Briefsteller - Michail Schischkin - E-Book

Briefsteller E-Book

Michail Schischkin

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Beschreibung

Eine Frau, ein Mann, eine Sommerliebe.

Sascha und Wolodja werden durch einen Krieg getrennt und können sich nur Briefe schreiben. Sie erzählen einander darin von allem und jedem: von Kindheit, Familie, Alltag, von Freud und Leid. Ein normaler Briefwechsel zweier Liebender – bis sich beim Leser Zweifel regen und klar wird, dass die Zeit der beiden verrückt ist, dass sie durch Raum und Zeit getrennt sind. Sie lebt in der Gegenwart, er kämpft im Boxeraufstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen chinesische Rebellen.

Ein großer, anrührender Liebesroman, der die grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz behandelt und der durch die Macht des Wortes die Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft setzt.

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Seitenzahl: 511

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MICHAIL SCHISCHKIN

Briefsteller

Roman

Aus dem Russischen vonAndreas Tretner

Deutsche Verlags-Anstalt

Wie ich die Zeitung von gestern aufschlage, steht da etwas über Dich und mich.

Da steht: Am Anfang wird wieder das Wort sein. Während sie den Kindern in der Schule immer noch die alte Geschichte auftischen, dass es zuerst einen großen Knall gab und alles, was da war, in Fetzen flog.

Aber dann muss das alles ja schon vor dem Knall existiert haben: alle noch unausgesprochenen Wörter und alle sichtbaren und unsichtbaren Galaxien. So wie dem Sand schon das künftige Glas innewohnt, Sandkörner sind Samenkörner für dieses Fenster hier, vor dem gerade ein Junge vorbeiläuft, der sich seinen Fußball vorne unter das Trikot geklemmt hat.

So ein Knäuel aus Wärme und Licht.

Und dieses Ding – mit Stübchen und Bübchen: nicht Tür noch Tor führn ein und aus, wie heißt nun dieses kleine Haus? – war ungefähr wie ein Fußball so groß, sagt die Wissenschaft. Oder wie eine Melone. Die Bübchen darin waren wir. Und all das reifte heran und tat dicke und wollte mit Macht heraus.

Die Urmelone platzte.

Die Samen stoben in alle Winde und sprossen.

Ein Kernlein keimte aus und wurde Baum, der Schatten seines Astes schurrt über unser Fensterbrett.

Ein anderes wurde zur Erinnerung eines Mädchens, das ein Junge sein wollte. Einst ging es zum Kinderfasching als gestiefelter Kater, aber alle wollten es immer nur am Schwanz ziehen und gaben nicht länger Ruh, bis sie ihn abgerissen hatten und das Mädchen den Schwanz in der Hand mit sich herumtragen musste.

Ein drittes Kernlein, das vor Zeiten auf fruchtbaren Boden fiel, wurde zum Jüngling, welcher es gern hatte, wenn ich ihm den Rücken kraulte, und Lügen nicht ausstehen konnte, besonders wenn sie von allen Tribünen schallten: dass es keinen Tod gebe und geschriebene Worte eine Art Straßenbahn zur Unsterblichkeit seien.

Dem Horoskop der Druiden nach war er Mohrrübe.

Bevor er sein Tagebuch und alle Manuskripte verbrannte, schrieb er noch einen letzten, furchtbar komischen Satz: »Die Gabe hat mich verlassen.« Ich konnte ihn gerade noch lesen, bevor Du mir das Heft aus den Händen rissest.

Wir standen am Feuer und hoben die Hände gegen die Hitze vors Gesicht, sahen auf die Fingerknochen, die sich im durchscheinenden roten Fleisch abzeichneten. Ascheflocken rieselten auf uns herab – verbrannte Seiten, noch warm.

Ja, das war mir fast entfallen – bis zu dem Tag, wo sich alles, was da ist, wieder in einem Punkt zusammenzieht.

Rübchenbübchen, wo magst Du gerade sein?

Und übrigens, wie kommt mir das vor? Die dumme Jule strengt sich an und schickt ihm Briefe, doch Monsieur Saint-Preux in seiner Hartherzigkeit begnügt sich mit ein paar launigen Kurzbotschaften – teils in Versen, worin sich Seelen auf Makrelen reimt, Munition auf Sublimation, verschissenes Loch auf Lächeln der Mona Lisa (weißt Du übrigens, worüber sie lächelt? Ich hab es, glaube ich, heraus), Nabel auf Babel und Gott auf Kompott.

Mein Geliebter!

Warum hast Du das getan?

Ich muss mir nur noch einen Krieg aussuchen. Aber daran wird es nicht scheitern. Solcher Segen liegt dem keuschen Vaterland ja doch am Herzen und genauso den befreundeten Reichen: Kaum blättert man die Zeitung auf, schon werden Babys aufs Bajonett gespießt und alte Frauen vergewaltigt. Ein unschuldig getöteter Zarensohn im Matrosenanzug weckt dabei immer noch am meisten Mitleid. Alte, Frauen und Kinder, das geht zum einen Ohr rein, zum anderen raus, ein Matrosenanzug ist was anderes.

Bin nur ein armer Solotambour, o Abendlied, o Glockenklang, die Heimat ruft.

Auf der Einberufungsstelle wurde die Berufung ausgegeben: Jedem sein Waterloo!

Wohl wahr.

Der Militärarzt der Musterungskommission – riesiger knorriger Kahlschädel – sah mich an mit forschendem Blick.

»Du hast für die Menschen nur Verachtung übrig«, stellte er fest. »Ich war auch einmal so, weißt du. Bei meinem ersten Krankenhauspraktikum war ich in deinem Alter. Eines Tages bekamen wir einen Obdachlosen rein, den hatte ein Auto angefahren. Er lebte noch, war aber arg zugerichtet. Man gab sich nicht groß Mühe mit dem Alten. Es war klar, dass er niemandem wichtig war, kein Hahn würde nach ihm krähen. Er stank und starrte vor Dreck, hatte Läuse, Geschwüre. Man legte ihn abseits, möglichst weit weg, damit er nichts besudelte. Dort sollte er sein Leben aushauchen. Und ich sollte hinterher den Dreck wegmachen, die Leiche waschen und ins Schauhaus bringen. Alle gingen weg, ließen mich mit ihm allein. Und ich ging erst mal eine rauchen. Dachte: Wieso mache ich das hier eigentlich? Was geht dieser Alte mich an? Wozu ist er überhaupt gut? Während ich rauchte, tat er uns den Gefallen und starb. Und während ich ihm notdürftig Blut und Eiter abwischte, um ihn schleunigst in die Kühlkammer zu bugsieren, da kam mir der Gedanke: Vielleicht ist er ja auch Vater von irgendwem? … Ich schleppte eine Schüssel heißes Wasser an und begann ihn zu waschen. Der Körper war alt und verwahrlost, das blanke Elend. Den hatte seit Jahren keiner gestreichelt. Und ich wusch ihm die Füße, die grässlich verkrüppelten Zehen, fast ohne Nägel – die hatte der Fußpilz weggefressen. Mit dem Schwamm wusch ich alle seine Narben und offenen Wunden aus, und dabei redete ich leise mit ihm: Na, Alter, das Leben hats nicht gut mit dir gemeint, wie? Ist schon hart, wenn einen keiner liebt. Wie fühlt man sich auf der Straße, in deinem Alter, so als streunender Hund? Aber jetzt hat das ja alles ein Ende. Ruh dich aus. Jetzt ist alles gut. Nichts tut mehr weh, keiner kann dich hetzen … So hab ich den gewaschen und mit ihm geredet. Keine Ahnung, ob ihm das im Tod geholfen hat, aber mir hat es im Leben sehr geholfen.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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