Man müsste versuchen, glücklich zu sein - Julia Holbe - E-Book

Man müsste versuchen, glücklich zu sein E-Book

Julia Holbe

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Beschreibung

Eine chaotische Kindheit, ein leeres Elternhaus und das Wiedersehen zweier Schwestern

Zwei ungleiche Schwestern treffen sich nach Jahren in ihrem Elternhaus wieder. Sie müssen sich entscheiden: verkaufen oder abfackeln? Ihre Zeitreise führt sie in die Kindheit voller verwunschener Hippie-Träume und mit dem alten, orangefarbenen R4 ihrer Mutter in die Bretagne. Bei Crêpes und Cidre unterm Sternenhimmel und einer Fahrt mit dem Boot des Vaters, die anderes endet, als geplant, werden sie von den Gesetzen ihrer chaotischen Familie eingeholt. - Ein Boot und ein Tisch, ein Fest und seine Gäste - und selbstbemalte Playmobilpferde: Manchmal ist das alles, was man braucht. Wären da nicht die großen Fragen des Lebens: Kann man sich alles sagen? Und sollte man das überhaupt? Warum könnte man nicht einfach nur versuchen, glücklich zu sein?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Julia Holbe, Jahrgang 1969, ist Luxemburgerin. Sie lebt in Frankfurt am Main und in der Bretagne. Zwanzig Jahre arbeitete sie als Lektorin für internationale Literatur im S. Fischer Verlag. Mit ihren Romanen »Unsere glücklichen Tage« und »Boy meets Girl« begeisterte sie die Leserinnen und Leser und schaffte den Sprung auf die SPIEGEL- Bestsellerliste.

Könnte man nicht einfach nur versuchen, glücklich zu sein?

Zwei Schwestern, die sich ewig nicht gesehen haben, müssen ihr Elternhaus ausräumen. Sie müssen sich entscheiden: verkaufen oder abfackeln? Ihre Zeitreise führt sie in die Kindheit voller verwunschener Hippie-Träume und mit dem alten, orangefarbenen R4 ihrer Mutter in die Bretagne. Bei Crêpes und Cidre unterm Sternenhimmel und einer Fahrt mit dem Boot des Vaters, die anders endet als geplant, werden sie von den Gesetzen ihrer chaotischen Familie eingeholt.

Julia Holbe erzählt auf unnachahmliche Weise, voller Witz und Melancholie über den Abschied von den Eltern und von den absurden Gesetzen, die eine Familie zusammenhalten. Berührend und komisch schildert sie eine Reise zurück in eine verrückte Kindheit und die Suche nach den einstigen Sehnsüchten und Träumen. Und zu sich selbst.

Unsere glücklichen Tage in der Presse:

»Wenn man ein solches Buch gelesen hat, bleibt für ein paar Sekunden Sehnsucht im Herzen und ein vages Gefühl von Glück.«

WDR 2 Lesen, Christine Westermann

»Julia Holbe hat ein schönes, leichtes und doch mit aller Kraft beschwörendes Buch über ein vergangenes Glück geschrieben.«

DERSPIEGEL, Volker Weidermann

Außerdem sind von Julia Holbe lieferbar:

Unsere glücklichen Tage

Boy meets Girl

www.penguin-verlag.de

JULIA HOLBE

MAN MÜSSTE VERSUCHEN, GLÜCKLICH ZU SEIN

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2025 Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Dieses Buch wurde vermittelt durch: Landwehr & Cie. KG

Lektorat: Bianca Dombrowa

Umschlaggestaltung: buxdesign | Lisa Höfner unter Verwendung eines Motivs von Bridgeman Images

Umschlagmotiv: Daniel Clarke

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27384-2V003

www.penguin-verlag.de

Man müsste versuchen, glücklich zu sein, und sei es nur, um ein Beispiel zu geben.

Jacques Prévert

Für Jan und für Burgi. Und für Rosi.

Das Haus

Eins

Es sah aus wie immer.

Ich fuhr den Hügel hinunter, die kurvige Straße entlang, beinahe serpentinenartig, links lag der Fußballplatz des Dorfs, wo wir oft am Wochenende rumgestanden hatten, obwohl wir gar nicht Fußball spielten. Und auch niemanden kannten, der spielte. Aber das war nicht so wild, man konnte Bier trinken und Würstchen essen, und alle waren da.

Ich fuhr die Straße weiter, sie war nicht nur kurvig, sondern auch sehr schmal, einmal hatte ich hier einen Unfall gebaut, als ich gerade meinen Führerschein gemacht hatte, ich fuhr zu weit in der Mitte und schrappte ein entgegenkommendes Auto. Der Fahrer gab mir die Schuld, und ich weiß nicht genau, ob ich schuld war, aber ich gestand sie ein.

Es war nicht mehr weit.

Als ich um die letzte Kurve bog, lag es vor mir.

Das Maison sur les collines.

Mein Elternhaus.

Meine Eltern hatten es in einer Mischung aus bourgeoisem Anfall (meine Mutter) und Hommage an Marcel Pagnol (mein Vater) Maison sur les collines genannt. Es war groß, das heißt, eigentlich waren es zwei Häuser, ein altes, das schon immer mit Efeu bewachsen war, vielleicht war es auch wilder Wein, eine riesige Glyzinie ragte bis fast zum Dach, und ein kleinerer misslungener Anbau, der schon da war, bevor wir eingezogen waren. Das Ganze stand auf einem großen Hof, der schräg abfiel in einen noch größeren Garten mit Swimmingpool, der nicht sehr groß war, eigentlich ziemlich klein, meine Mutter hatte ihn nur »die Pfütze« genannt. Sie durfte ihn nennen, wie sie wollte, denn sie hatte ihn eigenhändig gestrichen, hellblau, damit das Wasser auch blau aussah. Früher dachte ich, das Wasser sei blau. Meine Schwester Millie und ich mochten die Pfütze, die Sommer waren heiß, und in der Pfütze konnte man sich abkühlen, man konnte auf der Rutsche reinbrettern, die alt war und aus Metall, und man zerriss sich dabei oft die Badehose und konnte froh sein, wenn es nicht der Hintern war.

Die Pfütze war der Renner im Dorf. Nicht nur bei unseren Schulfreundinnen, alle Kinder im Dorf liebten sie. Jeden Nachmittag und am Wochenende kamen sie in unseren Garten zum Schwimmen, auch Kinder, die wir gar nicht kannten. Meine Schwester und ich überlegten, ob wir Eintritt verlangen sollten.

Unsere Eltern wunderten sich über unsere vielen Freunde, aber sagten nichts, so wie sie nie etwas sagten, wenn sie einfach in Ruhe gelassen werden wollten. Ich weiß nicht, ob sie so tolerant waren oder ob es sie am Ende einfach nicht interessierte.

Mein Elternhaus lag jedenfalls da, und ich hielt mit dem Auto an – ich hielt oben an der Straße, als müsse ich erst mal aus der Entfernung schauen, ob die Luft rein sei, und stieg aus, und es war mir irgendwie unheimlich.

Ich sollte mich nicht so anstellen.

Schließlich war ich vor gar nicht so langer Zeit noch hier gewesen.

Als ich meinen Vater beerdigt hab.

Und kurz davor.

Als ich meine Mutter beerdigt hab.

Das war vor einem Jahr oder so gewesen.

Nachdem sie sich ihr Leben lang glamouröse Abschiede und letzte Ruhestätten ausgedacht hatten – Seebestattungen, Flussbestattungen, ehrwürdige Hauptfriedhöfe, idyllische Birkenwäldchen –, lagen sie nach all diesen Fantasien und Flausen im Kopf auf dem vielleicht unspektakulärsten Friedhof der Welt, dem Dorffriedhof von Hostert, neben unserer Grundschule.

Ich hatte das alles geschafft, sogar, mich bei den Beerdigungen zusammenzureißen. Ich hatte kein bisschen heulen müssen. Ich hatte überhaupt noch kein bisschen geheult. Höchstens ein ganz kleines bisschen und nur auf dem Klo. Ich bin ein sehr beherrschter Mensch. Ich habe immer so viele Gefühle in den Büchern, die ich übersetze, da brauche ich nicht noch welche zu Hause. Eigentlich übersetzte ich Bücher, aber was ich mindestens genauso gerne tat, war Filme schauen. Und dabei kochen. Ich übernahm Caterings für überschaubare Veranstaltungen, Familienfeiern, runde Geburtstage oder entspannte Essen aller Art, es war verrückt, wie viel Geld die Leute für gutes Essen zahlten, das sie eigentlich auch ohne Aufwand selbst hätten machen können. Aber es kam mir entgegen. Ich lebe allein, also ohne Mann, hab ich schon immer, manche Leute behaupten, ich mache Schluss, wenn’s ernst wird, kann sein, keine Ahnung, ich liebe meine Tochter über alles, sie ist Gynäkologin und der vernünftigste Mensch, den ich kenne, und außerdem liebe ich meinen Hund.

Ich hätte die Sache nach den Beerdigungen abhaken müssen.

Aber der Tod ist nie das Ende der Geschichte.

Mit dem Tod geht es erst richtig los.

Ich hatte die Entscheidung ewig prokrastiniert.

Meine Tochter hatte recht, etwas musste mit dem Haus geschehen. Deswegen war ich hier.

Zum Ausräumen.

Und danach? Vermieten? Verkaufen? Behalten?

Ausräumen musste ich es auf alle Fälle.

Ich musste das Leben meiner Eltern ausräumen. Dieses Chaos.

Vor ein paar Tagen stand vor einem Haus in meiner Straße in der Stadt, wo ich seit Langem lebte, weit genug, aber auch nicht zu weit weg und in einem anderen Land, eine Kiste, wo »zum Mitnehmen« draufstand, und da waren ein paar Bilderrahmen drin, falsch rum, sodass man nicht sehen konnte, was für Bilder das waren, ein verkalkter Duschkopf, eine hellblaue Blumenvase, oder nein, sie war eher türkis, mit einem pinkfarbenen Stift drin, und sechs Bücher, man konnte nur zwei erkennen, Heldensagen und die Spiderwick-Geheimnisse, eine blaue Teekanne und ein Glas mit einem weißen Spielzeugpferd drin, ich glaube, es war aus Porzellan.

Ich weiß nicht, ob, und wenn ja, was aus dieser Kiste mitgenommen wurde, und ich stellte mir all die Dinge aus meinem Elternhaus vor, die ich in eine Kiste mit der Aufschrift »zum Mitnehmen« auf die Straße stellen würde. Vielleicht die Playboy-Sammlung meines Vaters, falls er die noch hatte. Er hat den Playboy wegen der guten Interviews gesammelt.

Ich versuchte, mir vorzustellen, was da noch so auf der Straße stehen würde. Es ging nicht.

Natürlich hatte ich es aufgeschoben hierherzukommen, ich wusste gar nicht, wie ich das anstellen sollte, ganz allein, ich konnte unmöglich alles beachten, durch alle Zimmer gehen, alles anschauen. Wie geht man denn vor, inventarisiert man alles und entscheidet dann, was man braucht, behalten will oder nicht, was sich gut verkaufen ließe? Und abgesehen von den praktischen Überlegungen: Wovor mir viel mehr graute, war die Frage, worauf würde ich treffen?

Überbleibsel meiner Kindheit und Jugend wahrscheinlich, alte Schulhefte, falls es die noch gab, Briefe, Tagebücher, ich war nicht sicher, wie viel meine Eltern weggeworfen hatten, aber sie hatten im Vergleich zu anderen Eltern viel weggeworfen, Dinge, die man längst vergessen hatte, Dinge aus einer anderen Zeit, Dinge aus einem anderen Leben.

Aber noch viel schlimmer, als auf die Zeugnisse des eigenen Lebens zu treffen, war es, auf die des Lebens meiner Eltern zu stoßen. Aus gutem Grund hatte ich Angst, vielleicht nicht Angst, aber zumindest Sorge, Dinge zu finden, von denen man nichts wusste und von denen man lieber auch gar nichts hätte wissen wollen. Geheimnisse. Ihre Geheimnisse. Andere Eltern hatten vielleicht gar keine Geheimnisse, die waren normal und hatten ein normales Leben geführt, ein strukturiertes, übersichtliches Leben. Alles war an seinem Platz, sie selbst wussten, wohin sie gehörten. Und die Kinder auch.

Bei meinen Eltern war alles anders. Nichts war normal. Sie hatten garantiert hundert Geheimnisse, und nicht die von der guten Sorte. Sondern die, von denen man nichts wissen wollte. Geheimnisse, die einen kaputtmachen konnten.

Aber nicht nur vor Geheimnissen muss man sich wappnen, sondern auch vor Erinnerungen.

Denn das war das Zweitschlimmste an Eltern: Sie packen einen mit Erinnerungen voll, dann lassen sie einen damit allein, und man muss sehen, wie man damit zurechtkommt. Und wenn man sie damit konfrontiert, erinnern sie sich an gar nichts.

Ich komme aus einer Familie besonders ausgeprägter Nicht-Erinnerer. Oder Erinnerungsverweigerer. Aber natürlich nur bezogen auf die problematischen Erinnerungen.

Jetzt war ich also hier.

Und meine Schwester war nicht da. Alles wie immer. Oder zumindest wie schon so lange.

Seit wann war das eigentlich so?

Es stimmt, dass alle glücklichen Familien einander ähnlich sind und jede unglückliche Familie auf ihre Weise unglücklich ist.

Und auch, wenn es bei Glück und Unglück in Familien immer auf die Perspektive ankommt, gibt es doch etwas, das alle eint, in ihrem Glück und in ihrem Unglück.

Etwas, wonach sich alle richten. Dem alle folgen. Auch wenn man längst erwachsen ist. Oder alt. Auch wenn man genug über alles nachgedacht hat.

Das, was Familien eint, geht nicht vorbei.

Es ist immer da.

Es ist das Gesetz der Familie.

Zwei

Gestern war noch alles anders gewesen.

Gestern stand ich noch in der Küche und rollte Teig aus, neben mir standen fünf Schalen Erdbeeren, im Ofen schmorte Bœuf Bourguignon, in einer Pfanne briet grüner Spargel mit Estragon, aber nur ganz kurz, denn er sollte noch auf die Quiche. Dabei schaute ich The Big Sleep. Ich schaute beim Kochen immer Filme. Oder Serien. Und ich konnte schon immer gut kochen. Wenn du irgendwas gut kannst, mach es nicht für umsonst, hatte meine Mutter immer gesagt, sie feuerte viele Weisheiten raus, aber das war eine von den sehr wenigen, die nicht so verkehrt waren. Genauso wie: Triff keine wichtige Entscheidung nach zwei Uhr nachts. Ich vermute allerdings, dass sie ein paar wichtige Entscheidungen genau dann getroffen hat.

Ich konnte Entscheidungen nicht ausstehen und versuchte, sie, wenn es irgendwie ging, zu vermeiden, nachts oder wann auch immer.

Mein Telefon klingelte.

Ich warf dem Hund eine Erdbeere hin. Er aß gerne Erdbeeren. Eigentlich aß er alles gerne.

»Was machst du jetzt mit dem Haus, Mama?«, sagte Lucie.

»Mit welchem Haus?«

Ich bewegte die Pfanne mit Spargel hin und her.

»Kochst du schon wieder?«

»Nein, keine Sorge«, sagte ich.

»Doch, ich höre es doch, Flora!« Wenn meine Tochter streng wurde, nannte sie mich bei meinem Vornamen. »Ich dachte, du hättest damit aufgehört, nach dieser Geschichte. Ich will nicht, dass wieder was passiert.«

»Ach komm, das war ein einziges Mal.« Ich lachte.

Vor Kurzem ist mir der Ofen in Flammen aufgegangen, irgendwie hat Backpapier Feuer gefangen oder so, was genau war, weiß ich nicht, und dann hatte ich mal vergessen, den Herd auszumachen, und ich musste mit einer Rauchvergiftung ins Krankenhaus, also eigentlich nur vorsichtshalber, eigentlich war gar nichts. Missgeschicke, die ständig und jedem passierten. Aber seitdem machte sich Lucie unentwegt Sorgen.

»Das ist nicht witzig. Und wahrscheinlich kuckst du dabei auch noch einen Film.«

»The Big Sleep. Ich mache gerade eine Film-noir-Retrospektive. Mach dir keine Sorgen wegen dem Kochen, ich bin doch ein Profi.«

Tatsächlich hatte ich mal eine Kochausbildung begonnen, weil ich mit meiner Schwester ein Restaurant aufmachen wollte. Als wir jung waren. Sehr jung.

»Kochen hilft dir gerade auch nicht weiter. Mir ist lieber, du übersetzt einfach nur Bücher, da kann weniger passieren. Zum Kochen bist du einfach zu schusselig.«

Das war Lucies Wahrnehmung. Nicht meine.

Außerdem fand ich, dass Kochen immer half. Genauso wie Karate.

»Sei froh, dass ich dir nicht erzählt habe, dass ich grade meinen Pilotenschein mache.«

»Ja, haha, sehr lustig.«

Ich machte tatsächlich gerade meinen Pilotenschein. Ich wollte meine Flugangst bekämpfen und mochte solche Sachen. Ich machte auch Karate. Aber heimlich, Lucie würde sich sonst ja noch mehr Sorgen machen.

»Also, die Frage war, was machst du jetzt mit dem Haus?«

»Nächste Frage!«

»Mama!«

Ich seufzte und fischte die Markknochen aus dem Bœuf Bourguignon.

»Keine Ahnung.«

»Du musst dich jetzt langsam mal kümmern. Wie lange sind deine Eltern jetzt tot? Ich krieg schon dauernd Anrufe, das Haus gammelt vor sich hin. Und wenn’s vergammelt ist, kauft es am Ende niemand.«

»So lange ist es nun auch wieder nicht her. Ein Jahr oder so.« Ich wusste natürlich genau, wie lange es her war. Es war wirklich ein Jahr oder so. »Von wem kriegst du denn Anrufe?«

»Von Anne zum Beispiel.«

Anne war die Nachbarin meiner Eltern. Gewesen. Gewissermaßen war sie es auch jetzt noch. Falls man Nachbar von jemandem sein kann, der gestorben ist.

»Wieso ruft sie denn nicht mich an?«

»Tut sie ja, hör mal deine Mailbox ab!«

»Welche Mailbox?«

Ich hörte, wie sie etwas sagen wollte, es aber nicht tat.

»Mama, ich versuche, über ernste Sachen mit dir zu sprechen. Hast du denn was von deiner Schwester gehört?«

»Meine blöde Schwester? Du weißt doch, dass wir keinen Kontakt haben.«

»Sie ist nicht blöd. Weiß sie denn überhaupt Bescheid? Wie die Lage ist?«

»Du kennst sie doch gar nicht gut genug, um zu wissen, ob sie blöd ist oder nicht. Oder wie blöd.«

Natürlich wusste meine blöde Schwester, »wie die Lage ist«. Natürlich hatte ich ihr mehrere Nachrichten hinterlassen und Briefe geschrieben. Als unsere Mutter gestorben war. Als unser Vater gestorben war. Sie hatte sich nie gemeldet. Wie schon all die Jahre davor. Vielleicht mal an Weihnachten mit nichtssagenden Weihnachtspostkarten.

»Vielleicht hat sie die Nachrichten aus irgendwelchen Gründen nicht bekommen.«

»Oder sie ignoriert sie.«

»Dann wird sie ganz sicher ihre Gründe haben. Kein Mensch ignoriert den Tod seiner Eltern einfach so.«

»Was weiß ich. Es ist nicht immer alles im Leben nachvollziehbar. Ganz besonders bei ihr. Meine blöde Schwester hatte nicht immer Gründe für ihr unmögliches Verhalten.«

»Sag nicht dauernd ›meine blöde Schwester‹, das ist irgendwie würdelos, ich meine, sie ist immer noch deine Schwester. Ihr müsst das irgendwie wieder hinkriegen, das gibt’s doch wohl nicht.«

»Sie ist blöd, sie lacht nicht bei Harry und Sally.«

Lucie seufzte.

»Warum habt ihr noch mal keinen Kontakt mehr?«

»Ich hab übrigens auch Pralinen gemacht. ›Eine Praline zu essen, ist, wie wenn dir eine Geschichte erzählt wird‹, das hast du als Kind immer gesagt. Daraufhin hab ich angefangen, Pralinen zu machen, weißt du noch? Denn Geschichten erzählen konnte ich nicht so gut.«

»Deine Pralinen sind wirklich gut.«

Ich hörte, wie Lucie schlucken musste. Sie musste immer schlucken, sobald man ihr von Essen erzählte.

»Du lenkst vom Thema ab.«

»Was war die Frage?«

»Mama, echt.«

»Das weißt du doch. Es ist kompliziert.«

Das sagte ich immer.

»Das sagst du immer, wenn du über irgendwas nicht reden willst. Erzähl noch mal.«

»Sie hat … wir haben … Du kennst doch alle Geschichten.«

Ich hatte keine Lust, darüber zu reden, und keine Lust, mich überhaupt damit zu beschäftigen. Und ich wusste auch nicht mehr, welche Geschichten ich schon erzählt hatte. Welche Geschichte es überhaupt war, die meine Schwester davon abhielt, sich zu melden. Und ob es überhaupt eine Geschichte gab. Ehrlich gesagt wusste ich es selber nicht. Ich wusste nicht, weshalb meine Schwester und ich keinen Kontakt mehr hatten.

»Du hast mir das nie erzählt. Ich hab dich schon so oft gefragt. Ich hätte nämlich gern eine Tante gehabt.«

»Du hast viele Tanten.« Ich zählte meine Freundinnen auf.

Lucie ging nicht darauf ein.

»Was ist denn gewesen? Warum habt ihr keinen Kontakt mehr? Und warum hat sie die Verbindung zu euren Eltern gekappt?«

»Es ist alles so lange her, dass ich eigentlich gar nicht mehr weiß, was genau passiert ist. Warum genau wir uns zerstritten haben. Haben wir das überhaupt? Haben wir uns nicht einfach aus den Augen verloren, wie alle normalen Geschwister? Die meisten meiner Freunde haben keine enge Beziehung zu ihren Geschwistern. Oder überhaupt keine. Manche sehen sich fast nie, ohne dass es ein Drama ist. Manche reden seit Jahren nicht mehr miteinander. Es sind wenige, die sich wirklich mögen und sich auf irgendeine Weise nahe sind.«

»Aber was ist passiert?«

»Lucie, ich weiß es nicht. Vielleicht nur eine Anhäufung von Kleinigkeiten. Meistens sind es ja nur die Kleinigkeiten. Wie in einer Ehe. Die meisten Ehen zerbrechen durch eine Anhäufung von Kleinigkeiten. Und plötzlich ist es ein Riesenberg.«

»Du warst doch nie verheiratet, Mama, du kannst da überhaupt nicht mitreden.«

»Man kann auch bei Dingen mitreden, die man selbst nicht erlebt hat.«

»Ich verstehe das nicht, Geschwister sind doch die Menschen, die man am besten auf der Welt kennt. Denen man am nächsten ist. Weil man sie seit immer kennt.«

»Du hast doch gar keine Geschwister. Du kannst das gar nicht wissen.«

»Ja, eben. Deswegen denk ich das. Außerdem hätte ich gerne welche gehabt.«

»Ich weiß auch nicht, ob das stimmt, das mit den Geschwistern. Ich hab jedenfalls das Gefühl, dass meine besten Freundinnen mehr meine Schwestern sind als meine richtige Schwester. Fremder als sie könnte mir niemand sein, zumindest niemand, den ich so lange kenne. Man braucht gar keine leibliche Familie. Die wahre Familie findet man unterwegs.«

Davon war ich überzeugt.

»Mama, mich hast du auch nicht unterwegs gefunden. Diese Diskussion läuft ins Leere. Außerdem lenkst du vom Thema ab.«

»Welches Thema? Ich muss gleich los.«

»Hör auf, du musst nicht gleich los. Das sagst du nur, wenn dir was unangenehm ist. Du hast dann dringende Termine oder willst ganz schnell verreisen.«

»Ich hab wirklich einen Termin.«

»Du musst dich jetzt endlich mal um das Haus kümmern. Überlegen, was du damit machst: verkaufen, behalten, vermieten – oder selbst dort einziehen.«

»Bist du irre, wieso sollte ich da hinziehen?«

»Ich wollte nur testen, ob du zuhörst. Du musst eine Entscheidung treffen, du kannst es nicht einfach vergammeln lassen. Egal, was du damit machst, du musst es langsam mal ausräumen. Und dann verkaufen, dann kannst du im Alter davon leben.«

»Ich muss darüber nachdenken«, sagte ich.

»Nein, du hattest lange genug Zeit zum Nachdenken.«

»Ich habe keine Lust, das allein zu machen.«

»Ein Grund mehr, mit Tante Millie Kontakt aufzunehmen.«

»TanteMillie, das klingt komisch. Außerdem meldet sie sich nicht.«

Ich hatte es schon sehr, sehr lange nicht mehr versucht.

»Dann überleg dir was. Ich hab jetzt tatsächlich einen Termin.«

»So ein Quatsch.«

»Doch, ich muss in die Praxis, ein paar Patientinnen warten auf mich, die gemerkt haben, dass Hasenspeichel nicht bei Unfruchtbarkeit hilft. Selbst wenn man den Speichel ganz frisch vom Maul eines Hasen zapft.«

Ich lachte. Lucie war Reproduktionsmedizinerin.

Ich stellte den Herd ab, nahm meine Kaffeetasse und ging auf den Balkon. Ich schaute an mir herunter. Mein Nagellack blätterte ab. Vor mir blühten pinkfarbene und rote Geranien. Früher fand ich die spießig. Jetzt mochte ich sie. Wie zäh die waren. Wackere kleine Gesellen. Um die muss man sich nicht sehr kümmern, und sie halten alles aus. Meine Mutter war eine Geranie gewesen.

Später lieferte ich das Bœuf aus, ich brauchte ewig, bis ich wieder zu Hause war, weil ich keinen Parkplatz fand, und parkte auf meinem Notparkplatz. Das war kein schlimmes Halteverbot, aber immerhin Halteverbot, und ich musste mir den Wecker stellen, damit ich den Wagen am nächsten Morgen wegfuhr, sonst riskierte man, abgeschleppt zu werden.

Als ich endlich wieder zu Hause war, setzte ich mich auf den Balkon, rauchte eine Zigarette, ausnahmsweise, trank ein Bier und hörte Radio, ein Klavierkonzert von Mozart.

Ich hatte eigentlich immer in meinem Leben Radio gehört, nur nach dem Tod meines Vaters konnte ich lange überhaupt kein Radio hören, er hat so viele Jahre Radiosendungen gemacht, ich dachte beinahe, seine Stimme würde aus dem Reich der Toten auftauchen. Ich wollte wieder zu meinem normalen Leben zurückkehren, dem Leben nach dem Tod der Eltern, dem Leben, in dem man nicht die ganze Zeit drüber nachdenken würde.

Ich wusste ja, dass seine Stimme nicht auftauchen würde. Aber insgeheim hoffte ich es. Mein Vater hatte so eine Radiostimme gehabt. Eine normale Papastimme, aber auch eine Radiostimme.

Er fehlte mir, auch wenn es schwer gewesen war, in den letzten Jahren vor seinem Tod einen richtigen Kontakt zu halten. Als meine Mutter, Féfé, noch lebte, war es unmöglich, nur zu ihm Kontakt zu haben. Und als sie gestorben war, wollte er auch sterben. Und tat das dann auch bald.

In der Zeit kurz vor seinem Tod hatte ich ihn manchmal bekocht, weil ich wusste, dass mein Vater das mochte. Und weil er sonst fast nichts mehr aß. Kochen war meine Art, Kontakt zu halten.

Ich wurde plötzlich sehr sentimental und überlegte kurz, den Plattenspieler rauszuholen. Früher hatte ich manchmal mit meinem Vater Platten gehört, wenn ich ihn besuchte. Er hatte immer mitgesungen.

Ich hatte ewig keine Platten mehr gehört.

Der Plattenspieler war das Einzige, was ich seit dem Tod meiner Eltern aus dem Haus mitgenommen habe. Ein Schneewittchensarg von Braun. Sie hatten ihn rot gestrichen.

Ich hatte ihn noch kein einziges Mal benutzt. Nicht, weil er rot gestrichen war, aber ich konnte immer noch keine Platten hören, ohne an meine Kindheit zu denken. An das Plattenarchiv meines Vaters, die Villa Louvigny, das Studio 4, den riesigen Plüschlöwen, der da drinstand, an das grüne oder rote Licht über der Tür, das einem anzeigte, ob man reindurfte oder warten musste, an die Techniker, die alle Michel hießen, an Kopfhörer und Mikros.

Seine Kindheit wird man nie los.

Und damit meine ich nicht die Schallplatten und das Ganze.

Es war schon fast dunkel.

Da hatte ich nun den Salat. Ich hatte eigentlich vorgehabt, es zu vermeiden, über all das nachzudenken. Über mein Elternhaus, das vor sich hin gammelte. Über meine Kindheit, die darin versteckt lag. Meine Vergangenheit. Eigentlich wird das Leben von der Wirklichkeit bestimmt, aber bei uns war das anders. Bei uns haben Geschichten unser Leben bestimmt.

Vor allem wollte ich auf gar keinen Fall an meine Schwester denken.

Meine Tochter hatte recht. Und sie war wirklich der vernünftigste Mensch, den ich kenne, praktisch, zupackend – sie war nicht umsonst Ärztin geworden, und obwohl ich mein Leben immer allein organisiert hatte, immer allein für alles verantwortlich gewesen war, meine Tochter allein großgezogen hatte, so konnte ich Dinge unendlich lange vor mir herschieben. Und ich musste zugeben, die Sache mit dem Haus war so was.

Mein Hund knabberte an den Geranien.

Ich schloss die Augen.

Als ich sie wieder öffnete, hatte der Hund eine ganze Geranie gegessen.

»Seit wann isst du Geranien, Jennie?«, fragte ich den Hund. »Ist das gut für dich?«

Als es dunkel war, stand ich auf, ging ins Schlafzimmer und packte meine Tasche.

Ich würde morgen losfahren.

Dann müsste ich den Wagen auch gar nicht umparken.

Drei

Im April 1974 zogen wir nach Luxemburg.

Da war ich vier Jahre alt, ging in Eschborn am Taunus in den Montessori-Kindergarten und hasste ihn. Ich hasste die Kindergärtnerinnen, die anderen Kinder, ich hasste es, morgens das Haus meiner Großeltern verlassen zu müssen.

Mein Vater moderierte zu der Zeit eine Fernsehshow, als ihm das Angebot gemacht wurde, als Sprecher bei Radio Luxemburg anzufangen. Erst viel später erfuhr ich, wie legendär dieser Sender da war, ich vermute mal, deswegen hat mein Vater das Angebot auch nicht abgelehnt.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Eltern uns je über die Umzugspläne informiert hätten, kein bisschen, nichts. Wahrscheinlich haben sie es, wie Eltern das so machen, einfach entschieden, weil wir ja eh viel zu klein waren, irgendetwas mitzuentscheiden. Ich hätte mich natürlich gegen Luxemburg entschieden, wir lebten im Haus meiner böhmischen Großeltern, die ich mehr liebte als alles andere auf der Welt. Meine Oma machte böhmische Zwetschgenknödel und Knödel mit Schmorbratenfüllung, und mein Opa ging mit mir zum Weiher Enten füttern.

Ich war vier und fand, genauso sollte mein Leben bleiben.

Weggezogen wären wir so oder so, weil meine Eltern ein Haus in Seelenberg gebaut hatten, nur aus Holz und Glas, es war fast fertig, und wir hatten genau einmal darin übernachtet. In Schlafsäcken.

Und von Seelenberg im Hochtaunus zogen wir nach Senningerberg in Luxemburg.

Meine Schwester war anderthalb.

Wir saßen zusammen mit unserer Oma ganz gequetscht in Féfés vollgepacktem R4, und wenn ich vollgepackt sage, meine ich vollgepackt, und so fuhren wir über den Hunsrück. Die Oma, die uns beim Umzug half, war nicht meine Knödelomi, sondern Féfés Mutter, die wir weniger mochten, weil sie die vernünftige Oma war, streng und gut organisiert, mit einer leeren Waschmitteltonne voll altem, langweiligem Spielzeug für uns. Die Oma, die hart mit sich war, nicht mit uns, sie trug ein Eisenkorsett, weil sie für einen Feldwebel, der sie war, ziemlich zerbrechliche Knochen hatte. Meine Mutter Féfé, die ihr Leben lang versuchte, von ihrer Feldwebelmutter loszukommen und um jeden Preis anders zu sein, war ihr im Alter dann doch immer ähnlicher geworden. Ist das immer so? Oder kann man dem entkommen?

Ich hing jedenfalls an Knödelomi. Vernünftige Omas kann man nicht gebrauchen. Sie sind sinnlos.

Ich vermute, dass Féfé froh war, von Knödelomi wegzukommen, dafür wäre sie wahrscheinlich überall hingezogen. Sie hasste meine Knödelomi, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Féfé fand, dass Knödelomi unseren Vater zu einem verwöhnten Macho erzogen hatte, was stimmte, und Knödelomi fand, dass Jürgen an allem schuld war. Vor allem an den Eheproblemen meiner Eltern. Was nicht stimmte. Das konnte man ihm nun wirklich nicht in die Schuhe schieben. Meine Schwester und ich kannten Jürgen seit immer, und weil meine Knödelomi immer wieder sagte, er sei an allem schuld, glaubte ich das auch. Ganz früher mochte ich ihn überhaupt nicht und verließ das Haus, wenn er zu Besuch kam. Er kam damals immer mit seinem wahnsinnig gut aussehenden, unglaublich lieben Freund, der eigentlich Pfarrer werden wollte. Wenn ich das Auto hörte, lief ich den Hügel hinunter, die Treppen hinab, die mein böhmischer Opa dort gebaut hatte, damit wir schneller auf unserem Schulweg waren und schneller von der Schule wieder zu Hause. Ich lief weg, weil Jürgen damals der Inbegriff der Sünde war, der Féfé zu allem Bösen verführte. Dabei musste man sie gar nicht groß verführen.

Keine Ahnung, warum ich ihn eines Tages plötzlich mochte.

Féfé und Knödelomi: Das war nichts, solange ich zurückdenken kann. Und als Knödelomi starb, viele Jahre später, kam Féfé fröhlich pfeifend durch das Gartentor. Es schien für sie ein Triumph zu sein. Über ihre Schwiegermutter. Aber vor allem über meinen Vater. Ich hingegen hing sehr an Knödelomi. Früher, bevor wir nach Luxemburg zogen, und besonders, wenn meine Eltern verreisten, und sie sind viel verreist, als wir klein waren, warum eigentlich, es konnte sich beinahe das Gefühl einschleichen, dass sie lieber zu zweit waren als mit uns zusammen, und das waren sie damals vermutlich auch, und Féfé konnte auch nicht umhin, mir, als ich bereits erwachsen war, zu erzählen, dass sie mit uns, als wir klein waren, nichts anfangen konnte. Später waren meine Eltern froh, wenn sie nicht mehr zu zweit verreisen mussten. Und wenn sie dann doch zu zweit reisten, dann reisten wir zu viert, als Familie, und das war selten genug. Und immer der Albtraum.

Wenn meine Eltern damals wegfuhren, durfte ich bei Knödelomi bleiben. Meine blöde, meine arme Schwester aber musste als Baby bei der Feldwebeloma bleiben. Warum sie uns aufteilten, wusste ich nicht, damals habe ich meine Schwester noch vermisst. Aber das Aufteilen der Schwestern auf die Großmütter, das haben unsere Eltern wirklich sehr gut gekonnt, sie haben uns so lange aufgeteilt, bis wir uns nicht mehr vermissten, bis wir froh waren, getrennt zu sein, so lange, bis wir uns fast ganz verloren hatten.

Viel später, als wir uns wiedersahen, haben wir uns mal darüber unterhalten, meine Schwester und ich, über die Reisen unserer Eltern und über das Aufgeteilt-Werden, aber vor allem über das Alleingelassen-Werden, und ich sagte, ich bin nie weggefahren, als meine Tochter klein war, bist du weggefahren, als dein Sohn klein war? Obwohl, dir würde ich es schon wieder zutrauen, aber meine Schwester sagte, so ein Unsinn, natürlich kann man wegfahren, wenn die Kinder klein sind, ich musste ja ständig reisen, und mein Mann auch, aber wir hatten ja unser Au-pair-Mädchen, stimmt, du hattest ja dieses ganze Hauspersonal, so ein Quatsch, ich hatte nur ein Au-pair und eine Haushälterin. Früher, als ich noch mehr Abendessen gegeben hatte, kam ab und zu eine Köchin, ich hätte gar keine Zeit für all das gehabt, du etwa? Stimmt, ihr habt ja immer diese Abendessen gegeben, wir waren ja nur zu zweit, meine Güte, immer zu zweit, da fehlt doch was, ja, denkst du, ich hätte mir das ausgesucht, doch, ja, das denke ich, sagte meine blöde Schwester. Meine blöde Schwester hatte recht. Dafür, dass sie so blöd war, hatte sie ziemlich oft recht. Ich hätte mit Lucies Vater zusammenbleiben können. Vielleicht wäre es einfacher gewesen. Vielleicht wäre es besser gewesen. Wir waren so verliebt, so unglaublich verliebt, dass wir zusammen ans andere Ende der Welt gegangen wären, in der Realität ging es nur bis Arlon.

Und es muss bei diesem Gespräch gewesen sein, dass mir unser Kindermädchen wieder einfiel, weißt du noch, wir hatten auch ein Kindermädchen, vielleicht wollte ich auch nur das Thema wechseln, aber nein, du erinnerst dich natürlich kein bisschen, das glaubst du ja wohl selbst nicht, wir haben sie über alles geliebt, beide, als ob ich mich nicht an Ewi erinnere, Ewi war in der Zeit alles für uns.

Féfés R4, damals war es ein roter, glaube ich, später gab es einen pinkfarbenen, und der letzte war orange mit einem schwarzen Schiebedach, hielt in Senningerberg, da war das erste Haus, das wir in Luxemburg bezogen. In der Rue des Romains Nummer 3. Es war ein Neubaugebiet. Glaub ich. Das Haus war grade fertig. Es war groß, und die Zimmer hatten bunt-goldene Tapeten. Ich fand das toll. Aber ich wusste schon damals, wenn Féfé etwas hasste, dann waren es Tapeten. Tapeten und Vorhänge. Das Haus hatte beides.

Das Beste an dem Haus aber war, dass es am Ende dieses Neubaugebiets lag und nach hinten raus in ein verwildertes Feld ging voller Ginsterbüsche und Klatschmohn.

Und das Zweitbeste war, unten im Haus, in einer offenen Garage, arbeitete Luigi, er hieß nicht Luigi, aber niemand erinnert sich an seinen Namen, er war ein alter Italiener, vermutlich war er gar nicht so alt, und was genau er machte, weiß ich nicht. Er war immer da, in seinen Arbeitslatzhosen, und hörte Radio, und ich mochte die Musik, die aus dem Radio kam, und da wusste ich noch nicht, dass er den Sender hörte, bei dem mein Vater arbeitete. Er schenkte mir LEO Schokowaffeln von LU.

Ich lief viel allein durch die Ginsterklatschmohnlandschaft, und die Welt kam mir riesig vor.

Und ich mochte Senningerberg, das Haus mit all diesen Tapeten, in dieser Zeit mochte ich auch das Liebevoll- oder auch Sorglos-vernachlässigt-Werden von meinen Hippieeltern, das den Zuwendungskokon meiner böhmischen Großeltern ablöste.

Vermutlich war ich die Einzige, die Senningerberg mochte, irgendwie spürte ich es damals schon, dass Féfé nicht nur die Tapeten und Vorhänge hasste, sondern auch und vor allem Lisa.

Wir blieben nur ein Jahr in diesem Haus. Dann zogen wir in das Haus, das mein Elternhaus ist.

Und Lisa kam mit.

Vier

Ich stand oben an der Straße, die zu meinem Elternhaus führte, und riss mich zusammen. Dann fuhr ich die ziemlich steile Einfahrt hinunter, oben stand noch unser alter Briefkasten, der nicht mehr gebraucht wurde, schon lange nicht mehr, er war rot, Féfé hatte ihn rot gestrichen, damit der Besuch und der Milchmann unser Haus fanden, es lag so versteckt zwischen Wald und Tal, dass man es schnell übersehen konnte, also sagten wir immer: Und dann seht ihr einen roten Briefkasten, bei dem roten Briefkasten müsst ihr den steilen Weg nach unten nehmen, und da liegt rechts das Haus, eigentlich sind es zwei Häuser, und dann waren schon alle so verwirrt, denn wer lebte in zwei Häusern, das klang so vornehm, dabei waren wir das Gegenteil von vornehm.

Der Milchmann legte immer zwei Liter Milch oben in den Briefkasten, und im Sommer wurde sie meistens sauer, weil niemand daran dachte, sie zu holen, oder alle zu faul waren.

Niemand, der vornehm ist, lässt die Milch im Briefkasten sauer werden.

Manche Leute dachten, wir wären mondän, und das waren wir. Féfé mit ihrem Gaultierkostüm oder selbst geschneiderten schwarzen oder pinken Wallegewändern, und meine blöde Schwester hatte das schon als Vierjährige drauf, mit ihrem goldenen Häkelmützchen und lila Ted-Lapidus-Turnschuhen, nur ich war nicht mondän, und Papa auch nicht. Papa verdiente einfach viel Geld, und er und Féfé genossen das Leben und warfen das Geld zum Fenster raus, aber vielleicht war das alles auch mehr bohème als mondän. Oder meine Eltern waren vielleicht einfach nur zwei Menschen, die alles anders machen wollten als ihre Eltern.

Anders, ja, das haben sie geschafft.

Glücklicherweise ist es ja so, dass man fast alles vergisst. Meine Schwester hatte es darin zur Perfektion gebracht. Man kann auch tausend Therapien machen, dann weiß man alles, und kann den Albtraum trotzdem nicht beenden, höchstens erklären. Aber was bringt es einem.

Von hier fiel mein Blick auf mein Elternhaus oder besser auf die zwei Häuser: Der Anbau neben dem Haupthaus war früher vermietet gewesen. Eine Zeit lang hatte dort eine Holländerin gelebt, die Betty hieß und bei der ich mal gewartet habe, als meine Eltern weg waren und ich keinen Schlüssel dabeihatte. Da war ich noch in der Grundschule. Sie ließ mich bei sich warten und gab mir Toffifee zu essen, und ich durfte mir ihre Wohnung anschauen und beneidete sie, wie sie da allein in zwei Zimmern lebte, und in einem war ein Kamin, und ich fand das toll. Wenn ich groß bin, sagte ich mir, will ich auch allein in zwei Zimmern leben, mindestens in zwei.

Davor hatte Ewi da drin gewohnt, Evelyn, Ewi – unser Kindermädchen war sechzehn, als sie zu uns kam, aus Merzig im Saarland, und Féfé und Papa verkündeten uns das, als hätten sie ein Haustier für uns gefunden.

Ewi kam aus einer großen Familie, sie hatte viele Geschwister, mehr Brüder als Schwestern, sie waren eine normale Familie, einmal haben wir sie besucht, und ich glaube, Ewis Familie dachte, wir sind einem Zirkus entsprungen, mein Vater, der beim Radio arbeitete, und meine Mutter, die eine Secondhandboutique hatte. Meine Schwester und ich fuhren manchmal mit Ewi allein nach Merzig, als sie schon ihren Führerschein hatte, und dann übernachteten wir dort und schliefen zusammen mit Ewi in einem Bett im Zimmer ihrer Schwester, und etwas Fremderes und gleichzeitig Freundlicheres habe ich vielleicht nie erlebt.

Mit ihr haben wir jedenfalls die besten Spiele gespielt, die es gab, zum Beispiel, dass wir Mäuse sind, meine Schwester, Evelyn und ich. Wir hießen Trudchen Turtelsack, Elfriede Unterbach und Klotilde Kriewinski. Die Namen hat sich Ewi ausgedacht, und schon allein dafür hätte sie eine eigene Comedyshow oder eine Vorabendserie bekommen sollen. Wir bastelten uns Briefkästen und schrieben uns Briefe, in denen wir von unserem Mäuseleben erzählten.

Meine Schwester und ich führten dieses Briefeschreiben dann mit Jean weiter. Nicht als Mäuse. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ewis Zimmer hing damals voller Jürgen-Marcus-Poster, ich weiß nicht, ob es seltsam, unheimlich oder aufregend für sie war, dass er mit uns befreundet war und uns oft besuchte. Irgendwann ist sie weggegangen, ich erinnere mich an keinen Abschied, ich habe nur gehört, dass sie versucht haben soll, sich umzubringen, aber ich kann mir kaum vorstellen, weshalb sie das hatte tun wollen. Ich konnte mir das sowieso überhaupt nicht vorstellen, weil ich sie so über alles geliebt habe und dachte, das schützt sie vor allem.

Einmal rief sie an, viel später, als ich schon erwachsen war, und erzählte, sie habe vier Kinder und gerade Brustkrebs überstanden. Ich weiß nicht, wie lange Ewi bei uns war. Es kam mir vor, als wäre sie meine ganze Kindheit da gewesen. Aber das war sie nicht. Plötzlich war sie weg, und ich habe sie nie wieder gesehen. Manchmal glaube ich, ich habe sie geträumt.

Es gingen Dinge vor sich, von denen ich nichts wusste, und meine Schwester angeblich noch weniger. Vielleicht geht das Kindern mit Erwachsenen immer so, vielleicht leben sie in Wirklichkeit in zwei verschiedenen Welten. In zwei verschiedenen Leben, Zeitebenen, Paralleluniversen, die nichts miteinander zu tun haben. Sie versuchen, sich anzunähern, aber das ist eine Sisyphusaufgabe.

Als Kind hatte ich immer das Gefühl, die Zuschauerin in einem Theaterstück zu sein, das man nicht begriff, immer wieder tauchten andere Darsteller auf, die Konstellationen änderten sich, Ewi ging, Lisa kam und blieb, und niemand wusste, welche Rolle sie eigentlich spielte. Meine Eltern bewarfen sich mit Honiggläsern, und ich wusste nicht, ob ich mir wünschen sollte, dass sie sich trennten oder zusammenblieben. Ich hatte Angst vor beidem. Wären sie allein glücklichere Menschen geworden? Oder mit jemand anderem? Sie hätten doch beide vielleicht auch jemand anderen finden können. Doch sie waren über sechzig Jahre verheiratet gewesen, ein Ehe-Theater mit zahlreichen Nebenschauplätzen, zwei Protagonisten, die weder miteinander noch ohneeinander sein konnten. Zumindest erschlossen sich weder Sinn noch Grund den Außenstehenden. Und eine Außenstehende, das war ich.

Erst viel später weiß man, was für Kinder gut ist und was für Eltern gut ist. Schweigen über Geheimnisse ist es jedenfalls nicht. Aber es gibt Dinge, über die können Eltern nicht reden, zumindest nicht mit ihren Kindern, es geht nicht anders, es geht nicht, zumindest nicht in dem Moment. Und für die Kinder fühlt sich das nicht richtig an, das Nicht-reden-Können, und es ist auch nicht richtig. Es ist furchtbar für die Eltern, es ist furchtbar für die Kinder.

Aber es geht nicht.

Eltern und Kinder sind nicht füreinander gemacht.

Fünf

Ich stand vor der Tür meines Elternhauses. Mein Hund saß neben mir und schaute, als würde er was sagen wollen.

Unter der Fußmatte lag noch immer ein Hausschlüssel, vermutlich seit vierzig Jahren. Er lag unter einer bestimmt ebenfalls vierzig Jahre alten, mittlerweile verrotteten Fußmatte, von der man fürchtete, sie würde zerfallen, sobald man auch nur drauftrat. Ein Wunder eigentlich, dass der Schlüssel noch dalag. Weil jeder das Versteck kannte.

Ich ließ ihn liegen, ich hatte meinen eigenen Schlüssel, den ich seit jeher mit tausend anderen Schlüsseln an meinem Schlüsselbund hatte, Lucie machte immer Witze, Hausmeisterin oder Gefängniswärterin, je nachdem. Den Schlüssel werde ich für immer behalten, dachte ich, auch wenn ich das Haus verkaufe, ich werde es niemandem sagen, es ist mein geheimer Schlüssel zu meiner Kindheit, niemandem würde das auffallen.

Ich sperrte auf und trat ein.

Es sah alles aus wie immer.

Der Hund beschnupperte die Hundeleine, die im Flur an der Heizung hing, und ich dachte, warum war mir das nie aufgefallen, ich war so oft da, seit unser Hund von früher tot ist, ich war so oft da, als es meinen Eltern so schlecht ging und sie vor sich hin starben, aber es ist mir nie aufgefallen, dass die Leine noch da hing.

Ich dachte, es sieht aus wie immer, aber das stimmte natürlich nicht. Verwaiste Häuser sehen irgendwann schlagartig anders aus.

Ich dachte, komisch, dass ich solche Gedanken zuvor nie hatte. Wenn ich in den letzten Jahren meine Eltern besucht habe, hab ich nie darüber nachgedacht, wie es werden würde.

Wenn ich darüber nachgedacht hätte, wäre ich vermutlich gar nicht gekommen. Vielleicht ging es meiner Schwester so.

Ich ging durch mein Elternhaus. Alles war so, wie ich es nach der Beerdigung meines Vaters zurückgelassen hatte. Mein Vater war kurz nach meiner Mutter gestorben, nicht gerade ein paar Tage danach, ganz so melodramatisch war es nicht, obwohl er das sicher gut gefunden hätte. Früher hatte er ihr überhaupt nicht irgendwohin folgen wollen, diese Anhänglichkeit kam erst im Alter. Jahre zuvor hatte er bereits beschlossen, als Erster zu gehen, und selbstverständlich war er davon ausgegangen, dass das auch so passieren würde. Doch dann starb meine Mutter zuerst.

Ein paar Jahre oder eher viele Jahre zuvor wurde unser Hund eingeschläfert. Papa war nicht dabei, weil es ihn überfordert hatte. Damals war Féfé dabei. Unser Hund war alt und konnte sich fast nicht mehr bewegen. Die Tierärztin sagte, das wird nichts mehr. Meine Eltern riefen meine Schwester und mich an, und wir kamen beide angereist. Papa und meine Schwester konnten es nicht mitansehen. Ich wollte unseren Hund nicht allein sterben lassen. Und Féfé, die immer behauptet hatte, sie mag ihn gar nicht, konnte es auch nicht. Wir waren bei ihm, als die Tierärztin ihm eine Spritze direkt ins Herz gab, und als er tot war, sagte sie einfach nur »Ja«.

Als Féfé starb, kam meine Schwester nicht angereist. Mein Vater schien sich zusammenzureißen und wartete mit mir auf ihren Tod.

Nach ihrem Tod aber fiel er in sich zusammen, er vermisste sie, und vielleicht war er auch immer noch beleidigt, dass sie sich nicht an seinen Plan gehalten hatte, oder vielleicht war er auch nur beleidigt, dass sie sich nicht mehr um ihn kümmerte. Und dann starb auch er.

Jetzt fragte ich mich manchmal, was ich mir dabei gedacht hatte, das Haus nach der Beerdigung einfach so zu lassen. Warum hatte ich nicht gleich getan, was alle Kinder nach dem Tod ihrer Eltern tun: Unterlagen sichten, persönliche Dinge sortieren, aufräumen, ausmisten, Pläne machen für das Haus. Aber wenn ich es anders gemacht hätte, wäre ich ja jetzt nicht hier.

Ich ging in die Küche, da stand noch ein Wasserglas in der Spüle, ein Senfglas mit einem verblichenen Snoopy drauf, eines von diesen Gläsern, die es später auch mit Starwars oder den Simpsons oder den Unbestechlichen gab. Das hatte ich das letzte Mal hier stehen lassen.

Die Küche hatte eine Schwingtür wie in einem Saloon, und oft genug war es hier auch zugegangen wie in einem.

Ich stand etwas unschlüssig rum.

Auf dem Esstisch lag ein Stapel Post, in den ersten Monaten nach dem Tod meiner Eltern hatte mir unsere Nachbarin die nachgeschickt, damit ich deswegen nicht kommen musste, aber irgendwann hatte sie gesagt, das lohnt sich nicht mehr, es kommt nicht mehr sehr viel, und jetzt fragte ich mich, warum überhaupt immer noch so viel Post ankam oder in welchem Zeitraum sich das angesammelt hatte, das meiste war doch abbestellt, die meisten wussten doch Bescheid, dass meine Eltern gestorben waren, aber vielleicht hatte mein Vater nicht genug Zeit gehabt, alle zu informieren, als meine Mutter gestorben war, und ich hatte vermutlich auch nicht an alle gedacht. Aber was macht man eigentlich mit Post für Tote, wirft man die einfach weg? Liest man persönliche Briefe? Muss man deren Rechnungen bezahlen?

Mein Hund sah mich unschlüssig an. Dann legte er sich mit einem resignierten Geräusch unter den Esstisch.

Ich würde die Post später durchsehen und ließ sie auf dem weißen langen Eames-Tisch liegen, dem Tisch mit den weißen Lederstühlen drum herum, »nie mehr einen langen Tisch« hatte Féfé immer gesagt, weil man immer alles beim Essen hin- und herreichen musste, das hat sie genervt, aber außer ihr hat das niemanden gestört, und da in meiner Familie Idiosynkrasien zelebriert wurden, sagte sie das immer und immer wieder. So wie mein Vater immer und immer wieder sagte, er esse kein Fleisch, und es doch aß. Mir ging das derart auf die Nerven, dass ich irgendwann sagte, wenn ich das noch mal höre, begehe ich ein Gewaltverbrechen, aber natürlich hielt meine Eltern auch das nicht davon ab, ihre Mantras in Endlosschleife zu wiederholen.

Das Esszimmer ging über ins Wohnzimmer, da stand etwas, das man eine Sofalandschaft nannte, darunter ein hellbeiger Teppichboden. Das heißt, er war mal hellbeige. Das Sofa war mit der Zeit immer weiter vorgerückt worden, um immer mehr Rotweinflecken auf dem Teppich zu verdecken, der letzte und größte war von Frank, der eines Abends mit ein paar teuren Bordeauxflaschen ankam, was meine Eltern schätzten. In einer wilden Geste landete eine Flasche im Überschwang auf dem Boden, was Féfé nicht schätzte, meinem Vater war das egal, oder er fand es sogar gut, weil er so immer die Geschichte erzählen konnte. Es wurde kiloweise Salz auf dem Teppich verteilt, man hat es trocknen lassen, weggesaugt und die Prozedur wiederholt. Ein weiteres Mantra neben dem vom langen Tisch: nie mehr einen hellen Teppichboden.

Frank war es gewesen, der das Haus gefunden hatte, und wenn wir es nicht gekauft hätten, hätte er es gekauft. Er hatte eine besondere Beziehung zum Haus, und wir hatten sie deswegen zu ihm. Er war es auch gewesen, der uns nach Luxemburg geholt hatte, meinen Vater zum Radio, deswegen liebte ihn jeder von uns auf seine Weise, und selbst in Momenten, in denen uns nichts verband, verband er uns, weil er jedem von uns sein eigenes Luxemburg gegeben hatte: meinem Vater das Funkhaus, Féfé ihr Café de Paris und meiner Schwester und mir die Europa-Schule. Und auch wenn ich die Schulzeit gehasst hatte, so liebte ich es, dass sie mich zu einer Europäerin gemacht hatte.

Vielleicht sollte ich ihn anrufen, dachte ich, und ihn fragen, ob er es nicht kaufen wollte, warum war mir das davor nicht eingefallen.

Das würde ich morgen machen.

Ich öffnete die Fenster, das Haus hatte einen komischen Geruch, anders als früher, vermutlich, weil hier niemand mehr wohnte. Früher, ganz früher, waren morgens immer die Fenster geöffnet, weil Féfé und ihre Freundinnen bis spätnachts am Esstisch saßen, rauchten und Rivaner tranken, oder weil meine Eltern Abendessen für irgendwen gaben, nein, sie »gaben« sie nicht, das hört sich zu vornehm an, vornehm war nie was bei uns, es waren einfach Abendessen, vielleicht wurde etwas mehr getrunken, geraucht, und es wurden mehr Geschichten erzählt als bei den Eltern meiner Freundinnen, danach wurden jedenfalls die Fenster aufgerissen, um den Rauch zu vertreiben.

Ich ging wieder in den Flur und dann weiter ins Badezimmer.

Ganz früher war das Bad mein Zimmer gewesen, aber wir hatten so ein winziges Badezimmer, und meine Eltern wollten ein großes mit Whirlpool oder zumindest einer richtig großen Wanne und Schnickschnack, und ich musste in ein anderes Zimmer ziehen, damit man dort das große Bad einbauen konnte. Ich zog in das ehemalige Zimmer meines Vaters. Der zog in den Anbau. Meine Schwester zog ins Zimmer meiner Mutter, und die zog ins Erdgeschoss, wo Lisa gewohnt hatte. In welchem Zimmer meine Schwester davor gewesen war, daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Ach doch, jetzt erinnere ich mich. Ein kleines Zimmer neben der Küche. Es wurde später das Ankleidezimmer, und der Katzenfressnapf stand da, manchmal so lange, bis Maden drin waren, und das Katzenklo, das nie jemand sauber machte, weil sich niemand verantwortlich fühlte und die Katze eh draußen lebte. Wir waren grauenvolle Tierbesitzer. Wir hatten auch mal Kaninchen. Keine Einzelheiten.

Das Badezimmer war der wichtigste Raum des Hauses, es war die soziale Sammelstätte, nie war man dort allein, es wurde nicht gern gesehen, wenn man zusperrte, irgendjemand hat dann den Schlüssel versteckt und uns erzählt, es gäbe keinen mehr. Meine Familie verbrachte gerne Zeit zusammen im Bad, manchmal waren alle gleichzeitig drin, zumindest war immer jemand da, der sich schminkte, die Haare föhnte oder auf dem Klo saß. Ich war die Einzige, die das nicht mochte.