Briefe aus der Jugend in der NS-Zeit - Matthias Blazek - E-Book

Briefe aus der Jugend in der NS-Zeit E-Book

Matthias Blazek

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Beschreibung

Mit dem vorliegenden Band legt Matthias Blazek die zeithistorisch wichtigen, da exemplarisch verstehbaren Briefe von Ruth Bulwin in editorischer Ausarbeitung vor. Ruth Bulwin wuchs in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus auf und wurde wie die meisten Mädchen ihres Alters erzogen in und geprägt von der nationalsozialistischen Ideologie. Bulwin schrieb als Mädchen und junge Frau Briefe an ihre Eltern, die einen authentischen Einblick geben in das Leben in den 1930er- und 40er-Jahren im nationalsozialistischen Deutschland und Zeugnis ablegen von der politisch-naiven, relativen Unbeschwertheit eines jungen Mädchens in den Jahren 1936 und 1937 und schließlich von immer größeren Nöten und dem Alltag im Krieg ab 1939 berichten. Der vorliegende Band ergänzt unsere Kenntnisse über das Alltagsleben im NS-Staat um wertvolle Details.

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Seitenzahl: 214

Veröffentlichungsjahr: 2020

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ibidem-Verlag, Stuttgart

„Neulich hatten wir Feueralarm. Natürlich nur ein Probe[,] ob wir auch schnell genug antreten. Wenn Feueralarm ist, wird 3 mal dreimal hintereinander, also 9 mal[,] gepfiffen. Dann müssen wir augenblicklich auf der Straße antreten. Anni Rindfleisch (ein Weißenfelser Mädel) u. ich müssen dann zum Brandmeister flitzen u. 2 andere zum Feuermelder. Wir 4 sind die schnellsten Renner. Natürlich alarmieren wir die Feuerwache bei einer Probe nicht. Wir sausen nur bis hin u. wieder zurück.“ 

Ruth Bulwin, Brief aus dem Landjahrlager in Elten an ihre Mutter, 9. Juli 1937

Geleitwort

Matthias Blazek, Adelheidsdorf

Ruth Bulwin wuchs in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus auf und wurde so erzogen, wie die meisten Mädchen ihres Alters, geprägt von nationalsozialistischen Überzeugungen, die nicht zuletzt durch den Bund Deutscher Mädel vermittelt wurden. Das nationalsozialistische Erziehungsideal beschrieb Trude Bürkner, Reichsreferentin des BDM, so: „Der Junge soll als Junge – und das Mädel als Mädel erzogen werden. Die Grundforderungen müssen immer die gleichen sein; das Wie der Erziehung wird wesensbedingt sein müssen. Über der Arbeit des BDM. stehen zwei Erziehungsparolen, die der Führer selbst und der Jugendführer des Deutschen Reiches, Baldur v. Schirach, uns gaben.“1

Ruth Bulwins Jahre als junges Mädchen und junge Frau sind in Briefen an ihre Eltern verewigt, die einen besonderen Einblick geben in das Leben der dreißiger und vierziger Jahre, von relativer Unbeschwertheit eines jungen Mädchens in den Jahren 1936 und 1937 bis zu immer größeren Nöten und dem Alltag im Krieg ab 1939 berichten.

Ruth Bulwin ist in ihrem Leben viel herumgekommen, sie lebte mit ihrer Familie die letzten Kriegsjahre in Prag. Am Ende des langen Weges stand ihre Heimat Adelheidsdorf bei Celle, wo sie ihren Lebensabend im Kreis ihrer Familie verleben durfte.

Zuhause wurde von jeher viel von der Vergangenheit erzählt; so war es nur folgerichtig, dass Tochter Brigitte einige Jahre nach dem Tod ihrer Mutter alle ihre Briefe aus dem Sütterlin in die heute besser lesbare Schrift übertrug.

Diese Briefe geben einen erstaunlichen und persönlichen Einblick in das Leben einer jungen Frau in den Zeiten des Nationalsozialismus. Dabei ist das Ziel dieser Publikation, sie hier vollständig und weitestgehend unkommentiert wiederzugeben. Denn sie sollen einen Einblick geben in das Leben einer jungen Frau im Kontext der gesellschaftlichen Strukturen einer Zeit, in der die Menschen blind einem Führerprinzip folgten.

Die Texte wurden bewusst in der bis 1998 gültigen deutschen Rechtschreibung belassen. Auch die von Ruth Bulwin verwendeten Abkürzungen, mit denen sie Platz sparen wollte, um mehr mitteilen zu können, wurden beibehalten. Die Kommasetzung wurde mit Blick auf die Rechtschreibregeln und zur besseren Lesbarkeit grundsätzlich nachgetragen.

Der vorliegende Text wird möglicherweise die eine oder andere Lücke in den Überlieferungen schließen. Nicht alles Vergangene in der Zeit 1933–1945 ist überall lückenlos nachzuvollziehen.

Matthias Blazek, Journalist

im Juli 2020

 

 

 

Ruth Bulwin

geb. 29.10.1922

 

Briefe an ihre Eltern

Vorlagen: Original-Briefe von Ruth Bulwin,

übertragen von Brigitte Stark

 

Teil 1)

aus dem Landjahrlager 1937 in Elten/Niederrhein

14 bis 15 Jahre alt, 01.04.1937-08.12.1937

 

Teil 2)

aus dem Pflichtjahr 1940 in Bichl/Oberbayern

17 Jahre alt, 01.05.1940-04.09.1940

 

Teil 3)

aus Prag/Tschechische Republik

18 bis 22 Jahre alt, 03.08.1941-14.03.1945

 

 

 

 

 

 

Zum ewigen Gedenken an meine Mutter

Celle, im Jahre 2020

Brigitte Stark

 

1 Trude Bürkner (1902–1989), Reichsreferentin des BDM in der Reichsjugendführung: Der Bund Deutscher Mädel in der Hitler-Jugend (= Schriften der Deutschen Hochschule für Politik), Junker und Dünnhaupt, Berlin 1937 (28 Seiten), S. 7.

Vorwort

Ruth Bulwin, geb. Kolb, erblickte am 29. Oktober 1922 in Kassel das Licht der Welt. Sie blieb das einzige Kind ihrer Eltern.

Der Vater Walter war Kaufmann, ihre Mutter Margarete hatte als Putzmachermeisterin in dem renommierten Hut-Fachgeschäft Brunsfeld gearbeitet. Da die Firma Brunsfeld in Berlin eine Zweigstelle eröffnen wollte und Ruth Bulwins Mutter nun dort exquisite Hutmodelle für die oberen Zehntausend anfertigen sollte, zog die Familie mit Ruth, die zu der Zeit drei Jahre alt war, in die Hauptstadt. Dort ging sie dann zur Schule, wurde konfirmiert und machte später eine kaufmännische Ausbildung. Den Kontakt zu ihren Großeltern in Kassel, aber auch zu den anderen Großeltern in Rudolstadt hielt sie durch regelmäßige Ferienbesuche. 1933, dem Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, kam sie mit 10 Jahren zum Bund Deutscher Mädel (BDM), erlebte 1937 das Landjahr in Elten am Niederrhein und 1940 das Pflichtjahr bei der Familie Pfund in Bichl bei Bad Tölz. Ruth Bulwins Jugend war getrübt durch ein schwieriges Verhältnis zum Vater.

Schon mit 15 Jahren lernte sie ihren späteren Ehemann Rolf, einen waschechten Berliner, kennen. Sie heiratete am 4. Januar 1943 in Prag, da ihr Mann als Soldat dorthin versetzt wurde. Ende 1944 wurde dort ihr erstes Kind, eine Tochter, geboren. Kurz vor Kriegsende flüchtete siemit der Tochter und kam auf erlebnisreichen Wegen nach Thüringen. Der Ehemann war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Prag, da er kurz vor Kriegsende noch zum Fronteinsatz musste. Wie durch ein Wunder fanden die Eheleute sich aber wieder. Eine weitere Flucht führte sie dann gemeinsam nach Celle. Dort gebar Ruth Bulwin 1946 in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen, in einer Zeit, alsdie Menschen hungerten und Millionen Flüchtlinge versorgt werden mussten, ihr zweites Kind, einen Sohn.

Sie arbeitete ab 1950 als Stenotypistin im Oberlandesgericht Celle.

Die Familie fasste endgültig Fuß auf dem Land in Adelheidsdorf.

Zum privaten Schreiben hatte Ruth schon immer eine gewisse Affinität, allerdings waren es meistens kleine Gedichtchen zu familiären Ereignissen und ab und zu einige Kurzgeschichten.

Das Leben hat ihr erst im Alter von 70 Jahren die Muße gegeben, über das zu schreiben, was sie wirklich Jahrzehnte lang bewegte.

Ihr Buch „Spätes Echo“ war dann endlich ein Ventil für das, was sie so viele Jahre im Kopf gespeichert und mit sich herumgetragen hatte: ihr Leben in Berlin, zwangsläufig in Prag, die Flucht nach Rudolstadt und letztlich die Ankunft in Celle – ihr Leben vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Erlebnisse, Hoffnungen, Enttäuschungen – der extrem harte Existenzkampf, die schrecklichen Zeiten, Verzweiflung und doch nach vorne schauen und Energie entwickeln, um heraus aus all dem unwürdigen Leben zu kommen!

Vieles wurde im Laufe der Zeit schon in der Familie erzählt, jedoch gab es noch genug, was die Kinder nie vergessen sollten. Somit schrieb sie für ihre Kinder und Enkelkinder und die späteren Generationen alles auf.

Es entstand mit ihrem Buch nicht nur der Bericht ihrer eigenen Lebensgeschichte, sondern auch ein wunderbares, authentisches Zeitdokument, das symptomatisch für diejenigen, die das Dritte Reich erlebt hatten, war. Ihre Tochter konnte es 2014 publizieren.

Aus dem Nachlass: Preußisches Staatstheater Kassel, um 1930.

Aber es gab außerdem noch einen ganzen Ordner chronologisch gesammelter Briefe, die Ruth Bulwin in jungen Jahren an ihre Eltern schrieb und die dem vorliegenden Werk zugrunde liegen. Es handelt sich um ihre Briefe aus dem Landjahrlager mit 14 bis 15 Jahren, aus dem Pflichtjahr mit 17 Jahren und dann aus Prag mit 18 bis 22 Jahren.

In diesen schriftlichen Zeitzeugnissen spiegelt sich die systematische „Vereinnahmung“ und „Vorbereitung“ der Jugend für die Ideologie des Nationalsozialismus und dessen hinterhältige Methoden wider. Sie unterstreichen die Wichtigkeit des Buches „Spätes Echo“ und sollten der Jugend von heute nicht vorenthalten werden. Die Originalbriefe wurden von der Tochter abgeschrieben und hier von Matthias Blazek unverändert übernommen und historisch hinterlegt.

Ruth Bulwin starb im Alter von fast 87 Jahren am 26. Oktober 2009 in Celle.

Gliederung

Geleitwort

Vorwort

Abbkürzungsverzeichnis

Briefe aus dem Landjahrlager in Elten am Niederrhein

Die Großfahrt-Route (29. Juli bis 10. August 1937)

Rolf Bulwin

Briefe aus dem Pflichtjahr 1940 in Bichl/Oberbayern

Von München nach Prag

Briefe ab 03.08.1941 (bis 14.03.1945), vorwiegend aus Prag

Besuch in Prag im Mai 1996

Adressen

Literaturverzeichnis

Literaturhinweis

Abkürzungsverzeichnis

 

 

A.-G. Aktiengesellschaft

B. D. M., BDM Bund Deutscher Mädel

Bln. Berlin

ca. circa, zirka

ČNR Česká národní rada, Tschechischer Nationalrat

d.h. das heißt

d.i. das ist

Gk. Generatorkraft

km Kilometer

KLV Kinderlandverschickung

KZ Konzentrationslager

Lb. Liebe

M Mark

m Meter

Pfd. Pfund

RM Reichsmark

Stck. Stück

Std. Stunden

Tg. Tag(en)

u. und

u. a. unter anderem

USAAF United States Army Air Forces (Luftstreitkräfte des US-Heeres)

z. B. zum Beispiel

ZSg. Zeitungsausschnittsammlung (im Bundesarchiv)

z. Zt. zur Zeit (zurzeit)

 

 

Briefe aus dem Landjahrlager in Elten am Niederrhein

(Ruth 14 bzw. 15 Jahre alt, ab Dienstag, 13.04.1937 – Mittwoch, 08.12.1937)

[Elten,] den 13. 4. 37

Liebe Eltern!

Wir sind hier gut angekommen. Allerdings waren wir totmüde. Wir haben nach dem Essen geschlafen wie die Maulwürfe. Gestern haben wir Mohrrüben zu Mittag gehabt. Hier ist es heute sehr kalt. Ich habe ganz klamme Finger u. kann kaum schreiben. Die erste Post die wir schreiben u. die wir bekommen, wird durchgesehen. Zum Früstück [sic!] gibt‘s heute Griessuppe mit Rosinen. Bin gespannt wie die schmeckt. Wir dürfen, ausgenommen heute, nur freitags schreiben. Im Bett ist es am schönsten, denn wir sind trotz des Mittagsschlafes und der Nachtruhe noch nicht richtig ausgeschlafen. Ich freue mich sehr auf die Gartenarbeit. Das Heim ist ein Kloster gewesen, und nebenan ist gleich der Friedhof. Nun seid vielmals gegrüßt und geküßt Eure Ruth

Landjahrlager Elten bei Emmerich/ Niederrhein1

[Elten,] den 16.04.1937

 

Liebe Eltern!

Heute dürfen wir ausnahmsweise einen Brief schreiben. Sonst in der ersten Zeit nur Karten. Wie geht es Euch? Mir geht es gut. In den ersten Tagen konnte ich mich gar nicht richtig eingewöhnen. Das frühe Aufstehen, die Mittagsruhe usw. ist doch etwas ganz anderes wie zu Hause. Ich habe auch schon einmal Strafdienst gehabt, weil ich in der Mittagsruhe nicht stille war. Habt Ihr eigentlich meine Karte erhalten? Ich habe mir hier schon ganz den Dialekt der Thüringer Mädel angewöhnt. – Ich will Euch einmal unseren Tagesplan verraten. Früh um 600 Uhr, wenn’s pfeift, schnippen wir aus dem Bette. Das geht so rasend, wie Ihr es von mir gar nicht gewohnt seit [sic!]. Dann wird das Bett ausgelegt, Turnzeug angezogen u. dann ist Frühsport. Danach wird sich gewaschen u. die Lagerkleider angezogen. Diese bestehen aus rot, weiß + blau gepunktetem Stoff u. einer dunkelblauen Strickjacke. Dann ist Fahnenapell u. danach gehts endlich ans Frühstücken. Ich habe hier immer Hunger, obwohl wir kaum gegessen haben. Wenn wir dann unsere Mägen gestopft haben[,] ist Beginn der praktischen Arbeit. Wie: Hausarbeit, Garten- u. Küchenarbeit, Stallarbeit u. nähen. Bis jetzt sind wir Berliner noch noch [sic!] zu solcher gekommen. Nur die letzte, das Nähen[,] beschäftigte uns bis jetzt. Wir haben uns jetzt an sämtliche Stücke, die wir besitzen, Nummern drangenäht. Das macht Arbeit. Die Thüringer waren nämlich schon ein paar Tage früher da wie wir u. mit ihrem Nummern annähen also schon fertig. Die Glückspilze. Dann gibt’s Mittagessen. Danach ist Mittagsruhe 1 Stunde. Nachdem wie auch frühmorgens Betten machen. Da muß alles sitzen, kein Fältchen darf drin sein u. wenn solches der Fall ist, oder das Bettuch nicht glattgezogen ist, wird das Bett wieder aufgerissen. Eigentlich macht das Spaß[,] man gewöhnt sich an Ordnung. Hier nach haben wir Schulung oder Sport. In der Schulung unterhalten wir uns über die Politik. Dann ist Kaffeetrinken, danach Fahneneinholung. Um 600 Uhr gibt [es] dann Abendbrot. Nach dem ist großes Schuhe putzen, was übrigens noch öfters am Tage ist. Auch Fingernägel- oder Zahnglas- oder Kammapell ist manchmal. Zum Schluß haben wir noch Abendrunde, da singen wir u. machen allerlei Gesellschaftsspiele. Dann große Wäsche u. ins Bett. Gott sei Dank.

Nun seit [sic!] vielmals gegrüßt + geküßt von Eurer Ruth

auch an Muscher viele Grüße

Schreibt bitte recht bald u. viel.

Ruth

Grüßt bitte auch Gietemanns + besonders Hannelore

[Postkarte, abgestempelt in Elten (Niederrhein) am 24. April 1937, Absender: Ruth Kolb, Landjahrlager Elten, bei Emmerich, Niederrhein, An Familie Walter Kolb, Bln. Pankow, Clausthalerstr. 16:]2

[Elten,] den 23. 4.

Liebe Eltern!

Habt vielen Dank für Euer Paket u. Brief mit Briefmarken. Besonders Du[,] meine liebe Mutti[,] habe Dank. Die Hausschuh hast Du ja allerliebst gemacht u. das Beutelchen. Wenn Du wieder einmal schreibst[,] schicke mir bitte Postkarten (sie können unfrankiert sein) u. ein paar Geburtstagskarten mit. Am besten auch noch ein paar Briefmarken. Aber letzteres ist noch nicht so sehr nötig. (Du wirst Dich vielleicht wundern aber ich habe sehr viel zu schreiben.) Hat Muscher sich schon an mein Fernbleiben gewöhnt? – Ich habe heute auch zur Taufe geschrieben, darum kommt kein Brief, denn die Schreibzeit ist nicht sehr lang. Nachts ist es schrecklich kalt und wir bibbern alle furchtbar. Nun seit [sic!] herzlich gegrüßt und geküßt von Eurer Ruth.

Schreibt bald!!!

(Elten,) den 1. 5. 37

Meine liebe Mutti!

Heute abend wurde Post verteilt u. Deine liebe Karte u. Brief war auch dabei. Wir durften leider nicht eher schreiben wegen einer gemeinen Lüge[,] die leider immer noch nicht heraus ist. Wir bekamen auch erst heute sämtliche Post[,] die dieser Tage angekommen ist. Diese 14 Tage bin ich in der Gartengruppe. Das macht viel Spaß. Vorgestern u. gestern haben wir Kartoffeln gesetzt. Auch gesät u. umgegraben usw. habe ich schon. Außer dieser Gruppe gibt es noch die Küchengr., Waschgr., Plettgr., Hausgr. Vor 2-3 Wochen haben wir 3 Schweine ins Lager bekommen. Das große wird diesen Monat geschlachtet. Da freue ich mich schon auf das Schlachtfest. Die zwei anderen Schweine sind noch ziemlich klein. Außerdem haben wir noch Hühner + Puten hier. Auch einen Wachhund. Mit dem habe ich schon gut Freundschaft geschlossen. Gestern haben wir hier im Dorf Elten den Maibaum errichtet. Dann sind wir auf den Eltenberg gegangen u. haben um das Maifeuer, welches nicht brennen wollte, einen Volkstanz gemacht. Sämtliche Dorfbewohner waren dabei. Heute ist hier herrliches Wetter. Es ist der 2. Tag, solange wir hier sind, der schön ist. Wir haben heute Vormittag die Übertragung aus dem Radio + aus dem Lustgarten gehört.3 Warst Du dabei? Hoffentlich denkst Du auch mal an Dich und Deine Gesundheit. Du hast es mir doch versprochen. Am 27. + 28. war ich Mädel vom Dienst. Damit wird alle 2 Tage gewechselt. Ich mußte die Mädels zu jeder Gelegenheit antreten lassen. Wenn das geschehen ist, die Meldung machen. Muß mittags wecken usw. Am 5. d. M. hat Marthel Geburtstag. Ich liege mit ihr zufällig in einem Zimmer. Wir sind 8 Mädels im Zimmer. Du brauchst mir keine Decke [zu] schicken, es ist jetzt auch wärmer geworden. Der Film im Fote [Fotoapparat] ist ganz + gar versaut. Der Mann in der Apotheke hat ihn verkehrt herum reingemacht. Sodaß das schwarze nach oben war. Schade, nicht?

Lieber Vati! Kann man auch ohne Sonne knipsen? Ich kann mir hier selbst Filme kaufen u. entwickeln lassen. Jetzt muß ich Schluß machen, denn die Schreibzeit ist beendet.

Viele Grüße + Küsse

Eure Ruth.

[Elten, 7.5.37]

(zum Muttertag)

Meine liebe Mutti!

Heute will ich Dir einen besonders langen Brief schreiben, d.h. wenn ich es schaffe. Viel Glück wünsch ich Dir und ein recht recht langes Leben. Schade[,] daß ich nicht bei Dir sein kann. Hast Du auch meinen Rat befolgt? Gehst Du früher ins Bett und öfter einmal spazieren? Sitz doch nicht immer zu Hause und knoz. Leg Dich in die Sonne auf den Balkon! Aber bestimmt!!! Nun bin ich schon bald einen Monat hier. Dienstag sind es 4 Wochen. Noch 7 x solange[,] dann bin ich wieder bei Dir. Die Zeit geht bestimmt schnell um. Ich schrieb Euch ja, daß ich in der Gartengruppe bin. Dazu gehört aber auch, das Vieh zu versorgen. Jetzt weiß ich genau, was wir für Viehzeug haben: 3 Schweine, 11 Hühner, 11 Enten, 4 Wildenten, darunter ein Enterich, eine Taube und einen Fasan. Die alle zu füttern macht vielleicht Spaß. Ich habe auch schon den Stall ausgemistet. Das war weniger schön, aber ich mache es gern. Die Hühner u. Enten sind sehr zahm. Sie picken einem die Körner (und) aus der Hand. Wir haben noch 20 Min. Zeit zum Schreiben. Da muß ich nicht sehr beeilen. Heute waren wir wieder Brausen wie jeden Freitag im Gemeindebad Elten. Immer 3 in einer Zelle. Natürlich warm. Leider haben wir mit An- u. Ausziehen nur 20 Min. Zeit. Das ist sehr kurz. Als wir zum Baden gingen, kamen wir an der Post vorbei u. holten die Post an unser Lager ab, da war auch Deine liebe Karte dabei. Recht vielen Dank dafür. Die Kopfweite für die Bademütze schreibe ich Dir das nächste Mal. Dazu habe ich jetzt keine Zeit. Meine bunten Söckchen werden knapp. Ich habe nur noch 1 Paar. Das andere war ja so kaputt, das [sic!] ich es wegwerfen mußte. Bitte schicke mir doch 1-2 Paar bunte. Wir dürfen hier nämlich[,] weil weiße so schnell schmutzig werden, keine anziehen. Nur zu irgent welchen [sic!] festlichen Gelegenheiten.

Hier bei uns war auch ein Gewitter, aber schon am 4.5.37. Seitdem ist es wieder kalt hier. Es regnet dauernd u. ist gar kein Maiwetter.

Heute früh hörten wir das furchtbare Unglück vom Luftschiff Hindenburg.4 Ist das nicht furchtbar. Es traf uns alle wie ein Schlach. [sic!] Alles nur nicht dies, hatten wir erwartet. Du kannst Hannelore mal einen schönen Gruß bestellen, auch an ihre Eltern, u. vielen Dank für ihre Grüße. An Marthels Geburtstag hatten wir es gut. Sie bekam Kuchen, Kekse, Heringe in Tomatensauce usw. Sülzen bekommt sie auch noch. Davon bekommen wir natürlich unseren Teil ab.

Wir schreiben hier im Lager auch Tagebuch. Vom Lager aus haben wir jeder ein dickes Diarium. Auch ein Wäscheheft, wo wir reinschreiben, was wir in die Wäsche geben und ob wirs wieder herausbekommen und ein Kontobuch halten wir uns. Das Gedicht habe ich selber gedichtet.

Jetzt muß ich Schluß machen[,] denn die Schreibzeit ist leider schon wieder zu Ende.

Viele liebe Grüße + Küßchen von Deiner Ruth

Viele Grüße u. Küsse an Vati!

Gedicht zum Muttertag:

Meine liebe Mutti!

Zu Deinem Ehrentage

nimm diesen Kranz von mir

er ist mit Müh und Plage

gewunden aus Liebe zu Dir

Wenn ich Dich nun beschenkte

mit großen teuren Sachen

sie würden Dir ich glaube

nicht so viel Freude machen

dies Moos im Wald gesucht

so einfach und so schlicht

mit Liebe ist es gewunden

denn Mutterliebe vergeß ich nicht.

[Postkarte, abgestempelt in Elten (Niederrhein) am 15. Mai 1937, An Familie Walter Kolb, Berlin-Pankow, Clausthalerstr. 16:]

[Elten,] den 14.5.37

Liebe Eltern!

Herzliche Pfingstgrüße aus dem Lager sendet Euch Eure Ruth. Wir bekommen morgen Besuch; u. zwar kommt ein anderes Landjahrlager. Anschließend, also Montag, Dienstag, wollen wir auf Fahrt gehen. Es soll nach Xanten gehen. Hin laufen wir ungefähr 18 k.; das andere Stück fahren wir mit der Bahn. Zurück aber fahren wir auf dem Rhein. Das wird ganz groß. Wir freuen uns schon riesig. Heute haben wir schon die Vorbereitungen getroffen. Ich kaufe mir noch einen neuen Film u. knipse alles Sehenswürdige. Hoffentlich wird’s was. Mein Kapital wächst zusehends. Wir bekommen alle 10 Tage 50 ₰ [Pfennig] Taschengeld, das brauchen wir nicht abzugeben. Das sind im Monat 1,50 M, davon gehen 25 ₰ B.D.M. Beitrag ab; also 1,25 M. prima, was?5 Hast Du den Brief am Muttertag erhalten liebe Mutti? Wir stricken uns hier dunkelblaue Söckchen. Sie sollen bis zur Fahrt fertig werden. Ob es wohl bei allen wahr wird?

Nochmals herzl. Pfingstgrüße an Euch + Muscher Eure Ruth.

Nachsatz auf der Vorderseite: Besten Dank von Marthel für die Geburtstagskarte.

[Postkarte, abgestempelt in Elten (Niederrhein) am 22. Mai 1937, Familie Walter Kolb, Berlin Pankow, Clausthalerstr. 16:]

Elten, am 22.5.37

Liebe Eltern!

Nun sind wir von unserer Pfingstfahrt auch wieder zurück. Sie war prima. Wir waren in Xanten in einem anderen Lager. Das ist pfundig gelegen, mitten in einem Park auf einem Berg. Wir haben dort im Lager nur gegessen, uns gewaschen u. Abendrunde gehabt usw.; geschlafen haben wir bei einem Bauern in der Scheune. 2 Nächte lang. Es schlief sich beinahe besser wie im Bett. Nur die Mäuse wisperten Nachts [sic!] ganz schön. So schön wie es auch auf der Fahrt war, wir sind doch froh, das [sic!] wir wieder im eigenen Lager sind. Gelaufen sind wir von Elten – Emmerich (18 k.), dann haben wir uns über den Rhein setzen lassen u. sind dann immer an ihm entlang gegangen bis Kalkar. Von dort sind wir mit der Bahn bis X. gefahren. Zurück sind wir von X. – Emmerich mit dem Schiff gefahren, In X. sind wir im kath. Dom u. bei dem römischen Amphitheater gewesen, das freigelegt wurde. Letzteres ist noch nicht lange ausgegraben. Auch waren wir bei dem bekannten Töpfermeister Hehl.6 Er ließ mich auf der Drehscheibe auch einmal probieren u. ich brachte auch glücklich eine kl. Vase zustande. – Ach beinahe hätt ich die Hauptsache vergessen. Habt vielen vielen Dank für das Paket. Die Strümpfe passen alle. Das andere hat sehr gut geschmeckt. Vielen Dank!

Viele Grüße + Küsse von Eurer Ruth.

[über Kopf:] Schreibt bitte bald!!!!!!!!!!

[Postkarte, abgestempelt in Elten (Niederrhein) am 29. Mai 1937, An Familie W. Kolb, Berlin-Pankow, Clausthalerstr. 16:]

[Elten,] den 29.

Liebe Eltern!

Heute dürfen wir leider nur eine Karte schreiben. Eigentlich ist Schreibverbot. Neulich war Maria Klein im Lager (Bezirksführerin).7 Die ist prima. Unsere blauen Söckchen sind jetzt alle fertig. Wir machen uns jetzt alle ein Lagerkleid (Trägerrock mit weiß + blauer Bluse.) Im nächsten Brief schicke ich Dir mal ein Muster mit. Vorige Woche habe ich einen Brief vom Großvater bekommen. Ich hatte ihm zu Pfingsten geschrieben. Wir waren auch schon in Holland, 1 Tag. Vom Eltener Berg aus sieht man eine holländ. Jugendherberge. Dort waren [wir]. Leider herrschte feindlich Stimmung u. wir durften nicht hinein. Schade.

Auch in S‘Heerenberg sind wir gewesen.8 Wie uns da die Leute angeguckt haben. Wir konnten Ansichtskarten für deutsches Geld bekommen. Stück 4 ₰. Gleich haben wir Mittagsruhe!!

Aufwiedersehn bis zum Brief Eure Ruth

Ich bin jetzt Hausgruppe.

[Elten, 5.6.37 ]

Meine lieben Eltern!

Heute endlich wieder einmal ein Brief.

Liebe Mutti, habe vielen Dank für Deinen lieben Brief mit Marken. Das waren ja viel.

Eurer Ruth

Hier wird noch ein Brief von Maria Klein reingelegt wie in alle Briefe

[Postkarte, abgestempelt in Elten (Niederrhein) am 12. Juni 1937, An Familie Walter Kolb, Berlin-Pankow, Clausthalerstr. 16:]

Ansichtskarte Popp Nr. 3292: Katze Schnurri beim Milchtrinken.

[ohne]

Liebe Eltern!

Heute kann ich leider nur 1 Karte schreiben, weil ich Küchengruppe bin; da müssen wir noch abwaschen. Habt vielen Dank für Euren lb. Brief. Macht Euch bitte keine Sorgen wegen meiner Hüfte es ist alles wieder in Ordnung u. tut garnicht mehr weh. Sonntag waren wir in Kleve zu Fuß, hin u. zurück 26 k. Haben die Stadt besichtigt. Viele Grüße u. Küsse Eure Ruth / wenden: unser Muscher

[Postkarte, abgestempelt in Elten (Niederrhein) am 19. Juni 1937, An Familie Walter Kolb, Berlin-Pankow, Clausthalerstr. 16:]

[ohne]

Meine lieben Eltern.

Habt recht schönen Dank für Euren lieben Brief. Vorigen Sonntag waren wir das 1. Mal baden im Rhein. Prima! Mein Badeanzug ist so klein geworden. (viel mehr bin ich zu groß geworden.) Ich muß mich richtig reinzwengen. Ich freu‘ mich schon auf den neuen. – An derselben Seite wo ich hingefallen war hatte ich jetzt 4 Furunkel. Mußte auch damit zum Arzt. Der drückte sie mir jedesmal aus. Jetzt ist aber alles schon wieder gut. Macht Euch bloß keine Sorgen. Von dem Unglück in der Pflanz [sic!] hatte ich noch nichts gehört.9 Aber habe nur keine Angst, liebe Mutti, wir sind beim baden sehr vorsichtig. Hier bei uns ist kein Unwetter gewesen wie Du von zu Haus schriebst. Nur heute hat es furchtbar gegossen. Aus der Küchengr. bin ich nun auch schon bald wieder heraus; denn alle 14 Tage Montags [sic!] wird gewechselt. Jetzt komme ich wieder in die Gartengr. – An Anneliese habe ich noch nicht geschrieben[,] ich hatte noch keine Zeit.

Viele Grüße u. Küsse von Eurer Ruth.

Elten den 25.6.37

Meine lieben Eltern!