Boy meets Girl - Julia Holbe - E-Book
SONDERANGEBOT

Boy meets Girl E-Book

Julia Holbe

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Jeder Schritt, den wir gehen, kann der Anfang einer ganz neuen Geschichte sein

»Boy meets Girl« – mit diesem Satz kann alles anfangen, jede mögliche Geschichte nimmt von hier aus ihren Lauf. Auch für Nora verändert eine kurze Begegnung ihr ganzes Leben.

Plötzlich steht sie vor der Erkenntnis, dass sie schon viel zu lange nur eine Besucherin in ihrem eigenen Leben war. Der Schmerz über das Scheitern ihrer Ehe und die wachsende Hilflosigkeit ihres alternden Vaters setzen in ihr endlich den Wunsch zur Veränderung frei.

Als sie Gregory trifft, spürt sie, dass das Leben noch etwas anderes bereithält – und doch fehlt ihr etwas, das sie nicht greifen kann. Dann begegnet sie Yann wieder, einem Freund aus alten Tagen, den sie fast verloren glaubte.

Julia Holbe erzählt von den kleinen Momenten, die ein ganzes Leben verändern, und fängt dabei diesen magischen Augenblick ein, in dem sich Zweifel und Ängste in Hoffnung verwandeln, und etwas Neues beginnt. »Boy meets Girl« ist ein Roman wie ein französischer Film: leichtfüßig, tiefgründig und nachklingend.

»Julia Holbe erzählt mit Leichtigkeit von den Preisen, die wir in unserem Leben zahlen, von unserem Scheitern, unseren Verlusten und unserer Angst davor. Es ist viel mehr als nur ein Davor oder Danach, denn alles zusammen macht sie aus: die Landkarte unseres Lebens.« Zsuzsa Bánk

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 341

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



»Boy meets Girl« – so kann alles anfangen. Jede mögliche Geschichte nimmt von hier aus ihren Lauf.

Lange Zeit dachte Nora, sie hätte alles im Leben. Bis sie plötzlich merkt, dass sie nicht mehr glücklich ist – schon lange nicht mehr. Doch kann man mitten im Leben nochmal neu beginnen? Manchmal braucht es nur eine zufällige Begegnung, ein heruntergefallenes Joghurtglas im Supermarkt …

»Julia Holbe erzählt mit Leichtigkeit von den Preisen, die wir in unserem Leben zahlen, von unserem Scheitern, unseren Verlusten und unserer Angst davor. Es ist viel mehr als nur ein Davor oder Danach, denn alles zusammen macht sie aus: die Landkarte unseres Lebens.«

Zsuzsa Bánk

JULIAHOLBE

BOYMEETS

GIRL

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Sarah Hensmann

Coverabbildung: © Arcangel Images/Mark Owen

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27385-9V004

www.penguin-verlag.de

Es wäre schön, wenn das alles wahr sein könnte, aber da dem nicht so ist, habe ich in diesem Buch nur versucht, es interessant zu machen.

ERNESTHEMINGWAY,Paris – Ein Fest fürs Leben

Und dann zerplatzt der Traum in eine Million winzige Teile. Der Traum stirbt. Und dann bleibt einem nur noch übrig zu wählen: Man kann sich mit der Realität abfinden, oder man kann wie ein Idiot von vorn anfangen und einen neuen Traum träumen.

NORAEPHRON, Sodbrennen

Für Hugo und Grant,

old friends

1

Als ich ihn zum ersten Mal sah, hatte ich eigentlich Augen für niemanden.

Am Abend zuvor war Paul erst spät von einer Reportagereise nach Hause gekommen, er war in letzter Zeit viel unterwegs gewesen, und dann hatte auch noch der Zug Verspätung gehabt, ich hatte gekocht, Spaghetti mit Venusmuscheln, das Essen wurde kalt.

Paul war furchtbar schlecht gelaunt und verschwand in seinem Arbeitszimmer.

Ich aß allein, direkt aus dem Topf, und trank die Flasche Weißwein zu Ende, die schon angebrochen war.

Es war ein unendlich schöner Frühlingsabend. Ich hatte noch keine Lust, ins Bett zu gehen.

Ich warf eine Waschmaschine an, die Sachen aus Pauls Tasche, und dann setzte ich mich auf den Balkon und rauchte eine Zigarette. Ich rauchte seit Jahren heimlich, weil Paul das nicht mochte, gar nicht wegen des Geruchs, sondern aus Prinzip. Und ich tat ihm den Gefallen.

Ich sah hinunter in den Park und hörte die Stimmen, die zu mir nach oben drangen, die Kinder, die noch spielten, und das Plopplop der Bälle, die die Jugendlichen warfen, und jemand im Nachbarhaus übte bei offenem Fenster Geige. Es hörte sich gar nicht nach Üben an.

Die Wolken waren unglaublich, und in der Küche stand ein verlassenes Döschen Safran. Ich hatte keinen Safran verwendet, weil Paul ihn nicht ausstehen konnte.

Ich mochte Safran.

Er war der neue Englischlehrer an der Schule des Viertels.

Das wusste ich noch gar nicht, als ich ihn am nächsten Morgen im Supermarkt traf. Wir stießen aus Versehen zusammen, und mir fiel ein Joghurtglas runter. Naturjoghurt, 3,8 %. Ein einziges Joghurtglas kann eine riesige Sauerei sein. Wir standen vor der Joghurtpfütze und mussten lachen. Normalerweise bin ich schlecht gelaunt, wenn mir was runterfällt. Wir begannen eine Unterhaltung, während wir mit Zewa-Tüchern die Scherben und die Joghurtmatsche wegwischten. Als alles weggewischt war, unterhielten wir uns immer noch. Ich war nicht sicher, wie alt er war, aber eindeutig jünger als ich. Er sei noch nicht lange hier, sagte er, gerade erst hergezogen, aber er sagte, er mag den Fluss und die Enten und die Lebendigkeit der Stadt. Er hatte einen ziemlich schönen Akzent, den ich nicht genau einordnen konnte.

Als wir uns verabschiedeten, zwinkerte er mir zu. Ich ging nicht drauf ein und lächelte nur.

»Sie haben ein umwerfendes Lächeln«, sagte er.

Ich lächelte ihn ein letztes Mal an und verschwand.

Ich fuhr mit dem Fahrrad nach Hause und hängte die Wäsche vom Abend zuvor auf.

Ein schwarzer Damenschlüpfer, der nicht mir gehörte, war darunter.

Es durchfuhr mich kalt, wie ein Riss, aber gleichzeitig war ich nicht überrascht. Ich fühlte mich wie in einem Film, es war demütigend und wahnsinnig komisch zugleich. Später würde es eine gute Geschichte werden.

Ich dachte in dem Moment darüber nach, ob ich Schlüpfer oder Unterhose oder Höschen sagen sollte. Das Ding war jedenfalls hässlich und aus schwarzer Baumwolle, etwas ausgeleiert und größer als meine eigene Unterwäsche, was mich irgendwie beruhigte. Das Markenschild war schief abgeschnitten, was ich schlampig fand und ein bisschen eklig, weil ich mir vorstellte, wie es sie hinten kratzte. Mich beleidigte dieses ausgeleierte Ding in gewisser Weise mehr als ein teures, kleines Seidenteil. Auch in seiner Traurigkeit. Und in meiner.

Ich ging in Pauls Arbeitszimmer, stellte mich vor ihn und hielt das Höschen hoch.

Eigentlich war es die Art Szene einer Ehe, die einen mit Genugtuung hätte erfüllen können, aber das tat es nicht.

»Das war in deiner Reisetasche.«

»Ich muss was fertig schreiben«, sagte er.

Es dauerte, bis Paul von seinem Computer aufblickte.

»Was ist das?«, fragte er.

»Sag du es mir.«

»Keine Ahnung, wo der herkommt«, sagte Paul, ein bisschen empört. Und ein bisschen unwirsch. »Der lag vielleicht im Hotelschrank. Oder in der Bettritze.«

Er stieg immer nur in sehr guten Hotels ab. Da lag nichts in der Bettritze.

»Da liegen doch nicht irgendwelche Schlüpfer rum«, sagte ich.

»Weiß ich doch nicht«, sagte Paul und tippte weiter.

»Wer ist sie?«

»Ich sag dir doch, ich weiß nicht, wo das herkommt. Es ist gar nichts.«

Irgendwann vor Jahren hatte ich mir geschworen, wenn ich noch einmal in meinem Leben den Satz »Es ist gar nichts« höre, begehe ich ein Gewaltverbrechen.

Was mich am meisten traf, war das Lügen.

Ich beging natürlich kein Gewaltverbrechen. Ich tat das Gegenteil davon.

Ich hatte Sitzungen mit Patienten, die ich nicht absagen konnte, meine Verpflichtung als Therapeutin. Aber heute hatte ich nicht viel zu sagen und ließ die Paare reden. Ich hätte selbst eine Sitzung gebraucht.

Am Abend waren wir mit Freunden verabredet. Paul und ich schwiegen während der ganzen Autofahrt.

Wir verbrachten einen sehr netten Abend mit unseren Freunden, wir aßen und tranken und waren fröhlich. Ich war beeindruckt, wie gut ich mich beherrschen konnte. Als sei das etwas Beeindruckendes. Eigentlich war ich nur auf unwürdige Weise anpassungsfähig. Ich war ein emotionales Chamäleon.

Und dann schwiegen wir auf der Rückfahrt weiter, und als wir nach Hause kamen, ging Paul schlafen.

Im Grunde wollte ich mich nicht beherrschen. Ich wollte nicht darüber hinwegsehen. Ich wollte eine Szene machen und dann ganz ordentlich meine Kleider zusammenlegen, meine Lieblingsbücher und ein paar Fotos in einen Koffer packen, ein Taxi rufen und wegfahren. Egal, wohin. Zum Bahnhof oder zum Flughafen oder ins nächste Hotel.

Aber ich tat es nicht. Ich tat es verdammt noch mal nicht. Und ich konnte mich dafür nicht ausstehen. Ich traute mich einfach nicht. Nicht, weil ich nicht mutig genug war, sondern weil ich wusste, dass dann mein Leben, so wie ich es führte, vorbei sein würde. Und ich mochte mein Leben. Und dieser Teil gehörte irgendwie auch dazu.

Immer wenn das früher vorgekommen war, hatte ich mir gesagt, ich bleibe noch, bis unsere Tochter ausgezogen ist. Das war sie jetzt schon seit ein paar Jahren. Franny studierte Ingenieurwissenschaft in Grenoble. Sie machte etwas, worauf ihre Eltern nie gekommen wären. Sie machte das, was sie wollte.

Jedenfalls war sie weg, und ich war immer noch hier.

In Wirklichkeit war ich gar nicht wegen ihr geblieben, sondern wegen mir. Ich hing an meinem Leben. Ich wollte es behalten. Trotz allem.

Vielleicht machte mir alles andere auch nur Angst.

Ich blieb in dieser Nacht noch lange wach. Ich lag auf dem Sofa und machte Listen. Meine Freundin Lou sagte immer, bei Krisen helfen Listen, nicht nur Pro-und-contra-Listen, um die Situation besser einordnen zu können, sondern Listen mit Dingen, die man mag und nicht mag. Eigentlich wusste ich, was ich mochte: den Geruch von frisch geschnittenem Heu, zu kalten Weißwein, Waffeln, im Bett lesen, einen Spaziergang im Park. Oder die Idee eines Spaziergangs im Park.

Wenn man noch weiß, was man mag oder nicht mag, lebt man noch.

Gerade fiel mir nichts ein, was ich auf die Liste schreiben konnte.

Das schrieb ich Lou.

Sie schrieb mir zurück: Die Tage werden kürzer, meine Liebe.

Womit sie recht hatte.

Lou war meine beste Freundin seit immer. Ich weiß nicht genau, wann »immer« begonnen hatte, aber ein Leben davor, ein Leben, in dem es sie noch nicht gegeben hat, war unvorstellbar. Sie war aus irgendwelchen Gründen ein bisschen älter als ich. Mittlerweile hatte sie drei erwachsene Töchter von zwei verschiedenen Männern. Wenn es Lou nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Wobei das gar nicht ginge, denn niemandem würde jemand wie sie überhaupt einfallen. Wir waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, und sie war die Nacht. Sie hatte abwechselnd blonde oder dunkelrote lange Haare, mal mit Pony, mal ohne, und sah immer aus, wie aus dem Ei gepellt. Unfassbar und schwer vorzustellen für Leute, die sie damals gekannt hatten, als sie noch aussah wie eine kleine, verwahrloste Landstreicherin.

Sie war tatsächlich klein.

»Das letzte Mal, als wir dich gemessen haben, waren es ein Meter siebenundfünfzig, und ich glaube, da warst du schon ausgewachsen«, sagte ich immer.

»Sag nicht ›ausgewachsen‹, das hört sich an, als sei ich ein Hund.«

Lou war klein und zierlich, was sie mädchenhaft aussehen ließ, aber ziemlich durchtrainiert. Sie war Yogalehrerin, und sie trug, weder mädchenhaft noch sportlich, gerne Kaschmir-Twinsets mit Perlenketten oder weiße Blusen, die immer weißer waren als die der anderen, ein Weiß, das einen blendete, aber ihr Herz trug eine schwarze Lederjacke.

»Ich zieh mich nur so an, um einen Schutzschild zu haben, ich muss mein Herz in Zaum halten. Wenn ich mich zu wild anziehe, werd ich auch wild«, sagte sie mir einmal.

»Was wäre schlimm daran?«, fragte ich.

»Ich würde mein Leben gefährden. Und alles, was ich habe. Was ich mir aufgebaut habe. Was ich mir erarbeitet habe. Das war alles hart genug.«

Was das war, erzähle ich später.

Sie zog ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Tasche und zündete sich umwerfend elegant eine an.

»Zumindest rauche ich«, sagte sie und inhalierte tief.

»Zumindest rauchst du«, sagte ich und nahm mir auch eine.

Das war, als wir uns das letzte Mal gesehen haben.

Ich dachte an Lou und schlief auf dem Sofa ein.

2

Am nächsten Morgen ging ich in aller Früh in meine Praxis, um eine Begegnung mit Paul zu vermeiden.

Ich hatte an diesem Tag keine Patienten, ein paar Tage in der Woche waren zum Schreiben meines neuen Buches reserviert,Erfolgreich Beziehungen beenden. Zu viele Paare, die über ihre zerrüttete Beziehung sprachen, waren in Schreibphasen nicht gut, zu wenig allerdings auch nicht.

Es war ein strahlender Frühlingstag, und meine Ehe ging den Bach runter.

Natürlich nicht erst seit gestern. Aber ich hatte es nicht sehen wollen. Oder nicht sehen können. Oder beides. Doch jetzt war der Moment da, an dem es mir schlagartig klar wurde. Der Moment, an dem ich es sehen konnte.

Es war schon richtig warm, sogar um diese Zeit, und ich beschloss, laufen zu gehen, um besser nachdenken zu können.

Am Abend hatte ich eine Lesung aus meinem letzten Buch Erfolgreich Beziehungen beginnen in einer Buchhandlung im südlichen Teil der Stadt und musste meine Gedanken sortieren und mich vorbereiten. Ich lief den Fluss entlang, und die Stadt erschien mir so mild und ruhig und ländlich, wie sie mir selten vorgekommen war. Ich lief an den Enten und Gänsen vorbei, deren Junge noch vor ein paar Wochen kleine Federknäuel gewesen waren und bald kaum mehr von ihren Eltern zu unterscheiden sein würden.

Aus irgendwelchen Gründen, die ich selbst nicht verstand, war ich gut gelaunt. Vielleicht nicht euphorisch, aber zumindest nicht verzweifelt.

Hüpfen statt heulen, sagte ich mir.

Ich dachte beim Laufen über die Schlüpfersache nach. Mich schmerzte diese Ungewissheit nicht mehr, die Tatsache, nicht zu wissen, wem er gehörte. Ich dachte immer, ich will die Wahrheit kennen, aber wenn ich sie dann höre, was bringt es mir? Wenn die Wahrheit so eine Bedeutung bekommt, ist sie meistens nicht schön. Zumindest ist es nicht die, die man hören will. Wenn alles gut ist, besteht man auch nicht auf der Wahrheit. Mehr als das Bedürfnis, die Wahrheit zu kennen, verspürte ich eine Mischung aus Resignation und Zermürbung. Und gleichzeitig eine winzige Regung, tief in mir drin, wie ein kleines Flattern. Etwas, das sich beinahe wie eine Aufbruchstimmung anfühlte.

Ich hatte ziemlich lange gedacht, das sei alles gewesen in meinem Leben.

Das hatte sich nun geändert.

Ich wollte noch was vom Leben.

Mal sehen, was es noch für mich bereithielt.

Irgendwann. Nicht jetzt. Aber irgendwann.

Denn vorerst würde ich nichts tun. Ich hatte immer alles getan, und es hatte nichts gebracht. Jetzt würde ich die Zeit für mich arbeiten lassen.

Dumme Ausreden, Nora! Du lässt nicht die Zeit für dich arbeiten, du verschwendest sie einfach!, hörte ich Lous Stimme im Ohr.

Als ich nach Hause kam, lag ein Zettel von Paul auf dem Tisch.

Muss nach Rom, drehe dort eine längere Reportage. Hab alles so organisiert, dass ich ein paar Monate weg bin. Ist dir vermutlich recht. Aber irgendwann müssen wir reden.

P.S. Ich hab meinen Schlüssel dagelassen.

Es war mir recht, sogar sehr recht. Ich hätte ihm sein Schweigen natürlich vorwerfen können. Aber ich redete selbst nicht gerne. Was fast niemand wusste. Lou wusste das, natürlich.

Pauls Wohnungsschlüssel lag neben dem Zettel auf dem Tisch.

Ich wusste die Geste zu schätzen.

Die Lesung war gut gelaufen, ich hatte mich an die Zeit gehalten, und das Publikum war freundlich und interessiert, und ich unterhielt mich noch mit ein paar Leserinnen, denen ich ein Buch signierte. Danach fing ich an, meine Sachen einzupacken. Ich wühlte in meiner Tasche, die auf dem Boden stand.

»Verstecken Sie sich vor mir?«

Ich kannte die Stimme, aber ich konnte sie nicht zuordnen. Ich schaute auf. Der Typ aus dem Supermarkt, mit dem Joghurtglas. Er hielt mein Buch in der Hand.

»Wie haben Sie mich so schnell wiedergefunden?«, fragte ich, so lässig es ging.

»Die ganze Stadt ist plakatiert. Unmöglich, Sie zu übersehen.«

Er zog mich auf.

Ich mochte sein Lachen und seine vollkommen einnehmende jungenhafte Art. Warum war mir das im Supermarkt nicht aufgefallen?

»Haben Sie das ernsthaft gekauft?«, fragte ich und zeigte auf mein Buch. »Glaub nicht, dass das was für Sie ist.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Sie sind zu jung und ein Mann.«

»Ich hab es für meine Mutter gekauft.«

Man hätte sagen können, das Eis sei gebrochen, aber da war ja nie Eis gewesen. Nur Joghurt.

»Soll ich es dann für Ihre Mutter signieren?« Ich lächelte.

»Wenn Sie mit mir essen gehen, dürfen Sie es signieren«, sagte er. »Und zwar für mich.«

Es war eine komplett unvernünftige Idee, so was von unvernünftig. Und bescheuert.

Ich dachte an Lou und überlegte, was sie sagen würde.

Was soll’s, würde sie sagen. Mach es.

»Allons-y«, sagte ich und sah ihn an.

Er hieß Gregory, und der Akzent war ein neuseeländischer, es war erstaunlich, wie witzig und überhaupt nicht langweilig der Abend wurde. Wir saßen bei einem Italiener, den ich nicht kannte, mit rot karierten Tischdecken und Kerzen in leeren, dickbauchigen Chianti-Flaschen, wir tranken Wein aus Karaffen und aßen Pizza mit scharfer Salami und danach Zabaione mit nur einem Löffel.

Und als er sich die Rechnung bringen ließ, kramte er in seinem Portemonnaie nach Geld und fand keins und zuckte sehr charmant mit den Schultern. Ich lachte und zahlte, und es störte mich nicht. Sowas von nicht.

So einen Abend hatte ich lange nicht mehr gehabt. Es war wie in einer romantischen Komödie. Und zwar in einer guten. Der Abend war ein einziges ungebrochenes Klischee. Für so einen Abend hätte ich alles getan.

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf und wusste nicht, wo ich war.

Ich lag in zerwühltem Bettzeug auf einem Futon und hatte Kopfschmerzen. Neben dem Bett lagen Hanteln. Und ein Zettel: Bin Croissants holen, Kaffee steht in der Küche.

Wie süß, dachte ich. Wie man sich das wünscht.

Ich stand auf, stolperte über meine Schuhe und suchte eine Kopfschmerztablette in meiner Handtasche. Dann ging ich ins Badezimmer und ließ das Wasser laufen, bis es richtig kalt war. Ich ließ es lange auf meine Handgelenke laufen und nahm die Tablette. Ich schaute in den Spiegel, schaute mir in die Augen, als sei ich eine andere. Ich schminkte mich so gut es ging, so wie man sich eben schminken kann, wenn man sich am Abend davor nicht abgeschminkt und zu viel Wein getrunken hat. Ich machte ein paar Grimassen und lächelte mein Spiegelbild an. Dann zog ich mich an und ging nach Hause.

Lou sagte immer, erst ins Bett und dann verlieben.

Das Erste hatte ich schon mal geschafft. Für das andere war es noch viel zu früh.

Aber man kann nie wissen, wie die nächste Szene aussieht.

Als ich nach Hause kam, machte ich Kaffee und ließ mir die Badewanne ein.

Ich fragte mich, ob ich jemals tagsüber gebadet hatte, und kam zu dem Ergebnis: nein. Ich schminkte mich ab und blieb so lange in der Badewanne liegen, bis das Wasser kalt wurde und ich aufgeweicht war. Dann wartete ich, bis das Wasser ganz abgelaufen war und ich anfing zu frieren. Ich beschloss, ab jetzt mehr Dinge zu machen, die ich davor noch nie gemacht hatte. Dann legte ich mich ins Bett und schlief sofort ein.

Ich wachte auf in der Gewissheit, dass etwas vorbei war. Ich war es nicht gewohnt, dass etwas durch meine Entscheidung vorbei war. Ich hatte damit keine Erfahrung. Ich hatte mich noch nie getrennt. Ich fand das schwierig und hatte es deswegen immer dem anderen überlassen.

In meiner Praxis konnte ich meinen Patienten erklären, wie sie damit umgehen, was sie machen konnten. Was half. Aber ich wusste nicht, was ich selbst tun könnte. Was mir helfen würde. Bei mir selbst scheiterte ich. Bei mir scheiterte mein gesunder Menschenverstand. Meine Vernunft.

Ich wusste nur, ich musste umfühlen.

Den Rest des Tages verbrachte ich arbeitend, ich schrieb an dem Kapitel darüber, welche Anzeichen bestätigen, dass man eine Beziehung beenden sollte. War Betrug ein Grund, eine Beziehung zu beenden? Sollte man nach einem Betrug eine wichtige, langjährige Beziehung beenden? Wäre die Beziehung dann überhaupt noch wichtig? Und nach mehrfachem Betrug? Wäre es dann überhaupt noch eine Beziehung? Würde einen das alles nicht total bedrücken, sich in einen eindrücken, wäre man nicht irgendwann eine zerbeulte Blechdose, und ließe sich das je entbeulen?

Ich beschloss, das Kapitel erst mal zu verschieben.

Ich wusste es ja selbst nicht.

An diesem Abend regnete es, obwohl es gar nicht angekündigt war. Es schüttete regelrecht. Ich lag auf meinem Bett in dem riesigen Schlafzimmer, in unserer wunderschönen großen Wohnung, vier Zimmer, Altbau mit Stuckdecken und glänzendem alten Parkett und dem Balkon, der die ganze Stadt überblickte, und telefonierte mit Lou.

Sie lebte in der Nähe von London und leitete ein Yogastudio, sie war vor Jahrzehnten dorthin gezogen, zu ihrem damals neuen Mann, der immer noch ihr Mann war, aber das war eine andere Geschichte.

Sie war viel zu weit entfernt und doch so nah.

»Ich wünschte, du wärst hier«, sagte ich ihr.

»Was ist los? So bist du doch sonst nicht.«

»Das Leben«, sagte ich.

»Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Gin Tonic draus«, sagte sie.

»Ich dachte, Limonade«, sagte ich.

»So einen Unsinn hab ich noch nie gehört«, sagte Lou, und ich hörte, wie sie inhalierte.

»Dann gibt es bei mir ziemlich viel Gin Tonic«, sagte ich und erzählte ihr von der Schlüpfersache.

»Nothing new, my love«, sagte sie.

Sie kannte unsere Geschichte. Die von Paul und mir. Sie wusste, dass so was nicht zum ersten Mal passiert war. Sie wusste, dass es mich oft genug zerlegt und ich mich wieder aufgerafft hatte. Dass ich ständig aus Unmengen Zitronen Unmengen Gin Tonic gemacht hatte.

»Und jetzt?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Erst mal überlegen.«

»Überleg nicht so lange. Finde lieber eine Antwort«, sagte Lou.

Sie wusste, dass ich das immer meinen Patienten sagte: »Sie müssen eine Antwort finden«, denn die meisten denken, ich müsste die finden, aber das stimmt nicht. Sie müssen sie selbst finden. Ich kann ihnen nur dabei helfen.

»Ich finde aber keine.«

»Was würdest du denn deinen Patienten raten? Du bist so eine erfolgreiche Therapeutin, Nora, aber was dich selbst betrifft, bist du so verdammt lost. Niemand ist so süß lost und gleichzeitig Paartherapeutin wie du.«

»Ich würde ihnen raten, ruhig und gelassen zu bleiben und zu reden. Ich würde sagen, sie finden keine schnelle Antwort, weil es nie eine schnelle Antwort gibt. Oder die schnelle Antwort ist nicht unbedingt die richtige. Und ich würde sagen, irgendwann wacht man auf, und die Antwort ist da. Steht einem genau vor Augen.«

»Du denkst, einfach abzuwarten führt zu einer Antwort? Nur weil du nicht gerne redest.« Sie lachte. »Es klingt so, als würde irgendwas in dir bleiben wollen. Obwohl du dir, wenn du deine Therapeutin wärst, schon längst geraten hättest zu gehen. Findest du wirklich, du solltest nach Schlüpfergate noch bleiben? Ich meine, jetzt ist doch mal basta finito.«

Ich musste lachen, trotz allem.

»Ich habe ja nicht gesagt, ich will bleiben. Ich weiß nur noch nicht, ob ich gehe.«

»Du findest also nicht, dass du endlich mal beginnen solltest, ein eigenes Leben zu führen? Dich auf dich selbst zu konzentrieren?«

»Was meinst du damit? Ich führe doch ein eigenes Leben. Ich hab das Studium durchgezogen, war im Ausland, hab eine eigene Praxis, verdiene Geld, mache Sport, und sehe meine Freunde, hab eine tolle erwachsene Tochter – was ist da nicht mein eigenes Leben?«

»Deine Arbeit ist nicht das Problem. Du warst schon immer ehrgeizig und erfolgreich. Das Problem ist: Du hängst noch viel zu sehr an ihm. Oder irgendwas fesselt dich an ihn. Oder beides.«

»Ab wann ist es denn ein eigenes Leben?«

»Ab dem Punkt, an dem du nicht mehr leidest. An dem du innerlich unabhängig bist und nicht mehr so viele Gedanken an ihn verschwendest. Nicht mehr ringst. Für dich einstehst. Dich endlich mal um dich kümmerst!«

»Aber ich kümmere mich doch um mich. Was soll ich noch machen? Mehr Pediküren? Mehr Massagen?«

»Genau, und mehr Yoga«, sagte Lou sarkastisch. »Ach komm, du weißt genau, dass es nicht darum geht. Nichts gegen Massagen und Yoga. Es geht um dein Leben. Total simpel. Du solltest dich nicht damit zufriedengeben, was du hast. Du solltest auch mal etwas einfordern. Das hier ist so eine abgehalfterte Geschichte, zum Totlachen und gleichzeitig so demütigend. Wenn du das in einem deiner Bücher als Fallstudie anbringen würdest, würde dir das rausgestrichen werden. Zu unrealistisch und vor allem zu platt.«

Ich seufzte.

»So doof kann man doch gar nicht sein.«

Ich war mir nicht sicher, ob sie ihn oder mich meinte.

»Das Leben ist ein Wettlauf gegen die Zeit«, sagte Lou. »Am Ende verliert man sowieso, aber in der Zwischenzeit könntest du das Beste draus machen.«

»Das klingt anstrengend. Wenn man eh nicht gewinnen kann, ist es doch sinnlos.«

»Man braucht eine Herausforderung. Du solltest jetzt definitiv da raus, sonst wird es im Krieg enden. Wenn man sich liebt, verzeiht man sich die Dinge. Wenn die Liebe weg ist, verzeiht man sie nicht mehr. Dann verletzt alles nur noch und zerstört. Das müsstest du doch wissen. Du bist doch der Profi in diesen Dingen.«

»Du meinst, nur weil ich Therapeutin bin, weiß ich Bescheid? Nein. Bei mir selbst verliere ich die Orientierung. Ich irre durch das Dickicht und finde keine Richtung.«

Ich kaute mir akribisch die Nagelhaut von meinem Daumen ab, bis es blutete.

»Ich brauch Zeit«, sagte ich.

»Nein, brauchst du nicht. Mach was. Irgendwas. Fahr weg. Nimm dir eine Wohnung. Stürz dich in irgendwas rein.«

Ich zögerte und leckte das Blut ab.

»Hab ich schon.«

»Und wieso erzählst du mir das erst jetzt?«

»Weil ich überhaupt nicht weiß, was das ist. Aber ich hatte deine Stimme im Ohr, und die sagte mir: ›Mach es.‹«

Lou lachte laut. Ich erzählte ihr alles.

»So viel ist ja noch gar nicht passiert«, sagte ich.

»Na ja, dafür, dass ewig nichts passiert ist, ist das ganz schön viel. Und dann bist du einfach gegangen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Keine Ahnung.«

»Ich dachte, es war schön?«

»Ja.«

»Wie willst du so erfolgreich eine Beziehung beginnen?«

»Beziehung? Bist du verrückt? Das ist einfach so passiert. Ich hab es einfach so passieren lassen. Ich hab nicht mal meine jetzige Beziehung erfolgreich beendet. Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich das will. Oder ob ich das überhaupt kann. Außerdem ist der viel zu jung. Und ich kenn ihn gar nicht.«

Lou lachte.

»Du kannst ihn ja kennenlernen. Hat er denn deine Nummer?«

»Nein, aber ich weiß ja, wo er wohnt.«

»Du musst auch immer die Kontrolle behalten, oder?«

»Irgendwas sollte ich doch behalten, oder? Kontrolle zu behalten heißt doch auch, ein bisschen Würde behalten.«

»Du hast deine Würde nie verloren, du bist eine Frau, die das nie tut. Rede dir das nicht ein. Das hat höchstens dein Mann. Und die Schlüpferfrau. Nicht weil sie mit deinem Mann ins Bett ist, sondern weil sie so unendlich blöd ist, ihre Unterwäsche zu vergessen. Wie kann man nur so blöd sein. Oder so unendlich hinterhältig. Aber auch das wäre würdelos.«

Eigentlich wollte ich gar nicht, dass irgendjemand seine Würde verliert, der Gedanke war schrecklich. Ich war kurz davor, zu weinen. Aber andererseits, ja, sie war blöd. Oder hinterhältig. Oder beides.

»Weißt du was? Wir sollten am Wochenende wegfahren. Ich glaube, du brauchst einen Ortswechsel. Ich fliege übermorgen zu dir, und wir fahren irgendwohin.«

Mit Lou hörte sich alles leicht an. Das ganze Leben.

Als wir aufgelegt hatten, nahm ich mir ein Glas Wein und ging auf den Balkon. Es hatte aufgehört zu regnen. Ich sah auf die Uhr, es war noch nicht spät.

Ich nahm mein Fahrrad und fuhr zu dem Haus, das ich erst am Morgen verlassen hatte.

Ich klingelte.

Gregory machte mir auf.

Als ich aufwachte, wurde es gerade hell. Eine Amsel zwitscherte auf dem Baum vor dem offenen Fenster. Er lag mit dem Rücken zu mir. Er hatte einen ziemlich schönen Rücken. So leise wie möglich zog ich mich an und ging in Richtung Tür.

»Wieder kein Frühstück?«, fragte er.

»Ich frühstücke nie«, sagte ich.

»Lässt du mir diesmal deine Nummer da?«

»Ich leg sie auf den Küchentisch.« Ich lächelte und warf ihm einen Luftkuss zu. Schließlich war er süß.

»Ich ruf dich an.« Er klang so, als ob er es ernst meinte.

Ich zog die Tür hinter mir zu.

Ich hatte meine Nummer nicht dagelassen.

In der Nacht, bevor Lou mich abholen wollte, lag ich wach.

Ich hasste es, wach zu liegen. Ich stand auf, ging in die Küche und wühlte in den Schränken rum, riss eine Tüte Pistazien auf und setzte mich wieder ins Bett. Ich starrte vor mich hin und versuchte nachzudenken, und ich aß einigermaßen wütend alle Pistazien auf. Die Schalen warf ich durchs Zimmer.

Ich warf sie durch dieses perfekt eingerichtete Schlafzimmer, in diesem perfekten Steingrau gestrichen, Purbeck Stone von Farrow & Ball, der perfekt angepasste Wandschrank, diese perfekt ausgewählten Bilder. Ein paar Pistazienschalen blieben im Bett liegen und versalzten die teure Bettwäsche aus ägyptischer Baumwolle.

Meine Güte, warum konnte ich meine Gefühle überhaupt nicht sortieren?

Ich lag die halbe Nacht wach und zerbrach mir den Kopf.

Ohne Ergebnis.

Wir halten unser Leben in der Hand und können damit machen, was wir wollen. So ungefähr zumindest. Wenn ich mich damals anders entschieden hätte, wäre mein Leben vollkommen anders verlaufen. Wo wäre ich jetzt? Was würde ich jetzt machen? Alles könnte anders sein. Was hätte ich vermisst? Was hätte ich gewonnen?

So viele Fragen. Und so unmöglich, sie zu beantworten.

Ich hatte Angst. Angst, die falsche Entscheidung zu treffen. Aber schlechte Entscheidungen wurden die besseren Geschichten. Also, wovor hatte ich Angst? Zumindest hätte ich eine gute Geschichte.

Meine Tochter war schon vor einiger Zeit ausgezogen. Ziemlich weit weg. Das sollte ich schleunigst auch tun.

Oder ich würde kämpfen. Aber ich hatte keine Kraft mehr zu kämpfen.

Man kämpft nur für das, was man liebt, hörte ich Lous Stimme im Ohr, bevor ich einschlief.

Als der Wecker klingelte, lag ich inmitten von Pistazienschalen.

Ich war nicht mehr in Wegfahrlaune. Ich könnte auch im Bett bleiben und alte Filme schauen. Das hatte sich schließlich bewährt.

Stattdessen stand ich auf, stellte mich unter die kalte Dusche und packte für ein eigenes Leben. Mir fiel nichts Besonderes ein, was man dafür brauchte, zumindest nichts, was ich nicht eh einpacken würde. Eigentlich packte ich nur, um ein paar Tage mit Lou wegzufahren. Aber vielleicht war das der Beginn eines eigenen Lebens.

Doch das eigene Leben war nicht so ganz einfach zu leben.

Irgendwie war es aufregend. Irgendwie war es schön. Andererseits graute mir davor, was alles auf mich zukommen würde bei dieser Sache mit dem eigenen Leben. Dann wiederum dachte ich, man sollte lieber eine wie-lange-auch-immer Scheißzeit auf sich nehmen und danach richtig glücklich sein. Aber richtig glücklich sein, was heißt das schon? Und wer stürzt sich schon freiwillig in eine Scheißzeit?

Ich war hin und her gerissen.

Da klingelte das Telefon.

Lou schaffte es nicht. Ihre Vertretung für das Yogaseminar war krank geworden, und sie musste das ganze Wochenende arbeiten.

»Nächstes Wochenende, versprochen! Oder eins der nächsten! Sei nicht sauer.«

Ich war nicht sauer. Auf Lou war ich nie sauer.

Da saß ich nun auf meiner Tasche.

Zurück ins Bett gehen fand ich blöd. Hierbleiben auch.

Ich trank noch einen Kaffee und buchte einen Zug nach Paris. Ich nahm meine Tasche und zog die Tür hinter mir zu.

Ich hatte das Bett nicht gemacht. Da lagen noch die Pistazienschalen drin. Es war mir egal.

Das war das erste Mal seit dreißig Jahren oder so, dass ich das Bett nicht machte.

3

Ich traf Yann auf dem Markt, am Käsestand.

Ich war auf dem Weg zum Bahnhof und wollte mir nur ein Sandwich kaufen.

Wir hatten uns sehr lange nicht gesehen.

Er mochte Wolken. Und Safran.

Wir hatten uns damals an der Uni kennengelernt, wir studierten zwar nicht das Gleiche, aber gaben beide einen Sprachkurs für ausländische Studenten. Eines Tages hatte er mich angesprochen, weil ein Ausflug geplant werden sollte. Wir trafen uns in einem Café, um alles vorzubereiten, und redeten und redeten, und der Ausflug kam nie zustande, aber dafür waren wir verabredet. Wir trafen uns ein paarmal und kochten zusammen und gingen zusammen ins Kino. Wir hatten uns sehr gemocht. Dann begann er ein Auslandsjahr. Aber er kam wieder.

Und dann hatte ich ein Studienjahr in Washington geplant und bin da auch hin. Ich hab das durchgezogen. Er zog ganz woandershin, und ich war mit meinem eigenen Leben beschäftigt.

Als wir uns jetzt auf dem Markt wiedertrafen, wusste ich nicht, wie lange genau das alles her war, wie viele Jahre seitdem vergangen waren. Ein riesengroßes Dazwischen, in dem so viel passiert war.

Wir umarmten uns.

Er fühlte sich gut an. Wie immer. Ein bisschen älter. Und vielleicht sogar ein bisschen muskulöser. Und ich hatte den Eindruck, er roch auch wie immer. Früher war es kein Eau de Toilette gewesen, sondern ein Duschgel. Wenn es überhaupt noch das von früher war.

Er sah gut aus, seine Haare waren länger und sein Dreitagebart grauer, er verdeckte die winzige Narbe, die er an der Wange hatte, fast ganz. Er trug ein etwas abgewetztes, lässiges weiches dunkelgraues Jackett und Jeans. Wie immer sah er ein bisschen wie ein Draufgänger aus, aber seine Augen waren anders. In seinem Blick lag etwas Leises und Zärtliches, ein wenig Ironie, aber auch eine bestimmte Entschlossenheit. Es hatte wenige Menschen in meinem Leben gegeben, mit denen ich so gelacht habe wie mit ihm. Und auch wenige, mit denen ich so ernst war.

Meine Güte, war das alles lang her.

Ich mochte ihn wirklich.

Er erzählte mir, dass er vor einiger Zeit wieder in die Stadt gezogen war, er war Augenarzt und hatte die Praxis seines Vaters übernommen, der Luxemburger gewesen war.

Wir warteten zusammen am Käsestand, und wir redeten und erzählten uns, was in der letzten Zeit alles so geschehen war, wie es der Familie ging und meiner Tochter, ich wusste nicht, ob er verheiratet oder mit jemandem zusammen war, wollte aber auch nicht fragen. Er kaufte mir ein Thunfisch-Frischkäse-Sandwich, weil ich gesagt hatte, ich sei auf dem Weg zum Bahnhof, und er sich erinnerte, dass ich das mochte.

Wir suchten Käse aus, als würden wir ihn am Abend zusammen essen, und gingen weiter und warteten wieder, wir kauften Salat und Tomaten und die ersten Erdbeeren. Eigentlich kaufte natürlich er. Aber ich hatte das Gefühl, wir kauften all das zusammen. Und vor allem redeten wir.

Irgendwann fragte er: »Musst du nicht deinen Zug kriegen?«

»Ich hab Zeit«, sagte ich, obwohl der Zug, den ich nehmen wollte, bald fuhr.

Am Blumenstand kaufte er zwei Bund Tulpen und gab mir einen davon.

»Das ist ja Quatsch, du fährst ja weg«, sagte er dann.

»Nein, ist kein Quatsch, ich freu mich«, sagte ich und legte die in Papier gewickelten Blumen in meinen Fahrradkorb und beschloss, sie in meinem Pariser Hotelzimmer ins Zahnputzglas zu stellen.

Wir verließen den Markt und liefen noch ein Stück nebeneinander her, gleich würde ich abbiegen. Die Straße war schmal, aber es ging mit den Rädern gerade so. Unsere Arme berührten sich. Ich spürte den Stoff seines Jacketts an meiner Hand.

»Ich trenne mich von Paul«, sagte ich und konnte nicht fassen, was ich da sagte.

Ich hatte nächtelang im Bett gelegen und an die Decke gestarrt und nicht gewusst, was ich machen sollte, und da traf ich plötzlich Yann wieder und erzählte ihm das einfach so, als hätte ich das schon lange beschlossen, als sei es die lässigste Entscheidung meines Lebens gewesen und als sei ich das stärkste Mädchen der Welt.

Ich fühlte eine merkwürdige Vertrautheit mit ihm.

»Ihr habt doch eine Vorzeigeehe geführt all die Jahre, dachte ich«, sagte er, aber er schien nicht erstaunt.

»Ja, eben, es war eine Vorzeigeehe. Jetzt bin ich fertig. Ich will nichts mehr vorzeigen. Schluss damit.«

»Ich muss jetzt los, aber wollen wir uns mal verabreden?«, fragte er und sah mich mit seinen grün gesprenkelten Augen an. »Spazieren gehen? Wenn du wieder da bist?«

»Ja«, sagte ich und gab ihm meine Handynummer, ohne dass er fragen musste.

»Haben wir uns wirklich so lange nicht mehr gesehen? Das kann doch gar nicht sein«, sagte er.

»Es kommt mir auch nicht so vor«, sagte ich.

Er stand mir gegenüber und legte mir die Hand auf die Schulter, und ich dachte, er umarmt mich noch einmal, doch das tat er nicht. Er drückte meine Schulter so fest und so kurz, dass ich mich fragte, ob ich das wirklich gespürt oder geträumt hatte.

So verabschiedeten wir uns.

Er stieg auf sein Fahrrad und fuhr sehr schnell los und drehte sich nicht um.

Ich sah ihm nach.

Plötzlich hatte ich gar keine Lust mehr wegzufahren.

Ich stand da und war unschlüssig, was ich tun sollte.

Da klingelte mein Telefon.

»Kannst du kurz vorbeikommen, bitte?«

Es war die Stimme meines alten Vaters. Er klang furchtbar.

»Warum? Was ist passiert?«, fragte ich. Ich kriegte immer sofort einen Schreck, wenn er anrief.

»Mir geht’s nicht gut, kannst du mal kommen, wenn du Zeit hast?«, sagte er schleppend.

Wenn du Zeit hast, meinte natürlich: Sofort.

Er hatte letztes Jahr einen Schlaganfall gehabt, und nach dem Schlaganfall kam eine kleine Demenz dazu, er betonte immer, dass die ganz klein sei und auch eigentlich gar keine echte Demenz, sondern eine Schummeldemenz, keine Ahnung, wie er auf diesen Ausdruck kam, aber seitdem machte ich mir Sorgen, weil es ihm immer wieder sehr schlecht ging. Er zitterte, und manchmal redete er wirres Zeug und konnte kaum laufen, dann ging es ihm auch wieder ganz gut, und er ging mir schnell auf die Nerven. Ich vermute, er merkte das, deswegen konnte es durchaus vorkommen, dass er einfach nur ein bisschen auf Drama machte, damit man sich um ihn kümmerte. Es ließ sich schlecht unterscheiden.

Ich war mir auch jetzt nicht sicher, was tatsächlich los war, ob Drama oder ob es ihm wirklich nicht gut ging.

»Ich komme«, sagte ich, seufzte und legte auf.

Damit hatte sich das mit dem Wegfahren erledigt.

Aber um ehrlich zu sein, war es mir recht.

4

Meine Eltern und ich lebten in der gleichen Stadt, mein Bruder war sofort nach dem Abitur weggezogen, so weit wie möglich, über einen ganzen Ozean, und Lou sagte immer, sie wisse nicht, ob ich nicht von ihnen losgekommen bin oder sie nicht von mir. Sie lebten in einer Wohnung, die mit Büchern, Bildern und Schallplatten vollgestopft war. Meine Eltern waren seit bestimmt hundertfünfzig Jahren verheiratet, niemand wusste, warum so lange, sie hatten verzweifelt versucht, ein glamouröses Leben zu führen. Vielleicht hielt sie diese gemeinsame Verzweiflung darüber, das nicht geschafft zu haben, zusammen.

Meine Mutter hatte früher als Kunsterzieherin gearbeitet, ihren Beruf dann aber zugunsten der Familie, des Alkohols und der Medikamente aufgegeben und sich ausschließlich darauf konzentriert, meinen Vater trotz seiner Affären nicht zu verlassen und ihm dafür das Leben, so gut es ging, zur Hölle zu machen. Nebenbei malte sie Aquarelle, die gar nicht schlecht waren, und plante Ausstellungen, die nie stattfanden. Mein Vater hatte sein ganzes Leben lang auf der Bühne gestanden, und seitdem er das nicht mehr konnte, suchte er seine Bühnen anderswo, wo immer es ging.

Sie waren beide sehr, sagen wir, eigenwillig, jeder auf seine Weise, und führten eine exzentrische Ehe, früher mit zahllosen Affären, vor allem meines Vaters, zahllosen Dramen, vor allem meiner Mutter, vielen Dinnerpartys und vielen Katzen. Jetzt waren meine Eltern nur noch zu zweit mit einer letzten uralten inkontinenten Katze, ihre besten Freunde waren gestorben, oder sie hatten sie vergrault.

Als ich ankam, schlurfte mein Vater durch den Hausflur. Seine Haare standen zu Berge, und er trug ein rotes Nachthemd. Das hatte er schon das letzte Mal an, als ich da war, und das war schon länger her. Ich fragte mich, ob er in der Zwischenzeit etwas anderes angezogen hatte oder irgendwann mal wieder etwas anderes anziehen würde. Ich war kurz davor, darüber nachzudenken, ob er jemals duschte, ließ es aber lieber.

»Was ist los, Papa?«, fragte ich.

»Mir ist so schwindelig«, sagte er ganz verwirrt. »Ich weiß gar nicht, wo ich bin.«

Er schwankte wirklich.

Ich überlegte, ob ich einen Arzt rufen sollte.

Ich versuchte, ihn langsam in die Wohnung zu schieben.

»Nein, ich will nicht zurück. Wo bin ich?«

»Du bist zu Hause«, sagte ich und schob ihn weiter in sein Zimmer.

»Aber ich wollte gerade gehen«, protestierte er.

Die Katze lag auf seinem Bett. Er setzte sich vorsichtig neben sie.

»Du kannst so nicht rausgehen, du hast dein Nachthemd an«, sagte ich so sanft wie möglich.

Er schaute an sich herunter. »Das ist mir egal. Ich muss los.«

Er versuchte wieder aufzustehen, aber schaffte es nicht.

»Wo willst du denn hin?«

»Ich habe einen Auftritt, ich muss mich beeilen.«

»Nein, du hast jetzt keinen Auftritt«, sagte ich.

»Doch, hab ich wohl. Aber mir ist so schwindelig«, sagte er.

»Leg dich hin und ruh dich aus«, sagte ich. »Du hast keinen Auftritt.«

Er blicke durch mich hindurch.

Sein Bett sah aus, als sei es seit Jahren nicht mehr frisch bezogen worden. Ich fühlte mich aber weder in der Lage dazu noch dafür verantwortlich, mich darum zu kümmern.

»Wir sind lebendig begraben«, sagte mein Vater. Dann fing er an zu kichern.

Ich sollte schleunigst gehen, dachte ich. Gleichzeitig brach es mir das Herz.

Meine Mutter kam mit ihrer Staffelei aus ihrem Atelier. Sie nannte es Atelier, aber es war einfach ihr Zimmer.

Sie kann doch kaum laufen vor Schmerzen, was schleppt sie noch diese Staffelei rum?, dachte ich. Dafür nimmt sie also das ganze Morphium.

»Wenn ich nicht so alt wäre, würde ich mich scheiden lassen«, schnaubte sie.

Dann schnaubte sie meinen Vater an: »Warum hast du deine Tochter überhaupt angerufen, sie muss arbeiten. Sie muss ihr Buch fertig schreiben. Und du hast gar nichts, außer einer Meise. Du bist doch bloß ein eingebildeter Kranker.«

Sie trug ein pinkfarbenes Wallegewand und schubste mit der Staffelei die Katze vom Bett.

»Es geht ihm gut, er hat gar nichts, er simuliert das alles nur, damit man sich um ihn kümmert«, sagte sie zu mir. Und plötzlich und aus heiterem Himmel: »Mein Kind, wie geht’s dir denn?«

»Mir geht’s gut«, sagte ich. Sonst fragte sie das nie.

»Gut. Und du weißt ja, wenn’s dir nicht gut geht, ruf Mama an.«

Das wäre bestimmt nicht das Erste, was ich tun würde.

»Wo bin ich?«, sagte mein Vater und schüttelte den Kopf.

»Du bist zu Hause, es ist alles gut«, sagte ich.