Brennende Finsternis - Gail Carriger - E-Book

Brennende Finsternis E-Book

Gail Carriger

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Beschreibung

Ohne dass irgendjemand dafür eine Erklärung hätte, verlieren sämtliche Vampire und Werwölfe in London ihre übernatürlichen Fähigkeiten. Lady Alexia hält es nicht nur für ihre Pflicht, sondern nachgerade für ihr Recht, ihren Ehemann, dem Chefermittler der Queen für übernatürliche Angelegenheiten, bei dessen Untersuchungen zu unterstützen. Schließlich sind sie frisch verheiratet, und Alexia ist nicht bereit, ihren geliebten Werwolf bereits wieder zu teilen …

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Gail Carriger

Brennende Finsternis

Roman

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Changeless« bei Orbit, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.1. Auflage

Deutsche Erstausgabe August 2011

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Tofa Borregaard

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlagmotiv: © Illustration Max Meinzold/HildenDesign, unter Verwendung von Motiven von Yaro/Shutterstock

Redaktion: Peter Thannisch

HK · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-05794-7V002www.blanvalet.de

1

Alexia ärgert sich über Zelte und Ivy hat etwas bekannt zu geben

Sie sind was?!«

Lord Conall Maccon, der Earl of Woolsey, brüllte. Laut. Das durfte man von Lord Maccon auch erwarten, da er generell ein Gentleman der lauten Sorte war – die ohrenbetäubende Kombination aus kräftigem Lungenvolumen und einem mächtigen, breiten Brustkorb.

Alexia Maccon, Lady Woolsey und Muhjah, der Königin Großbritanniens außernatürliche Geheimwaffe der Extraklasse, erwachte blinzelnd aus einem tiefen und wohligen Schlummer.

»Ichwarsnicht«, murmelte sie sofort, ohne auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung zu haben, worüber sich ihr Gemahl so aufregte. Natürlich war sie es für gewöhnlich doch, aber es hatte keinen Sinn, gleich ein Geständnis abzulegen, gleichgültig, welche Laus ihm diesmal über die Leber gelaufen war. Alexia kniff fest die Augen zu und wühlte sich tiefer in die wohlige Wärme der Daunendecke. Konnten sie denn nicht später darüber streiten?

»Was meinen Sie mit verschwunden?« Das Bett erzitterte leicht unter der bloßen Lautstärke von Lord Maccons Gebrüll. Das Erstaunliche daran war, dass er auch nicht annähernd so laut war, wie er sein konnte, wenn er sich wirklich ins Zeug legte.

»Nun ja, ich hab ihnen jedenfalls nicht gesagt, sie sollen verschwinden«, murmelte Alexia in dem Versuch, sich zu verteidigen, in ihr Kopfkissen. Sie fragte sich, wer »sie« wohl waren. Dann dämmerte ihr allmählich die Erkenntnis, auf eine verschwommene, watteweiche Art und Weise, dass er gar nicht sie anbrüllte, sondern jemand anderen. In ihrem Schlafzimmer.

Du liebe Güte.

Es sei denn, er brüllte sich selbst an.

Du liebe Güte!

»Was, alle?«

Alexias wissenschaftliche Seite wunderte sich träge über die Kraft von Schallwellen – hatte sie nicht vor Kurzem eine Publikation der Royal Society zu diesem Thema gelesen?

»Alle auf einmal?«

Lady Maccon seufzte schwer, rollte sich zu dem Gebrüll herum und hob eines ihrer Augenlider einen Spaltbreit. Ihr Blickfeld wurde vom breiten, nackten Rücken ihres Gemahls ausgefüllt. Um mehr sehen zu können, würde sie sich aufsetzen müssen. Und da sie das vermutlich noch mehr kalter Luft aussetzen würde, sah sie davon ab, sich aufzusetzen. Was sie allerdings bemerkte, war, dass die Sonne noch gar nicht richtig untergegangen war. Warum war Conall so hellwach und lautstark zu dieser abnorm frühen Stunde? Denn wenngleich es auch nichts Ungewöhnliches war, dass ihr Ehemann herumbrüllte, so war es das sehr wohl, wenn er es in den späten Nachmittagsstunden tat. Der un-menschliche Anstand gebot, dass sich sogar der Alpha-Werwolf von Woolsey Castle um diese Tageszeit ruhig zu verhalten hatte.

»Innerhalb welcher Reichweite genau? So weit kann es sich nich ausgedehnt haben.«

Ach herrje, sein schottischer Akzent kam zutage. Das verhieß nie etwas Gutes.

»In ganz London? Nicht? Nur das gesamte Ufer der Themse und der Stadtkern? Das ist einfach nicht möglich!«

Diesmal vernahm Lady Maccon eine leise gemurmelte Antwort auf das letzte Gebrüll ihres Mannes. Nun ja, beruhigte sie sich selbst, wenigstens war er nicht völlig plemplem geworden. Doch wer würde es wagen, Lord Maccon zu solch einer gottlosen Stunde in seinen Privatgemächern zu stören? Erneut versuchte sie, an seinem Rücken vorbeizuspähen. Warum musste er auch nur so kräftig gebaut sein?

Sie setzte sich auf.

Alexia Maccon war bekannt für ihre königliche Haltung. Das war aber auch so ziemlich alles, was die feine Gesellschaft Positives über sie verlauten ließ. Man hielt ihr Aussehen gemeinhin für zu dunkel, um ihr – abgesehen von ihrem Rang als Lady – allzu viel Anerkennung zu zollen. Alexia hatte stets gehofft, eine gute Haltung könnte ihre körperlichen Makel übertünchen. An diesem Morgen allerdings behinderten sie Decken und Kissen, und es gelang ihr nur, sich ungelenk auf die Ellbogen gestützt aufzurappeln, das Rückgrat schlaff wie eine gekochte Nudel.

Alles, was sich ihr nach dieser übermenschlichen Anstrengung enthüllte, war ein zarter Silberhauch und der schwache Umriss einer menschlichen Gestalt: die Ehemalige Merriway.

Die Ehemalige Merriway murmelte irgendetwas, während sie sich im Halbdunkel angestrengt bemühte, vollständig zu erscheinen. Sie war ein höfliches Gespenst, verhältnismäßig jung und gut erhalten und noch bei völliger geistiger Gesundheit.

»Ach, um Himmels willen!« Lord Maccon schien nur noch wütender zu werden. Lady Maccon kannte diesen speziellen Tonfall nur zu gut – für gewöhnlich richtete er sich gegen sie. »Aber es gibt auf dieser Erde nichts, das so etwas bewirken könnte!«

Die Ehemalige Merriway sagte wieder etwas.

»Wurden denn alle Tageslicht-Agenten zurate gezogen?«

Alexia lauschte angestrengt. Das ohnehin mit einer leisen, lieblichen Stimme gesegnete Gespenst war nur schwer zu verstehen, wenn es auch noch absichtlich den Tonfall dämpfte. »Ja, und sie haben ebenfalls keine Ahnung …« Das oder etwas in der Art sagte die Ehemalige Merriway.

Der Geist schien sich zu fürchten, was Alexia noch mehr Grund zur Beunruhigung bescherte als Lord Maccons Zornesausbruch (zu solchen kam es ja leider häufiger). Es gab nur wenig, was jemandem, der bereits tot war, Furcht einflößen konnte, vielleicht mit Ausnahme einer Außernatürlichen. Doch selbst die seelenlose Alexia war nur unter sehr besonderen Umständen gefährlich.

»Was, überhaupt keine Ahnung? Also gut.« Der Earl warf die Bettdecke beiseite und stieg aus dem Bett.

Mit einem schockierten Aufkeuchen waberte die Ehemalige Merriway herum und wandte dem völlig nackten Mann ihren durchscheinenden Rücken zu.

Alexia wusste diese höfliche Geste zu schätzen, wenn auch nicht Lord Maccon. Höflich bis auf die Knochen, die arme kleine Merriway. Oder was von ihren Knochen noch übrig war. Lady Maccon hingegen war nicht so zurückhaltend. Ihr Ehemann hatte eine ausgesprochen ansehnliche Rückseite. Das hatte sie ihrer schockierten Freundin Miss Ivy Hisselpenny gegenüber auch schon erwähnt, bei mehr als einer Gelegenheit. Es war vielleicht viel zu früh, um wach zu sein, aber es war nie zu früh, um etwas von diesem Format zu bewundern.

Ihr Ehemann strebte auf sein Ankleidezimmer zu, und das wunderbar ergötzliche Körperteil verschwand aus ihrem Blickfeld.

»Wo ist Lyall?«, bellte er.

Lady Maccon versuchte, wieder einzuschlafen.

»Was?! Auch fort? Verschwinden denn jetzt alle um mich herum? Nein, ich habe ihn nicht fortgeschickt …« Eine Pause. »Ach ja, Sie haben völlig recht. Das habe ich. Das Rudel …«, blubb, blubb, blubb, »… sollte an der …«, blubb, blubb, »… Station ankommen«. Platsch. »Müsste er nicht inzwischen wieder zurück sein?«

Allem Anschein nach wusch sich ihr Mann gerade, da sein Gebrüll immer wieder von planschenden Geräuschen unterbrochen wurde. Alexia lauschte angestrengt nach Tunstells Stimme. Ohne seinen Kammerdiener war ihre lautstärkere Hälfte stets dazu verdammt, schrecklich unordentlich auszusehen. Es war niemals eine gute Idee, den Earl sich unbeaufsichtigt ankleiden zu lassen.

»Also gut, dann. Schicken Sie schnellstens einen Claviger nach ihm aus.«

An diesem Punkt verschwand der Spektralleib der Ehemaligen Merriway.

Conall erschien wieder in Alexias Blickfeld und nahm seine goldene Taschenuhr vom Nachttischchen neben dem Bett. »Natürlich werden sie das als Beleidigung auffassen, aber daran ist nichts zu ändern.«

Ha, sie hatte recht gehabt! Er war fast nackt und trug nur einen Mantel. Kein Tunstell also.

Zum ersten Mal an diesem Morgen schien sich der Earl an seine Frau zu erinnern.

Alexia stellte sich schlafend.

Conall schüttelte sie sanft und bewunderte dabei sowohl das üppige Durcheinander tintenschwarzer Locken als auch ihr geschickt vorgetäuschtes Desinteresse. Als sein Schütteln drängend wurde, blinzelte sie unter langen Wimpern hervor zu ihm hoch.

»Guten Abend, mein Liebling!«

Aus leicht geröteten braunen Augen funkelte Alexia ihren Gemahl an. Dieses Herumgealbere am frühen Abend wäre bei Weitem nicht so schlimm gewesen, hätte er sie nicht zuvor schon den halben Tag lang wachgehalten. Nicht, dass diese Betätigung unangenehm gewesen wäre, sondern einfach nur überschwänglich und ausgedehnt.

»Was hast du vor, werter Gemahl?«, fragte sie mit butterweicher, von Argwohn durchtränkter Stimme.

»Entschuldige vielmals, meine Liebste!«

Lady Maccon hasste es, wenn ihr Mann sie seine »Liebste« nannte. Es bedeutete, dass er etwas vorhatte, ihr aber nichts darüber erzählen wollte.

»Ich muss heute Abend früh ins Büro hetzen. Unvermittelt hat sich eine wichtige BUR-Angelegenheit ergeben.« Aufgrund des Mantels und der Tatsache, dass sich seine Eckzähne zeigten, folgerte Alexia, dass er das mit dem Hetzen wörtlich meinte, und zwar in Wolfsgestalt. Was auch immer vor sich ging, erforderte offenbar dringend seine Aufmerksamkeit. Lord Maccon zog es für gewöhnlich vor, das Büro bequem und stilvoll in der Kutsche zu erreichen und nicht im Pelz.

»Ach ja?«, murmelte Alexia.

Der Earl zog die Bettdecke hoch und deckte seine Frau wieder warm zu. Die Berührung seiner großen Hände war unerwartet sanft. Als er seine außernatürliche Gemahlin berührte, verschwanden die langen Eckzähne. In diesem kurzen Augenblick war er sterblich.

»Triffst du dich heute Abend mit dem Schattenkonzil?«, fragte er.

Alexia überlegte. War heute Donnerstag? »Ja.«

»Dann hast du eine interessante Sitzung vor dir«, stachelte der Earl ihre Neugier an.

Alexia setzte sich auf und machte all sein ordentliches Zudecken zunichte. »Was? Warum?« Die Bettdecke rutschte hinunter und enthüllte dabei, dass Lady Maccons Vorzüge beachtlich und nicht von modischer Kunstfertigkeit wie einem ausgestopften Korsett oder einem zu engen Mieder hervorgebracht wurden. Trotz seiner nächtlichen Vertrautheit mit dieser Tatsache neigte Lord Maccon dazu, Alexia bei Tanzveranstaltungen auf einen verschwiegenen Balkon zu ziehen, um nachzuprüfen und sich »zu vergewissern«, dass das auch immer noch der Fall war.

»Es tut mir wirklich leid, dich so früh geweckt zu haben, meine Liebste.« Da war dieser verhasste Ausdruck schon wieder. »Ich verspreche dir, dass ich es am Morgen wiedergutmache.« Anzüglich wackelte er mit den Augenbrauen und beugte sich zu einem langen Kuss zu ihr hinunter.

Schäumend stemmte sich Lady Maccon erfolglos gegen seine breite Brust.

»Conall, was ist los?«

Doch ihr sie in den Wahnsinn treibender Werwolf von einem Ehemann war bereits aus dem Zimmer verschwunden.

»Rudel!« Sein Brüllen hallte durch den Korridor. Wenigstens hatte er diesmal – zumindest dem Anschein nach – Rücksicht auf sie genommen, indem er vorher die Tür schloss.

Alexia und Conall Maccons Schlafzimmer nahm die gesamte Fläche eines der höchsten Türme von Woolsey Castle ein, der zugegebenermaßen eher ein würdevoller Hubbel oben auf einer der Außenmauern war. Trotz dieser verhältnismäßig isolierten Lage war das Gebrüll des Earls fast im ganzen riesigen Gebäude zu vernehmen, sogar unten im hinteren Salon, wo seine Schlüsselwächter gerade ihren Tee zu sich nahmen.

Es war harte Arbeit für die Woolsey-Claviger, ihren zahlreichen Pflichten am Tage nachzukommen, während sie nach ihren schlummernden Werwolfschützlingen sahen und sich um die Tageslichtgeschäfte des Rudels kümmerten. Für die meisten stellte die Teestunde eine kurze und notwendige Verschnaufpause dar, bevor sie wieder an ihre nicht-rudelbezogene Arbeit gerufen wurden. Da die Werwolfsrudel besonders kreative Gefährten bevorzugten und Woolsey nahe bei London lag, waren mehr als nur ein paar seiner Claviger in der Theaterszene des West End aktiv. Trotz der Verlockungen von Aldershot Pudding, Madeirakuchen und schwarzem Gunpowder-Tee waren sie bei dem Gejodel ihres Herrn sofort auf den Beinen und eilten herbei, so schnell es nur ging.

Mit einem Mal herrschte im ganzen Haus ein Tumult geschäftiger Betriebsamkeit: Ankommende und aufbrechende Kutschen und Reitpferde klapperten über die Pflastersteine im Hof, Türen wurden zugeschlagen, Stimmen schallten hin und her. Es hörte sich an wie auf dem Luftschifflandeplatz im Hydepark.

Mit dem abgrundtiefen Seufzer der vom Schicksal schwer Geprüften rollte sich Alexia Maccon aus dem Bett und hob ihr Nachthemd von der Stelle auf, wo es zu einem Haufen aus Rüschen und Spitze zusammengeknüllt auf dem Steinboden gelegen hatte. Es war eines der Hochzeitsgeschenke ihres Ehemanns für sie. Oder vielmehr für ihn, da es aus weicher französischer Seide gemacht war und skandalös wenige Plisseefältchen auswies. Es war recht modisch und gewagt französisch und gefiel Alexia ziemlich gut. Conall hingegen gefiel ziemlich gut, es ihr wieder auszuziehen. Was auch der Grund war, warum es auf dem Fußboden gelandet war. Sie hatten sich auf eine zeitlich begrenzte Beziehung mit dem Nachthemd geeinigt: Meistens trug sie es nur außerhalb des Bettes. Er konnte sehr überzeugend sein, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte und auch noch andere Teile seiner Anatomie dazu verwendete, dies zu erreichen. Lady Maccon kam zu dem Schluss, dass sie sich daran würde gewöhnen müssen, im Evaskostüm zu schlafen. Obwohl da diese nagende Sorge war, dass ein Feuer ausbrechen und sie dazu zwingen könnte, splitterfasernackt unter den Blicken aller aus dem Haus zu flüchten. Doch diese Sorge schwand allmählich, da sie mit einem Rudel Werwölfe zusammenlebte und sich allmählich an deren ständige Nacktheit gewöhnte – schon allein aus Notwendigkeit, wenn nicht aus persönlicher Vorliebe. In ihrem Leben gab es gegenwärtig wirklich viel mehr haarige Männlichkeit, als eine anständige Engländerin monatlich ertragen sollte. Abgesehen davon kämpfte die Hälfte des Rudels derzeit im Norden Indiens.

Ein zaghaftes Klopfen erklang, gefolgt von einer langen Pause. Dann wurde die Tür des Schlafzimmers langsam geöffnet, und ein herzförmiges Gesicht gepaart mit dunkelblondem Haar und riesigen veilchenblauen Augen spähte herein. Die Augen blickten ängstlich besorgt. Die Zofe, der sie gehörten, hatte zu ihrer tiefsten Beschämung gelernt, ihren Herrschaften etwas mehr Zeit zu geben, bevor sie sie in ihrem Schlafzimmer störte. Lord Maccons amouröse Stimmungen ließen sich nie vorhersagen, aber es ließ sich ganz gewiss vorhersehen, in welche Stimmung er geriet, wenn er dabei gestört wurde.

Als sie mit deutlicher Erleichterung seine Abwesenheit feststellte, trat die Zofe mit einer Waschschüssel voll heißem Wasser und einem warmen weißen Handtuch über dem Arm ein. Anmutig knickste sie vor Alexia. Sie trug ein modisches, wenn auch düsteres graues Kleid, auf das eine gestärkte weiße Schürze geheftet war. Alexia wusste im Gegensatz zu anderen, dass der hohe, weiße Kragen an ihrem schlanken Hals zahlreiche Bissspuren verdeckte. Und als ob eine ehemalige Vampir-Drohne in einem Werwolfshaushalt nicht schon schockierend genug wäre, öffnete das Mädchen den Mund und bewies mit ihrem Akzent, dass sie obendrein und recht verwerflicherweise auch noch Französin war.

»Guten Abend, Madame.«

Alexia lächelte. »Guten Abend, Angelique.«

Die frischgebackene Lady Maccon hatte kaum drei Monate nach ihrer Hochzeit bereits bewiesen, dass ihr Geschmack recht gewagt war, die Speisen an ihrer Tafel unvergleichlich und ihr Stil richtungsweisend waren. Und während es in der feinen Gesellschaft nicht allgemein bekannt war, dass sie Mitglied des Schattenkonzils war, so wurde doch bemerkt, dass sie mit Königin Victoria in freundschaftlicher Beziehung stand. Dies gepaart mit einem temperamentvollen Werwolf-Ehemann mit beträchtlichem Vermögen und hohem Ansehen sorgte dafür, dass die feine Gesellschaft über ihre exzentrischen Anwandlungen – wie zum Beispiel nachts einen Sonnenschirm bei sich zu tragen und eine übermäßig hübsche französische Zofe zu beschäftigen – gnädig hinwegsah.

Angelique platzierte die Waschschüssel und das Handtuch auf Alexias Ankleidetisch und verschwand wieder. Höfliche zehn Minuten später kam sie mit einer Tasse Tee zurück, brachte geschwind das benutzte Handtuch und das schmutzige Wasser fort und erschien dann erneut mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck und einer Aura ruhiger Autorität. Für gewöhnlich kam es zwischen ihnen zu einem kleineren Kräftemessen in Sachen Willensstärke, wenn es darum ging, Lady Maccon anzukleiden, doch das jüngste Lob in der Gesellschaftsspalte des Lady’s Pictorial hatte Alexias Vertrauen in Angeliques Entscheidungen à la toilette gestärkt.

»Also gut, du Xanthippe«, sagte Lady Maccon zu dem schweigenden Mädchen. »Was werde ich heute Abend tragen?«

Angelique traf ihre Wahl aus der Garderobe: eine militärisch inspirierte teebraune Kreation besetzt mit schokoladenbraunem Samt und großen Messingknöpfen. Das Kleid war elegant und sehr passend für ein geschäftliches Treffen mit dem Schattenkonzil.

»Wir werden die Seidenstola weglassen«, protestierte Alexia der Form halber. »Ich muss heute Abend meinen Hals zeigen.« Sie erklärte ihr nicht, dass die Palastwache sie auf Bissmale untersuchte. Angelique gehörte nicht zu denen, die wussten, dass Alexia Maccon den Posten der Muhjah innehatte. Sie mochte zwar Alexias persönliche Zofe sein, doch sie war immer noch Französin, und entgegen der diesbezüglichen Ansicht von Alexias ehemaligen Butler Floote musste das Hauspersonal nicht alles wissen.

Angelique fügte sich widerspruchslos und steckte Lady Maccons Haar zu einer schlichten Hochsteckfrisur, um die Strenge des Kleides zu unterstreichen. Nur ein paar Löckchen und Strähnen lugten unter einer kleinen Spitzenhaube hervor. Dann gelang Alexia endlich die Flucht, kribbelig vor Neugier über den frühen Aufbruch ihres Gatten.

Doch da war niemand, den sie fragen konnte. Niemand wartete an der Dinnertafel. Sowohl Claviger als auch Rudelmitglieder waren zusammen mit dem Earl verschwunden. Das Haus war leer bis auf die Bediensteten, auf die sich nun Alexias geballtes Interesse richtete, doch mit einer Mühelosigkeit, die von drei Monate langer Übung herrührte, stoben sie auseinander, um sich ihren zahlreichen Aufgaben zu widmen.

Der Butler von Woolsey, Rumpet, weigerte sich mit einer Aura gekränkter Würde, ihre Fragen zu beantworten. Sogar Floote behauptete, den ganzen Nachmittag in der Bibliothek zugebracht und nichts belauscht zu haben.

»Also wirklich, Floote, Sie müssen doch darüber informiert sein, was geschehen ist! Ich verlasse mich darauf, dass Sie wissen, was vor sich geht! Das tun Sie doch immer!«

Floote bedachte sie mit einem Blick, der ihr das Gefühl gab, ungefähr sieben Jahre alt zu sein. Obwohl er vom Butler zum persönlichen Sekretär aufgestiegen war, hatte Floote seine strenge Aura der Butlerhaftigkeit nie verloren.

Er reichte Alexia ihre lederne Aktentasche. »Ich habe die Unterlagen vom Treffen letzten Sonntag noch einmal durchgesehen.«

»Nun, was ist Ihre Meinung dazu?« Vor ihr war Floote der Butler ihres Vaters gewesen, und trotz Alessandro Tarabottis ziemlich haarsträubenden Rufes (oder vielleicht gerade deswegen) hatte Floote so einiges gelernt. Alexia stellte fest, dass sie als Muhjah immer mehr auf seine Meinung vertraute, und wenn diese auch nur ihre eigene bestätigte.

Floote überlegte. »Meine Sorge gilt der Aufhebungsklausel, Madam. Ich nehme an, dass es noch zu früh ist, die Wissenschaftler bis zu ihrer Verhandlung aus der Untersuchungshaft zu entlassen.«

»Mmhmm, das war auch meine Einschätzung. Ich werde mich gegen diese spezielle Klausel aussprechen. Danke, Floote.«

Der ältere Mann wandte sich zum Gehen.

»Ach, noch etwas, Floote.«

Resigniert drehte er sich um.

»Irgendetwas Bedeutsames ist vorgefallen, was meinen Gatten aus der Fassung gebracht hat. Ich vermute, dass eine Recherche in der Bibliothek vonnöten sein könnte, wenn ich heute Abend zurückkehre. Sie halten sich am besten Ihren Terminplan frei.«

»Sehr wohl, Madam«, antwortete Floote mit einer kleinen Verbeugung. Er glitt davon, um ihre Kutsche herbeizurufen.

Alexia beendete ihre Mahlzeit, nahm die Aktentasche, ihren neuesten Sonnenschirm und den langen Wollmantel und schlenderte aus der Vordertür ins Freie …

… nur, um herauszufinden, wohin genau sich alle anderen begeben hatten – hinaus auf den weitläufigen Rasen, der herauf zum gepflasterten Hof des Anwesens führte. Es war ihnen gelungen, sich zu vervielfältigen, und sie hatten militärische Kleidung angelegt und waren – aus irgendeinem Grund, der sich nur ihren winzig kleinen Werwolfsgehirnen erschloss – damit beschäftigt, eine beträchtliche Anzahl großer Stoffzelte aufzustellen, und zwar mithilfe der neuesten staatseigenen, sich selbst ausziehenden, dampfbetriebenen Zeltstangen, die wie Pasta aus Metall in großen Messingkesseln vor sich hin köchelten. Jede davon hatte anfangs die Größe eines Fernrohrs, bis die Hitze sie dazu veranlasste, sich urplötzlich mit einem ploppenden Laut auszuziehen. Wie es das allgemeine Militärprotokoll vorschrieb, gab es viel mehr Soldaten als nötig, die herumstanden und den Zeltstangen beim Kochen zusahen, und jedes Mal, wenn eine davon in die Länge schoss, brach allgemeiner Jubel aus. Die Stange wurde mit einem Paar lederner Topflappen gepackt und zu einem Zelt geschleppt.

Lady Maccon verlor die Beherrschung. »Was treibt ihr alle hier draußen?«

Niemand sah sie an oder nahm ihre Anwesenheit zur Kenntnis.

Alexia legte den Kopf in den Nacken und schrie: »Tunstell!«

Sie verfügte nicht über das entsprechende Lungenvolumen, um ihrem Ehemann Konkurrenz in Sachen Lautstärke zu machen, doch die Vorfahren von Alexias Vater hatten einst ein Weltreich erobert, und wenn Lady Maccon schrie, bekamen die Leute eine Ahnung davon, wie sie das zustande gebracht hatten.

Tunstell kam herbeigesprungen, ein gut aussehender, wenn auch schlaksiger rotblonder Kerl mit Dauergrinsen und einer gewissen sorglosen Art, die auf die meisten charmant wirkte und alle anderen zur Verzweiflung brachte.

»Tunstell«, sagte Alexia, wie sie meinte, ruhig und gesittet. »Warum sind da Zelte auf meinem Rasen?«

Tunstell, Lord Maccons Kammerdiener und Chef der Claviger, sah sich auf seine heitere Art und Weise um, als wollte er sagen, nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Tunstell war stets quietschvergnügt. Das war seine größte Charakterschwäche. Er war außerdem einer der wenigen Bewohner von Woolsey Castle, der sich sowohl von den Zornesausbrüchen des Lords als auch denen von Lady Maccon in keinster Weise beeindrucken ließen. Das war seine zweitgrößte Charakterschwäche.

»Er hat Sie nicht vorgewarnt?« Das sommersprossige Gesicht des Schlüsselwächters war vor Anstrengung, weil er beim Aufstellen eines der Zelte geholfen hatte, gerötet.

»Nein, das hat er ganz sicher nicht!« Alexia pochte mit der silbernen Spitze ihres Sonnenschirms auf die Stufe der Vortreppe.

Tunstell grinste. »Nun, Mylady, der Rest des Rudels ist zurückgekehrt.« Er fuchtelte mit beiden Händen in Richtung des mit Zeltplanen übersäten Chaos vor ihr und wackelte dabei dramatisch mit den Fingern. Tunstell war ein recht ordentlicher Schauspieler – jede seiner Gesten war voller Dramatik.

»Tunstell«, sagte Alexia wie zu einem begriffsstutzigen Kind. »Das würde bedeuten, dass mein Gemahl ein sehr, sehr großes Rudel hat. Es gibt in ganz England keinen Werwolf-Alpha, der sich eines Rudels von solchem Ausmaß rühmen könnte.«

»Oh, nun ja, der Rest des Rudels hat auch den Rest des Regiments mitgebracht«, erklärte Tunstell auf verschwörerische Weise, so als wären er und Alexia Komplizen bei einem höchst erbaulichen Jux.

»Ich denke, es ist üblich, dass sich das Rudel und die restlichen Mitglieder ihres jeweiligen Regiments wieder trennen, sobald sie nach Hause zurückkehren. Damit man … nun ja, nicht Hunderte von Soldaten auf seinem Rasen kampierend vorfindet, wenn man erwacht.«

»Also wir vom Woolsey-Rudel handhaben die Dinge schon immer ein wenig anders. Da wir das größte Rudel Englands stellen, sind wir die Einzigen, die das Rudel für den Militärdienst aufteilen, deshalb behalten wir die Coldsteam Guards noch ein paar Wochen lang hier, sobald sie nach Hause kommen. Stärkt den Zusammenhalt.« Mit seinen feingliedrigen weißen Händen wedelte Tunstell ein weiteres Mal ausladend gestikulierend in der Luft herum und nickte eifrig.

»Und muss dieser Zusammenhalt ausgerechnet auf dem Rasen vor Woolsey Castle zelebriert werden?« Tapp, tapp, tapp machte der Sonnenschirm. Das Bureau für Unnatürliche Registrierung, kurz BUR genannt, experimentierte seit Kurzem mit einer neuen Waffentechnik. Bei der Zerschlagung des Hypocras Clubs vor einigen Monaten war ein kleines, mit Dampfdruck betriebenes Gerät entdeckt worden, das sich offensichtlich so lange kontinuierlich aufheizte, bis es explodierte. Lord Maccon hatte es seiner Frau gezeigt. Unmittelbar vor der Explosion gab es ein tickendes Geräusch von sich, ganz ähnlich wie Alexias Sonnenschirm in ebendiesem Moment. Tunstell war sich dieser Übereinstimmung nicht bewusst, sonst wäre er mit größerer Vorsicht vorgegangen. Andererseits, typisch Tunstell, vielleicht auch nicht.

»Ja, ist das nicht spaßig?«, krähte Tunstell.

»Aber warum?« Tapp, tapp, tapp.

»Weil wir hier schon immer kampiert haben«, meldete sich eine neue Stimme zu Wort, die offensichtlich zu jemandem gehörte, der ebenso wenig mit dem zunächst tickenden und dann explodierenden Dampfgerät vertraut war.

Lady Maccon wirbelte herum, um den Mann wütend anzufunkeln. Der fragliche Gentleman war sowohl groß als auch breit gebaut, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie ihr Gatte. Lord Maccon war schottisch-groß, dieser Gentleman nur englisch-groß – dazwischen war ein deutlicher Unterschied. Außerdem schien sich dieser Mann im Gegensatz zum Earl, der regelmäßig irgendetwas anrempelte, so als wäre sein Körper größer als Lord Maccons Wahrnehmung desselben, mit seiner Körpergröße völlig wohlzufühlen. Er trug vollen Offiziersstaat und wusste, dass er darin gut aussah. Seine Stiefel waren blitzblank gewienert, das blonde Haar hoch frisiert, und er sprach mit einem Akzent, der sich mit peinlicher Sorgfalt darum bemühte, kein Akzent zu sein. Alexia kannte diese Sorte: Bildung, Vermögen und blaues Blut.

Sie bleckte die Zähne. »Ach, ist das so? Nun, damit ist jetzt Schluss.« Sie wandte sich wieder an Tunstell. »Wir geben übermorgen Abend eine Dinnergesellschaft. Sorgen Sie dafür, dass die Zelte augenblicklich verschwinden.«

»Völlig unakzeptabel«, entgegnete der große, blonde Gentleman und trat näher. Alexia glaubte allmählich, dass er überhaupt kein Gentleman war, trotz seines Akzents und der makellosen Erscheinung. Sie bemerkte ebenfalls, dass er äußerst stechende blaue Augen hatte, eisig und eindringlich.

Tunstell, mit einem Ausdruck der Beunruhigung hinter seinem heiteren Grinsen, schien sich nicht entscheiden zu können, wem er gehorchen sollte.

Alexia ignorierte den Neuankömmling. »Wenn sie unbedingt hier ihr Lager aufschlagen müssen, dann schaffen Sie sie zur Rückseite des Anwesens.«

Tunstell wandte sich um, um ihrem Befehl Folge zu leisten, doch er wurde von dem Fremden aufgehalten, der ihm eine große, weiß behandschuhte Hand auf die Schulter legte.

»Aber das ist absurd.« Der Mann zeigte Lady Maccon seine perfekten weißen Zähne. »Das Regiment hat schon immer sein Lager im Vorhof aufgeschlagen. Das ist viel komfortabler als im Gelände.«

»Sofort«, befahl Alexia an Tunstell gewandt, wobei sie den Störenfried weiterhin ignorierte. Man stelle sich nur vor, in einem solchen Tonfall mit ihr zu sprechen, und dabei waren sie sich noch nicht einmal vorgestellt worden!

Tunstell, der auf einmal weit weniger fröhlich aussah, als sie ihn je gesehen hatte, ließ den Blick zwischen ihr und dem Fremden hin- und herschnellen. Jeden Augenblick, so schien es, würde er sich die Hand an die Stirn legen und einen Ohnmachtsanfall inszenieren.

»Bleiben Sie genau da, wo Sie sind, Tunstell«, wies ihn der Fremde an.

»Wer, zum Teufel, sind Sie eigentlich?«, fragte Alexia, die das hochmütige Eingreifen des Mannes so wütend machte, dass sie tatsächlich ausfallend wurde.

»Major Channing Channing von den Chesterfield Channings.«

Alexia starrte ihn mit offenem Mund an. Kein Wunder, dass er so unglaublich eingebildet war. Das musste man wohl sein, wenn man sein ganzes Leben lang unter einem Namen wie diesem zu leiden hatte.

»Nun, Major Channing, ich möchte Sie bitten, sich nicht in die Führung des Haushalts einzumischen. Das ist mein Herrschaftsbereich.«

»Ach, sind Sie die neue Haushälterin? Ich wurde nicht darüber informiert, dass Lady Maccon so drastische Änderungen vorgenommen hat.«

Alexia war über seine Annahme nicht überrascht. Sie war sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass ihre äußere Erscheinung nicht dem entsprach, was man von einer Lady Maccon erwartete; dafür war sie zu italienisch, zu alt und – zugegebenermaßen – zu füllig. Gerade wollte sie seinen Irrtum korrigieren, bevor noch weitere Peinlichkeiten folgten, doch er gab ihr keine Gelegenheit dazu. Offensichtlich genoss Major Channing Channing von den Chesterfield Channings den Klang seiner eigenen Stimme.

»Zerbrechen Sie sich nicht Ihren hübschen kleinen Kopf über unser Lager. Ich versichere Ihnen, weder seine Lordschaft noch Mylady werden Sie dafür zur Rede stellen.« Besagte Mylady lief bei seiner Überheblichkeit rot an. »Kümmern Sie sich einfach nicht um unsere Angelegenheiten, sondern nur um Ihre eigenen.«

»Ich kann Ihnen versichern«, entgegnete Alexia, »dass alles, was in oder um Woolsey Castle herum vor sich geht, meine Angelegenheit ist.«

Channing Channing von den Chesterfield Channings lächelte sein perfektes Lächeln und ließ seine blauen Augen auf eine Art und Weise aufblitzen, von der er, wie Alexia überzeugt war, glaubte, dass es verführerisch war. »Also wirklich, für das hier hat doch keiner von uns Zeit, oder etwa doch? Jetzt sausen Sie los und kümmern Sie sich um Ihre täglichen Arbeiten, dann wird sich später schon eine kleine Belohnung für Ihren Gehorsam finden.«

War das etwa ein anzüglicher Blick? Alexia wollte es kaum glauben. »Schäkern Sie etwa mit mir, Sir?«, fragte sie unklugerweise vor Verblüffung.

»Hätten Sie das denn gern?«, erwiderte er, und sein Grinsen wurde breiter.

Nun, das klärte zumindest eines: Dieser Mann war kein Gentleman.

»Oh-oh«, sagte Tunstall sehr leise und wich zwei, drei Schritte zurück.

»Was für ein widerwärtiger Gedanke!«, stieß Lady Maccon hervor.

»Ach, ich weiß nicht«, meinte Major Channing und kam näher. »Ein feuriges italienisches Ding wie Sie, mit einer hübschen Figur und nicht zu alt, könnte noch ein paar flotte Nächte übrig haben. Ich hatte schon immer eine kleine Schwäche fürs Exotische.«

Alexia, die nur zur Hälfte Italienerin war – und das auch nur von Geburt, da man sie durch und durch englisch erzogen hatte –, konnte sich nicht entscheiden, welchen Teil des Satzes sie am beleidigendsten fand. Sie sprühte vor Zorn.

Dieser abstoßende Channing machte tatsächlich ganz und gar den Eindruck, als würde er es wagen, sie anzufassen!

Alexia holte aus und schlug ihn mit ihrem Sonnenschirm heftig mitten auf den Kopf.

Jedermann im Hof hielt bei dem, was er gerade tat, inne und wandte sich um, um die stattliche Lady anzustarren, die soeben ihren Rang-Dritten, Gamma des Woolsey-Rudels, Kommandant der Coldsteam Guards im Ausland, mit einem Sonnenschirm verdrosch.

Die Augen des Majors nahmen ein sogar noch eisigeres Blau mit schwarzem Rand um die Iris an, und zwei seiner perfekten weißen Zähne wurden spitz.

Ein Werwolf also, ja? Nun, Alexia Maccons Sonnenschirm hatte nicht ohne Grund eine silberne Spitze. Sie hieb erneut auf ihn ein, wobei sie dieses Mal darauf achtete, dass die Spitze seine Haut berührte. Gleichzeitig fand sie ihre Sprache wieder.

»Wie können Sie es wagen! Sie unverschämter« – zack – »arroganter« – zack – »überheblicher« – zack – »unfolgsamer Hund!« Zack, zack. Normalerweise neigte Alexia nicht zu derartig ausfallender Sprache und derart unverhüllter Gewalt, doch die Umstände schienen beides zu rechtfertigen. Er war ein Werwolf und – solange sie ihn nicht berührte und dadurch seine übernatürlichen Fähigkeiten neutralisierte – praktisch unmöglich zu verletzen. Daher hielt sie es um der Disziplin willen vonnöten, ihm noch ein paar überzubraten.

Major Channing, schockiert über den tätlichen Angriff einer augenscheinlich wehrlosen Haushälterin, hielt sich schützend den Arm über den Kopf, packte den Sonnenschirm und zog Alexia an diesem zu sich heran. Der Griff des Parasols glitt ihr aus den Fingern, und Major Channing stolperte zurück. Er sah aus, als wolle er nun im Gegenzug sie mit dem Schirmchen prügeln, was Alexia ernsthaften Schaden hätte zufügen können, da sie über absolut keine übernatürlichen Heilungskräfte verfügte. Doch stattdessen schleuderte er den Parasol beiseite und machte Anstalten, sie zu ohrfeigen.

Was der Augenblick war, in dem ihm Tunstell auf den Rücken sprang. Der Rotschopf schlang dem Major die langen Arme und Beine um den Leib und hielt Channings Gliedmaßen umfangen.

Alle Anwesenden schnappten entsetzt nach Luft, denn dass ein Claviger ein Mitglied des Rudels angriff, war noch nie vorgekommen und Grund für die sofortige Entlassung. Diejenigen des Rudels und deren Claviger, die wussten, wer Alexia war, ließen alles stehen und liegen, womit sie gerade beschäftigt gewesen waren, und eilten herbei, um einzugreifen.

Major Channing schüttelte Tunstell ab und schlug ihm mit dem Handrücken hart ins Gesicht. Der Schlag schickte den Claviger mühelos zu Boden. Er gab ein lautes Stöhnen von sich und brach zusammen.

Alexia starrte den blonden Schurken voller Zorn an und beugte sich hinunter, um den niedergestreckten Rotschopf zu untersuchen. Seine Augen waren geschlossen, aber er schien noch zu atmen. Langsam stand sie auf und sagte ruhig: »Ich würde damit jetzt aufhören, wenn ich Sie wäre, Mr. Channing.« Um ihrer Verachtung Ausdruck zu verleihen, ließ sie den Titel »Major« bewusst weg.

»Da bin ich anderer Ansicht«, entgegnete der Mann, knöpfte sich die Uniform auf und streifte die weißen Handschuhe ab. »Sie brauchen beide eine disziplinarische Maßnahme.«

Im nächsten Augenblick begann er sich zu verwandeln. In offizieller Gesellschaft wäre das schockierend gewesen, doch die meisten Anwesenden waren schon einmal Zeuge eines solchen Schauspiels geworden. In den Jahrzehnten seit der Integration der Rudel hatte sich das Militär an Werwolfsverwandlungen ebenso gewöhnt, wie es an gotteslästerliche Reden gewohnt war. Doch sich in Gegenwart einer Lady zu verwandeln, selbst wenn man sie nur für eine Haushälterin hielt … Ein Raunen ging durch die Menge.

Alexia war ebenfalls überrascht. Die Abenddämmerung war gerade erst hereingebrochen, und es war noch längst nicht Vollmond. Was bedeutete, dass dieser Mann älter und damit erfahrender war, als sein dreistes Benehmen vermuten ließ. Außerdem wirkte seine Verwandlung sogar elegant, und das, obwohl ihr Ehemann einmal gesagt hatte, dieser Vorgang sei mit dem schlimmsten Schmerz verbunden, den ein Mensch ertragen konnte. Alexia hatte gesehen, wie sich die Jungwölfe des Rudels wanden und winselten, doch Major Channing wechselte einfach geschmeidig von Mensch zu Wolf. Haut, Knochen und Haar ordneten sich neu an und formten einen der schönsten Wölfe, die Alexia je gesehen hatte: groß und beinahe schneeweiß und mit eisblauen Augen. Er schüttelte den Rest seiner Kleidung ab und umkreiste sie langsam.

Alexia wappnete sich. Eine einzige Berührung von ihr, und er würde wieder Mensch werden, doch das war keine Garantie für ihre Sicherheit. Auch als Sterblicher war er immer noch größer und stärker als sie, und Alexia hatte ihren Sonnenschirm nicht mehr.

Genau in dem Moment, als der riesige weiße Wolf angriff, sprang ein weiterer Wolf mit gefletschten Zähnen schützend vor Alexia und Tunstell. Der Neuankömmling war beträchtlich kleiner als Major Channing, mit sandfarbenem Fell, das um Kopf und Hals herum von Schwarz durchzogen war, fahlgelben Augen und einem beinahe fuchshaften Gesicht.

Im nächsten Augenblick erklang das dumpfe Aufeinanderprallen von fellbedecktem Fleisch, und mit reißenden Krallen und zuschnappenden Zähnen wälzten sich die beiden ineinander verschlungen umher. Der weiße Wolf war größer, aber es wurde sofort offensichtlich, dass der kleinere über mehr Schnelligkeit und Geschick verfügte. Er nutzte die Größe des anderen zu seinem eigenen Vorteil und hatte binnen weniger Augenblicke Major Channings Kehle in einem festen Todesgriff.

So schnell, wie der Kampf begonnen hatte, war er auch wieder vorbei. Der weiße Wolf ließ sich auf den Rücken fallen und präsentierte seinem zierlichen Gegner in einer unterwürfigen Geste den Bauch.

Alexia hörte ein Stöhnen und riss den Blick von den beiden Wölfen los, um festzustellen, dass sich Tunstell aufgesetzt hatte und verwirrt blinzelte. Er blutete aus der Nase, doch ansonsten schien er nur ein wenig benommen. Alexia reichte ihm ein Taschentuch und bückte sich, um nach ihrem Sonnenschirm zu greifen. Ein Vorwand, um nicht dabei zuzusehen, wie sich die beiden Werwölfe wieder in menschliche Gestalt zurückverwandelten.

Allerdings riskierte sie doch heimlich einen Blick. Welche heißblütige Frau hätte das nicht getan. Major Channing war durch und durch muskulös, zwar langgliedriger und hagerer als Alexias Ehemann, aber, das musste sie der Ehrlichkeit halber zugeben, alles andere als unansehnlich. Was sie allerdings überraschte, war der kleine, rötlichblonde Mann undefinierbaren Alters, der ruhig neben ihm stand. Sie hätte niemals erwartet, dass Professor Lyall ausgeprägte Muskeln hätte, doch er befand sich ohne Zweifel in erstklassiger körperlicher Kondition. Welchen Beruf hatte Lyall wohl ausgeübt, bevor er Werwolf geworden war? Das fragte sich Alexia nicht zum ersten Mal.

Ein paar Claviger erschienen mit langen Mänteln und verhüllten den Gegenstand von Lady Maccons Grübelei.

»Was, zum Teufel, ist los?«, fauchte Major Channing, sobald sein Kiefer wieder ausreichend menschliche Form angenommen hatte. Er fuhr herum, um den kultivierten Mann wütend anzufunkeln, der ruhig neben ihm stand. »Ich habe Sie nicht herausgefordert. Sie wissen, dass ich Sie nie herausfordern würde, das haben wir schon vor Jahren geklärt. Das hier war eine völlig legitime Rudeldisziplinierung. Claviger, die sich ungehörig benehmen, müssen gezüchtigt werden.«

»Es sei denn, natürlich, einer der Claviger ist gar kein Claviger«, entgegnete Professor Randolph Lyall, der schwer geprüfte Beta des Woolsey-Rudels.

Der Blonde wurde mit einem Mal nervös. Sein Gesichtsausdruck verlor so gut wie alle Arroganz. Alexia fand, dass er dadurch um einiges attraktiver wirkte.

Professor Lyall seufzte. »Major Channing, Gamma des Woolsey-Rudels, erlauben Sie mir bitte, Ihnen Lady Alexia Maccon vorzustellen, Fluchbrecher und Ihre neue Alpha.«

Alexia missfiel die Bezeichnung Fluchbrecher. Es klang schrecklich brachial. Da manche Werwölfe ihre Unsterblichkeit aber immer noch als Fluch betrachteten, nahm sie an, dass dieser Begriff eine Art Auszeichnung darstellte, weil sie in der Lage war, die Bestie, die der Vollmond hervorrief, zu bezwingen. Zudem klang Fluchbrecher auch ein wenig schmeichelhafter als Seelensauger, wie die Vampire Alexias Art benannten.

Alexia packte ihren Sonnenschirm und stand auf. »Zu behaupten, es wäre ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Major Channing, würde bedeuten, schon am frühen Abend einen Meineid zu leisten.«

»Also, verflucht noch mal!«, stieß Major Channing hervor und funkelte erst Lyall und dann alle anderen um ihn herum wütend an. »Warum hat mir das denn keiner gesagt?«

Daraufhin fühlte sich Alexia doch ein wenig schuldig. Sie hatte sich von ihrem Zorn hinreißen lassen. Aber er hatte ihr ja auch gar keine Zeit gegeben, sich ihm vorzustellen!

»Dann darf ich also annehmen, dass Sie nicht darüber informiert wurden, wie ich aussehe?«, fragte Alexia, bereit, einen weiteren Posten auf die Liste der Versäumnisse ihres Mannes für diesen Abend zu setzen. Er würde etwas zu hören bekommen, sobald er nach Hause kam. Die Ohren würden ihm glühen.

»Nun ja, nicht direkt«, antwortete Major Channing. »Ich meine, wir bekamen schon eine kurze Nachricht vor ein paar Monaten, aber die Beschreibung war nicht … Verstehen Sie bitte, ich dachte, Sie wären …«

Bedächtig wog Alexia ihren Parasol in der Hand.

Schnell ruderte Channing zurück. »… weniger italienisch.«

»Und mein teurer Gatte hat Sie nicht gewarnt, als Sie ankamen?« Alexia wirkte nun eher nachdenklich als wütend. Vielleicht war Major Channing gar nicht so schlimm. Schließlich hatte es sie ja selbst überrascht, dass Lord Maccon sie zur Frau genommen hatte.

Auf einmal wirkte Major Channing gereizt. »Wir haben ihn noch nicht zu Gesicht bekommen, Mylady. Sonst wäre es wahrscheinlich nicht zu diesem Fauxpas gekommen.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, meinte Lady Maccon schulterzuckend. »Er neigt hinsichtlich meiner Vorzüge leicht zu Übertreibungen. Seine Beschreibung von mir ist daher üblicherweise eine Spur unrealistisch.«

Major Channing schraubte seinen Charme wieder auf höchste Stufe – Lady Maccon konnte praktisch sehen, wie sich die Zahnräder knirschend drehten und der Dampf kräuselnd aus seinem Körper zischte. »Oh, das bezweifle ich, Mylady.«

Zum Pech des Gammas entschied sich Alexia, daran Anstoß zu nehmen. Sie wurde eiskalt, der Blick ihrer braunen Augen hart und der Mund mit den üppigen Lippen zu einem schmalen Strich.

Schnell wechselte Channing das Thema und wandte sich Professor Lyall zu. »Warum war unser verehrter Anführer nicht am Bahnhof, um uns zu begrüßen? Es gibt ein paar Dinge, die ich unbedingt mit ihm besprechen muss.«

Lyall zuckte mit den Schultern. Seine Körperhaltung signalisierte Channing, dass er dieses spezielle Thema nicht weiter vertiefen sollte. Es lag in der Natur eines Gammas, dass er Kritik übte, doch ebenso unterstützte oder deckte ein Beta das Handeln des Alphas, ganz gleich, ob dieses den Regeln der Höflichkeit entsprach. »Dringende BUR-Angelegenheiten.« Das war alles, was Lyall zur Antwort gab.

»Nun ja, meine Angelegenheiten sind möglicherweise ebenfalls dringend«, entgegnete Major Channing bissig.

»Was genau ist denn passiert?« Professor Lyalls Tonfall deutete an, dass Major Channings vermutlich schuld war an diesen »dringenden Angelegenheiten«, worum immer es sich auch handeln mochte.

»Das Rudel und ich haben an Bord unseres Schiffes etwas erleben müssen, das recht ungewöhnlich war.« Zweifellos war Major Channing der Meinung, ebenso ausweichend antworten zu dürfen wie der Beta, und demonstrativ wandte er sich anschließend an Alexia. »Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Lady Maccon. Ich bitte um Vergebung für das Missverständnis. Unwissenheit ist keine Entschuldigung, dessen bin ich mir sehr wohl bewusst, das versichere ich Ihnen. Gleichwohl werde ich mich bemühen, es nach meinen bescheidenen Kräften wiedergutzumachen.«

»Entschuldigen Sie sich bei Tunstell«, entgegnete Lady Maccon.

Das war ein heftiger Schlag: ein Gamma, Rang-Dritter des Rudels, sollte sich bei einem niederen Claviger entschuldigen? Major Channing sog scharf die Luft ein, tat aber, wie ihm geheißen, und entschuldigte sich mit einer hübschen Rede bei dem Rotschopf, der mit zunehmendem Maße immer verlegener wirkte, je länger der Wortschwall andauerte, da er sich durchaus bewusst war, welche Erniedrigung dies für den Gamma schmerzlich bedeutete. Am Ende war Tunstell so rot geworden, dass seine Sommersprossen vollständig verschwanden, und Major Channing zog beleidigt von dannen.

»Wo geht er hin?«, fragte Lady Maccon verwundert.

»Höchstwahrscheinlich wird er das Lager des Regiments auf die Rückseite des Hauses verlegen. Das wird allerdings eine Weile in Anspruch nehmen, Mylady, weil sich die Zeltstangen zunächst abkühlen müssen.«

»Ah.« Alexia lächelte breit. »Ich habe gewonnen.«

Seufzend warf Professor Lyall einen kurzen Blick hoch zum Mond und murmelte wie zu einer höheren Gottheit: »Alphas.«

»Nun gut.« Alexia bedachte ihn mit einem fragenden Blick. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu erklären, was es mit Channing Channing von den Chesterfield Channings auf sich hat? Er erscheint mir nicht gerade wie jemand, den sich mein Gemahl als Mitglied seines Rudels aussuchen würde.«

Professor Lyall legte den Kopf leicht schief. »Ich bin hinsichtlich der Gefühle, die seine Lordschaft für diesen Gentleman hegt, nicht eingeweiht, aber Lord Maccons Präferenzen ungeachtet hat er Channing zusammen mit dem Woolsey-Rudel übernommen. Ebenso wie mich. Conall hatte in dieser Angelegenheit keine Wahl. Und, um ganz offen zu sein, der Major ist gar nicht so übel. Ein guter Soldat, der einem im Kampf den Rücken freihält. Lassen Sie sich von seinem heutigen Betragen nicht täuschen. Er hat sich in seiner Eigenschaft als Gamma stets korrekt verhalten, ein anständiger Rang-Dritter in der Befehlskette, obwohl er sowohl Lord Maccon als auch mich nicht leiden kann.«

»Warum? Ich meine, warum Sie nicht? Ich kann völlig verstehen, wenn jemand meinen Mann nicht leiden kann. Sogar ich kann ihn meistens absolut nicht ausstehen.«

Professor Lyall unterdrückte ein Kichern. »Mir wurde zugetragen, er kann niemanden leiden, dessen Name mit Doppel-L geschrieben wird. Er findet das unentschuldbar walisisch. Allerdings vermute ich, dass er von Ihnen recht angetan sein könnte.«

Verlegen drehte Alexia den Griff ihres Sonnenschirmes zwischen ihren Fingern. »Ach herrje, war da etwa Aufrichtigkeit unter diesem schmierigen Charme?« Sie fragte sich, was an ihrem Äußeren oder an ihrer Persönlichkeit dafür verantwortlich war, dass sie anscheinend nur auf große Werwölfe verführerisch wirkte. Und ob man diese Eigenschaft wohl ändern konnte?

Professor Lyall zuckte mit den Schultern. »Ich würde ihm diesbezüglich aus dem Weg gehen, wenn ich an Ihrer Stelle wäre.«

»Warum?«

Lyall suchte angestrengt nach einer höflichen Art und Weise, es auszudrücken, und begnügte sich schließlich mit der schockierenden Wahrheit. »Major Channing mag widerspenstige Frauen, so viel ist sicher, aber nur, weil er sie gern …« Er machte eine pikante Pause. »… zähmt.«

Alexia zog die Nase kraus, denn irgendwie ahnte sie, dass Professor Lyalls Bemerkung etwas Unschickliches enthielt. Das würde sie später recherchieren müssen, und sie war zuversichtlich, dass sie in der Bibliothek ihres Vaters etwas Entsprechendes finden würde. Alessandro Tarabotti, seines Zeichens Außernatürlicher, hatte einen ausschweifenden Lebenswandel gepflegt und seiner Tochter eine Sammlung Bücher hinterlassen, von denen einige schrecklich unzüchtige Zeichnungen enthielten, was seinen Hang zur Hemmungslosigkeit bezeugte. Nur diesen Büchern hatte es Alexia zu verdanken, dass sie angesichts einiger der etwas einfallsreicheren Gelüste ihres Gatten nicht regelmäßig in Ohnmacht fiel.

Professor Lyall zuckte nur mit den Schultern. »Manche Frauen mögen so etwas.«

»Manche Frauen mögen auch Gobelinstickerei«, entgegnete Alexia und beschloss, nicht weiter über den fragwürdigen Gamma ihres Mannes nachzudenken. »Und manche Frauen mögen außergewöhnlich hässliche Hüte.« Diese Bemerkung wurde davon inspiriert, dass sie gerade ihre liebe Freundin Miss Ivy Hisselpenny erblickte, die am Ende der langen Auffahrt von Woolsey Castle aus einer Mietkutsche stieg.

Miss Hisselpenny war noch ein gutes Stück entfernt, doch es bestand kein Zweifel daran, dass sie es war, denn niemand sonst würde es wagen, einen solchen Hut zu tragen. Er war von einem betäubend grellen Lila, mit leuchtend grünen Borten verziert, und drei lange Federn ragten aus etwas empor, das aussah wie ein ganzer Obstkorb, der auf ihrem Haupt arrangiert war. Falsche Trauben ergossen sich an einer Seite über den Rand und baumelten beinahe bis zu Ivys keckem kleinen Kinn hinunter.

»Verflixt und zugenäht«, sagte Lady Maccon zu Professor Lyall. »Werde ich es denn je zu meiner Versammlung schaffen?«

Lyall verstand es als Wink und wandte sich zum Gehen. Es sei denn, natürlich, er ergriff die Flucht vor dem Hut.

Doch seine Herrin hielt ihn auf. »Ich weiß Ihr unerwartetes Einschreiten von vorhin wirklich zu schätzen. Ich hätte nicht gedacht, dass er tatsächlich angreifen würde.«

Nachdenklich sah Professor Lyall die Gefährtin seines Alphas an. Es war ein selten offener Blick, da sein Gesicht nicht wie üblich hinter einem schützenden Brilloskop versteckt war. Die sanften, haselnussbraunen Augen blickten verwirrt. »Warum unerwartet? Glaubten Sie, ich wäre nicht in der Lage, Sie an Conalls Stelle zu verteidigen?«

Lady Maccon schüttelte den Kopf. Es stimmte, dass sie angesichts seiner schmächtigen Figur und seiner professorenhaften Art kein großes Vertrauen in die körperlichen Fähigkeiten des Betas ihres Mannes gehabt hatte. Lord Maccon war stämmig wie ein Baum, Professor Lyalls Statur tendierte hingegen eher in Richtung Pflänzchen. Doch das war es nicht, was sie gemeint hatte.

»O nein, unerwartet, weil ich angenommen hatte, dass Sie heute Abend mit meinem Mann zusammen wären, wenn dieses BUR-Problem so überaus bedeutend ist.«

Professor Lyall nickte nur.

Lady Maccon versuchte es noch ein letztes Mal. »Ich vermute, dass es nicht die Ankunft des Regiments war, was meinen Mann in so helle Aufregung versetzt hat.«

»Nein. Er wusste, dass das Regiment kommen würde. Er hat mich zum Bahnhof geschickt, um die Männer abzuholen.«

»Ach, hat er das, ja? Und er hielt es nicht für angebracht, mich zu informieren?«

Lyall, der erkannte, dass er seinen Alpha möglicherweise gerade gehörig in die Bredouille gebracht hatte, versuchte, die Scharte auszuwetzen. »Ich glaube, er war der Meinung, Sie wüssten bereits davon. Es war der Diwan, der die Rückberufung des Militärs angeordnet hat. Der Rückzugsbescheid wurde vom Schattenkonzil vor mehreren Monaten genehmigt.«

Alexia runzelte die Stirn. Sie erinnerte sich schwach daran, dass der Wesir bei ihrem Dienstantritt als Muhjah eine lautstarke Diskussion mit dem Diwan ausgetragen hatte. Der Diwan hatte das Streitgespräch gewonnen, da die Stärke von Königin Victorias Regimentern und damit das Fundament ihres Weltreichs von ihrem Bündnis mit den Werwolfsrudeln abhing. Natürlich hielten die Vampire die Kapitalmehrheit an der East India Company und hatten damit die Kontrolle über deren Söldnertruppen, doch hier ging es um eine Angelegenheit der regulären Streitkräfte, und damit war es Sache der Werwölfe. Nichtsdestotrotz war Lady Maccon nicht bewusst gewesen, dass das Resultat dieser Entscheidung am Ende auf ihrer Türschwelle kampieren würde.

»Haben sie denn keine ordentliche Kaserne irgendwo?«

»Doch, aber es ist Brauch, dass sie alle noch mehrere Wochen über hierbleiben, während sich das Rudel wieder formiert und bevor sich die Tageslichtsoldaten auf den Heimweg machen.«

Lady Maccon beobachtete, wie sich Ivy den Weg durch das Durcheinander aus Tross und Zelten bahnte. Sie bewegte sich so energisch, als ginge sie mit Ausrufezeichen. Wasserstoffiodid-Motoren stießen ihr kleine gelbe Rauchwölkchen entgegen, und zusammengedrückte Auszieh-Zeltstangen zischten, als man sie vorzeitig aus der Erde zog. Alles wurde wieder abgebaut und zur Rückseite des Hauses auf das weitläufige Gelände von Woolsey Castle gebracht.

»Habe ich in letzter Zeit schon erwähnt, wie sehr ich Tradition verabscheue?«, sagte Alexia und geriet dann in Panik. »Wird von uns etwa erwartet, dass wir sie alle durchfüttern?«

Die Weintrauben wippten im Takt mit Ivys schnellen, gezierten Schritten. Sie hielt nicht einmal kurz an, um das Durcheinander zu begutachten. Ganz eindeutig war sie in Eile, was bedeutete, dass Ivy wichtige Neuigkeiten hatte.

»Rumpet weiß, was zu tun ist. Machen Sie sich keine Sorgen«, versuchte Professor Lyall sie zu beruhigen.

»Können Sie mir wirklich nicht sagen, was los ist? Er war so überaus früh auf den Beinen, und die Ehemalige Merriway war eindeutig darin verwickelt.«

»Wer? Rumpet?«

Das brachte dem Beta einen bitterbösen Blick ein.

»Lord Maccon hat mich über die Einzelheiten nicht informiert«, gestand Professor Lyall.

Lady Maccon runzelte die Stirn. »Und die Ehemalige Merriway wird auch nichts preisgeben. Sie wissen ja, wie sie ist, völlig nervös und unstet.«

Ivy erreichte die Stufen zum Vordereingang.

Als sie näher kam, sagte Professor Lyall hastig: »Wenn Sie mich bitte entschuldigen, Mylady. Ich sollte besser an die Arbeit gehen.«

Er verbeugte sich vor Miss Hisselpenny und verschwand, Major Channings Fußstapfen folgend, um die Ecke des Gebäudes.

Ivy knickste dem sich verabschiedenden Werwolf hinterher, wobei eine Erdbeere an einem langen seidenen Stamm wild vor ihrem linken Ohr hin- und herbaumelte. Sie nahm keinen Anstoß daran, dass Lyall so überstürzt das Feld räumte. Stattdessen trabte sie zur Veranda hinauf und ignorierte dabei unbekümmert Alexias Aktentasche und die wartende Kutsche, in der sicheren Gewissheit, dass ihre Neuigkeiten weit wichtiger waren als jede Angelegenheit, die ihre Freundin zu ihrem Aufbruch veranlassen könnte.

»Alexia, weißt du eigentlich, dass da gerade ein ganzes Regiment auf dem Rasen vor deinem Haus sein Lager abbricht?«

Lady Maccon seufzte. »Also wirklich, Ivy, das hätte ich von selbst niemals bemerkt.«

Miss Hisselpenny ignorierte ihren Sarkasmus. »Ich habe die allerprächtigsten Neuigkeiten. Sollen wir hineingehen und Tee trinken?«

»Ivy, ich habe einen Termin in der Stadt und bin ohnehin bereits spät dran.« Lady Maccon verzichtete darauf zu erwähnen, dass sie mit Königin Victoria verabredet war. Ivy wusste nichts von ihrer Außernatürlichkeit, ebenso wenig von ihrer politischen Position, und Alexia hielt es für das Beste, ihre Freundin diesbezüglich unwissend zu lassen. Ivy war besonders versiert in Unwissenheit, hingegen konnte sie mit dem kleinsten Fetzen Information erheblichen Schaden anrichten.

»Aber, Alexia. Das sind äußerst wichtige Neuigkeiten!« Die Weintrauben zitterten vor Aufregung.

»Ach, sind die Winterschals aus Paris schon in den Läden?«

Frustriert warf Ivy den Kopf in den Nacken. »Alexia, musst du denn so anstrengend sein?«

Lady Maccon konnte kaum den Blick von Ivys Hut losreißen. »Dann behalt es bitte keinen weiteren Augenblick lang mehr für dich. Sag es auf der Stelle, ich bitte dich!« Alles war ihr recht, wenn sie nur ihre liebste Freundin schnellstmöglich wieder loswurde. Wirklich, Ivy konnte manchmal lästig sein!

»Warum ist da ein Regiment auf deinem Rasen?«, ließ Miss Hisselpenny nicht locker.

»Werwolfs-Angelegenheiten«, wiegelte Lady Maccon die Angelegenheit auf die Weise ab, die Ivy am wirkungsvollsten von der Fährte abbringen würde. Miss Hisselpenny hatte sich nie ganz an Werwölfe gewöhnen können, selbst nicht, nachdem ihre beste Freundin die Kühnheit besessen hatte, einen solchen zu heiraten. Werwölfe waren nicht gerade etwas Alltägliches, und Ivy kam nicht mit der ihnen eigenen Ruppigkeit und plötzlichen Nacktheit zurecht. Sie war nun einmal nicht in der Lage, sich derart anzupassen wie Alexia. Also zog sie es in typischer Ivy-Manier vor, ihre Existenz einfach zu ignorieren.

»Ivy«, sagte Lady Maccon. »Warum genau bist du hier?«

»O Alexia, es tut mir schrecklich leid, dass ich dich so unerwartet überfalle! Ich hatte keine Zeit, dir erst meine Karte zu senden, sondern musste sofort kommen, nachdem es beschlossen war.« Aufgeregt riss sie die Augen weit auf und legte sich die Fingerspitzen an beide Wangen. »Ich bin verlobt!«

2

Ein Problem von Vermenschlichung

Lord Conall Maccon war ein sehr großer Mann, der einen außerordentlich großen Wolf abgab. Er war größer als jeder natürliche Wolf, und weniger schlank, mit zu vielen Muskeln für eine gedrungene Statur. Kein Passant hätte bei seinem Anblick Zweifel daran gehegt, dass es sich bei ihm um ein übernatürliches Geschöpf handelte. Allerdings konnten die wenigen Menschen, die zu dieser besonders frühen Abendstunde auf der kalten, winterlichen Straße unterwegs waren, ihn nicht sehen. Lord Maccon bewegte sich schnell und hatte dunkles Fell, sodass er beinahe vollständig mit den Schatten verschmolz. Seine Ehefrau hatte seine Wolfsgestalt schon mehr als nur einmal als gut aussehend bezeichnet. Ob sie ihn auch als Menschen so empfand, würde er sie einmal fragen müssen. Obwohl, dachte Conall, vielleicht sollte er das lieber bleiben lassen.

Derartige banale Gedanken gingen dem Werwolf durch den Kopf, während er die Landstraße nach London entlangrannte. Woolsey Castle lag ein gutes Stück von der Hauptstadt entfernt, gleich nördlich von Barking, etwas mehr als zwei Stunden mit der Kutsche oder dem Luftschiff und etwas weniger auf vier Pfoten entfernt. Die Zeit verstrich, und schließlich wichen feuchtes Gras, ordentlich gestutzte Hecken und aufgeschreckte Hasen schmutzigen Straßen, Steinmauern und gleichgültigen Straßenkatzen.

Doch völlig unvermittelt empfand der Earl das Laufen als erheblich weniger angenehm, denn gleich nachdem er den Stadtkern erreichte, ziemlich genau auf der Höhe der Fairfoot Road, verlor er abrupt und vollständig seine Wolfsgestalt. Es war höchst erstaunlich – gerade jagte er noch auf vier Pfoten dahin, und im nächsten Augenblick knirschten seine Knochen, sein Fell zog sich zurück, und er schlug krachend mit den Knien auf das Kopfsteinpflaster. Zitternd und keuchend fand er sich nackt auf der Straße wieder.

»Grundgütiger!«, entfuhr es dem Adeligen erschüttert.

Noch nie hatte er etwas Derartiges erlebt. Sogar wenn ihn seine holde Gattin durch ihre außernatürliche Berührung wieder Mensch werden ließ, geschah das nicht so unvermittelt, denn für gewöhnlich ließ sie ihm irgendeine Art Warnung zukommen. Na ja, eine kleine Warnung zumindest.

Besorgt sah er sich um. Doch Alexia war nirgendwo in der Nähe, und er war verflixt noch mal auch ziemlich überzeugt davon, sie sicher, wenn auch schäumend vor Wut auf Woolsey Castle zurückgelassen zu haben. Und im Großraum London waren keine anderen Außernatürlichen registriert. Was also war gerade geschehen?

Er starrte auf seine Knie, die leicht bluteten. Die kleinen Schürfwunden verheilten nicht gleich wieder, dabei sollten sich solche unbedeutenden Kratzer eigentlich vor seinen Augen sofort wieder schließen. Stattdessen sickerte sein träges, altes Blut auf die schmutzigen Pflastersteine.

Lord Maccon versuchte sich zurückzuverwandeln. Nichts. Danach wollte er seine Anubis-Gestalt annehmen, wozu er als Alpha eigentlich fähig gewesen wäre, mit dem Kopf eines Wolfs und dem Körper eines Menschen. Auch nichts. So blieb er zunächst völlig unbekleidet und zutiefst verwirrt in der Fairfoot Road auf der Straße sitzen.

Von einem plötzlichen Anflug von Forschergeist getrieben, ging er den Weg, den er gekommen war, ein kurzes Stück zurück und versuchte es erneut mit der Anubis-Gestalt, weil das schneller ging als eine vollständige Verwandlung. Diesmal funktionierte es, brachte ihn jedoch in eine Zwickmühle: Sollte er hier als Wolf weiter seine Zeit vergeuden oder sich lieber nackt auf den Weg zum Büro machen? Er verwandelte seinen Kopf wieder zurück.

Normalerweise trug der Earl einen Mantel im Maul mit sich, wenn die Möglichkeit bestand, dass er sich in der Öffentlichkeit zurückverwandeln musste. Doch er hatte angenommen, es ohne Probleme bis ins BUR-Büro und in den Garderobenraum dort zu schaffen. Nun bereute er diese sorglose Zuversicht. Die Ehemalige Merriway hatte recht gehabt – irgendetwas war fürchterlich faul in London, und das ganz abgesehen von der Tatsache, dass er gegenwärtig splitterfasernackt darin herumbummelte. Wie es schien, waren nicht nur Geister betroffen; Werwölfe machten ebenfalls eine Veränderung durch. Mit einem verkniffenen Lächeln zog er sich hastig hinter einen Stapel Kisten zurück. Er hätte gutes Geld darauf verwettet, dass auch den Vampiren in dieser Nacht keine Fangzähne wuchsen – zumindest nicht denjenigen, die in der Nähe der Themse lebten. Countess Nadasdy, die Königin des Westminster-Hauses, musste geradezu außer sich sein. Was bedeutete, dass er an diesem Abend sehr wahrscheinlich in den unvergleichlichen Genuss eines Besuchs von Lord Ambrose kommen würde. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Das würde eine lange Nacht werden.

Das Bureau für Unnatürliche Registrierung lag nicht, wie so mancher verwirrter Besucher erwarten mochte, in der Nähe von Whitehall. Es befand sich in einem kleinen, unauffälligen Gebäude aus der Zeit von König George in einer Nebenstraße der Fleet Street, in der Nähe der Büros der Times. Lord Maccon hatte diesen Wechsel vor zehn Jahren vorgenommen, als er begriffen hatte, dass es die Presse und nicht die Regierung war, die für gewöhnlich wusste, was wirklich in der Stadt vor sich ging, politisch oder anderweitig. An diesem speziellen Abend hatte er allen Grund, seine Entscheidung zu bereuen, denn nun musste er sich seinen Weg nicht nur durch das Geschäftsviertel, sondern auch durch einige stark bevölkerte Hauptverkehrsstraßen bahnen, um zu seinem Büro zu gelangen.

Dieser Hindernislauf gelang ihm beinahe ohne gesehen zu werden, da er sich durch schmuddelige Straßen schlich und hinter schlammbespritzten Hausecken versteckte – Londons feinste Seitengassen. Das war eine ziemliche Leistung, denn in den Straßen wimmelte es nur so von Soldaten. Glücklicherweise konzentrierten diese sich ganz darauf, ihre kürzliche Rückkehr nach London zu feiern, und nicht auf seine große, blasse Gestalt. Doch in der Nähe von St. Bride, mit der geruchlosen Witterung der Fleet Street in der Luft, wurde er von einem höchst unerwarteten Individuum entdeckt.

Ein Dandy reinsten Wassers, wie aus dem Ei gepellt in einem maßgeschneiderten Frack und mit einer zitronengelben Halsbinde, die im Osbaldeston-Stil gebunden war, trat aus der Dunkelheit hinter einem kleinen Brauhaus, wo sich kein Dandy standesgemäß aufhalten sollte. Freundlich grüßend lupfte der Mann beim Anblick des nackten Werwolfes den Zylinder.

»Also, wenn das nicht Lord Maccon ist! Wie geht es Ihnen? Na, so was, sind wir nicht ein klitzekleines bisschen zu luftig angezogen für einen Abendspaziergang?« Die Stimme klang irgendwie bekannt und leicht belustigt.

»Biffy«, knurrte der Earl grollend.

»Und wie geht es Ihrer bezaubernden Frau?« Biffy war eine bekannte Drohne, und sein Vampir-Meister, Lord Akeldama, war ein enger Freund Alexias. Sehr zu Lord Maccons Ärgernis. Wenn er genauer darüber nachdachte, war Biffy ein ebensolches. Das letzte Mal, als die Drohne mit einer Nachricht seines Meisters nach Woolsey Castle gekommen war, hatten sich er und Alexia Stunden über die neueste Haarmode aus Paris unterhalten. Seine Frau hatte eine Schwäche für Gentlemen der frivolen Sorte. Conall überlegte kurz, was das wohl über seinen eigenen Charakter aussagen mochte.

»Zum Kuckuck mit meiner bezaubernden Frau«, gab er zurück. »Gehen Sie in diese Taverne, und besorgen Sie mir einen Mantel oder etwas in der Art, ja?«

Biffy zog eine Augenbraue hoch. »Wissen Sie, ich würde Ihnen ja meinen Frack anbieten, aber es ist ein Schwalbenschwanz, schwerlich hilfreich, und würde Ihnen mit Ihrer riesigen Statur ohnehin nicht passen.« Mit einem langen abschätzigen Blick musterte er den Earl. »Na, na, da wird mein Meister aber schrecklich geknickt sein, dass er das hier nicht gesehen hat.«

»Ihr unmöglicher Gönner hat mich bereits nackt gesehen.«

Eine faszinierte Miene aufsetzend, klopfte sich Biffy mit dem Zeigefinger gegen die Lippen.

»Ach, um Himmels willen, Sie waren doch dabei!«, rief Lord Maccon genervt.

Biffy lächelte nur.

»Einen Mantel.« Pause. Dann ein hinzugefügtes gegrummeltes »Bitte!«

Endlich verschwand Biffy und kehrte eilfertig mit einem Mantel aus Öltuch über dem Arm zurück, von schlechtem Schnitt und mit salzigem Geruch, aber wenigstens lang genug, um die anstößigen Körperteile des Earls zu bedecken.

Der Alpha schlüpfte hinein und starrte dann die immer noch lächelnde Drohne finster an. »Ich rieche ja wie gekochtes Seegras.«

»Die Marine ist in der Stadt.«

»Also, was wissen Sie von dieser verrückten Sache?« Biffy mochte zwar ein weibischer Geck sein, und auf seinen Vampirmeister traf das noch sehr viel mehr zu, doch Lord Akeldama war auch Londons größter Informationssammler, und er führte seinen Ring stets makellos gekleideter Spione so effizient, dass er damit alles, was die Regierung in Sachen Geheimdienst zu bieten hatte, in den Schatten stellte.

»Acht Regimenter kamen gestern im Hafen an: die Black Scotts, Northumberland, die Coldsteam Guards …« Biffy gab sich betont begriffsstutzig.

Lord Maccon fiel ihm ins Wort. »Nicht das – der Massenexorzismus!«

»Hmm, ach das! Das ist der Grund, weshalb ich auf Sie gewartet habe.«

»Natürlich haben Sie das«, seufzte Lord Maccon.

Biffys Lächeln erstarb. »Gehen wir, Mylord?« Er trat an die Seite des Werwolfs, der nun kein Werwolf mehr war, und gemeinsam marschierten sie los in Richtung Fleet Street.

Die nackten Füße des Earls verursachten auf den Pflastersteinen keinen Laut.

»Was?« Der verblüffte Ausruf hatte nicht eine, sondern gleich zwei Quellen: Alexia und den bis zu diesem Augenblick völlig vergessenen Tunstell. Der Claviger hatte sich hinter die Ecke der Veranda zurückgezogen, um dort das Ergebnis von Major Channings Disziplinierungsmaßnahme, in deren zweifelhaften Genuss er gekommen war, zu verarzten.