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Um Gottes willen, nein. Niemals. Er liebte das Leben, er liebte mich, wir wollten in dieser Woche heiraten. Wir waren glücklich. Und Sie reden von Selbstmord... Die Nadel steckt noch in der Armbeuge. Hat sich der bekannte Mediziner tatsächlich den goldenen Schuss gesetzt? So scheint es zumindest, als die Polizei den Leichnam auf der Insel Wilhelmstein entdeckt. Doch Kriminaldirektor Michael Heller hegt Zweifel an einem Selbstmord. Er übernimmt höchstpersönlich die Leitung der Mordkommission Brassenköppe. Kindheitserinnerungen werden wach. Nur zu gut kennt Heller die Region rund ums Steinhuder Meer. Er stellt gemeinsam mit alteingesessenen Polizeibeamten und Kollegen aus der Landeshauptstadt Nachforschungen an. Die Ermittlungen lassen sie nicht nur tief in die Abgründe menschlicher Seelen blicken. Die dunkle Geschichte der Stadt wird wieder lebendig. Als Heller es noch mit vier hübschen, adeligen Damen zu tun bekommt, wird ihm das fast zum Verhängnis. Zumindest eine Katastrophe kann er verhindern...
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Seitenzahl: 207
Veröffentlichungsjahr: 2020
Manfred Henze, 1952 in der Innenstadt von Neustadt am Rübenberge geboren, trat 1970 in den Polizeidienst des Landes Niedersachsen ein. Er wirkte in über 45 Dienstjahren in fast allen Bereichen der Landespolizei. Das heutige Polizeikommissariat Neustadt leitete er 15 Jahre bis zu seiner Pensionierung 2015.
Als Polizeiführer rückte er ab 1987 regelmäßig zu Ausschreitungen am Nordufer des Steinhuder Meeres aus. Das größte norddeutsche Binnengewässer lag ihm immer sehr am Herzen.
Der Erste Polizeihauptkommissar fand schon frühzeitig vor dem Eintritt in den Ruhestand einen neuen Wirkungskreis bei der Opferhilfeorganisation WEISSER RING. Seit 2015 leitet er den WEISSEN RING in der Region Hannover.
Manfred Henze ist verheiratet, hat zwei erwachsene Söhne und wohnt in Neustadt-Poggenhagen. Er ist Mitglied in zahlreichen sozialen Vereinen und karitativen Institutionen.
„Dem ehemaligen Polizeichef ist ein interessantes und höchst unterhaltsames Buch über Polizeiarbeit in Neustadt und der Region gelungen.“
HAZ/NP-Neustadt über „Stehlen, Quälen, Morden – Das ist doch nicht erlaubt!“
Weitere Titel des Autors: Stehlen, Quälen, Morden – Das ist doch nicht erlaubt! BoD – Books on demand, Norderstedt Neuauflage ISBN: 978-3-750417-27-4
Kaffhocker BoD – Books on demand, Norderstedt ISBN: 978-3-748119-39-5
Eingemauert für die Ewigkeit BoD – Books on demand Norderstedt ISBN: 978-3-750422-82-7
Kapitel 1
Freitag, 21. August
Samstag, 22. August, mittags
Samstag, 22. August, abends
Sonntag, 23. August, morgens
Sonntag, 23. August, mittags
Kapitel 2
Montag, 24. August, morgens
Montag, 24. August, mittags
Montag, 24. August, früher Nachmittag
Montag, 24. August, später Nachmittag
Dienstag, 25. August,
Kapitel 3
Mittwoch, 26. August
Donnerstag, 27. August, vormittags
Donnerstag, 27. August, mittags
Kapitel 4
Donnerstag, 27. August, früher Nachmittag
Freitag, 28. August
Samstag, 29. August
Kapitel 5
Samstag, 29. August, später Nachmittag
Sonntag, 30. August
Kapitel 6
Montag, 31. August
Montag, 31. August, später Nachmittag
Kapitel 7
Dienstag, 1.September, vormittags
Kapitel 8
Dienstag, 1. September, nachmittags
Kapitel 9
Mittwoch, 2. September, morgens
Mittwoch, 2. September, mittags
Mittwoch, 2. September, abends
Donnerstag, 3. September
Freitag, 4. September
Kapitel 10
Samstag, 5. September
Kapitel 11
Sonntag, 6. September, morgens
Sonntag, 6. September, früher Nachmittag
Montag, 7. September, vormittags
Kapitel 12
Montag, 7. September, mittags
Montag, 7. September, nachmittags
Es kommt in Büchern selten vor, dass zwischen der Biografie des Autors und dem Vorwort, der Verfasser noch einige Zeilen an seine geschätzte Leserschaft schreibt. Mir war danach.
Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft fesselten mich im wahrsten Sinne des Wortes.
Plötzlich stand die Welt still. Ich nahm die Zeit anders wahr. Eine rasende, einzigartige Entschleunigung traf mich und dass, nachdem unsere Gesellschaft sich zuvor nur im Vorwärts- und Beschleunigungsmodus befand.
Das Virus stoppte das gesellschaftliche Leben.
Es kam mir wie die Rückkehr der Unverfügbarkeit vor.
Nun stand mir Zeit, unter anderem zum Schreiben dieses Buches, zur Verfügung.
Die Pandemie beschränkte das Leben überwiegend auf unsere eigenen vier Wände.
Ich machte die Erfahrung, dass in dieser Super-Verlangsamung des Lebens die Möglichkeit lag, noch intensiver zu sich selbst zu finden. Das Schreiben half mir dabei.
Hatte ich früher an dieser Stelle „Mit freundlichen Grüßen“ geschrieben, gesellt sich neuerdings eine schöne Kleinigkeit in unschönen Corona-Zeiten hinzu:
„Bleiben Sie gesund“
Ihr Manfred Henze November 2020
Liebe Leserinnen und Leser,
bisher kennen Sie mich als Autor, der über wahre Kriminalfälle aus der Region schreibt.
In meinen Kriminalromanen „Eingemauert für die Ewigkeit“ und „Brassenköppe“ ist die Fantasie mit mir durchgegangen. Einzig die Polizeiarbeit entspricht der Realität. Und meiner Heimat bleibe ich treu.
Der jetzige Tatort liegt in einem Seeprovinzstädtchen, dem Kaff mit sogenannten „Inhockern“ und „Brassenköppen“. Die Namen stehen für die Einheimischen am Steinhuder Meer. Nicht immer treibt das Verbrechen dabei auf der dunklen Seite der Gesellschaft sein Unwesen. Gelegentlich geraten auch hochangesehene Personen in den Fokus der Ermittlungen. In diesem Roman verbinde ich problematische Tatsachen der jüngeren und älteren Vergangenheit mit erfundenen Fallkonstruktionen von heute in einem dramatischen Kriminalfall. Auf unterhaltsame Art erfährt der Leser nebenbei Wissenswertes über die regionale und überregionale Geschichte.
Das eine oder andere mag Ihnen vertraut erscheinen. Sie glauben, die Örtlichkeit und Personen zu erkennen. Doch lassen Sie sich von mir nicht in die Irre führen. Fiktion und Realität liegen manchmal dicht beisammen. Lüge und Wahrheit unterscheiden sich gelegentlich kaum.
Es bleibt dabei:
Alles ist erstunken und erlogen,
oder doch nicht alles?
Dem Tourismusverband ist es erneut gelungen, die Stars der Musikszene zu buchen. Zum 10. Mal soll die große Mallorca-Party im Festzelt im Scheunenviertel steigen. DJs werden die Partygäste mit ihrer Show durch die Nacht bringen und ihnen ordentlich einheizen.
Partyrakete Nina Granada wird zu später Stunde auf die Bühne stürmen. Der absolute Höhepunkt: Rory Bause und Pia Olivia werden die Stimmung im Partyzelt garantiert zum Überkochen bringen.
Beste Voraussetzungen für Victorias Junggesellinnenabschied. Am nächsten Wochenende heiratet sie ihren Auserwählten. An diesem sogenannten „Festlichen Wochenende“ möchte sie mit ihren Freundinnen, wie sie es ausdrückt, „die Korken knallen lassen“, ausgelassen feiern und sich kräftig austoben.
Die Vorfreude ist riesig. Nach langem Ausschlafen, oder besser Vorschlafen, treffen sich die vier jungen Damen gegen Mittag zunächst an der Fahrradstation. Von dort soll es an dem wunderschönen, warmen Sonnentag auf dem reizvollen und beliebten Rundwanderweg ums Steinhuder Meer gehen. Ihr Proviant in der Kühlbox besteht überwiegend aus alkoholischen Getränken und Schokolade. Die vier Ladys radeln entgegen des Uhrzeigersinns los.
Die etwa 32 Kilometer lange Tour führt an zahlreichen kulturellen und vor allem landschaftlichen Höhepunkten vorbei. Sie haben sich extra Elektrofahrräder ausgeliehen, um ihre Kräfte zu schonen.
Damit sie als Junggesellinnen-Gruppe zu erkennen sind, zwängten sich alle in knallenge weiße T-Shirts. Darauf wollen sie Unterschriften von männlichen Passanten sammeln. Für die Party am späten Abend planen sie, die T-Shirts dem Bräutigam mit einem Augenzwinkern zu überreichen: „Das sind die Unterschriften unserer gemeinsamen Exfreunde“, wollen sie prahlen.
Aber das ist längst nicht alles, was die Mädels während der Meerumrundung vorhaben.
Wer wird nicht gern geküsst?
Victoria, genannt Vicky, mit ihren Freundinnen Alexandra, kurz Alex, Isabella, nur Bella gerufen, und Josephine, die sie alle nur unter Josie kennen, wollen anderen Radlern Küsse auf die Wange verkaufen. Dafür gibt es einen schönen roten Kussmund von der Braut. Die anderen Grazien haben andersfarbige Lippenstifte aufgelegt. Sie bieten ebenfalls Wangenschmatzer an. Der Preis ist eine kleine Spende. Und als Dank gibt es noch ein kleines Fläschchen „Herzklopfer“.
Die jungen Frauen merken schnell, dass auch E-Bikes einen Kräfteaufwand erfordern. Die Hitze und der Alkohol leisten ihr Übriges. Aber die jungen Damen sind durchtrainiert, standfest und halten tapfer durch.
Aufgeben ist nicht standesgemäß. Ihre Familien stammen aus der näheren und weiteren Region. Bei den Mitgliedern genießen Tradition und Herkunft einen hohen Stellenwert. Sie alle haben, im wahrsten Sinne des Wortes, Vergangenheit, teilweise über Jahrhunderte. Dies drückt sich vor allem in ihren urkundlichen Namen aus.
Vickys Personalausweis dokumentiert den Taufnamen:
Victoria Maria Elisabeth Freiin von Anhalt-Köthen.
Familiäre Beziehungen bestehen zu dem Fürstenhaus Schaumburg-Lippe. Victoria ist ein hochgewachsenes, breitschultriges, schmalhüftiges und langbeiniges Persönchen; immer farbenprächtig angezogen mit einer unglaublichen Ausstrahlung und Erhabenheit.
Der enge Freundeskreis betitelt sie häufiger mit dem Kosenamen „Die Süße“. Begründet ist dieser neckische Name nicht nur wegen ihres Aussehens, sondern sie kreiert ausgezeichnet schmeckende Schokolade. Diese weckt beim Konsumenten bisweilen Glücksgefühle und andere Leidenschaften. Bereits ihre Vorfahren lieferten die Köstlichkeiten an das Fürstenhaus. Die Herstellung hütet die Familie wie einen kostbaren Schatz.
Mit dem Deliziösen begeistert sie ihre Freundinnen, Verwandte und Bekannte. Nun dürfen auch auf der Steinhuder Meer-Umrundung entgegenkommende Radler davon kosten.
Ihre älteste Freundin ist Alex, laut Identitätsnachweis:
Alexandra Dorothea Louise Gräfin von Willburg, eine „kalte“ Schönheit. Ihre Nase zeigt ein wenig himmelwärts, ohne aber hochnäsig zu sein. Alexandras markantes Gesicht beherrschen ihre großen blauen Augen. Sie ist körperlich äußerst fit und damit ein sportliches Vorbild für ihre Gefährtinnen.
Zu nennen ist nun noch die Schöne, passend dazu ihr Name:
Isabella Emilia Adalberta Friedlinde von Bodenrode, eben aus dem Italienischen, nur Bella genannt.
Ihr reizvoller Körper macht sie begehrenswert. Sie weiß, ihre Reize, ihren Sex-Appeal, ihre Attraktivität durchaus einzusetzen.
Die bildhübsche und dazu noch intelligente Josie komplettiert das Quartett. Tatsächlich heißt sie Josephine Sophie Amalie von Hardenhorst. Unter den Vieren kann man sie als die tiefgründig Kontrollierte und Aufgeräumte beschreiben. Nach dem frühen, plötzlichen Tod ihrer Mutter Benedetta, eine in Adelskreisen hochangesehene Persönlichkeit, brach sie ihr Medizinstudium ab und übernahm die Rolle der „First Lady“ oder „Primera Dame“ derer von Hardenhorst. In dieser Funktion begleitet sie ihren Vater bei repräsentativen Anlässen. Das Haus „von Hardenhorst“ betätigt sich in der familieneigenen traditionellen Spirituosenbranche.
Selbstverständlich steuert Josie mit Miniatur-Spirituosen-Fläschchen mit hochprozentigem Inhalt aus eigenem Hause ihren Teil zur Junggesellinnen-Radtour bei. Vermutlich, weil sie von Kindheit an mit dem „Zeug“ aufgewachsen ist, verträgt sie auch am meisten. Trotzdem, oder gerade deswegen, behält sie immer noch den Überblick. Als kluge, selbstständige, scharfsinnige Dame ist sie erfahrenen, reiferen, interessanten Herren nicht abgeneigt. Davon zeugen viele Liebschaften. Offensichtich sind Jungspunde ihr nicht gewachsen.
Die Edlen, alle etwas über 30 Jahre alt, von Hause aus ein wenig verwöhnt, sind noch zu haben. Ihr überdurchschnittlich gutes Aussehen scheint die jungen Männer zu verschrecken. Ebenso wie ihre hohen Ansprüche. Noch ist ihnen nicht der Richtige über den Weg gelaufen. Wenn, dann handelte es sich höchstens um eine kurze Liaison. Über diese bewahren sie selbstverständlich Stillschweigen.
Der Hauptsitz der Familien verteilt sich in der gesamten Region. Im Sommer treffen sie sich alljährlich zum Segeln am Steinhuder Meer.
Heute durchfahren sie am späten Nachmittag mit den Rädern das südwestliche Naturschutzgebiet.
Ein junger Student führt für die Öko-Wildtierschutzstation gerade eine kleine Gruppe durch das schützenswerte Gebiet. Dabei referiert er über die dort wieder ansässigen Seeadler. Zudem berichtet er anschaulich über die Moorlandschaft. In seinen Ausführungen bleiben auch die schaurigschönen Ereignisse nicht unerwähnt, die die Fantasien der Menschen anregten.
Für die Mädchen ist es eine willkommene Abwechselung, mal eine kleine Pause einzulegen.
Mit einem abschätzenden Blick betrachten sie den Student beim Näherkommen. Der großgewachsene blonde Hüne mit den blauen Augen und dem muskulösen Körper zieht sie förmlich an. Er scheint ihre Blicke zu genießen.
Unbeirrt fährt er jedoch fort. Sein Wissen über die Natur, das Moor, die Flora und Fauna fesselt die Umstehenden. Er versteht es bestens, seine Zuhörer in seinen Bann zu ziehen.
Der junge Mann spricht von einem unheimlichen Ort, an dem gespenstische Erscheinungen den Menschen Irrlichter im Moor vorgaukeln. Diese wollen sie in gefährliche Sumpflöcher locken.
Die Gruppe hört ihm mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund zu. Ängstlich gehen sie auf der schwankenden Fläche über hölzerne Bohlenwege.
„Durch konservierende Moorsäure und unter Luftabschluss haben sich vor allen im Hochmoor organische Substanzen wie Holz und Textilien hervorragend gehalten. Aber auch Leichen ... Kommt ruhig näher!“, ruft er den jungen Frauen zu. „Ich möchte Ihnen, liebe Begleiter, etwas über die Sakrallandschaft erzählen.
Seit 12.000 Jahren haben Menschen immer wieder diese Moore aufgesucht, um Opferungen und andere religiöse Handlungen zu vollziehen. Im Landesmuseum haben wir eine Vitrine mit einer Moorleiche, unseren ‚Roten Franz‘. Er ist möglicherweise Ihr direkter Vorfahr“, sagt er mit einem Lächeln.
„Wissenschaftler rekonstruierten vom ‚Roten Franz‘ das Gesicht und bestimmten sein Alter. Wenn ich Euch jetzt in ein Sumpfloch schubse, hätten Wissenschaftler in Tausenden von Jahren ihre helle Freude daran, vier so hübsche Moorleichen zu finden.“
Die vier Mädels brechen in ein Kichern aus. Die hübsche Bella, nicht auf dem Mund gefallen, entgegnet: „Die Wissenschaftler oder schlaue Studenten haben bestimmt mehr davon, wenn man an uns im lebendigen Zustand herumexperimentiert.“
Schnell wechselt der junge Mann das Thema. Er kennt sich offenbar besonders gut mit der Ansiedlung der Fischadler aus. Als wenn sie wüssten, dass von ihnen die Rede ist, bieten die Greifvögel am blauen Himmel ein besonderes Spektakel. Sie kreisen um ihren Horst, sodass die Zuhörer mit Ferngläsern das Schauspiel direkt beobachten können.
„Liebe Teilnehmer dieser Führung, von diesem Rundweg aus werden Sie gerade Zeuge, wie die großen Vögel mit ihren riesigen Schnäbeln den Küken fürsorglich kleine Futterstückchen verabreichen. Auf dem Speiseplan stehen heute als Mahlzeiten unter anderem Fisch und Bisamratte, wie Sie just beobachten können.“
Der Student, der sich der Zuhörerschaft einschließlich der Damen erst jetzt mit seinem Vornamen Lars vorstellt, berichtet, dass die Adler zur besseren Zuordnung Namen erhalten haben. Der starke männliche Greifvogel heiße Siegfried.
Victoria scheint dem Charme von Lars besonders verfallen zu sein. Sicherlich dem Alkohol geschuldet, äußert sie kichernd und ihren Mädchen zugewandt höchst anzügliche, doppeldeutige, ja frivole und unanständige Sprüche.
„Ach Lars, schade, dass wir uns nicht schon früher über dem Weg gelaufen sind. Dann wärst du mein Siegfried und ich deine Brünhild. Und du weißt so viel über die Tierwelt. Komm doch heute Abend auch zur Mallorca-Party. Dann kannst du uns noch etwas über das ‚Vögeln‘ beibringen.“ Ihre Begleiterinnen lachten. Der Rest der Gruppe blickte eher pikiert zu Boden.
Bella flüstert etwas zu laut zu Alex:
„Der Kerl sieht ja unverschämt gut aus; ich schätze, der ist schwul.“
Das ist für die weise Josie ein Stichwort und unüberhörbar ruft sie:
„Kennt ihr den schon:
Wohin fliegt der schwule Siegfried am Abend?“
Nach kurzem Schweigen kommt von Josie selbst die Antwort: „zu seinem Horst!“
Jetzt lachen auch die anderen. Nur Lars schaut mit versteinerter Miene.
Als Josie dies bemerkt, meint sie abgeklärt:
„Tschuldigung, lieber Lars, war nicht so gemeint. Ist einfach ein alter Familienwitz. Ich heiße nämlich mit Nachnamen Hardenhorst.“
Der Rundgang ist beendet. Nur schwer können sich die vier Frauen von Lars trennen.
Das Ziel der Freundinnen rückt näher. Entlang der Meerbruchwiesen, wo Landwirte Wasserbüffel für die Pflege von Tümpeln einsetzen, rollen sie durch das Hagenburger Moor.
Auf den Wiesen grasen Tausende von Graugänse. Da ist es manchmal gar nicht vorstellbar, in welch großen Schwärmen und mit welchem Lärm diese wilden Gänse auf den Feldern und Wiesen einfallen. Nun überqueren die Damen den Hagenburger Kanal, genehmigen sich noch einen Flachmann unter der Hütte am Aussichtspunkt und radeln am Meer entlang über die Lütje Deile zum Fahrradverleih zurück.
Gemächlichen Schrittes schlendern sie lauthals durcheinanderredend zum Alten Winkel. Dort besitzt Victoria zwar ein kleines, aber recht komfortables Ferienappartement.
Beine hochlegend, die Fahrt quasselnd Revue passierend, Gedanken an Lars verschwendend, schütteln sie die müden Glieder aus.
Und ähnlich wie zuvor die Schmetterlinge in der nahe gelegenen Schmetterlingsfarm durchleben auch sie eine Verwandlung. Aus den verschwitzten Mädchen werden wunderschöne, begehrenswerte Exemplare. Dafür heißt es: duschen, schminken, aufhübschen!
Das sonst übliche „Vorglühen“ entfällt. Schließlich haben sie unterwegs schon reichlich gebechert. Das ständige, kurze Piepen der Handys deutet auf eine rege Unterhaltung hin. Schnell wird per WhatsApp geklärt, wer noch abends ins Zelt kommt. Und auch die Begegnung mit Lars bleibt nicht unerwähnt.
Die vier Grazien schreiten majestätisch, um Punkt 21 Uhr, ins Festzelt. Sie ziehen die Blicke der Männer auf sich. „Hallo“ hier, „Bussy“ da. Unauffällig taxieren sie die weiblichen Konkurrentinnen. Sie genießen die Aufmerksamkeit.
Jetzt geht die Party ab. Das heißt Spaß haben, tanzen, flirten und trinken.
Jede Partygruppe steckt ihr eigenes Hoheitsgebiet ab. Victorias Zukünftiger hat mit seinen Freunden schon einen Tisch in Beschlag genommen und freigehalten. Nach und nach trudeln weitere Freunde, Bekannte, aber auch Möchtegern ein, die auf Anmache aus sind.
Victorias Bräutigam ist eigentlich nicht so der Party-Typ. Obendrein ist er seit einem Motorradunfall vor etlichen Jahren leicht gehandicapt. Sein eines Bein ist durch die zahlreichen Brüche minimal verkürzt., was beim Tanzen unmerklich hinderlich ist.
Die Gruppe schätzt den Verlobten aber als einen sehr anregenden, interessanten, klugen Gesprächspartner. Zudem ist er mit seinen markanten Gesichtszügen und den langen, schwarzen, zum Zopf gebundenen Haaren überaus attraktiv.
Haarklein berichten die Junggesellinnen von ihrer Radtour rund ums Meer. „Damit dir Vickys Ex-Freunde in Erinnerung bleiben“, überreichen sie lachend ihre T-Shirts mit den gesammelten Unterschriften. Belustigt nimmt sie der Heiratskandidat an.
Die Mädels hatten während der Fahrrad-Exkursion bezüglich des Alkoholgenusses gut vorgelegt. Das spiegelt sich auch in punkto Ausgelassenheit wider. Wie aufgedrehte Hühner hüpfen sie herum.
Ein Gespräch zwischen den Verlobten kommt nur bruchstückhaft zustande. Der zukünftige Bräutigam brüllt ihr ins Ohr, dass er Sonntagmorgen noch einmal zum Wilhelmstein segelt. Er habe einen Termin mit dem Inselvogt und dem Inselwirt vereinbart, um die letzten Einzelheiten der Hochzeit zu besprechen.
Victoria nickt ihm zustimmend zu. Tosender Applaus brandet im Festzelt auf. Der erste Auftritt von Nina Granada macht eine weitere Verständigung unmöglich.
Jetzt hält die Mädels nichts mehr am Tisch; sie hüpfen, klatschen und singen.
Kurz nach Mitternacht winkt der glückstrahlende Bräutigam seiner Holden zu, zeigt auf sein Handy und verabschiedet sich von Victoria mit einer „Gute-Nacht-SMS“. Um 6 Uhr beginnt sein 24-Stunden-Bereitschaftsdienst in der hiesigen Fachklinik für Psychiatrie im Kreiskrankenhaus. Davor will er sich noch einige Stunden Schlaf gönnen. Der Herr Doktor residiert noch in einem eigenen Nobel-Appartement im Nachbarort. Da er keinen Alkohol getrunken hat, steigt er in seinen knallroten Porsche.
Das Zelt tobt. Der in Strömen fließende Alkohol trägt ebenfalls zur bombastischen Stimmung bei. Auf der Tanzfläche nähert sich der Gemütszustand dem Siedepunkt, und die vier Adeligen tanzen hemmungslos ab.
Victoria, berauscht von der Musik und der Szenerie, nimmt plötzlich das hektische Winken ihrer Freundinnen wahr. Wie aufgescheuchte Hühner mit den Armen fuchtelnd, zeigen sie auf eine Person, die Victorias Herz höherschlagen lässt.
Da erscheint tatsächlich der „Siegfried“-Lars wie ein Adonis aus dem Nichts. Victoria schlägt sich zu ihm durch und umarmt ihn, als wenn sie sich schon Jahre kennen.
Eng umschlungen tanzen sie rhythmisch zu der Ballermann-Musik. Sie lassen sich nicht mehr aus den Augen, und die Freundinnen gönnen ihr noch einmal dieses Vergnügen.
Als dann noch Rory Bause und Pia Olivia ihre bekannten Partykracher singen, gerät das Festzelt in Ekstase.
Die Freundinnen verlieren Victoria und Lars aus den Augen.
Auf dem Weg zum Toilettenwagen sieht Josie die hübsche Bella mit einem jungen Mann knutschend vor dem Zelteingang.
Kurz angetippt fragt sie Bella, ob sie Vicky gesehen hat.
Die kurze Antwort: „Ja, lustwandelnd mit ihrem Lover in Richtung Promenade geschlendert.“
Nach dem Toilettengang geht Josie nicht sofort ins Zelt zurück, sondern schleicht suchend in Richtung Promenade.
Stöhnende Geräusche auf dem Spielplatz in einem Kinderhaus wecken ihre Neugier. Sie erblickt Victoria und Lars, die sich dort im warmen Sand wälzen.
Sie hofft, dass ihre Freundin sie nicht vernommen hat. Vorsichtig entfernt sie sich wieder.
„Was soll´s!“, denkt Josie.
Als sie wieder ins Festzelt zurückkehrt, hat auch Bella ihr offensichtlich kurzes Techtelmechtel beendet. Ausgelassen feiern sie bis in die Morgenstunden.
Erst gegen 11 Uhr erwacht Victoria in ihrem Bett, ziemlich verkatert mit Kopfschmerzen. Die Nacht, der Alkohol, das Drumherum haben ihr erheblich zugesetzt. Sie schleppt sich in die Küche und nimmt ihr bewährtes Frühstück ein: ein Glas warmes Wasser, eine Aspirin, eine Zigarette.
Sie greift zum Handy und schreibt ihrem Zukünftigen eine mit zärtlichen Worten gespickte WhatsApp. Sie plagt ihr schlechtes Gewissen. Nervös wartet sie auf eine Antwort.
Erst eine Stunde später vibriert ihr Handy. Ihr Verlobter antwortet kurz angebunden in wenigen Worten. Er ist offensichtlich in der Klinik stark gefordert und hat keine Zeit für eine liebevolle Erwiderung.
Victorias Schuldgefühle nehmen immer mehr zu.
Sollten etwa ihre Freundinnen ihre Missetat gepetzt haben? Das könnte eine Erklärung für die knappe Antwort sein. Panik steigt langsam in ihr auf. Sie fürchtet sogar eine Absage der Hochzeit.
Konfuse Gedanken kreisen durch Vickys schmerzenden Kopf. Die Bilder der Nacht ziehen an ihrem geistigen Auge vorbei.
Das Wälzen mit Lars im warmen Sand, das Wonnegefühl, der Alkohol, der alles in einem Rausch erscheinen lässt. Plötzlich taucht der starre, erschrockene Blick von Josie auf, die sie in dieser verfänglichen Situation überrascht und beobachtet hat. Wie peinlich!
Hat Josie etwa den Freundinnen oder womöglich noch anderen alles schon brühwarm erzählt?
Die Ungewissheit lässt sie zum Handy greifen.
Als Josie Vickys Stimme wahrnimmt, fängt sie an zu sticheln:
„Na, meine Kleine, meine holde Freiin von Anhalt-Köthen, wie war er? Deinen Geräuschen nach zu urteilen, hattest du offensichtlich deinen Spaß.
Wolltest wohl ein letztes Mal deine Freiheit genießen.“
Vicky stockt der Atem. Sie hört diese Schmach, diese Erniedrigungen, befürchtet Indiskretionen. „Was mache ich bloß“, sucht sie nach einem Ausweg.
Ein Geistesblitz zuckt durch ihren Kopf.
„Josie, wie kannst du nur. Du bist doch meine beste Freundin. Ich weiß auch nicht, was gestern passiert ist. Ich bin, als es schon hell wurde, auf dem Spielplatz aufgewacht. Neben mir meine Hose und auch mein Slip ... Es muss in der Nacht etwas Schreckliches passiert sein. Ich habe mich schnell angezogen und bin nach Hause gelaufen. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich mit Lars getanzt habe. Dann fragte er mich, ob wir draußen frische Luft schnappen wollen. Mehr weiß ich nicht. Ich bin völlig fertig. Bitte, bitte, kannst du jetzt zu mir kommen. Ich brauche Hilfe.“
Josie schämt sich für ihr plumpes Gerede. „Ich komme sofort“, verspricht sie ihrer Freundin. Ihr Chalet liegt nur wenige Straßen entfernt.
Verheult öffnet ihr Vicky die Tür. Josie schimpft vehement über Lars: „Vielleicht hat dir Lars K.-o.-Tropfen in dein Getränk gemischt?“ Sie fühlt sich mitschuldig. Hatten sie den Naturburschen mit ihren Anzüglichkeiten zu sehr gereizt oder aufgestachelt? Er ihre Sprüche gar als Aufforderung verstanden?
Diese Gedanken helfen nicht weiter. „Du musst zur Polizei gehen“, sagt die besonnene Josie.
Sie spürt bei Vicky eine leichte Abwehrhaltung: „Im Moment habe ich dafür den Kopf nicht frei. Die Hochzeit steht an, die vielen Vorbereitungen. Und dann noch eine Anzeige wegen Vergewaltigung. Da muss ich doch alles ganz genau schildern. Ich kann mich aber doch an nichts erinnern. Mir ist die ganze Sache unangenehm. Und dann heißt es bestimmt: ‚Aussage gegen Aussage‘. Das stehe ich im Moment nicht durch.“
Josie versteht die Ausnahmesituation, in der Vicky derzeit steckt.
Josie hatte vor zwei Jahren ein Medizinstudium begonnen. Dieses schmiss sie nach zwei Semestern bereits wieder hin. Seitdem besteht ihre einzige „berufliche“ Tätigkeit darin, ihren Vater zu begleiten. Sie lebt vom Geld des Spirituosenverkaufs. Während des Studiums besuchte sie an der Medizinischen Hochschule in Hannover (MHH) ein Seminar, in dem es um die kostenfreie und vertrauliche Dokumentation und Beweissicherung bei sexueller Gewalt ging. Ihr fällt auch spontan der Name wieder ein: Netzwerk „ProBeweis“.
„Vicky, die Ärzte können dort Spuren und auch Verletzungen sichern und sachkundig dokumentieren, um diese später in einem eventuellen Strafverfahren einbringen zu können.
Lass uns einfach dort hinfahren und diese Möglichkeit für die Zukunft nutzen. Wenn du dann später doch noch eine Anzeige erstatten willst, kann man darauf zurückgreifen.“
„Liebe Josie, ich habe aber heute in aller Frühe noch schnell geduscht. Ich habe mich so geekelt. Wahrscheinlich kann man nun gar nichts mehr sichern.“
„Doch, Vicky, kleinste Verletzungen kann man noch feststellen. Wenn du deinen schmutzigen Slip noch hast, nehmen wir den auch mit.“
Entkräftet gibt Vicky nach langer Diskussion auf.
Dabei hat sie völlig ihren Verlobten vergessen.
Auf dem Weg zur MHH schreibt sie ihm schnell noch ein paar belanglose Zeilen. Wohin sie fährt, verschweigt sie.
Josies Vorschlag erwies sich wieder einmal als richtig. Vicky lässt das ärztliche Gespräch beherrscht über sich ergehen, ebenso die Fotodokumentation von leichten Kratzspuren auf ihrem Rücken, minimalen blauen Druckstellen auf den Oberarmen sowie Rötungen an den Innenschenkeln. Diese entstanden offensichtlich durch die Reibung mit Sand. Die Ärztin stellt am Slip zudem Spermaanhaftungen fest und sichert sie.
Die Medizinerin erläutert abschließend, dass alle gerichtsverwertbaren Beweismittel drei Jahre lang aufbewahrt werden.
Den gesamten Rückweg reden die beiden Frauen miteinander. Es scheint ihnen eine Last genommen. Aber zum Feiern ist ihnen nicht mehr zumute. Eigentlich hatten alle Vier beabsichtigt, am Abend das Höhenfeuerwerk anzuschauen und erneut zu feiern.
„Setz mich bitte zu Hause ab, Josie. Ich möchte ein wenig allein sein “, wünscht Vicky.
„Aber wenn irgendetwas ist, ruf an“, bittet Josie. „Ich sage den anderen, dass du fürchterliche Kopfschmerzen hast und dir übel ist.“
Schon nach kurzer Zeit hält Vicky es in ihrem kleinen Ferienappartement nicht mehr aus. Sie fühlt sich eingesperrt. Ihr fehlt die Freiheit und Weite des Meeres.
Rasch packt sie eine Pikkoloflasche Sekt in ihre Kühlbox, kauft sich unten an der Straße bei einer Aalräucherei noch ein Fischbrötchen mit Matjes und radelt zum Clubhaus.
Alle vier Frauen sind Mitglied im Lippisch-Fürstlichen-Yachtclub. Der Name der Vereinigung zeugt von der historischen Verbindung zwischen Adel und der Seeprovinz.
Der Yachtclub besitzt Liegeplätze für Boote an festen Stegen. Dort befindet sich der Querschnitt an Bootstypen, die auf dem Steinhuder Meer zulässig sind, vom Kleinkajütboot über die Jollenkreuzer bis zu den Kielbooten.
Die vier jungen Frauen bevorzugen die Segeljolle Schwertzugvogel. Eine stabile, sichere und gutmütige Jolle, die für das flache Steinhuder Meer geeignet ist. Sie segeln oft gemeinsam abends. Bei Flaute trifft man sich gern auf der Veranda und genießt zusammen ein mehrgängiges Menü mit einem kühlen Getränk.
Entschleunigen auf dem Meer, auf ihrem geliebten Boot, das scheint momentan das richtige Rezept für Vicky zu sein.