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Julia Holbe

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Beschreibung

Vier Freundinnen und ein unvergesslicher Sommer an der französischen Atlantikküste

Lenica, Marie, Fanny und Elsa verbringen einen nicht enden wollenden Sommer an der französischen Atlantikküste. Wie ein Versprechen liegt die Zukunft vor ihnen, so ausgelassen und unbeschwert sind sie, dass sie gar nicht merken, wie das Leben seine Weichen stellt. Als sie sich viele Jahre später wiedersehen, erkennen sie, dass ihre Sehnsüchte sie immer noch wie eine schicksalhafte Kraft verbinden. Trotz allem, was geschehen ist, seit jenem Abend, als Lenica ihren Freund Sean mitbrachte. Und die unaufhaltbare Geschichte ihren Lauf nahm …

Julia Holbe erzählt in ihrem bewegenden Roman von den wirklich wichtigen Dingen des Lebens: von Liebe und Freundschaft, Schuld und Verrat, von Zufall und Schicksal. »Wenn man ein solches Buch gelesen hat, bleibt für ein paar Sekunden Sehnsucht im Herzen und ein vages Gefühl von Glück.« Christine Westermann

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Vier Freundinnen und ein Sommer am Meer, der alles für immer veränderte

Lenica, Marie, Fanny und Elsa verbringen einen nicht enden wollenden Sommer an der französischen Atlantikküste. Wie ein wundersames Versprechen liegt die Zukunft vor ihnen, so ausgelassen und unbeschwert sind sie, dass sie gar nicht merken, wie das Leben seine Weichen stellt. Als sie sich viele Jahre später wiedersehen, erkennen sie, dass ihre Sehnsüchte sie noch immer wie eine schicksalhafte Kraft verbinden. Trotz allem, was geschehen ist, seit jenem Abend, als Lenica ihren Freund Sean mitbrachte. Und die unaufhaltbare Geschichte ihren Lauf nahm … 

»Unsere glücklichen Tage« erzählt von den wirklich wichtigen Dingen des Lebens: von Liebe und Freundschaft, Schuld und Verrat, von Zufall und Schicksal und davon, dass wir die Vergangenheit immer nur so erinnern, wie wir sie haben wollen.

Julia Holbe, Jahrgang 1969, ist Luxemburgerin. Sie lebt in Frankfurt am Main und in der Bretagne. Zwanzig Jahre arbeitete sie als Lektorin für internationale Literatur im S. Fischer Verlag. »Unsere glücklichen Tage« ist ihr erster Roman.

JULIA HOLBE

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Roman

Scientific advice and so many other thoughtful notes:

Prof. Dr. Dr. L. F. J. B., deepest thanks and admiration. J. H.

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Copyright © 2020 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

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Umschlaggestaltung: Cornelia Niere

Umschlagabbildungen: © arcangelimages/

nikki smith/DEEPOL by plainpicture/

GettyImages/southern stock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-24937-3V004

www.penguin-verlag.de

Den Freunden von einst und von heute

»The things you can’t remember

tell the things you can’t forget.«

Tom Waits, Time

Ich habe lange überlegt, ob ich diese Geschichte erzähle. Es ist nicht nur meine Geschichte, sondern die von vier Freundinnen. Vieles ist wahr und vieles erfunden.

Den Felsen am Atlantik gibt es wirklich. Er und die wichtigsten Menschen meines Lebens, die Stunden und Tage und Wochen und Jahre dort verbrachten, haben mich dazu bewogen, all das aufzuschreiben.

Es ist die Geschichte von vier jungen Frauen, die sich ihr Leben erfanden und dessen Heldinnen wurden. Es ist die Geschichte einer großen Trauer. Die Geschichte von unzerstörbarer Freundschaft. Und nicht zuletzt ist es die Geschichte einer großen, großen Liebe.

Ich wusste eigentlich gar nicht mehr genau, warum ich mich auf das Treffen eingelassen hatte. So viele Jahre waren vergangen. Was hätten wir uns noch zu sagen? Mit vielen Menschen wurde es irgendwann mühsam. Und auf mühsam hatte ich in meinem Alter überhaupt keine Lust mehr.

Früher war es nie mühsam gewesen. Alles war immer leicht gewesen. Und es gab eine Freiheit. Eine Freiheit, die wir vielleicht nur in jungen Jahren haben. Wir hatten damals das Gefühl, es würde ewig so weitergehen.

Warum hatten wir uns überhaupt aus den Augen verloren?

Ich wusste es nicht mehr.

Und gleichzeitig wusste ich es genau.

Ich glaube, das ging uns allen so.

Jede von uns wusste es, jede auf ihre Weise.

Auch Lenica. Vor allem Lenica.

Aber Lenica war tot.

Irgendwann hatte ich eine Todesanzeige bekommen.

Ich las ihren Namen und die Namen der Trauernden, und mich überkam eine unbeschreibliche Traurigkeit.

Ich hatte so lange nichts von ihr gehört. Und hatte mich auch nicht von mir aus gemeldet. Doch ich habe immer an sie gedacht. An sie und Marie und Fanny.

An dem Abend damals trank ich viel zu viel Rotwein und hörte Musik. Aber auch die traurigste Musik war nicht traurig genug. Ich musste weinen, und ich war mir plötzlich gar nicht sicher, ob ich um Lenica weinte oder um mich selbst. Ich bin ein sentimentaler Mensch, das bin ich schon immer gewesen. Vielleicht trauerte ich um unsere Vergangenheit und unsere verlorene Jugend. Die nie wiederkommen würde. Und von der ich so sehr hoffte, dass wir sie ganz ausgeschöpft hatten.

Marie hatte keine Anzeige bekommen, sagte sie. Sie hatte es von irgendwem gehört. Sie und Lenica hatten auch keinen Kontakt mehr gehabt. Sie und Fanny auch nicht. Ich versuchte mich zu erinnern, ob Lenica geschieden war, da fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, ob sie überhaupt geheiratet hatten. Marie wusste noch weniger als ich. Das sagte sie mir jedenfalls, als wir uns auf der Straße in die Arme liefen.

Wir waren uns tatsächlich zufällig begegnet. An einem noch kühlen, aber sonnigen Junitag in Luxemburg. Ich saß auf dem Hauptplatz, im einst legendären Café de Paris. Ich hatte den Ort unserer gemeinsamen Schulzeit nur besucht, um einen neuen Pass zu beantragen, eigentlich zog mich nichts mehr hierher. Ich hatte etwas Zeit, aß Steak frites mit Sauce Béarnaise und trank zwei Gläser Wein, im Andenken an den früheren Besitzer des Cafés, der damals ein Freund gewesen war. Ich hatte gerade gezahlt, nahm meine Sonnenbrille, stand auf – und schon fiel sie mir in die Arme.

Marie sah gut aus, sie hatte sich fast gar nicht verändert. Die blonden Haare waren perfekt gesträhnt und etwas kürzer als früher, aber genauso wild, sie war so dünn wie immer und wahnsinnig gut gelaunt. Voller Energie. Sie quatschte mich voll und sagte, sie sei beruflich hier, auf einem Kongress, und ob wir heute Abend zusammen was trinken gehen. Ich wollte noch fragen, auf was für einem Kongress, aber sie war furchtbar in Eile und wir tauschten Nummern aus und schon wehte sie weiter und rief noch: »Elsa, bist du eigentlich noch mit Soundso zusammen?«, der Name meines Exmannes, und ich rief: »Nein.« Sie lachte ihr Ich-habs-dir-ja-gleich-gesagt-Lachen. Dabei kannte sie ihn gar nicht. Oder doch? Ich erinnerte mich nicht.

So war es mit Marie: Nichts war tragisch für sie. Traurig vielleicht, aber nicht tragisch. Sie war das, was man entwaffnend nannte.

Später schrieb Marie: »Ich sitze allein im Fernsehzimmer meiner Eltern und denke an die alten Zeiten. P.S. Sie haben doch tatsächlich mein Zimmer zum Fernsehzimmer gemacht!«

Ich erinnerte mich an Maries Zimmer. Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie da saß, und auch, wie sie dabei aussah.

Vielleicht war es das, was mich dazu brachte, ich weiß es nicht, jedenfalls schrieb ich ihr zurück: »Ja, lass uns treffen, bevor wir alt und schrumpelig werden.«

Sie antwortete nur: »Wir werden nie alt und schrumpelig.«

Komischerweise beruhigte mich ihre Feststellung.

Ich war jetzt froh, dass ich beschlossen hatte, sie zu treffen. Beinahe froh zumindest.

Ich würde ja sehen. Einen Versuch war es wert. Menschen sind immer einen Versuch wert. Und manchmal zwang uns das Leben zu handeln. Wir hatten nicht ewig Zeit.

Und da waren wir nun.

Wir waren vier Freundinnen.

Die nichts trennen konnte und die sich doch verloren haben.

Statt wie geplant nach Frankfurt zurückzufahren, nahm ich mir kurzerhand ein Zimmer in einem kleinen Hotel an der Corniche. Es war Freitag, ich musste erst Dienstag wieder in der Schule sein, und viel Unterricht musste ich nicht vorbereiten, es war kurz vor den Sommerferien. Für die ich noch keine Pläne hatte. Scheinbar endlose Wochen Freiheit. Und ich hatte mich auch schon beinahe daran gewöhnt, dass meine Kinder seit einiger Zeit bei meinem Exmann in Boston studierten. Richtig daran gewöhnen würde ich mich nie, aber ich tat mein Bestes.

Mir fiel das Gefühl von früher wieder ein, das, was es damals auslöste, Sommerferien zu haben. So anders als heute war es gar nicht. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich Lehrerin geworden war. Das Gefühl von Sommerferien.

Ich saß auf dem winzigen gusseisernen Balkon und schaute auf die Altstadt mit dem kleinen Fluss und den alten Festungsmauern. Es war komisch, hier in einem Hotel zu schlafen, aber was sollte ich machen? In meinem Elternhaus lebten Fremde, und all meine alten Freunde, die, die geblieben waren, oder die wenigen, zu denen ich überhaupt noch Kontakt hatte, waren in der Welt verteilt.

Ich blickte auf die von Grün gesäumte Promenade unter mir und verlor mich etwas in Gedanken. Ein seltsames Gefühl durchströmte mich, ein wehmütiger Schmerz der Vergangenheit. Ich hätte gerne eine Zigarette geraucht, aber vom Rauchen wurde mir mittlerweile schlecht. Ich trank noch ein Glas Weißwein und dachte an früher. Daran, woran ich so unendlich lange nicht mehr gedacht hatte. An diesen einen Tag in diesem einen Sommer. Vor langer Zeit.

Es war so unsagbar heiß gewesen an diesem letzten Tag, an dem wir uns alle das letzte Mal gesehen hatten. In diesem einen Sommer. Diesem nicht enden wollenden Sommer am Atlantik.

Wir lagen auf unserem Felsen. Dem Felsen, auf dem wir jahrelang jeden Sommer gelegen hatten, Marie, Fanny und ich, und auf dem wir Lenica kennengelernt hatten. Und auf dem wir Freundinnen geworden waren, Lenica und wir. Lenica und ich.

Wir lagen lange dort, länger als an den anderen Tagen. Wir schwammen und redeten und tranken Bier.

Ich erinnerte mich noch, dass ich mit Lenica und Sean einen Schnorchelausflug unternommen hatte. Und dann ließen wir uns auf dem sonnenwarmen Stein trocknen. Ich schlief ein, und als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, wie Lenica ganz am Rande des Felsens saß, die Knie eng an den Körper herangezogen, und aufs Meer blickte. Sie drehte sich um, als spürte sie meine Blicke in ihrem Rücken. Sie lächelte mich an. So wie immer, genau so. Dann schaute sie wieder aufs Meer. Plötzlich stand sie auf, kam zu mir und küsste mich. Dann ging sie zu Sean und küsste ihn.

Das Meer war gar nicht so kalt gewesen an diesem Tag.

Am Abend grillten wir sehr scharfe Merguez und aßen dazu die Reste, indem wir alles zusammenmischten. Es gab Tomaten-Mais-Thunfischsalat und wir rösteten das Baguette vom Vortag. Wir machten ein Lagerfeuer und wir hörten Musik.

Vor allem redeten wir uns ein, wir müssten auch den Alkohol aufbrauchen.

Wir saßen so lange am Feuer, bis es niedergebrannt war, und redeten darüber, was wir in diesem Sommer alles gemacht hatten.

Wir redeten über den Sommer, als sei er ein ganzes Leben gewesen.

Als würde er nie wiederkehren.

Wir kosteten den Abend aus. So gut wir konnten, und wir wollten es so sehr.

Am nächsten Morgen waren wir furchtbar verkatert und tranken starken Kaffee aus den bunten Steingutbechern, nur Sean trank viel zu lange gezogenen schwarzen Tee, und wir warfen verschlafen unsere Taschen ins Auto und umarmten uns.

Nichts war vorgefallen.

Wir haben uns nie wiedergesehen.

Als ich auf meinem kleinen Hotelbalkon in Luxemburg saß und auf die Stadt blickte, konnte ich nicht anders, als mich ganz den Erinnerungen hinzugeben. Diese Erinnerungen waren Dämonen, aber ich hatte sie vermisst. Wie eine Droge.

Manche Erinnerungswolken kamen langsam, wie Nebelschwaden, und manche schnell, wie Blitze. Ein Name oder ein Wort genügten und ein ganzes Szenario entstand im Kopf, so als sei es nie weg gewesen. Schlimmer als die Erinnerung im Kopf war diese Art Erinnerung, die man körperlich spürte. Dagegen hatte ich mich gesträubt, aber der kurze Moment, als Marie Lenicas Namen erwähnte, reichte aus für eine Explosion von Gedanken und Gefühlen, die beinahe unerträglich war. Über Fanny hatten wir gar nicht gesprochen, aber sobald ich an Lenica dachte, musste ich auch an sie denken. Und natürlich an Sean.

Ich beschloss, mir gegen meine Überzeugung oder eher Erfahrung der letzten Jahre beim Concierge Zigaretten zu holen. Ich sollte mich langsam wieder daran gewöhnen.

Der ganze Sommer damals trat mir wieder vor Augen.

Doch nicht nur das.

Ich erinnerte mich plötzlich wieder ganz deutlich an den Tag, an dem ich von Lenicas Tod erfuhr. Ich wollte mich eigentlich gar nicht daran erinnern. Nie mehr. Und ich hatte mich mit Erfolg schon lange nicht mehr daran erinnert.

Als ich damals von Lenicas Tod erfahren habe und begann den ganzen Rotwein zu trinken und diese bestimmte Musik zu hören, ging ich in die Küche und beschloss zu kochen. Ich erwartete niemanden und war gar nicht sicher, ob ich etwas essen würde, aber Kochen beruhigte mich. Ich schaute in den Kühlschrank und holte Käse, Oliven und Parmaschinken heraus. Tomaten hatte ich eigentlich immer da. Ich schnitt die Tomaten betont langsam, weil ich mich häufig in die Fingerkuppe schnitt. An jenem Abend schnitt ich mich schlimmer denn je und richtete ein Blutbad an. Ich verband meinen Finger mit Klopapier, weil ich keine Pflaster hatte, die groß genug waren. Und dann trank ich noch mehr Rotwein.

Ich hatte diesen metallenen Geruch von Blut in der Nase.

Ich wusste nicht, wohin mit mir. Ich war so traurig und weinte, dass mir fast die Augen rausfielen.

Ich überlegte, Marie oder Fanny anzurufen, aber hatte keine Telefonnummern. Vielleicht war das auch nur eine Ausrede. Ich hätte es einfach nicht gekonnt.

Ich dachte an Lens Familie und mir fiel ein, dass ich gar nicht wusste, ob ihre Eltern noch lebten, ich wusste nicht, ob sie Kinder hatte, und ich dachte an ihre Schwester Héloïse, was sie wohl machte, und ich dachte an Lens Vater, Édouard, den ich so mochte. Schreiben konnte ich ihm nicht, das konnte ich erst viel später.

Ich bin nicht zu Lens Beerdigung gegangen.

Ich weiß nicht mehr, ob mich die Karte zu spät erreicht hatte oder ob ich einfach nicht gegangen bin, weil ich es nicht ausgehalten hätte.

Und das Leben stand still und ging trotzdem weiter. Dass es weiterging, empfand ich als Zumutung.

Mit Lenica war es komisch gewesen. Sie lebte in dem kleinen Ort, wo wir immer die Ferien verbrachten. Ich kannte sie vom Sehen. Sie war schon immer da gewesen. Aber bisher hatten wir nie geredet.

An einem Sommertag jedoch, es war heiß damals und das Meer erreichte Anfang Juli langsam die perfekte Schwimmtemperatur, sprach sie mich ganz unvermutet an. Sie begann eine Unterhaltung über irgendeine Belanglosigkeit, an die ich mich nicht mehr erinnere, und sofort hatte sie uns. Hatte sie mich.

So stieß sie zu uns, so abrupt und dennoch zartfühlend, und wir adoptierten sie wie einen herrenlosen Welpen. Obwohl dieses Welpenhafte nur ein kleiner Teil von ihr war.

Sie war groß und sehr dünn. So dünn, dass die Hüftknochen hervorstanden, und sie hatte dunkle lange Haare, ein Dunkel in vielen Schattierungen. Sie trug Ringe an all ihren Fingern in sämtlichen Größen und Farben und klackernde Armbänder – eins aus blauen Glasperlen fiel mir besonders auf. Sie hatte immer sehr kurze Röcke und Leinenturnschuhe oder hochhackige Sandalen mit Söckchen an, irgendwelche verblichenen, entweder sehr weiten oder zu engen T-Shirts. Wenn sie Strumpfhosen trug, und das tat sie an kühleren Tagen manchmal sogar im Sommer, dann mit Laufmaschen. Eine kalkulierte Nachlässigkeit lag in ihrem Wesen, sie war sich ihrer Wirkung sicher. Sie hatte einen gewissen, sehr reizvollen Silberblick, der sie manchmal ein bisschen irre aussehen ließ. Wenn sie lachte, wurde ihr Gesicht auf einmal mädchenhaft, fast kindlich. Man konnte nie wissen, was sie als Nächstes machte – oder was sie dachte. Eine Zeitlang trug sie ihre Haare blau. Und manchmal eine blonde Perücke. Sie konnte ganz vernünftig wirken und es kam sogar vor, dass sie es war, zumindest tat sie manchmal so. Sie war wild und ungezähmt, doch in ihren Augen, die wie Opale glänzten, lag große Sanftheit und Verletzlichkeit. Das fiel mir auf. Und ging mir nah.

Lenica lag immer auf unserem Felsen, den wir dem Strand vorzogen, weil er etwas abgeschieden war und man nicht vom Sand paniert wurde. Sie und ihre Schwester sonnten sich dort und schwammen. Wenn sie in der Sonne lagen, waren sie mit ihren Kopfhörern an einen Walkman angeschlossen.

Lens Schwester Héloïse war das komplette Gegenteil, viel weicher als Len, nicht nur ihr Äußeres, blond und süß, sondern auch ihre Art. Sie war lieb und freundlich und zugewandt, hatte hohe Wangenknochen und weit auseinanderstehende blaugraue Augen, sie war runder, und doch hatte sie eine ganz schmale Taille, eine breitere Hüfte. Sie war ein anderer Typ als Len, aber nicht weniger anziehend.

Wir hatten nur Kontakt, wenn wir die zwei Monate Sommerferien am Atlantik verbrachten. Die restliche Zeit des Jahres hörte ich nie etwas von Len. Wir alle nicht. Aber unser Leben in dieser Zeit, so gleichermaßen aufregend wie unbedeutend es war, ließ sich schnell aufholen. Sobald wir uns auf dem Felsen wiedertrafen, war alles wie immer. Ich weiß nicht mehr, wann mir auffiel, wie sehr ich sie in der Zwischenzeit vermisste. Manchmal schrieb ich ihr Briefe, die ich aber nicht abschickte. Auch viel später noch schrieb ich diese Briefe. Ich legte sie in meine Schreibtischschublade, und mit den Jahren bildete sich ein Stapel, den ich verschnürte und der noch immer in meiner Schreibtischschublade lag.

Lenica schrieb fast nie, und wenn, dann nur mal eine Postkarte, auf der Sätze standen wie: »Hier regnet es und das Leben ist einfach, wie es ist.« Ich hängte mir ihre Karten an die Wand, als seien sie seltene Zeugnisse von exotischen Orten. Len war jemand, der immer bei einem war, selbst wenn sie nicht körperlich anwesend war. Sie war auf geheimnisvolle Weise mit mir verbunden, auch wenn tausend Kilometer zwischen uns lagen, und sie schien diese Entfernung mit stoischer Gelassenheit oder in stoischem Leiden hinzunehmen.

Wenn wir uns wiedersahen, schien es die Zeit dazwischen nicht gegeben zu haben.

Es war keine Seelenverwandtschaft.

Es war viel mehr.

Wenn endlich die Sommerferien anbrachen und wir losfuhren, waren wir immer in Hektik, immer in heller Aufregung, bis wir alles gepackt und wir alle aufgesammelt hatten. Nie hatte jede von uns nur eine Tasche, wie wir es eigentlich abgemacht hatten, meistens flogen noch einzelne Schuhe und Plastiktüten im Kofferraum herum. Zuerst hatten wir uns abwechselnd um den Proviant gekümmert, bis Marie ihn einmal vergaß und nur zwei Tüten Chips dabeihatte. Danach war Fanny zuständig, sie war die zuverlässigste. Und sie machte sowieso die besten Sandwiches, mit kaltem Hähnchen und Salat und Mayonnaise oder Thunfischcreme mit Selleriestückchen. Sie packte geschälte Mohrrüben und in Streifen geschnittene rote Paprika ein, Orangina und Thermoskannen mit Kaffee. Beim ersten Mal lachten wir sie aus und fanden sie zu perfekt und spießig, aber dann beschlossen wir, dass sie niemals zu perfekt sein könnte. Wir beschlossen, dass sie eine berühmte Köchin werden und ein Restaurant in einer schicken Stadt eröffnen würde, in dem wir jederzeit umsonst essen konnten und so viel wir wollten. »Jetzt übertreibt ihr aber«, sagte Fanny dann. »Nur weil ich hier die Einzige bin, die euch nicht verhungern lässt.«

Dann spielte es sich immer gleich ab. Wir kamen in der Nacht an, mit einem voll beladenen Auto, und waren über Stunden unterwegs gewesen. Die letzten Kilometer zogen sich, und wir waren so kaputt und erledigt und jammerten, und schworen, sofort und auf der Stelle ins Bett zu gehen. Aber sobald das Auto knirschend über den Kies der Einfahrt fuhr, war unsere Erschöpfung wie weggeblasen. Sobald wir die Meeresluft atmeten, war keine Müdigkeit mehr zu spüren. Wir rissen uns die Schuhe von den Füßen und spürten das feuchte Gras, und das feine Salz in der Luft legte sich auf uns wie eine zweite Haut.

Und wenn wir Lenica in die Arme fielen, begann der Sommer.

Lenica saß, schon lange bevor wir ankamen, bei uns im Garten. Sie hängte Lampions in die Bäume und stellte Kerzen auf, und es sah dann aus wie auf einer Gartenparty. Sie las und hörte Musik und lackierte sich die Fußnägel in allen Farben, die Nagellackfläschchen vergaß sie manchmal im Gras, und dann fanden wir im folgenden Sommer die Farben des vergangenen. Manchmal schlief sie in der Hängematte ein.

Wenn sie das Auto hörte, sprang sie auf und rannte uns entgegen. Meistens hatte sie schon gekocht oder den Grill angeworfen, und dann grillten wir um Mitternacht Thunfischsteaks und aßen sie mit viel Zitrone. Lenica konnte nicht kochen, behauptete sie jedenfalls, und sie tat so, als hätte sie keine Ahnung, aber das war, wie manches andere, das sie erzählte, glatt gelogen.

Wenn wir dachten, immer noch nicht müde zu sein, spazierten wir durch die sternklare Nacht zum Strand und gingen schwimmen. Der Mond erhellte das Meer, und wir kamen versandet und glücklich wieder nach Hause und wussten, vor uns lag eine endlose Zeit.

Wir schliefen ein mit Sand an unseren Füßen und Salz in den Haaren. Lenica und ich schliefen in meinem alten, knarrenden Bett in der etwas klammen und zerknitterten Leinenbettwäsche. Lenica und ich.

Wir schliefen, und manchmal berührten sich dabei unsere Füße, bis wir von der Sonne geweckt wurden, die durch die Ritzen der Fensterläden fiel.

Len und ich schliefen am liebsten sehr lange, so lange, dass die anderen sich über uns lustig machten.

Wenn wir wach waren, begannen wir zu reden, und zwischendurch ging ich in die Küche und kochte uns Milchkaffee und machte Honigbrote, und dann blieben wir im Bett und irgendwann klebte alles, und wir redeten weiter, als ob keine Nacht und kein Jahr dazwischengelegen hätten. Manchmal schliefen wir danach einfach wieder ein. Und manchmal kamen Fanny und Marie dazu, die schon nützliche Dinge gemacht hatten, wie in der Hängematte gelegen und den Lavendel von den Brennnesseln befreit. Dann saßen wir zu viert im Bett und brachten uns auf den neuesten Stand. Wenn nichts Spannendes passiert war, keine neuen Lieben – was zu der Zeit eigentlich unser einziges Thema war –, keine Familiendramen, keine weitreichenden Erfolge in der Schule, im Studium oder in irgendetwas, was wir sonst taten, dann nannten wir es das Jahr der Nichtereignisse. Es gab zahlreiche Jahre der Nichtereignisse. So wie später auch die Jahre der Ereignisse.

In den Jahren der Nichtereignisse schmiedeten wir Pläne, wie unser Leben verlaufen könnte, was werden könnte, was wir machen wollten. Wir jagten den allerschönsten Fantasien nach, und das war etwas, was man nur mit allerbesten Freundinnen konnte. Wir malten uns die Männer aus, mit denen wir zusammen sein wollten, und überlegten, wie wir unsere Kinder nennen würden, Marie sagte: »Ich will doch keine Kinder, bin ich irre«, Fanny sagte: »Ich will einen ganzen Haufen, ich finde das eine tolle Vorstellung, und ihr werdet alle Patentanten«, und vor allem wollten wir alle Kinder nach uns allen nennen. »Und wenn irgendeine von uns einen Jungen bekommt?«, fragte ich. – »Den nennen wir dann wie unsere jeweiligen Exmänner.« – »Warum haben wir Exmänner? Ich dachte, wir sind alle glücklich.« – »Du willst doch wohl mehrmals heiraten! Man muss doch aus seinen Fehlern lernen!« – »Ach, so nennst du das.«

Wir redeten darüber, was wir werden wollten, und vor allem darüber, was wir nicht werden wollten, wie wir niemals werden wollten: verbittert und alt und spießig. Und vor allem wollten wir für immer zusammenbleiben.

Jedenfalls ganz gleich, wie wir unsere Tage verbrachten, wir fanden uns immer irgendwann am Felsen zusammen.

Es gab zwei Fahrräder, die eigentlich Lenicas Eltern gehörten und die aussahen, als wäre schon Brigitte Bardot darauf über die Hügel von Saint-Tropez geradelt. Es war nicht weit, zehn Minuten über die kleine Schotterstraße und dann den Küstenpfad entlang, bis man nach rechts abbog, um ans Meer hinunterzuklettern. Bei Ebbe erstreckte sich um den Felsen herum eine kleine Bucht, dann konnte man im Sand liegen, aber bei Flut, und das war am allerschönsten, gab es nur den Felsen und man konnte direkt ins Wasser springen. Der Felsen war ziemlich breit und nicht sehr hoch und fiel flach zum Sand ab, und er hatte eine große, nicht ganz glatte, aber dennoch angenehme Liegefläche. Selbst wenn wir zu mehreren waren, bot er genug Platz für uns alle. Wir wurden von ihm liebevoll behandelt, im Sommer war er ganz warm und angenehm, wenn wir aus dem kalten Wasser kamen, und wenn es kühler war, schützte uns der Felsen vor dem Wind und wir konnten in Ruhe daliegen und lesen.

Unser Zeug nahm den ganzen Felsen ein. Wir verteilten alles darauf, es sah aus wie beim Flohmarkt, wir schleppten immer den ganzen Hausrat mit. Decken und Bücher und Flaschen und Jacken, falls es kühler würde, Sonnencreme und haufenweise mixed tapes für den Kassettenrecorder und Baguette und Käse und Melone. Ich weiß nicht, wer von uns das meiste mitschleppte. Wir wollten alle dasselbe, und zu jener Zeit waren wir uns alle sehr ähnlich. Das dachten wir zumindest, und wir fühlten es. Die grundlegenden Unterschiede stellten wir erst später fest, und dann war es schon zu spät. Damals wollten wir es aber auch nicht anders.

Lenica hatte die Angewohnheit, in einem langsamen Ritual ins Wasser zu gehen. Zunächst nur bis zu den Knien. Dann benetzte sie sich die Oberschenkel mit Wasser und blieb stehen und blickte in die Weite, auf den Horizont, als würde sie da etwas suchen. Ich schwamm voraus, tauchte unter und schaute dann zurück, um Lenica zu beobachten. Ich mochte es, wie gewissenhaft sie den immer gleichen Ablauf der Bewegungen vollführte. Einmal bemerkte ich, wie auch Sean sie dabei beobachtete. Er war schon weiter geschwommen als ich, schwamm ein Stück zurück, paddelte auf der Stelle und sah in ihre Richtung, und als er merkte, dass ich es merkte, tauchte er unter.

Wir verbrachten unsere Tage immer im gleichen Rhythmus, und dennoch waren sie nie gleich. Was vor allem an Lenica lag. Eigentlich nur an Lenica. Sie war immer anders.

Len und ich liefen viel am Strand entlang, und sie erzählte mir Geschichten von ihrer Kindheit, ihren Eltern, ihrem Vater Édouard, der Käse herstellte. Sie wohnten in einem romantisch verfallenen Steinhaus, das ich sehr mochte, obwohl ich nur selten dort war. Es war nicht klein, dennoch bewohnten Len und Héloïse gemeinsam ein Zimmer unter dem Dach, sie hatten es mit einem hübschen, aber nicht sehr effektiven Paravent geteilt, über dem so viele Klamotten hingen, dass man das Gefühl hatte, er würde gleich zusammenbrechen. Édouard hatte ein Schlafsofa im Anbau, wo er seinen Käse machte und der an den Ziegenstall grenzte. Wir liebten das »Käsezimmer«, wie wir es nannten, es roch so gut, ein bisschen säuerlich, ein bisschen nach Ziegen und nach Holz, und es war dunkel und kühl. Der Garten war ursprünglich riesig gewesen, musste dann aber nach und nach dem Stall und dem Anbau weichen. Jetzt war der Garten noch immer groß und verwildert und sehr romantisch, mit Apfel- und Quittenbäumen, die Lens Vater im Herbst erntete. Aus den Früchten bereitete er Gelee, das man zu seinem Käse aß.

Lenica war ihrem Vater sehr nah und hatte als Kind mit ihm in langen Sommernächten Sternschnuppen beobachtet. Von ihrer Mutter, die andauernd unterwegs war – sie war Schauspielerin und drehte mit ziemlich berühmten Regisseuren –, sprach sie weniger. Ich kannte Lens Mutter und hatte alle ihre Filme gesehen. Sie war toll. Eine Schönheit, ganz wie Len, obwohl sie sich überhaupt nicht ähnlich sahen, Len sah vielmehr aus wie ihr Vater. Lens Mutter Nadia war blond und zierlich und bewegte sich wie eine Balletttänzerin. Sie lachte laut und glockenhell, und das war wirklich schön anzuhören. Sie redete über ihre Kinder, als seien sie gar nicht ihre Kinder, sondern seltsame, leuchtende Zauberwesen, die ihr gefielen, aber ihr fremd waren. Lens Vater betete seine Frau sichtlich an, auch wenn sie ihn eher wie ihren Dienstboten behandelte, freundlich, aber vollkommen distanziert und unpersönlich. Ich hatte sie nur einmal gesehen. Vielleicht war sie sonst ja auch ganz anders.

Nadia bewohnte einen riesigen Raum mit Ankleidezimmer in dem romantischen Steinhaus, wenn sie da war. Len mochte die Klamotten ihrer Mutter, auch die blonde Perücke war von ihr, und konnte sich immer alles ausleihen, ohne dass ihre Mutter etwas merkte, weil sie einfach so unendlich viele Klamotten hatte. Aber ihre Mutter, sagte Len, mochte sie nicht. Ich fand es ziemlich hart, das so zu sagen. Außerdem glaubte ich nicht, dass es stimmte.

Len brachte mich immer zum Nachdenken, sie brachte mich dazu, Dinge zu denken und zu sagen – und zu tun –, die ich mich davor nie getraut hätte.

Len erzählte mir auch von ihrem Onkel, dem Bruder ihres Vaters, der der Briefträger des Ortes war, ein sehr großer dunkelhaariger Mann, den ich schon lange kannte, lange noch, bevor ich wusste, dass es ihr Onkel war. Er hieß Yann und kam immer zur Terrassentür, um uns die Post zu bringen, weil wir keinen Briefkasten hatten. Er schritt dann ganz gemächlich, aber doch schwungvoll federnd durch den ganzen Garten und winkte schon von Weitem. Dann plauderten wir etwas, er war stets eine angenehme Mischung aus gut gelaunt und nachdenklich und sagte von sich selbst, er sei Cartesianer, obwohl er am liebsten Geschichten erzählte, in denen Magie vorkam. Er war jemand, dem nichts fremd war. Solche Menschen mochte ich, bei ihnen hatte man nie das Gefühl, dass man irgendwie falsch oder anders oder schräg drauf war. Man hatte nur das Gefühl, dass man richtig war, dass alles richtig war, was man machte und sagte, und das war ein gutes Gefühl.

Das schien in der Familie zu liegen. Denn das war auch das Gefühl, das ich bei Len hatte.

Len erzählte gerne Geschichten. Bei den Sachen, von denen sie mir auf unseren Strandspaziergängen erzählte, wusste man nie, ob sie wirklich passiert waren oder nicht, aber das spielte auch keine Rolle.

Wir spazierten stundenlang über den Sand, wenn es heiß war, in Bikini und mit Sonnenhüten. Len hatte viele verschiedene Bikinis in unterschiedlichen Farben und Stilen, bunt und schwarz und gepunktet und gestreift, meistens passte das Oberteil nicht zum Unterteil. Sie wickelte bunte tunesische Tücher um die Hüfte oder den Kopf, die im Wind wehten. Wenn es kühler war, hatte Len meine hellblaue Lieblingsstrickjacke an und ich ein dunkelrot kariertes Flanellhemd von ihr, es war ein Männerhemd, doch ich wusste nicht, welchem ihrer Freunde es ursprünglich gehört hatte. Wenn es windig war, wehte uns der Sand in die Ohren und überallhin, aber wir merkten es kaum, weil wir so vertieft ins Reden waren. Ich redete nicht unbedingt gern, später sagte Len mir, sie auch nicht. Das konnte ich gar nicht glauben, denn wenn wir beide zusammen waren, hörten wir nicht auf zu reden. Immer, wenn wir uns im Sommer wiedersahen, redeten wir die ersten Tage vermutlich vierundzwanzig Stunden ohne Unterbrechung, zumindest kam es uns so vor. Wir redeten dann überall, am Strand, im Meer, im Auto, beim Einkaufen und natürlich im Bett.

Einmal erzählte sie mir, wie sie als Kind im Meer schwimmen gelernt hatte. Sie war mit ihren Eltern am Strand und sie waren alle im Wasser, Len war ungefähr fünf Jahre alt. Ihre Mutter hatte sie auf dem Arm und ließ sie plötzlich ins Wasser fallen, und noch bevor ihr Vater sie auffangen konnte, war sie ihm davongeschwommen. Ihre Mutter behauptete, sie habe Len fallen lassen, damit sie schwimmen lernt, aber Len sagte, sie wüsste bis heute nicht, ob das stimmte oder ob es einfach ein Versehen war. Und sie wüsste auch gar nicht, was ihr lieber wäre.

»Ich wäre gerne Auftragskillerin, am liebsten eine russische«, erzählte Len weiter. »So ein richtiger Profi. Eine Killermaschine. Mit Nerven aus Stahl. Die alle Kampfkünste und alle Waffen beherrscht und die immer eiskalt bleibt und streng schaut. Die ihren Job erledigt, von Stadt zu Stadt zieht, überall zu Hause ist und fünf verschiedene Pässe hat. Die nur Kinder verschont, aber sonst kein Erbarmen kennt. Doch, ein Mann muss am Leben bleiben, der die Geschichte erzählt.«

Sie lachte grimmig.

»Die Auftragskillerin verdient irre viel Geld und hat irgendwann die Schnauze voll und setzt sich zur Ruhe. In einem einsamen Holzhaus in den Tiefen des russischen Lapplands, dort lebt sie mit ihren Hunden in der Stille des Schnees. Mit Huskys. Nein, mit Labradoren. Schwarzen Labradoren, damit man sie im Schnee sehen kann.«

So gingen wir durch das Sommermeer und sprachen über den Schnee und über Lens Zukunft als Profikillerin, und sie wirkte so entschieden, wie man nur wirken konnte, mit ihren Nerven wie Drahtseilen und ihrer Eiseskälte.

Und dann sagte sie plötzlich und blickte dabei auf den Horizont: »Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich will. Mal will ich dies, mal will ich das. Aber im Grunde weiß ich gar nichts. Ich bin einsam und verloren.«

Du bist gar nicht einsam und verloren, wollte ich ihr sagen, du hast doch mich, auch wenn ich selbst nicht weiß, was ich im Leben will, wollte ich sagen, aber sagte es nicht.

Während sie mir all das erzählte, wehte ihr der Wind das Haar ins Gesicht. Ihr Kopftuch hielt sie in der Hand und ließ es im Wind flattern, und ich hatte Angst, es könnte davonflattern und sie mit ihm.

Ich wollte ihr noch sagen, dass ich ziemlich sicher war, dass Lappland nicht in Russland lag, tat es aber nicht, und es war ja auch egal.

Wir gingen eng nebeneinander, sodass sich unsere Arme berührten. Lenica berührte wie beiläufig meinen Rücken, und es durchfuhr mich wie ein Schmerz.

Man liebt immer verzweifelt, entweder in sanfter Verzweiflung oder in heftiger Verzweiflung – ich liebte sie in sanfter Verzweiflung, wegen dem, was mit uns passierte und was ich empfand, und weil ich nie sicher sein konnte, was sie eigentlich für mich empfand. Wir waren beste Freundinnen, aber das war ich mit Fanny und Marie auch. Das, was mich mit Len verband, war anders.

Wir saßen immer stundenlang auf unserem Felsen, bis wir entweder nicht mehr konnten vor lauter Sonne oder so langsam Hunger bekamen. Dann gingen wir zurück ins Haus, Fanny fuhr in der camargueblauen DS, die ich von meiner Tante Christina geerbt hatte, die gar keine Tante war, sondern die beste Freundin meiner Mutter, zum Fischhändler, und wir anderen lagen im Garten, in der Hängematte oder in klapprigen Liegestühlen, tranken Bier und Weißwein, sprangen in den Pool und spritzten uns mit dem eiskalten Wasser des Gartenschlauchs ab.

Len und ich kletterten auf den alten Kirschbaum, auf dem ich als Kind ganze Tage verbracht hatte. Wir kletterten mit einer Rotweinflasche in der Hand rauf, ein schwieriges Unterfangen, Marie musste sich die Augen zuhalten.

»Ich kann nicht hinsehen«, rief sie. »Ihr werdet euch alle Knochen brechen.«

»Du bist doch sonst nicht so ängstlich«, sagte Fanny. »Es passiert schon nichts. Lenica, ich kann deine Unterhose sehen«, rief sie uns von unten zu.

Wir schrien vor Lachen und dann lachten auch Fanny und Marie, und Marie nahm die Hände von den Augen.

»Pfui, Lenica, man kann wirklich deine Unterhose sehen, schäm dich«, rief sie.

»Was denn, ihr habt wohl noch nie eine Unterhose gesehen? Meine ist auch noch sehr hübsch, sie ist hautfarben mit schwarzen Pünktchen und schwarzem Rand. Jetzt verzieht euch mal in die Küche, nächstes Mal verlange ich Eintritt«, rief sie und nahm die Weinflasche und schüttete ein bisschen Wein nach unten.

»Oh, ihr habt Wein, ich will auch raufkommen«, rief Marie.

»Nein, hier passen nur zwei hin, du musst unten bleiben.«

»Wir sollten endlich ein Baumhaus bauen, dann können wir alle zusammen hier rauf«, sagte ich.

»Aber das können wir nicht, oder? Oder können wir so was?«, fragte Fanny von unten.

»Nein, das können wir, glaub ich, nicht, oder vielleicht schon, aber vielleicht auch nicht. Wir suchen einfach morgen jemanden, der uns hilft, ein Baumhaus zu bauen.«

Dieses Baumhaus war eine alte Idee von uns, aber wir wussten nicht genau, wie wir das anstellen sollten. Vielleicht fehlte uns auch nur die Entschlossenheit.

Wir waren so jung und so grundlos glücklich, so übermütig und so unbedarft. So unentschlossen, was wir vom Leben und alldem wollten, und gleichzeitig spürten wir es genau.

Abends aßen wir an dem alten zerschrammten Holztisch und saßen da bis spät in die Nacht, mit vielen Weinflaschen und Kerzen und Musik und Geschichten. Wo diese ganzen Geschichten damals herkamen? Damals wussten wir noch nicht, dass wir es selbst waren.

Und erst viel später dachte ich, wie schön, wie unwirklich schön es war, und sehnte mich danach zurück. In diesem einen Moment denkt man gar nicht darüber nach, wie schön es ist, weil es irgendwie normal ist.

So verliefen unsere Tage und sie erschienen uns endlos, genauso wie dieser Sommer. Wir besaßen noch nicht das Zeitgefühl von heute. Etwas, das die Jugend auszeichnet, ist das Gefühl von Zeitlosigkeit. Wann änderte sich das eigentlich? Ich erinnerte mich nicht an den Zeitpunkt. Irgendwann war es schlagartig so. Man müsste wissen, wann sich das ändert, dann könnte man den letzten Tag des langsamen Vergehens der Zeit feiern wie die Mittsommernacht.

Len verbrachte immer den ganzen Sommer bei uns. Vielleicht tat sie das, weil sie auch die Ferien woanders verbringen wollte, und sei es nur ein paar Häuser weiter. Jedenfalls machte es mich glücklich, im Sommer mit Lenica zusammenzuleben. Wir schliefen meistens in einem Bett, auch wenn wir Freunde zu Besuch hatten. Die Jungs fanden das manchmal seltsam. Doch für uns war es ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das wir nicht missen wollten.

Nur Sean fand es nicht seltsam. Das war mal wieder typisch.

Ich hätte diesen Sommer auf den Rest meines Lebens ausdehnen wollen.

Ich ließ mich auf die Verabredung ein.

Marie und ich trafen uns im Interview. Das war die Bar, in der wir uns schon früher immer getroffen hatten. Ich dachte, es wäre möglicherweise komisch, wieder im Interview zu sitzen, nach all den Jahren. War es aber nicht. Ich dachte auch, es würde vielleicht komisch werden, mit Marie da zu sitzen. Wurde es aber auch nicht.

In diesen Jahren hatte sich eine Menge verändert. Und eine Menge blieb unverändert.

Mit alten Freundschaften ist es wie mit Kleidern, die man lange nicht mehr anhatte. Wenn man sie nach Jahren wieder aus dem Schrank herausholt, passen sie entweder noch und man fühlt sich darin wie immer. Oder sie sind zu klein geworden. Oder stehen einem einfach nicht mehr. Manchmal sind sie einfach aus der Mode gekommen, aber das machte nichts.

Marie war ein Lieblingsstück. Und es passte noch.

Wir waren älter geworden, wir hatten uns verändert.

Aber es passte noch.

Marie kannte ich, wie Fanny auch, schon seit der Schulzeit in Luxemburg. Selbst wenn Marie schlecht drauf war, war es lustig mit ihr, sie gebrauchte dann ziemlich viele unflätige Ausdrücke. Sie hatte immer ganz schnell eine Meinung, redete sehr viel und über alles, selbst wenn sie sich nicht damit auskannte. Manchmal schien sie nicht nachzudenken, aber dann feuerte sie wieder Sätze raus, von denen man erst drei Stunden später merkte, wie sie einem durch Mark und Bein gingen. Sie war unheimlich schlau und gut in der Schule, obwohl sie nicht viele Bücher las, und sie war immer auf dem neuesten Stand. Bei allem. Es war unkompliziert mit Marie. Ich hatte mich schnell mit ihr angefreundet, wahrscheinlich hatte ich die Hoffnung, dass ich dadurch selbst etwas unkomplizierter würde. Ich interessierte mich in dieser Zeit für abseitige Dinge wie Bücher oder Filme, war dauernd unglücklich verliebt und stets bereit, mich meinem Unglück hinzugeben. Mit Marie riss ich mich zusammen, und ich fand es erholsam, über Mädchensachen zu sprechen.

Wir waren erst ganz kurz befreundet, da bot Marie mir an, bei ihr zu übernachten, wenn wir abends ausgingen, weil sie in der Stadt wohnte. Ich wohnte außerhalb und musste sonst den letzten Bus um dreiundzwanzig Uhr nehmen, was ganz schön früh war.

Ich übernachtete sehr oft bei Marie.

Meistens war Maries Mutter noch wach, wenn wir nachts kamen, und dann setzte sie sich zu uns. Sie wollte wissen, was wir gemacht hatten und wer sonst noch da gewesen war. Nicht, um uns zu kontrollieren, sondern einfach aus Neugier. Sie kannte jeden, und selbst wenn sie die Leute nicht persönlich kannte, kannte sie jemanden, der jemanden kannte, jedenfalls wusste sie alles über alle und ließ sich über alle Leute aus, die wir gesehen hatten. Vor allem interessierte sie natürlich, wer mit wem zusammen war, dann hielt sie uns Vorträge über Beziehungen und dass die Leute sich viel zu schnell trennen würden heutzutage und dass man sich in der Ehe nicht gehen lassen dürfe. Damals war das unser geringstes Problem, später habe ich verstanden, was sie meinte.

Eine ihrer Lieblingsregeln war, man dürfe in Beziehungen auf keinen Fall gemeinsam das Bad benutzen oder gar aufs Klo gehen, wenn der andere im Bad war. Das war sehr lustig, weil Marie die Königin war in Zusammen-aufs-Klo-Gehen oder Zusammen-Duschen. Maries Mutter fand auch, dass man nicht mit dem Erstbesten schlafen sollte. Gleichzeitig war sie dafür, in der Jugend so viel Erfahrung wie möglich zu sammeln. Uns schwirrte der Kopf.

Mit Maries Mutter dazusitzen war lustig, lustig bis zu dem Zeitpunkt, wenn Marie und ihre Mutter sich ernsthaft in die Haare bekamen. Ich kannte nie die Gründe, aber vielleicht brauchten sie auch keine. Sie mussten sich einfach immer mal zoffen.

Ich schlief gerne neben Marie, denn sie war, wenn sie im Bett lag, plötzlich niedlich und machte vor dem Einschlafen, nachdem sie Gute Nacht gesagt hatte, immer ihr Einschlafgeräusch, einen kleinen niedlichen Seufzer.

Obwohl Marie so streitlustig war, stritt ich mich nie mit ihr, ich hasste Streiten und versuchte es weiträumig zu umgehen. Ich hatte Angst, dass eine Freundschaft nach einem Streit für immer verloren wäre oder zumindest nicht wiedererkennbar verändert, und da ich Marie mochte und brauchte, so wie sie war, und überhaupt alles, so wie es zwischen uns war, ließ ich es.

An diesem Abend im Interview waren wir sofort wieder da, wo wir immer gewesen waren. Mit dem winzigen und irrelevanten Unterschied, dass wir erwachsen waren oder zumindest in einem Alter, in dem man es sein sollte. Wir stellten fest, dass wir beide mittlerweile erwachsene Kinder hatten, Maries Tochter Catherine war Künstlerin, sie lebte in der Nähe von Paris auf dem Land und heiratete in ein paar Wochen. Sie war etwas älter als meine Kinder, Charles und Sally. Ich erzählte ihr von meinem Exmann, einem Filmkritiker aus Maine, klug und charmant, mit einer Schwäche für jüngere Schauspielerinnen, den ich sehr mochte, obwohl wir seit Längerem geschieden waren – wahrscheinlich deswegen. Aber er war stets ein toller Vater. Wenn ich mir während unserer Trennung Sorgen um die Kinder gemacht hatte, hatte er immer gesagt: »Baby, den Kindern ist egal, wie wir leben, solange wir sie lieben. Wir könnten auf Bäumen leben und es würde ihnen nichts ausmachen, solange sie wissen, dass wir sie lieben.«

Marie war noch immer mit Tomas verheiratet, ich kannte ihn, sie war schon in dem Sommer damals, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, mit ihm zusammen gewesen, obwohl er da nicht dabei war. Ich weiß nicht mehr, warum, ich glaube, er war in England oder irgendwo anders, oder sie hatten eine Krise. Er war Franzose tschechischer Herkunft und kam aus einem sehr bourgeoisen Elternhaus, doch Marie hatte sich trotz oder auch wegen ihrer aufbrausenden Art Anerkennung erkämpft und wurde für Tomas’ Eltern wie eine Tochter. Marie fand all das selbstverständlich. Sie schien seine Eltern zu mögen, sonst hätte sie das nie selbstverständlich gefunden.

Obwohl Marie und ich so unterschiedliche Leben geführt, so unterschiedliche Berufe und Ansichten hatten, überlagerten sich viele unserer Erfahrungen und Erlebnisse. Wie kam es trotz alldem zu diesen Parallelen? Waren es Zufälle oder gab es eine Art biografischen Zusammenhalt zwischen Menschen, die sich einmal nahe gewesen waren? »Unsinn«, fand Marie, ich hatte laut gedacht.

Marie behauptete, einen gewissen Pragmatismus Beziehungen gegenüber zu haben, sie behauptete, alle Beziehungen ähnelten sich und perfekt sei es nie, es sei immer nur eine Frage des Abwägens. Und eine neue Liebe zu beginnen lohne sich nicht, weil nach zwei Jahren sowieso immer das gleiche Spiel der Normalität und Abnutzung beginne. Die Tatsache, dass Marie nach so langer Zeit immer noch mit ihrer Jugendliebe verheiratet war, zeugte für mich eher von einer gewissen Romantik. Marie widersprach, für sie sei auch das ein Zeichen von Pragmatismus, schließlich würden sie sich schon ewig kennen und Tomas sei ein guter Vater und zuverlässig. Doch vor allem betete Tomas Marie an, und Marie mochte, wenn sie jemand anbetete. Ich hingegen konnte es nicht ausstehen, wenn mich jemand anbetete. Nun ja, das hatte ich davon. Ich hatte einen wunderbaren Exmann, der mich zwar nicht angebetet, aber doch geliebt hatte. Sonst hatte ich nicht so viele Beziehungen gehabt, ich verliebte mich nicht leicht. Aber wenn, dann verliebte ich mich heftig und schmerzhaft. Doch der größte Schmerz war nichts im Vergleich zu dem, wie es mit Sean gewesen war.

Ich war überrascht, dass Marie immer noch diese Unbeschwertheit besaß, die ich so mochte und brauchte und die ich so vermisst hatte.

Sie war Neurologin geworden, mit einer eigenen Praxis in Paris, sie war viel unterwegs und hielt überall auf der Welt Vorträge, und nach dem zweiten Glas Wein sagte sie: »Ich werde schon noch herausfinden, was in deinem Gehirn vorgeht. Und dann bügel ich es dir zurecht.«

»Nie im Leben«, sagte ich, »da wärst du wirklich die Erste. Mein Gehirn ist resistent.«

Sie lachte und ich merkte, wie sehr ich ihr Lachen liebte, es war ein tiefes, verwegenes Gaunerlachen und passte gar nicht zu dieser gut aussehenden Frau mit den perfekten Lichtreflexen im Haar und dem lässigen Kaschmirpulli. Zugleich wusste ich aber, dass es natürlich doch zu ihr passte, und ich ahnte noch nicht einmal, wie sehr.

Wir stellten schnell fest, dass wir beide daran gedacht hatten, Fanny wiederzusehen. Marie ging es vielleicht anders, aber ich hatte etwas Angst vor einem Treffen. Menschen, die einem früher einmal nahe gewesen waren, können das Heute ganz aus dem Konzept bringen. Alles, was gerade schön gleichmäßig verläuft. Und wenn das Leben das einmal tut, und sei es nur für eine so kurze Zeitspanne, warum sollte man das Chaos reinlassen? Diese Menschen von früher können nämlich Dinge zum Vorschein bringen, die man gar nicht mehr sehen möchte, Seiten an einem selbst, die längst verschüttet waren, glücklicherweise – und Erinnerungen, auf die man lieber verzichtet hätte. Andererseits war ich mir ja auch nicht sicher gewesen, wie dieses Wiedersehen mit Marie ablaufen würde – und es war schön. Aber Marie war auch die unkomplizierteste von uns allen.

Marie erzählte mir, dass Fanny schon lange wieder in Luxemburg lebte und die Buchhandlung ihrer Mutter übernommen hatte, in der ich große Teile meiner Jugend verbracht habe. Ich wunderte mich nicht darüber, denn Fanny war schon damals eine leidenschaftliche Leserin gewesen und hatte uns immer alle mitgerissen mit ihrer Leidenschaft. So still und zurückhaltend sie auch war, so leidenschaftlich konnte sie sein, wenn sie für etwas brannte.

Wir fanden damals ja, Fanny sollte ein Restaurant eröffnen, weil wir ihren fantastischen Proviant-Sandwiches verfallen waren. Wir waren zuversichtlich, dass sie das mit dem Restaurant hinbekäme, denn wenn Fanny etwas akribisch plante, konnte man sicher sein, dass es ihr auch gelang. Sie wirkte zwar zart und verletzlich, doch man durfte sich von ihrer Seidenpapierhaut und ihren schwarzen Rehaugen nicht täuschen lassen, sie war ein Trojanisches Reh. Sie wollte das aber auf keinen Fall, Köchin werden. Ihr Traum war es gewesen, eine knallharte Anwältin zu werden, obwohl wir fanden, dass das gar nicht zu ihr passte. Aber wir konnten es ihr nicht ausreden, selbst als wir zusammen in Paris studiert haben. Das haben wir bis zu diesem einen Sommer.

Auch wenn Marie und ich an diesem Abend der Restaurant-Idee noch hinterhertrauerten, mochte ich doch die Vorstellung von Fanny inmitten der ganzen Bücher, der ganzen Geschichten, der ganzen Leben der Figuren und der Schriftsteller.

»Komm, wir kreuzen einfach bei Fanny auf«, sagte Marie.

»Aber die Buchhandlung hat doch jetzt zu, oder weißt du, wo sie wohnt?«

»Nein, du?«

Wir lachten los und fielen fast von unseren Barhockern.

Wir nur fast, aber meine Tasche fiel wirklich vom Barhocker neben mir, und mein halbes Leben verteilte sich auf dem Boden, mein furchtbar altmodisches, zerfleddertes Filofax aus schwarzem Leder mit Tausenden Zetteln und Postkarten und alten Briefen und sogar noch Telegrammen, irgendwelche Steine und Muscheln, ein abgelutschter, jahrzehntealter Schnuller, eine Legominifigur und ein Yves-Saint-Laurent-Lippenstift.

Marie kniete sich mit mir hin und wir sammelten alles auf.

»Lieber Himmel, was schleppst du bloß alles mit? Und vor allem: Aus welchem Jahrhundert kommst du?«

Sie hielt mir mein vollgestopftes Filofax vor die Nase.

»Aus irgendeinem, das sehr lange zurückliegt«, sagte ich, und plötzlich fühlte ich mich auch so.

»Ich glaub es nicht«, sagte Marie und verdrehte die Augen.