn das dümmer macht, aber sein Geschniefe nervt!« Jar Istram holte eine Flasche Wein aus der Satteltasche, zog den Korken mit den Zähnen heraus und genehmigte sich einen Schluck.

»Seid Ihr sicher, dass es eine Frau ist?« Finn hatte seine Zweifel, was er da sah, wirkte nicht menschlich.

»Beißt und beschwert sich so wie die Mutter von Vinosch, also ja.«

»Was ist ihr Vergehen?«

»Außer, dass sie’n Miststück is? Hat die Diebesgilde beschissen, wollte nichts abdrücken. Angeblich hat sie bei ihrer Festnahme einem Typen den Finger abgebissen. Sie könnte eine Hexe sein oder ein Wechselbalg.«

Finn wollte der Märchenstunde keinen Glauben schenken. Eine Hexe würde sich nicht mit einem Finger zufriedengeben, um dann in einem Käfig zu landen.

Ohne Vorwarnung warf Jar Istram seine Flasche gegen die Gitter. Ein Regen aus Wein und Scherben ergoss sich über die Frau, die keinerlei Reaktion zeigte.

»Wo bleibt Eure Ehre, die ein Jar besitzen sollte?«, warf Finn ihm mit geballten Fäusten vor.

Jar Istrams Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. »Wer seid Ihr, dass Ihr mich über die Tugenden eines Jars belehren wollt? Der Stahlkreis machte mich zu dem, was ich bin. Kümmert Euch lieber um das Lichtfest!« Seine Hand wanderte an den Griff eines Schwertes, das an seiner Seite hing.

Finn richtete auffällig seinen Indigoumhang und hoffte, dass der alte Jar erkennen würde, wen er hier vor sich hatte.

Noch ein paar Sekunden behielt ihn der Jar im Auge, dann ließ er vom Schwert ab. »Macht, was Ihr wollt, Kampfpriester. Wenn Ihr sie anfasst, dann will ich dafür eine Jorvenkrone sehen. Es wird langsam dunkel, wir machen hier Halt. Ihr dürft an unserem Feuer sitzen, jede weitere Klinge ist in dieser Gegend willkommen. Die Reisewege sind nicht mehr so sicher, seit sich die Königstruppen in den Norden verzogen haben. Dämonen und durhelianische Geistliche treiben ihr Unwesen«, frotzelte Jar Istram, sattelte ab und band seinen Gaul am Wagen fest.

Sein Sohn sprang zurück auf den Bock und klaubte unter dem Kutschbock Steppdecken mit Rosenmotiv und Kissen aus Schafwolle hervor.

Finn überlegte nicht lange. Graf von Rotz, Herr von Saufingen – keine Segenswünsche, kein Geschleime. Solch gute Gesellschaft hatte Seltenheitswert.

Ein Frösteln riss Finn aus dem Schlaf. Trunken vom Schlummer griff er nach seiner Lahras, die sogar im Bett nur eine Armlänge von ihm entfernt lag. Nachtfrost hatte seine Steppdecke mit einer weißen Patina behaucht, da das Feuer bis auf die Glut heruntergebrannt war.

Graf von Rotz taumelte im Zwielicht der Glut durch das Lager. Finn rieb sich den Schlaf aus den Augen und blickte auf den nackten Hintern von Jar Istram, der sich sehr zum Unmut der Frau an der Käfigtür zu schaffen machte. Als er die Gittertür aufschlug, schrie sie auf und kauerte sich in einer Ecke zusammen.

Finn wusste nicht, ob der Mann eine oder zehn Flaschen gesoffen hatte, aber das ging entschieden zu weit. Er wickelte sich aus seiner Steppdecke und trat auf den Käfig zu, gewillt, die Sache zu beenden.

Graf von Rotz war am Lagerfeuer erstarrt und machte keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Vermutlich, weil er zwischen der Not der Frau und dem nahenden Unheil für seinen Vater zerrissen war.

Finn zog seine Lahras.

Jar Istram bemerkte davon nichts oder wollte es nicht. Er zerrte an der Bekleidung seines Opfers und riss ihr das Wenige, das sie trug, in Fetzen. Mit einem beherzten Biss in seinen Arm entwand sie sich seinem Griff und stürzte dabei auf den Rücken. Bevor er sich aber über sie beugen konnte, trat sie ihm in die Nüsse, was ihm ein Grunzen entrang. Kurz danach schnappte sie nach seinem Schwert, zog es aus der Scheide und stieß es ihm in den Hals.

»Du verdammtes Stück … «, krächzte der Jar, griff sich an den Hals und ging zu Boden. Er konnte weder das Blut halten, das sein Leben davontrug, noch seine Würde, die mit seiner Hose gefallen war.

»Oh nein, oh nein, nein«, jammerte sein Sohn.

Finn blieb am Käfig stehen und betrachtete die Szene. Der Jar starb vor seinen Augen. Er tat ihm nicht leid, im Gegenteil. Aber der Säufer war kein Niemand. Der Mord an ihm war ein Verbrechen gegen die Gesetze des Königs der Jorvenlande. Kampfpriester durften in solch einem Fall ohne Anklage vollstrecken. Er richtete seinen Blick auf die Frau, auf deren Leib das Blut von Jar Istram in der Kälte dampfte. Die Kleidung hing ihr in Fetzen vom Körper. Mit Augen, in der Farbe von flüssigem Ocker, starrte sie ihm hasserfüllt entgegen. Ein Leben für ein Leben, das war Gerechtigkeit.

Finn drehte ihr den Rücken zu. »Nimm dir Kleidung und Proviant vom Wagen. Ich denke, dass Jar Istram es nicht mehr benötigen wird. Was mich angeht, ich war nie hier.« Dem Ganzen fügte er noch ein Schulterzucken hinzu.

Graf von Rotz starrte ihn an.

»Hast du etwas gesehen, Kleiner?«

»Ich … nein, ich habe nichts gesehen. Der Alte ist vom Pferd gestürzt und wurde von Wölfen gefressen – von Riesenwölfen!«

Finn war zufrieden, denn der Junge schien genug Verstand zu haben, um das Greisenalter erreichen und trunken vom Leben in der eigenen Pisse im Bett sterben zu können.

Ein metallisches Quietschen verriet Finn, dass die Gefangene den Käfig verlassen hatte. Sie sollte eine zweite Chance erhalten, da sie schließlich dafür gekämpft hatte. Hoffentlich erwartete sie ein anderes Schicksal, als die Gespielin eines Trunkenbolds zu werden.

Schwärenden Eitersäcken gleich krochen graue Regenwolken über den Himmel und zogen über den Berg Sackling, an dessen Fuß sich die Stadt Helinas mit ihren gedrungenen Häusern schmiegte.

Die Bauern mühten sich, ihre Tiere und Gerätschaften von den Feldern zu holen und sich vor dem nahenden Niederschlag hinter die Stadtmauern zu flüchten.

Finn saß locker im Sattel und passierte die Feldarbeiter, bis er die Mauern erreicht hatte.

Stadtgardisten in aschgrauen Mänteln und hohen Stehkragen hielten zu beiden Seiten des Tors Wache, schenkten Finn jedoch keine Beachtung.

Helinas hieß ihn ohne einen langsamen Übergang mit dem Gestank der Großstadt willkommen. Der Duft von Kuhfladen, offenen Kanälen und Ziegenkötteln schwängerte die Luft der Straßen, auf denen sich Menschen an Marktbuden mit kieselgrauen Baldachinen drängten.

Finn drängelte sich auf seinem Reittier durch die Menge und erreichte nach einer Weile den Tempel des heiligen Durhelian, der äußerlich mit seinen Zinnen, dicken Mauern und dem verstärkten Tor einer Festung glich.

Finn saß ab und übergab die Zügel einem Novizen, der ihn in Empfang nahm. Danach grüßte er seine beiden Brüder, die auf den Stufen vor dem Eingang Wache hielten, und trat ins Innere. Seine Schritte hallten auf den Marmorfliesen. Haushohe Kriegerplastiken aus nachtschwarzem Marmor säumten einen großen Zeremoniensaal. Sie blickten auf Finn herab, während sie sich mit Schilden gegen das Deckengewölbe stemmten.

Finn lief zur Stirnseite des Tempels, wo eine Feuerschale in den Boden eingelassen war, in der das Indigofeuer des Heiligen loderte. Es brauchte weder Holz noch Öl und warf keinen Schatten.

Er beugte das Knie und legte sich die rechte Faust auf die Brust. Er wusste nicht, ob dies die Stelle war, in der das heilige Buch Renarian eingelassen war, das in den Fundamenten eines jeden der vier durhelianischen Tempel in den Jorvenlanden ruhte. Dennoch versuchte er sich vorzustellen, dass er sich über der Heiligen Schrift befand und betete:

Heiliger Durhelian,

erleuchte unseren Weg,

eine unsere Stärke im Glauben,

eine unseren Mut in der Schlacht,

eine uns und wir folgen dir,

eine uns und wir dienen dir.

Im Geiste und auf dem Felde

sind wir dein Schild und deine Lahras.

Dein Wort ist uns Gesetz,

deine Gerechtigkeit unser Lohn.

Lass uns obsiegen, wenn Dunkelheit droht.

»Bruder Finn, es freut mein Herz, Euch wiederzusehen«, rief Großmeister Raukhar von der Arkade über dem Zeremoniensaal herunter. Er trug eine Robe mit einer Seidenschärpe, die zu beiden Seiten vom Hals hinunter hing. Das Goldamulett mit dem Flammenschwert baumelte an seiner Kette nach vorn, weil er sich über die Brüstung beugte. »Kommt ins Ordinariat und berichtet mir von Eurer Reise.«

Finn ging die Treppe hoch und folgte dem Großmeister vorbei an den Ruheräumen ins Ordinariat. Er grüßte zwei Brüder, die ihn passierten und schloss die Türe hinter sich.

Tageslicht belebte einen Rundbogen mit Buntglasfenstern, die in zwei Seiten aufgeteilt waren. Links strebten Flüsterlinge mit ätherischen Körpern aus den Tiefen hinauf in die Welt der Menschen und griffen mit ihren Krallen nach den Wurzeln der Bäume, um sich hochzuziehen. Rechts stand eine Lichtgestalt aus Indigo auf dem Gipfel eines Berges und scharte Krieger um sich, die sich im Kreis um ihn versammelten. Bunte Lichtflecken der Szene fielen auf einen Schreibtisch voll mit Schreibfedern, Tintenfässchen und Papierstapeln. Außer der Stirnseite mit den Fenstern und dem Kamin war jeder Zoll Wand mit Bücherregalen verkleidet, deren Bretter sich unter der Last von Folianten bogen.

Großmeister Raukhar strich sich das schüttere Haar nach hinten und setzte sich. Das Leder des Sessels knarzte unter dem Mann, dessen Bauch seine Amtsrobe wölbte. »Ihr seid schneller zurück, als ich erwartet hatte. Ich nehme an, Ihr seid mit einer Himmelsbarke von Wranis zurückgekehrt? Gibt es Neuigkeiten vom Tempel Bahlinors, ist der Großmeister mit den Umbauarbeiten fertig?«

»Nein, Großmeister. Wir wurden auf dem Weg von Krummlingen überfallen«, erwiderte Finn. Er kramte aus der Innentasche seines Umhangs die Siegelrolle von Exarch Gamrion hervor.

Raukhar nahm sie entgegen, brach das Siegel und las. Seine Stirn legte sich in Falten. »Er schreibt vom Attentat auf sein Leben und von den Kultisten, die sich ausbreiten. Außerdem lobt er Eure Stärke – Euer Kampfesmut werde dem Heiligen gerecht.«

Finn nickte verhalten. Wenn er denn so gelobt wurde, wieso durfte er nicht mit nach Wranis, um sich dort einen Namen gegen die Kultisten zu erkämpfen?

Großmeister Raukhar lachte auf. Das Echo wurde von den Büchern aufgesogen, als säßen sie in einem Teppichladen. »Ich kann es von Eurem Gesicht ablesen. Ihr grämt Euch, nicht kämpfen zu dürfen. Doch es ist der Glaube, der Euch Kraft verleiht. Und Ihr solltet auch Glauben in Eure Brüder setzen. Sie geben Euch die Aufgaben, die Ihr braucht, um Euch zu entwickeln. Habt Geduld.«

»Botendienste, Segnungen, das Einsammeln von Spenden, Eskorten. Wenn ich keine Gelegenheit zum Kampf erhalte, kann ich wohl kaum Ruhm ernten? Wieso kann ich nicht mit meinen Brüdern auf die Jagd nach Dämonen gehen?«

»Dämonen sind nicht die einzigen, gegen die es zu kämpfen gilt«, mahnte der Großmeister, zog die Brauen hoch und hob den Zeigefinger. »Übt Euch in innerer Betrachtung.« Er stand auf und legte Finn die Hand auf die Schulter. »Den Novizen habt Ihr beim Initiationsritual hinter Euch gelassen. Beim Durchschreiten der Indigoflammen hat Euch das Feuer nicht verzehrt, daher habt Ihr Euren Mut und Eure Rechtschaffenheit bereits unter Beweis gestellt. Nun werden Eure Pflichten Euch auf dem Wetzstein des Glaubens schleifen. Nehmt heute Abend eine Himmelsbarke zum Gipfel des Sacklings, in ein paar Stunden seid Ihr oben. Wohnt dem Ritual bei und entzündet mit unseren Brüdern das Feuer – das erste Licht des neuen Jahres.«

»Möchtet Ihr dieses Jahr nicht selbst zum Ritual?«

»Nein, übernehmt das dieses Mal für mich.«

Finn war verwundert, dass sich Raukhar dieses Ereignis entgehen ließ.

»In meiner Doppelrolle als Großmeister unseres Tempels in Helinas und dem Bergtempel auf dem Sackling kann ich nicht allen Aufgaben gerecht werden, die man mir abverlangt. Deshalb muss ich Prioritäten setzen.«

Finn hatte mal wieder das Gefühl, dass bei ihm alle unangenehmen Aufgaben, die keiner erledigen wollte, abgeladen wurden. Aber er hatte keine andere Wahl, er musste Geduld zeigen. »Wie Ihr wünscht«, antwortete Finn zerknirscht und verließ den Raum.

Die Himmelsbarke schaukelte sachte hin und her, während sich die Oberfläche von Finns Fischsuppe nach links und rechts neigte. Er saß im Speiseraum am Tisch und hatte neben der Schale einen Zwergenberg aus Gräten angehäuft, die der Koch nicht aus dem Fleisch gezogen hatte.

Wieso kann es auf Himmelsbarken nicht Vögel zu essen geben, wenn es auf Ozeanschiffen Fisch zum Essen gibt, fragte er sich, zog sich eine weitere Gräte aus dem Mund und platzierte sie auf dem Haufen. Was beschwerte er sich eigentlich? Für Überfahrten auf Schiffen und Himmelsbarken mussten Geistliche und ihre Begleiter nicht zahlen, und das dank dem Einsatz von Exarch Gamrion, der die Dienste von Priestern gegenüber der Krone als Notwendigkeit durchgesetzt hatte. Daher sollte er sich freuen und die kleinen Unannehmlichkeiten hinnehmen.

Der Lichtkegel der Öllampe, die an einem Deckenbalken hing, glänzte im Blut der Fische, denen der Koch an seinem Hackbrett die Köpfe abschlug. Etwas an der Art und Weise, wie er es tat, verdarb Finn den Appetit. Er schob die Suppe beiseite und schaute zum Spielmann, der ihm gegenüber am Tisch saß.

Saite für Saite zupfte er an seiner Laute mit dem abgeknickten Kopf und drehte an Rädchen, bis ihm das Ergebnis gefiel. Beim letzten Ton verzog er das Gesicht, dann lächelte er und spielte eine Melodie. In sein Spiel mischten sich Missklänge, die beim Zuhören wehtaten. Und das Knarzen des Barkenholzes verwandelte die Disharmonie in etwas, das dem Kampflärm zwischen Hund und Katze glich.

Finn zuckte bei jedem Fehlgriff innerlich zusammen und ahnte, dass der Mann ein Möchtegern und kein echter Barde war, die mit ihrer Musik nicht nur die Laune hoben, sondern auch Geschichten erzählten.

Da Finn weder der Fisch noch die Musik schmeckte, schnappte er sich seinen Mantel und verließ die Messe. An Deck erfasste ihn ein kalter Wind, weshalb er seinen Mantel zuknöpfte und hoch zum Rochenleviathan blickte, dessen ultramarinblaue Haut sich nur durch den Glanz der Feuer an Bord von der Nacht abhob. Durch die Bewegungen seiner Gasblasen wölbte und flachte sich seine Bauchhaut in stetigem Rhythmus auf und ab. An seinem Leib hingen dicke Eisenringe, an denen die langen Ketten befestigt waren, welche die Himmelsbarke mit ihm verbanden.

»Gut, Höhe halten!«, blaffte der Kapitän, während die Barke eine flache Stelle unweit des Gipfels überflog. Über Umlenkrollen und Flaschenzüge ratterten Ketten und veränderten den Zug am Rochenleviathan. Der Riese ging in den Sinkflug über und beschrieb eine Rechtskurve.

»Landebrücke vorbereiten!«

Finn vergrub sein Kinn im Kragen des Mantels. Der Sackling war nicht so hoch wie die Sigisberge bei Rugand und lag unterhalb der Schneegrenze, dennoch zehrte die Kälte des Windes an Leib und Seele.

Er lehnte sich über die Reling und blickte nach unten auf das Neujahrsfeuer, das bereits auf dem Hügelkamm brannte. Das Beladen der Himmelsbarke hatte so viel Zeit in Anspruch genommen, dass er das Anzünden verpasst hatte.

Gebäude schälten sich aus der Nacht, vom wenigen Mondlicht beschienen. Finn musterte den Landeturm zwischen den Steinhäusern. Während die Luftbarke über dem Turm schwebte, warf ein Luftmatrose Ankerseile aus. Zwei Arbeiter tänzelten auf dem Dach und fischten mit Langhaken nach den Ösen der Seile, die von der Barke baumelten. Wenige Sekunden später sank die Luftbarke noch tiefer, nun zogen die Arbeiter den Rumpf über Poller an die Turmkante heran und setzten die Landebrücke an.

Finn verließ den Landeturm, welcher der bauliche Höhepunkt der Siedlung war, in der sich Hütten aus Holz und Stein nebeneinander reihten und die einzige Straße des Orts säumten. Finn blickte auf seine Füße, um in der Dunkelheit nicht auf Kuhfladen oder Ziegenköttel zu treten. Während er so seinen Schritt beobachtete, sprach ihn jemand von der Seite an.

»Kampfpriester«, wisperte eine Frau vor einem Hoftor, das ihr bis zu den Knien reichte. Ein Zicklein legte den Kopf über den aus Weidenzweigen geflochtenen Zaun und blökte Finn an.

Die Frau verpasste dem Tier einen Klaps mit einem Hirtenstab und schickte es in den Bretterverschlag zurück. Weiße Haarsträhnen kringelten sich unter dem rosengeblümten Kopftuch über ihrer Stirn. Sie zupfte sich die Schafwolldecke, die sie über den Schultern trug, über der Brust zusammen und sah Finn mit betrübter Miene an.

Finn kannte diesen Blick. In solchen Momenten rangen Menschen mit dem Schmerz in ihren Herzen. Er hatte keine Zeit für so etwas, aber ihm blieb keine Wahl, denn sein Amt und Großmeister Raukhar verlangten danach, dass er sich neben seinen Verpflichtungen im Kampf auch den sakralen Aufgaben seines Ordens widmete. Er atmete durch, ging auf die Frau zu, blieb vor dem Hoftor stehen und schaute sie an. »Möge der Heilige Euren Weg erleuchten. Ich bin Bruder Finn, was kann ich für Sie tun?«

»Mein Mann geht seit vier Monden nicht mehr die Schafe hüten.« Ihre Worte klangen hohl, als sei sie ein Tonkrug ohne Inhalt. »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich … Er hat Schmerzen, Bruder Finn. Solche, die man seinem Feind nicht wünscht.« Sie schluckte hörbar.

»Bringt mich zu ihm, gute Frau.«

Sie öffnete ihm das Hoftor und führte ihn über zwei Stufen in die Hütte.

Finn schlug der Geruch des Todes entgegen, noch bevor er den Hirten erspäht hatte. Es roch nach Farnkrauttee, Urin und Blut. Dazu schlängelte sich eine süßliche Note nach Stillem Grünwurz durch die Luft. Das Halluzinogen wurde für Rauschzustände und zur Schmerzstillung verwendet und mochte für eine Hirtenfrau ein Vermögen kosten. Es war keine Seltenheit, dass Familien sich bei der Pflege ihrer Kranken bis an den Ruin verausgabten.

Finn setzte sich auf einen Schemel ans Bett und sah dem Hirten ins Antlitz. Es war nicht das fahle Mondlicht, das für seine Blässe verantwortlich war. Seine Züge wirkten verkrampft, Falten zogen sich durch sein Gesicht und seine Lippen standen einen Spalt breit offen.

»Ist er noch bei Bewusstsein?«, wollte Finn wissen und legte ihm die Hand auf die Stirn.

»Nein, ich kann ihn schon seit einer Woche nicht mehr erreichen.« Ihre Stimme brach bei den letzten Worten. »Bitte Bruder Finn, er kann nicht loslassen.«

Finn fühlte die Hitze auf der Stirn des Hirten, den kalten Schweiß auf seiner Haut. Als Novize hatte er die Sterbebegleitung den Priestern überlassen, die sich mit Gebeten, Barmherzigkeit und Mildtätigkeit besser auskannten. Sie hätten ihre Gebete gesprochen, Familienangehörige ans Sterbebett gerufen und Trost in der Gegenwart des Todes gespendet. Neben Kerzenlicht hätte es auch Weihrauch und Frischwasser gegeben, mit dem sie das Gesicht des Sterbenden gewaschen hätten. Doch am Ende taten sie nichts anderes, als einen Menschen zu töten. Finn war da anders, er machte sich nichts vor, wollte die Sache hinter sich bringen, diesen Teil seiner Kampfpriesterschaft schnell abhandeln.

Finn schloss die Augen und sprach die Worte des Lichts: »Möge Euch die Goldmöwe auf ihren Schwingen davontragen.« Kraft strömte durch seinen Arm in seine Hand und floss über die Stirn des Hirten in seinen Körper. Finn nahm den Schmerz wahr, der sich um die Seele des Sterbenden geschnürt hatte. Er sah den Lebensfunken, der im Verschwinden begriffen war, während die Dunkelheit um ihn herum wuchs. Bei jedem dritten Herzschlag verschwamm Finns Sicht, gleich einem Stein, der die Wasseroberfläche mit seinem Einschlag in Wellen versetzte. In Gedanken streckte Finn die Hand aus und ließ das Licht des Heiligen durch sich fließen.

Finn öffnete die Augen und blickte in ein Gesicht, aus dem Spannung und Schmerz gewichen waren. Sein Lebensodem war erloschen. Hinter Finn begann die Hirtin zu schluchzen.

»Danke, Bruder Finn, Ihr habt seinem Leid ein Ende bereitet«, stammelte sie.

Ihr meint, ich habe ihn getötet, dachte Finn. Hilfe wäre gewesen, den Mann heilen zu können, ihn wieder mit dem Leben zu vereinen. Der Tod am Ende einer Klinge besaß mehr Ehrlichkeit, als die Kult gewordene Scheinheiligkeit solcher Rituale.

Finn erhob sich und machte Platz für die Witwe, die ihre Lippen auf die Stirn ihres Mannes drückte und weinte. Ohne ein weiteres Wort verließ Finn die Hütte und setzte seinen Weg fort.

Die Straße mündete in einem Pfad, der sich in Serpentinen zum Gipfel hinaufschlängelte. Finn strebte zum Neujahrsfeuer auf dem Gipfel des Sacklings, stemmte sich gegen den Wind und blinzelte sich die Kältetränen weg. Tagsüber stellte der Trampelpfad eine Herausforderung dar, doch nachts war er eine Gefahr für Leib und Leben. Wurzeln griffen nach seinen Stulpenstiefeln, Bergeichen und Schwarzkirschen grapschten mit ihren Zweigen nach seinem Mantel und seinen Haaren. Da er einen Sturz fürchtete, tastete er mit dem Schaft seiner ausgefahrenen Lahras nach dem Boden. Eine Fackel oder sein Heiliges Feuer zu entzünden, wäre ein Sakrileg, in der Nacht des Lichtfests durfte lediglich das Feuer auf dem Gipfel brennen. Es symbolisierte das Licht, das der heilige Durhelian den Menschen im Kampf gegen die Dämonen geschenkt hatte.

Erste Schatten zuckten zwischen den Baumstämmen und Büschen. Es war nicht mehr weit. Nach einer letzten Kehre in der Serpentine des Pfades stolperte Finn in den Schein des Feuers.

Was sich ihm darbot, wollte sein Kopf nicht begreifen. »Bei den Verfluchten Sieben«, hauchte er und erstarrte. Keiner seiner Brüder stand um das Feuer, es brannte einsam. Das Kopfsteinpflaster um den Scheiterhaufen glänzte vor Blut. Überall lagen Lahras, Körperteile, Speere und lose Seiten des Ranarian. Hier hatte ein Kampf stattgefunden.

Ein Massaker.

Finn erkannte Schädel und Plattenharnische im Feuer. Es waren seine Brüder, die mit ihrem Fleisch und ihren Knochen die Flammen nährten.

»Du hast einen so schönen Kopf. Ich mutmaße, dass er gut brennt.«

– Häuptling Alhaunirs Brief an seine Mutter, erster und einziger Satz.

Kapitel Zwei

Gefangenschaft

Talisa rieb sich den Schlaf aus den Augen, während Wurstfinger nach ihrer Brust grapschten und zu kneten begannen. Von hinten drängte ihr jemand sein Glied an den Hintern. Tageslicht waberte durch die Vorhänge der Fenster in den Raum, in dem es nach Schweiß und Lust muffelte. Sie setzte sich auf und schlug dem Mann neben ihr ins Gesicht, sodass er vor Schreck aus dem Bett kippte. Der Nackte rappelte sich auf und grinste sie an.

»Das Vorspiel haben wir doch schon hinter uns«, nuschelte er. Es war nicht zu überhören, dass er mit einem Zahn in seinem Mund jonglierte.

»Raus mit dir, sonst bring ich dich um!« Stahl lag in ihrer Stimme. Sie erinnerte sich vage, dass sie viel getrunken und mit ihm geschlafen hatte.

Als er sah, wie sie nach ihrem Bastardschwert auf dem Nachtisch griff, gefror sein Grinsen zur Maske. Er schlüpfte in ein Hosenbein und humpelte zur Tür hinaus, im Flur tat es noch einen Schlag, danach erklang das Knarzen von Treppenstufen.

»Wieso tue ich mir das immer wieder selbst an?«, murmelte Talisa, streckte sich durch und schälte sich aus dem Bett. Das schummrige Licht im Raum ging ihr auf den Geist. Wieso musste der Morgen danach immer so wehtun?

Noch während sie die Vorhänge aufriss, bereute sie es. Sonnenlicht stach ihr in die Augen und es dauerte einen Moment, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Obwohl ihr der Schädel dröhnte, musste sie sich ranhalten, sonst würde sie das Schiff verpassen. Sie zog sich an, prüfte den Sitz der Rüstung und des Waffengurts.

Sei immer vorbereitet. Die Worte von Hauptmann Kasturon, ihrem ehemaligen Waffenmeister, drangen immer wieder ungefragt in ihr Bewusstsein und begleiteten sie nun schon ein paar Jahre. Sie verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter in den Schankraum, wo bereits Unterführer Hammling am Tresen saß.

Er fuhr sich über die Glatze und schenkte ihr einen abgeklärten Blick.

»Sind die Männer bereit?«, keifte sie.

Hammling stand auf und nahm Haltung an. »Ja Hauptmann, sie stehen am Hafen von Rugand bereit, alle warten auf Euch.«

»Gut, dann los.« Talisa ließ den Wirt unbeachtet, der auf die Bezahlung der Rechnung hoffte. Niemand, der bei Verstand war, wagte es, Truppen in zinnoberroter Rüstung auf etwas Unangenehmes anzusprechen. Auch nicht, wenn sie Söldner waren.

Zur Sicherheit fuhr Talisa sich durch das lange schwarze Haar, wollte wissen, ob Stücke von Erbrochenem darin klebten, was schon einmal vorkam. Sie legte sich die Haare über die Schulter und war zufrieden. Außer einem Hauch vom Smaragd schimmerte nichts anderes darin.

Über dem Hafen flogen Seevögel, die auf der Suche nach Fischabfällen waren. Sie wurden jeden Tag vom Geruch angelockt, während die Seeleute den Fang des Morgens einfuhren. Beim Flug durch den Mastenwald am Anlegesteg prahlten die Vögel mit ihrer Luftakrobatik und ließen grauweiße Tupfer auf die Schiffsdecks fallen – sehr zum Unmut der Luftmatrosen, die keinen Morgen ohne Schrubben beginnen konnten.

Das Salz der Meeresluft brannte Talisa in der gebrochenen Nase, die schief zusammengewachsen war. Sie ließ sich ihren Kampf mit den Kopfschmerzen nicht anmerken, stattdessen lenkte sie ihr Pferd langsam in die Mitte ihrer Männer. Mit dem Glanz ihrer Rüstungen und dem ausgelassenen Ausdruck ihrer Gesichter vermittelten sie einen ausgeruhten Eindruck.

»Hauptmann Talisa!«, rief der Kapitän von Deck.

Sie wippte nach vorn und ließ ihr Ross über die Rampe an Deck gehen. Berittene an Bord waren wie Kopfbedeckungen in einem Tempel ein Akt der Respektlosigkeit, was Talisa durchaus bewusst war. Oben angekommen, warf sie einen Blick über die Matrosen, die Kisten verstauten und das Hauptsegel in Form brachten. Niemand wagte es, ihr in die Augen zu blicken. Man kannte sie.

Sie stieg ab und übergab die Zügel einem Bootsjungen.

»Euer Auftritt und Euer Hintern gefallen mir«, schleimte der Kapitän.

Dachte er wirklich daran, sie anzubaggern?

»Wenn Ihr ein paar Ziegen an Bord habt, füllt sie ab und macht sie Euch zu Willen. Solltet Ihr mich anfassen, schneid ich Euch das Gemächt ab und verfüttere den Winzling an die Schweine, verstanden?«

Lass sie Härte schmecken, gib ihnen keine Chance, sich überlegen zu fühlen.

Der Seebär schmunzelte und wandte sich dann wieder seinen Leuten zu. Er schien ein Mann zu sein, der ein Nein als Einladung zur Eroberung betrachtete.

»Macht Euch bereit zum Ablegen und bringt mir eine Ziege zum Rammeln!«, brüllte der Kapitän über Deck. Dann wandte er sich ihr erneut zu. »Hauptmann Talisa, Herrin der Bezwinger, Söldnerin im Dienste Tilayndors, hat man Euch denn nicht über die neuesten Entwicklungen informiert?«

Keiner sprach sie mit vollem Titel an und erzählte danach Gutes. »Spuckt aus, was Euch im Darm quer liegt«, forderte sie kalt.

»Die Krone benötigt Eure Dienste nicht mehr und hat Eure Beschäftigung aufgekündigt. Es wird gemunkelt, dass bei vielen Söldnertruppen Untersuchungen und Verhaftungen angeordnet wurden. Eure Aufgabe, den Schutz der Hafenanlage von Harweyl zu übernehmen, wird nun der dortigen Stadtgarde übertragen.«

Talisa klappte der Kiefer herunter. Sie stand seit einer halben Dekade im Dienste Tilayndors, dem Sitz der Krone, trug das Zinnoberrot, hatte für die Jorvenlande gelitten und geblutet und jetzt wurde sie einfach aussortiert. Sie fühlte Hitze in ihre Wangen steigen, wollte wüten und toben, dem Kapitän den Kopf abschlagen. Doch sie riss sich zusammen und besann sich darauf, das Schiff zu verlassen, bevor es hier Ärger gab.

Heute Nacht wollte Talisa an nichts denken müssen. Also küsste sie einen Mann, den sie erst seit einer halben Stunde kannte, und schmeckte das Schwarzbier, von dem er reichlich getrunken hatte. Ihre Hände lösten seinen Gürtel, danach fuhren sie unter sein Hemd und über die Brust. Sie fand den Moschusgeruch des Schmieds betörend, vermutlich würde sie ihn später verschonen. Schwielige Hände packten ihren Hintern, kneteten ihn und fuhren über ihren Rücken. Sein Bart kratzte ihr Gesicht so wie die Hornhaut seiner Hände ihre Brüste. Ein Schauer jagte ihr durch den Schoß, als er sie an sie presste. Ihre Finger glitten in seine Hose und fanden ein schlaffes Glied.

Sie drückte ihn von sich weg und sah ihm in die Augen, die sich in alle Richtungen drehten. Der Mann war kaum noch bei Bewusstsein.

»Verflucht! Ich habe gesagt, dass du nicht so viel saufen sollst.«

Der Mann grinste, »Dsss liegt aaan diiir, Schätzche«, lallte er.

Sie verpasste ihm eine Ohrfeige, die alle fünf Finger auf die Wange tätowierte. Der Mann kippte nach hinten aufs Bett. Es war weniger die Backpfeife und mehr der Alkohol, den er nicht so gut vertrug. Er wandte den Kopf ab und schnarchte.

»So ein Idiot.« Talisa wusste nicht, wohin mit ihrem Frust. Während sie dastand und den Schmied mit halb heruntergelassener Hose auf dem Bett liegen sah, wurde ihr Kopf schwer. Dabei dämmerte ihr, dass sie heute schon wieder über die Stränge geschlagen hatte. Sie taumelte zum Bett und kippte auf die Matratze. Das marode Gestell ächzte unter der Belastung. Ein Blick zur Decke gab ihr das Gefühl, dass sich der ganze Raum drehte. Sie setzte ihren Fuß an die Hüfte des Schmieds und trat ihn über die Kante.

Er polterte auf den Boden, grunzte und schnarchte weiter.

Sie breitete die Arme und Beine aus und versuchte das Bett festzuhalten, das sich ohne Unterlass drehte. »Diese Sesselfurzer in Tilayndor, alles Greise, die viel auf sich halten, aber keiner von denen hat je ein Schwert in den Händen gehalten. Gerede ohne Inhalt, zweifelhafte Erfolge, kein Ruhm, keine Ehre in der Schlacht. Sie lassen andere für sich kämpfen und bluten«, murmelte Talisa und überlegte, ob sie sich übergeben musste.

Zumindest war sie in Rugand gestrandet, wo man sich einen Mann anlachen konnte, ohne dem gleichen zweimal begegnen zu müssen. Liebe und Zuneigung hatte sie noch nie viel Wert beigemessen, da sie nicht für die Ewigkeit geschaffen waren. Stattdessen setzte sie auf Angst, Respekt und Gehorsam, Werte, auf deren Schultern man ein Imperium gründen konnte. Dennoch half das alles nicht, das Bett daran zu hindern, sich zu drehen. Sie schloss die Augen und hoffte, dass sie bald einschlafen würde.

Ein Geräusch riss Talisa aus dem Schlaf, ihr Mund fühlte sich schal an. Sie schluckte und richtete sich rücklings auf den Ellbogen auf. Neben dem Bett sägte ihre Bekanntschaft ganze Wälder ab.

Da war es wieder, ein Kratzen … Jemand war vor der Tür und fummelte am Schloss herum.

Sie wälzte sich aus dem Bett und taumelte in den Stand.

»Klare Gedanken. Klare Gedanken. Klare Gedanken«, hörte sie sich flüstern. Talisa legte sich den Waffengurt um und war froh, dass sie sich im Suff mitsamt der Rüstung ins Bett gelegt hatte. In der Hoffnung, keinen Laut zu verursachen, zog sie ihren Dolch aus dem Stiefelhalfter und schlich zur Tür. Wer immer da draußen auch stand und sich an ihrem Schloss zu schaffen machte, er würde morgen am Hafen bei den Fischen liegen.

In der Rechten hielt sie den Dolch, mit der Linken fasste sie den Türknauf und wartete. Es klickte.

Mit Schwung riss sie die Tür auf und stach den Dolch in die Brust des Mannes, der noch den Dietrich in der Hand hielt. Vor Schreck brachte er lediglich ein Gurgeln zustande, während sein Nebenmann ein Messer zückte. Talisa zog den Dolch wieder heraus und schlug die Tür in die Angel. Unter dem Schlag erbebte das Türblatt und brach die Nase des Mannes dahinter, was Talisa an dem Aufschrei des Kerls vermutete.

Sie wandte sich um und eilte zum Fenster, schob es auf und blicke hinunter. Es war nicht tief, zwei Stockwerke, wenn sie sich ein Stück heraushängen würde, könnte es klappen. Zwei Schatten stahlen sich auf der Straße durch die Dunkelheit, was ihr verriet, dass man sie dort bereits erwartete.

Wenn dir nichts mehr bleibt, dann sorge für Chaos.

Einer der Angreifer hämmerte gegen die Türe, Waffen klirrten, jemand blaffte Befehle.

Die Tür würde nicht lange halten. Talisa rang nach einem Plan.

Mach das Beste aus dem Wenigen, was du hast.

Sie nahm die Öllampe vom Nachttisch und warf sie auf das Bett. Petroleum verteilte sich in einem Flammenteppich über die Schlafstatt. Mit dem Dolch schnitt sie ein Stück Laken ab, holte den Porzellannachttopf unter dem Bett hervor und tunkte den Stoff in die Brühe. Sie wickelte sich den Stoff um Mund und Nase – keine Sekunde zu früh.

Die Türangeln barsten unter dem Gewicht der Männer, die von außen dagegen drückten. Der Brand beleuchtete mehrere Angreifer in erdbrauner Kapuzenrobe.

Es war lediglich ein Moment, in dem sie sich im Schein der Flammen maßen, dann warf Talisa ihnen den Topf entgegen. Brühe spritzte in alle Richtungen, als das Porzellan am Türrahmen zerschellte. Zeitgleich sprintete sie vor und rammte dem vordersten Mann den Dolch bis zum Anschlag in den Bauch, zog ihn heraus und trat seinen Körper gegen die anderen. Geschmiedet in der Hitze von Schlachten und Scharmützeln im Norden, machte sie einen Satz nach hinten, während ihr eine Speerspitze entgegenzuckte. Hitze erfasste ihren Rücken, Flammen fraßen sich an den Vorhängen nach oben zur Decke. Das Zimmer loderte im Inferno des Feuers.

Talisa nahm die brennende Decke an einem Zipfel und schleuderte sie den Männern entgegen, die sich mit einem Sprung zu retten versuchten. Einer schaffte es nicht. Die Flammen schlossen sich um ihn. Unfähig sein Martyrium zu beenden, kreischte er wie ein Chorknabe im Stimmbruch und stolperte hinaus in den Flur. Hinter ihm verwirbelte der Qualm, der von der Decke herunter waberte. Husten, Schreie, Befehle – alles im Trubel des Infernos. Talisa, eine Freundin von Blitzentscheidungen, sprang ins Fahrwasser der wandelnden Katastrophe. Sie rannte an bewaffneten Männern vorbei, die sich eilten, der Menschfackel aus dem Weg zu springen. Als dieser stolperte und sich auf dem Boden wälzte, sprang Talisa über ihn hinweg und polterte die Treppe in den Schankraum hinunter. Nach zehn Schritten erreichte sie den Ausgang. Den Schlag, der sie am Kopf traf und ihr Bewusstsein auslöschte, sah sie nicht kommen.

Das beständige Tropfen von Wasser in eine Pfütze untermalte das Gestöhne der Gefangenen. Sie saßen in Einzelzellen im Glutlicht einer Esse, die im Mittelpunkt einer Kreisfläche ruhte. Eine Handvoll Eisen lag bis zur Hälfte in der Glut. Der Gestank nach Angst und Schweiß beschmutzte die Luft.

Kopfschmerzen weckten Talisa. Sie schlug langsam die Augen auf, alles drehte sich.

Hörte das denn nie auf? Sie griff zur Seite, hatte den Drang ihren Bettgefährten zu schlagen, doch sie fühlte lediglich nackten Steinboden. Im Kampf gegen ihren Brummschädel richtete sie sich auf.

»Vater Klein hat schon lange keine Frau mehr gesehen«, stammelte ein Mann in Lumpenbekleidung, der sich an ihr Zellengitter drückte. Bart und Haare nahmen sich an Länge nichts, sie waren zu einem graubraunen Haarbündel verwachsen, in dem sich etwas bewegte.

»Behalte deine Finger bei dir, sonst beiße ich sie dir ab«, schnauzte Talisa, die es nicht schätzte, wenn man sie morgens ansprach.

War es morgens oder abends? Sie rieb sich die Stirn und zuckte zusammen, als sie die Beule darauf berührte.

Was war passiert? Ein Liebhaber, viel Alkohol und dann ein Angriff. Man hatte sie entführt. Welcher Narr vergriff sich an ihr?

»He du, Schmutzbart, wo sind wir hier?« Ihr Hals kratzte und ihre Lippen schmeckten salzig.

Schmutzbart machte einen Satz nach hinten und streckte die Arme aus. »Firuwahrs Kerker. Wir sind am längsten hier. Leute, die man vergessen hat und von denen man viel lernen kann. Stimmts, Vater Klein?« Er hielt etwas in seiner kruden Faust, das er mit seinem Daumen streichelte.

Talisa wurde alles klar. Ihr Zellennachbar hatte nach Jahren der Gefangenschaft und Folter seinen Verstand eingebüßt und schwatzte mit Nagern. Sie schätzte ihn auf fünfzig Sommer, etwa zwei Dekaden älter als sie selbst. Brandmale lugten durch Risse und Löcher seiner morastbraunen Bekleidung. Sie blickte an sich herab und stellte fest, dass auch sie Lumpen trug, die nach Schweiß rochen und vor Blutflecken steif waren. Einige gesprenkelt, andere langgezogen. Der Übelste befand sich am Ausschnitt. Einem Collier aus flüssigen Rubinen gleich zeichnete er sich bis zur Brust ab. Ihr Vorgänger hatte den Kopf verloren und ihr ein Sterbehemd vermacht.

»Wie läuft das hier?«, fragte sie. Was es auch sein mochte, sie wollte es kommen sehen.

»Was sagst du, Vater Klein? Sie hat keine Geduld? Ja, das denke ich auch.« Er führte seine Hand zum Bart und ließ den Nager hineinkrabbeln. »Einmal am Tag gibts Essen. Es schmeckt nicht, aber es macht satt. Und wenn es nicht krank macht, hilft es dir durchzuhalten. Die Neuen werden gefoltert, aber sterben tun alle. Manchmal vergessen sie einen, so wie mich. Ich weiß nicht, weshalb ich hier bin.«

»Ich habe Männer, sie werden bereits nach mir suchen. Ich lege diesen Laden in Schutt und Asche und blase es diesem Firuwahr in den Hintern!«

Schmutzbart lachte. »Große Töne und am Ende bleibt einzig Vater Klein.« Er lachte in seinen Bart hinein.

»Du mieses Stück Hammelköttel, ich schneid dir gleich die … «

Schlüssel klirrten an der Tür jenseits des Zellenkreises. Die Angeln quietschten in Schmutzbarts Gelächter hinein, das ein Zeugnis seines Irrsinns war.

Zwei bärbeißige Männer traten ein, beide mit einem Ölmantel bekleidet. Die Haare sprossen dicht auf ihren Armen und Schultern. Einer hielt einen Schlüsselbund in der Hand, sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Er hielt direkt auf Talisa zu und schloss ihre Zellentür auf.

Sie stellte sich mit den Schultern zur Rückwand und hoffte auf eine Möglichkeit zur Flucht. Als der zweite Mann durch die Tür treten wollte, rannte sie los und rammte dem ersten ihre Faust ins Gesicht. Doch da packte auch schon eine Hand nach ihrem Unterarm und wirbelte sie durch die Zelle gegen das Gitter. Der Aufprall war hart, doch Zeit zum Aufatmen gab es nicht, gleich darauf wurde sie wieder gepackt und kassierte einen Hieb in die Leber. Der Schlag fraß sich in ihre Eingeweide. Ihr Blick verschwamm und noch bevor er wieder aufklaren konnte, wurde sie getreten und geschlagen. Sie kauerte auf dem Boden und hielt die Hände vors Gesicht.

So plötzlich wie es begonnen hatte, ebbte es auch wieder ab. Die Tür schlug in die Angeln, Schlüssel klimperten aneinander und was blieb, war Stille.

In ihrem Körper herrschte Aufruhr, Schmerzen überzogen Beine, Bauch, Brust und Schädel. Ihre Lunge pfiff. Wenn sie zu tief einatmete, peinigten sie die malträtierten Stellen an den Rippen. Sie riss sich zusammen und taumelte wieder in den Stand.

»Mehr habt Ihr nicht drauf, Ihr Ziegenliebhaber?« Der Schrei verhallte antwortlos im Folterkerker. Einige der anderen Zellenbewohner hoben kurz die Köpfe, sahen sich um und gaben sich wieder der Resignation hin.

Talisas Atem rasselte, sie setzte sich trotzdem auf den Boden und versuchte zu erfassen, wie es um ihre Verletzungen stand. Alles tat ihr weh. Ihre Finger tasteten jedes Glied ab, Blutergüsse und Schürfwunden, nichts Bedenkliches. Exzellente Arbeit, das musste sie den Folterknechten lassen. Schmerzen ohne Schaden, verteilt über die Zeit der Gefangenschaft. Ihre Folter hatte also begonnen. Sie zog einen Klumpen Rotz aus den Tiefen ihrer Kehle und spie ihn auf den schwarzen Steinboden. Er barg mehr Rot als Grün.

Um den Geruch von Hannok zu beschreiben, gab es in ganz Halodins Rund keine Worte, die es auch nur annähernd trafen. Dicke Stücke thronten auf einer Masse, in der sich alle Nuancen von Grau vermählten.

Talisa schob die Schüssel mit der Ferse von sich weg und zog die Beine an den Bauch. Ihr Hintern schmerzte vom Steinboden.

»Du musst essen, sagt Vater Klein, sonst wirst du nicht lange durchhalten.« Schmutzbart löffelte sein Hannok gierig auf. Es schien ihm zu schmecken.

Talisa überlegte, ob der Wahnsinn des Mannes ihm ermöglichte, sich das Essen schmackhaft zu denken. Wenn es so war, dann war dies ein Vorteil, um die Gefangenschaft durchzustehen. Und auch sonst hob Schmutzbart sich von seinen Mitgefangenen ab. Er hatte ein breites Kreuz, das seine Lumpen zu den Seiten hin spannte, außerdem besaß er sehnige Muskeln an Armen und Beinen. Er hatte sich die Ärmel und Hosenbeine abgerissen und damit eine Schlafstatt auf dem Boden hergerichtet, in der sich etwas bewegte. Sie schätzte, dass der Mann in der Vergangenheit ein Krieger oder ein Gardist gewesen sein musste. War es möglich, dass er ein Deserteur war? Seine Haltung und sein Körperbau strahlten Kraft und Größe aus, und obwohl er diese mit der gebückten Haltung verbergen mochte, würde er über zwei Schritte messen, wenn er sich aufrichtete.

»Hast du in einer Schlacht gekämpft?«, fragte sie ihn, um sich abzulenken.

»In vielen, Vater Klein hat viele Menschen getötet.« Er steckte seine Finger in die Schüssel, wischte sie aus und saugte an ihnen. Ohne sie abzuwischen, fuhr er sich durch den Bart und stellte die Schüssel, in der noch zwei Krümel am Boden klebten, neben die Schlafstatt seines Nagers. Eine Spitzmaus lugte heraus, schnupperte und machte sich dann über die Schüssel her.

»Gibt es eine Fluchtmöglichkeit?«

»Vater Klein sagt, dass selbst er nicht rauskommt. Man kann sich bloß heraus kämpfen, aber dazu braucht man ein Schwert und eine Menge Wahnwitz. Bevor du umfällst, solltest du essen, denn ohne Kraft stirbst du hier drin.«

Talisa beäugte ihren Hannok. Sie wusste, dass er Recht hatte, deshalb zog sie die Schüssel wieder zu sich heran. Ihre Finger gruben sich in den Eintopf, der unten noch einen Hauch von Restwärme barg. Die Kostprobe erforderte Überwindung – und welch Überraschung, es schmeckte nach Büttenpapier. Sie bezwang ihren Würgereiz und ihren Stolz, kaute Brocken um Brocken und schmiedete Pläne.