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Michail Schischkin

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Beschreibung

Ein Glanzstück der zeitgenössischen russischen Literatur

»Warum haben Sie Asyl beantragt?« Diese Frage muss er mehrfach täglich ins Russische übersetzen. Der namenlose Dolmetscher arbeitet für die Schweizer Einwanderungsbehörde und hört täglich zahllose Geschichten der Not, reale ebenso wie erfundene. Beim Übersetzen des fremden Leids legt sich seine eigene Lebensgeschichte wie eine zweite Schicht um die Worte, denn auch er ist ein Emigrant, der sich nach denen sehnt, die er nicht mehr um sich hat: nach seiner Frau und seinem Kind. Schischkin erzählt ein Jahrhundert russischer Geschichte und bettet das Leben des Dolmetschers in einen Kosmos der gesamten Weltkultur ein.

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Seitenzahl: 858

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Inhaltsverzeichnis

Copyright

Und angerufen wird der Staub und zu ihm gesagt:»Gib zurück, was dir nicht gehört;offenbare, was du bewahrt für seine Zeit.«Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, unddurch das Wort werden wir einst auferstehen. [Ref 1]

Buch der Offenbarung Baruchs, des Sohnes des Nerija, 4, XLII

Dem Dareios und der Parysatis wurden zwei Söhne geboren, ein älterer, Artaxerxes, ein jüngerer, Kyros. [Ref 2]

Die Befragungen beginnen morgens um acht. Alle sind noch verschlafen, zerknittert, mürrisch – die Beamten ebenso wie die Dolmetscher, die Polizisten und die Asylanten. Die, die erst noch Asylanten werden wollen, genauer gesagt. Einstweilen sind sie bloß GS. Gesuchsteller. So heißen diese Menschen hier.

Der Erste wird hereingeführt. Vorname. Zuname. Geburtsdatum. Aufgeworfene Lippen. Pickel überall. Älter als sechzehn, so viel ist klar.

Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl in der Schweiz bitten.

Antwort: Mit zehn kam ich ins Heim. Unser Direktor hat mich vergewaltigt. Ich bin abgehauen. Auf einem Parkplatz hab ich Trucker getroffen, die über die Grenze fahren. Einer hat mich rausgeschafft.

Frage: Warum haben Sie Ihren Direktor nicht bei der Polizei angezeigt?

Antwort: Die hätten mich totgeschlagen.

Frage: Wer sind »die«?

Antwort: Die stecken doch alle unter einer Decke. Der Direktor hat mich und noch einen Jungen und zwei Mädchen ins Auto gepackt und auf eine Datscha gefahren. Nicht seine, die von irgendwem, keine Ahnung. Dort trafen sie sich, die ganzen Chefs, auch der Polizeichef. Sie haben gesoffen und auch uns Alkohol eingeflößt. Dann wurden wir auf die Zimmer aufgeteilt. Das Haus war groß.

Frage: Sind damit alle Gründe genannt, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten?

Antwort: Ja.

Frage: Beschreiben Sie Ihren Reiseweg. Aus welchem Land sind Sie in die Schweiz eingereist, und wo genau?

Antwort: Das weiß ich nicht. Ich saß im Truck, hinter Kartons. Ich bekam zwei Plastikflaschen: eine mit Wasser, eine für den Urin. Nur nachts durfte ich raus. Hier ganz in der Nähe haben sie mich abgesetzt. Ich weiß ja nicht mal, wie die Stadt heißt. Ich bekam gesagt, wo ich hingehen soll, um mich zu stellen.

Frage: Haben Sie sich in der Vergangenheit politisch oder religiös betätigt?

Antwort: Nein.

Frage: Sind Sie vorbestraft? Wurde gegen Sie ermittelt?

Antwort: Nein.

Frage: Haben Sie schon einmal in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt?

Antwort: Nein.

Frage: Haben Sie in der Schweiz eine Rechtsvertretung?

Antwort: Nein.

Frage: Stimmen Sie einer Knochengewebeuntersuchung zur gutachterlichen Feststellung Ihres Alters zu?

Antwort: Was?

In der Pause kann man im Dolmetscheraufenthaltsraum einen Kaffee trinken. Die Fenster gehen hier auf die Baustelle, wo ein neues Empfangszentrum für Asylsuchende errichtet wird.

In Abständen glüht der weiße Plastikbecher in meinen Händen auf, das ganze Zimmer erstrahlt im Widerschein der Schweißblitze. Das kommt, weil der Schweißer direkt vor dem Fenster arbeitet.

Niemand sonst ist im Raum, ich kann zehn Minuten ungestört lesen.

Also: Dem Dareios und der Parysatis wurden zwei Söhne geboren, ein älterer, Artaxerxes, ein jüngerer, Kyros. Als Dareios krank war und das Ende seines Lebens vorausahnte, wollte er beide Söhne in seiner Nähe haben. Der ältere war nun zufällig anwesend. Kyros aber ließ er aus dem Herrschaftsbereich rufen, zu dessen Satrapen er ihn gemacht hatte.

Auch die Buchseiten flammen auf im Blitzlicht des Schweißens. Das Lesen ist unangenehm – nach jedem Blitz wird die Seite schwarz.

Es dringt selbst durch die geschlossenen Lider.

Peter schaut zur Tür herein. Herr Fischer. Der Schicksalslenker. Er zwinkert mir zu als wolle er sagen: Sollen wir wieder? Und auch er wird angeblitzt wie von einem Fotoapparat. Prägt sich ein mit einem zugekniffenen Auge.

Frage: Verstehen Sie den Dolmetscher?

Antwort: Ja.

Frage: Wie ist Ihr Name?

Antwort: ***.

Frage: Vorname?

Antwort: ***.

Frage: Wie alt sind Sie?

Antwort: Sechzehn.

Frage: Haben Sie einen Pass oder ein anderes Dokument, das Ihre Identität bezeugt?

Antwort: Nein.

Frage: Sie müssen doch eine Geburtsurkunde haben. Wo ist sie?

Antwort: Verbrannt. Alles ist verbrannt. Die haben unser Haus abgefackelt.

Frage: Wie heißt Ihr Vater?

Antwort: *** ***. Er ist schon lange tot, ich kann mich gar nicht an ihn erinnern.

Frage: Was war die Todesursache?

Antwort: Weiß ich nicht. Er war viel krank. Hat getrunken.

Frage: Geben Sie den Vor – und Nachnamen sowie Mädchennamen Ihrer Mutter an.

Antwort: ***. Mädchenname weiß ich nicht. Sie ist ermordet worden.

Frage: Wer hat Ihre Mutter ermordet, wann und unter welchen Umständen?

Antwort: Die Tschetschenen.

Frage: Wann?

Antwort: Diesen Sommer. Im August.

Frage: An welchem Tag?

Antwort: Das weiß ich nicht mehr genau. Kann sein, am neunzehnten oder am zwanzigsten. Weiß ich nicht mehr.

Frage: Wie wurde Ihre Mutter ermordet?

Antwort: Erschossen.

Frage: Geben Sie Ihren letzten Wohnsitz vor der Ausreise an.

Antwort: ***. Das ist ein kleines Dorf in der Nähe von Shali.

Frage: Geben Sie die genaue Adresse an: Straße, Hausnummer.

Antwort: Adresse gibt es nicht, da war nur eine Straße und unser Haus. Das steht nicht mehr. Abgebrannt. Vom ganzen Dorf ist nichts übrig.

Frage: Haben Sie Verwandte in Russland? Geschwister?

Antwort: Einen Bruder hatte ich. Einen großen Bruder. Er wurde getötet.

Frage: Wer hat Ihren Bruder getötet, wann und unter welchen Umständen?

Antwort: Die Tschetschenen. Auch da. Zusammen mit der Mutter.

Frage: Sonst noch Verwandte in Russland?

Antwort: Sonst keine.

Frage: Haben Sie Verwandte in Drittländern?

Antwort: Nein.

Frage: In der Schweiz?

Antwort: Nein.

Frage: Welcher Nationalität gehören Sie an?

Antwort: Russe.

Frage: Konfession?

Antwort: Wie?

Frage: Religion?

Antwort: Ja.

Frage: Orthodox?

Antwort: Ja, ja. Ich hatte nicht richtig verstanden.

Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl in der Schweiz bitten.

Antwort: Zu uns kamen immerzu Tschetschenen und wollten, dass mein Bruder mit ihnen in die Berge geht und gegen die Russen kämpft. Sonst würden sie ihn töten. Meine Mutter hat ihn versteckt gehalten. Als ich an dem Tag nach Hause kam, hörte ich aus dem offenen Fenster Schreie. Ich versteckte mich beim Schuppen im Gebüsch und sah, wie im Zimmer drinnen ein Tschetschene mit dem Gewehrkolben auf meinen Bruder einschlug. Es waren mehrere, alle mit Kalaschnikows. Den Bruder konnte ich nicht sehen, er lag schon am Boden. Und dann hat sich meine Mutter mit dem Messer auf sie gestürzt. Dem kleinen Küchenmesser zum Kartoffelschälen. Einer von denen hat sie gegen die Wand gestoßen, das Gewehr gegen ihren Kopf gehalten und abgedrückt. Dann sind sie rausgekommen, haben das Haus mit Benzin aus einem Kanister begossen und angezündet. Dann standen sie da und haben zugeguckt, wie es brannte. Mein Bruder hat noch gelebt, ich habe ihn schreien hören. Ich hatte Angst, dass sie mich sehen und auch umbringen.

Frage: Reden Sie weiter, erzählen Sie, was dann geschah.

Antwort: Dann sind sie weggegangen. Und ich hockte da, bis es finster wurde. Ich wusste nicht, was tun und wohin. Ich bin dann zu einer russischen Wachpostenstelle an der Straße nach Shali. Ich dachte, die Soldaten könnten mir irgendwie helfen. Aber die haben selber bloß Angst, sie jagten mich weg. Ich wollte ihnen erklären, was passiert war, aber sie schossen in die Luft, damit ich mich verzog. Ich hab die Nacht draußen in irgendeinem zerstörten Haus verbracht. Mich anschließend nach Russland durchgeschlagen. Und von da nach hier. Dort möchte ich nicht leben.

Frage: Sind damit alle Gründe genannt, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten?

Antwort: Ja.

Frage: Beschreiben Sie Ihren Reiseweg. Durch welche Länder sind Sie gekommen und mit welchen Verkehrsmitteln?

Antwort: Je nachdem. Mit Zügen. S-Bahn und Eisenbahn. Über Weißrussland, Polen, Deutschland.

Frage: Hatten Sie Geld, um Fahrkarten zu erwerben?

Antwort: Woher denn? Ich bin schwarzgefahren. Hab mich von den Kontrolleuren ferngehalten. In Weißrussland bin ich einmal geschnappt und während der Fahrt aus dem Zug geschmissen worden. Ich hatte Glück, dass der Zug gerade langsam fuhr und dass da eine Böschung war. Ich bin gut gefallen, ohne mir was zu brechen. Hab mir nur an Glasscherben das Bein aufgeschlitzt. Hier, sehen Sie. Dann hab ich auf dem Bahnhof übernachtet, eine Frau gab mir Pflaster.

Frage: Welche Dokumente haben Sie beim Grenzübertritt vorgewiesen?

Antwort: Keine. Ich bin immer nachts zu Fuß rüber.

Frage: Wo und auf welche Weise haben Sie die Schweizer Grenze überschritten?

Antwort: Hier in … wie heißt das noch mal …

Frage: Kreuzlingen.

Antwort: Ja. Ich bin ganz normal an der Polizei vorbei. Die kontrollieren nur Autos.

Frage: Womit haben Sie Ihren Lebensunterhalt bestritten?

Antwort: Mit nichts.

Frage: Was soll das heißen? Haben Sie gestohlen?

Antwort: Je nachdem. Manchmal ja. Was hätte ich tun sollen? Man hat doch Hunger.

Frage: Haben Sie sich in der Vergangenheit politisch oder religiös betätigt?

Antwort: Nein.

Frage: Sind Sie vorbestraft? Wurde gegen Sie ermittelt?

Antwort: Nein.

Frage: Haben Sie schon einmal in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt?

Antwort: Nein.

Frage: Haben Sie in der Schweiz eine Rechtsvertretung?

Antwort: Nein.

Während der Drucker das Protokoll ausspuckt, bleiben alle stumm. Der Junge polkt an seinen abgekauten schwarzen Fingernägeln. Seine Jacke und die schmutzigen Jeans riechen nach Zigarettenrauch und Urin.

Zurückgelehnt sitzt Peter auf seinem Stuhl und schaukelt, dabei sieht er aus dem Fenster, wo Vögel ein Flugzeug überholen.

Ich male Kreuzchen und Kästchen in meinen Block, ziehe Diagonalen hindurch und schwärze die entstandenen Dreiecke so, dass ein regelmäßiges Relief entsteht.

An den Wänden ringsum hängen Fotos. Der Schicksalslenker ist ein fanatischer Angler. Hier hält er auf Alaska einen dicken Fisch bei den Kiemen, dort irgendein karibisches Tier am kräftigen Haken, der aus dem Riesenrachen ragt.

Hinter meinem Kopf hängt eine Weltkarte. Übersät mit farbigen Stecknadelköpfen. Schwarze Nadeln stecken in Afrika, gelbe in Asien. Weiße Nadelköpfe ragen aus den Balkanländern, Weißrussland, der Ukraine, Moldawien, Russland und dem Kaukasus. Nach dieser Befragung wird ein weiterer hinzukommen.

Nadelstichtherapie.

Der Drucker verstummt und blinkt rot – das Papier ist alle.

Hochwerter Nabuccosaurus!

Ihr erhieltet von mir schon ein flüchtiges Kärtchen, das mehr und Näheres in Aussicht stellte. Nun denn!

Nach vollbrachtem Tagwerk hinter schwedischen Gardinen kehrte ich heim. Aß Makkaroni. Las nochmals Eure Botschaft, die mich so höchlich erfreut hat. Mein Blick ging aus dem Fenster. Wind trieb die Dämmerung heran. Es regnet in Strömen. Unten auf dem Rasen liegt ein roter Schirm, wie ein klaffender Schnitt in der Grashaut.

Aber der Reihe nach.

Es geschieht wahrlich nicht jeden Tag, dass der Postbote unsereins mit Botschaften aus fremden Landen verwöhnt. Noch dazu solchen! Zwischen Rechnungen und Reklame die freudige Überraschung: ein Brief von Euch, worin Ihr Euren Staat, den Staat des großen Nabuccosaurus, bis ins Kleinste beschreibt: seine ruhmreiche geografische Vergangenheit, Ebbe und Flut der Geschichte, Sitten der Flora und Gebräuche der Fauna, Vulkane, Gesetze, Katapulte und die kannibalischen Gelüste der Bevölkerung. Wie zu erfahren war, hat es sogar Vampire bei Euch da unten und Draculas! Und Ihr führt also das Zepter. Sehr erfreut.

Zwar wimmelt es in Eurem Schreiben von grammatischen Fehlern, aber was tut das zur Sache! Fehler korrigieren, das lässt sich lernen, doch solcherart Botschaft wird mir von Euch gewiss kein zweites Mal zuteil. Kaiser werden furchtbar schnell erwachsen und vergessen ihre Reiche.

An der beigelegten Karte Eures Inselimperiums, dem gediegenen Werk begabter kaiserlicher Kartografen, vermag ich mich gar nicht sattzusehen. Wisst Ihr was, ich werde sie mir hier an meine Wand pinnen! Dann kann ich immer schauen und rätselraten, wo zwischen all den Bergen, Wüsten und Seen, Filzstiftfeldern, -wäldern und – metropolen Ihr wohl gerade seid. Und was Ihr so treibt? Seid Ihr schon umgezogen aus der Sommerresidenz ins Herbstpalais? Oder schlaft Ihr schon? Eine unversenkbare Flotte behütet Euren Schlaf: Sieh an, sieh an, Triremen und Unterseeboote umkreisen in Kiellinie die Inseln.

Und welch ruhmreicher Name für den wohltätigen Herrn! In bunten Lettern geschrieben! Ich habe ja so meine Vermutungen, wie Ihr drauf kamt, doch die behalte ich für mich.

Nun bittet Ihr in Eurem Sendschreiben, Einblick zu erhalten in unseren Staat, der Euch fern und Euren Erdkundlern und Entdeckungsreisenden noch unbekannt ist. Wie könnte ich dieses Begehren unbefriedigt lassen!

Was also gibt es über unser Reich zu sagen? Es ist ein gelobtes, gastliches, wolkenkratzendes Land. Gemessen an der Fläche, sind drei Jahre im Galopp keine Entfernung. Gemessen an der Zahl der Mücken pro Körper der Bevölkerung in schlaflosen Stunden, sucht es seinesgleichen. Gemessen spaziert die Katze auf der Mauer. [Ref 3]

Unsere Karte ist reich an weißen Flecken, vor allem wenn es schneit. Die Grenzen sind so weit, man weiß gar nicht, was eigentlich dahinter kommt. Die einen sagen: der Horizont. Anderen Quellen zufolge die Schlusskadenz der Engelsposaunen. Verbürgt ist jedoch, dass wir ungefähr nördlich der Hellenen liegen, an den Ufern des Himmelsozeans, über den nun wieder unsere unversenkbare Wolkenflotte in Kiellinie zieht.

Flora ist einstweilen noch vorhanden, von der Fauna sind nur die Wipfel der Bäume da draußen übrig, die aussehen wie Schwärme von Jungfischen. Der Wind scheucht sie.

Unsere Fahne ist ein Chamäleon, die Gesetze lassen sich drehen, von Vulkanen ist mir persönlich nichts bekannt.

Die hauptsächliche Frage, an der sich die imperialen Geister hier seit Generationen scheiden, ist: Wer sind wir und wozu? Bei aller Augenscheinlichkeit – die Antwort ist vage. Von vorne sind wir Sarmaten, von der Seite Hyperboreer, also entweder Orotschen oder Tungusen. Und jeder ist ein Ministerium für sich. Pardon, Mysterium wollte ich schreiben.

Woran die Leute hier glauben, ist primitiv, doch nicht ohne Poesie. Manche glauben felsenfest, die Welt wäre eine große Elchkuh und der Wald ihr Fell, darin die wilden Tiere als Parasiten hausen und die Vögel darüber als schwirrendes Ungeziefer. So sieht sie aus, die Herrin des Universums. Und fällt es ihr ein, sich an einem Baum zu scheuern, dann hebt das große Sterben an.

Kurzum, dieses Reich hat irgendwer zur besten aller Welten erklärt, und Euer ergebener Diener ist in ihr – das wolltet Ihr doch wissen: ob nicht zufällig der Chef vom Ganzen …? – nein, kein Chef. Aber wie sag ich es meinem lieben Nabuccosaurus, welchen Geschäften wir hier nachgehen? Ich will einmal so sagen: Selbst diese ängstlich schwärmende Fischbrut draußen vor dem Fenster, nicht ahnend, dass sie nur Laub ist im Wind – selbst die glaubt, dass da für jeden einer sei, der auf ihn wartet, an ihn denkt und ihn von Angesicht kennt: jedes Äderchen, jedes Tüpfelchen. Davon bringt sie keiner ab. Und so kommen sie gekrochen aus allen erdenklichen Welten, aus jedem Dorf ein Hund: Raubeine und Mimosen, Märtyrer und Angehörige, Linkshänder und Rechtshänder, Racketeers und Taxidermisten. Keiner versteht keinen. Und hier leiste ich Dienste. Meines Zeichens Dolmetsch in der Flüchtlingskanzlei des Ministeriums für Paradiesverteidigung. [Ref 4]

Jeder möchte was erklären. Hofft darauf, angehört zu werden. Dafür sind wir da, Petrus und ich. Ich dolmetsche die Fragen und Antworten, Petrus schreibt auf und nickt: Aha, und das soll ich Ihnen glauben. Petrus glaubt keinem. Stellt sich zum Beispiel eine hin und sagt: »Ich bin eine einfache Hirtin, Findelkind, kenne meine Eltern nicht, ein armer Ziegenhirte hat mich aufgezogen, Dryas mit Namen.« Und schon geht es los, vom Hölzchen aufs Stöckchen: Bäume voller Obst, Felder voller Korn, Wein an den Hängen, Herden auf den Wiesen, überall das sanfte Zirpen der Zikaden und der Früchte süßer Wohlgeruch. Und dann: Piratenüberfall, feindliche Invasion. Gepflegte Fingernägel leuchten auf im Licht des Feuerzeugflämmchens. »Ich bin auf dem Dorf groß geworden, das Wort Liebe habe ich nie einen sagen hören. Und Spiralen gab’s für mich nur im Sofa. Ach, mein geliebter Daphnis! Man hat uns getrennt, uns Unglückselige! Ein Stress am andern. Mal will eine tyrische Clique sich prügeln, mal bläst Besuch aus Methymna sich auf. Daphnis hat mich zu den Kunden begleitet, als Leibwächter. Die Frisur entscheidet mit, wie der Tag läuft und letztlich das Leben. Sehen Sie, was die mit meinen Zähnen gemacht haben? Meine Zähne taugen so schon nicht viel. Die hab ich von Mama. Sie erzählte immer, wie sie als Kind den Putz vom Ofen gepolkt und gegessen hat. Kalziummangel. Genauso hab ich, wie ich mit Janotschka schwanger war, den Lehrern am Institut die Kreide geklaut und geknabbert. Liebe ist wie der Mond – wenn sie nicht zunimmt, nimmt sie ab –, aber die neue ist wie die alte, immer derselbe Mond.« – »War es das?«, fragt Petrus. »Ja.« – »Dann hätten wir hier«, sagt Petrus, »noch Ihre bildschönen Fingerabdrücke« – und zeigt sie ihr. »Wie? Was soll das heißen?«, fragt sie und ist baff. »Das soll heißen, dass wir in unserer schönen Reichskartei Ihre schmutzigen Finger drinhaben. « Und schmeißt sie achtkant raus. Noch aus dem Fahrstuhl hört man sie brüllen: »Ihr seid doch keine Menschen, ihr seid doch feuchter Lehm! Geformt hat man euch wohl, doch etwas einzuhauchen vergaß man!« [Ref 5]

Ein anderer wiederum bringt keinen vernünftigen Satz zustande. Sprudelt aber wie ein Wasserhahn. Ich strenge mich an herauszukriegen, was er da kollert, derweil richtet Petrus die Dinge auf seinem Schreibtisch fein säuberlich aus – als wollte er, Tischvorsteher sozusagen, die Parade seiner Bleistifte und Zahnstocher abnehmen. Er kriegt die Zeit bezahlt. Keine Eile. Petrus ist ein ordnungsliebender Mensch. Und dieser GS schwätzt von irgendeinem Sesam, brüllt, dass es sich gefälligst öffnen soll. Stammelt was von weißen Kreidezeichen am Tor, später sind es rote. Will uns weismachen, er hätte still und friedlich in seinem Schlauch gesessen, und dann plötzlich – zack, siedend Öl von oben. Da schaut her!, brüllt er, ist das eine Art?! Siedendes Öl auf einen lebendigen Menschen? Für einen abschlägigen Bescheid genügt es, Unstimmigkeiten in den Aussagen des Räubers zu finden. Also greift Petrus hinter sich in sein schlaues Regal, nimmt ein Büchlein zur Hand, und nun kommt der Stein ins Rollen. Sag mir doch mal, mein Bester, wie viel Kilometer sind es von deinem Kaff Bagdadowka bis in die Hauptstadt? Und wie steht der Piaster aktuell zum Dollar? Werden in dem Land, das dich verlassen hat, außer dem Tag der Unbefleckten Empfängnis und dem Tag des ersten Schneemanns noch weitere Nationalfeiertage begangen, und wenn ja, welche? Welche Farbe haben die Straßenbahnen? Die Wasserschläuche? Und ein Laib Borodinobrot kostet wie viel?

Oder es kommen beispielsweise Hebräer, entlassen aus babylonischer Gefangenschaft, mit dem Freiheitschor aus Nabucco, dritter Akt, auf den Lippen, und unser Tischvorsteher fragt sie: »Welche Sprache wird im Königreich der Chaldäer gesprochen?« – »Akkadisch!«, kommt die Antwort. »Und wie heißt der Tempel für den Gott Marduk in Babylon?« – »Esagil!« – Und der Turm daselbst?« – »Etemenanki.« – »Und welcher Göttin ist das nördliche Tor geweiht?« – »Ischtar, der Göttin der Venus. Wohingegen die Sonne von Schamasch verkörpert wird und der Mond von Sin. Nergal ist der Mars. Im Saturn sehen die feigen Babylonier Ninurta, Nabu im Merkur, und Marduk selbst ist eine Verkörperung des Jupiter. Von diesen sieben Astralgöttern rührt übrigens die Siebentagewoche her. Hätten Sie’s gewusst?« – »Hier stelle ich die Fragen! Uneheliche Tochter des Nebukadnezar, neun Buchstaben, der zweite ein B.« – »Ja, halten Sie uns denn für blöd? Abigaille natürlich!«

Vor Petrus war Sabina Tischvorsteherin. Im Gegensatz zu ihm hat sie allen geglaubt. Keine Fangfragen aus dem allwissenden Büchlein gestellt. Nie den Stempel Prioritätsfall benutzt. Darum wurde sie entlassen. Petrus setzt ihn auf beinahe jede Akte. Gleich vorn auf Seite eins. Das bedeutet: beschleunigtes Verfahren in Anbetracht naheliegender Abweisung. Der GS unterschreibt das Protokoll, sagt Auf Wiedersehen, schenkt dem Schicksalslenker sein untertänigstes Lächeln, auch dem Dolmetsch und dem Wächter mit der Hellebarde, der ihn abholt, hofft, dass nun endlich alles gut wird – und kaum ist die Tür zu, setzt Petrus, peng, seinen Stempel aufs Papier.

Das war kein Job für Sabina. Manchmal, wenn der Dolmetsch mit ihr in der Pause ins Café gegenüber ging, kam sie ins Klagen: dass sie nach der Arbeit, zu Hause beim Abendessen, die Frau vor sich sehe, die bei der Befragung weinend erzählt hatte, wie man ihrem Sohn die Fingernägel ausriss, und der Junge ohne Fingernägel saß nebenan im Warteraum. Kinder werden getrennt von ihren Eltern befragt.

»Du darfst hier mit niemandem Mitleid haben«, sagte Sabina einmal. »Mir aber tun sie alle leid. Du musst abschalten können, zum Roboter werden, Frage-Antwort, Frage-Antwort, Formular ausfüllen, Protokoll unterschreiben, und ab damit nach Bern. Sollen die entscheiden. Nein, ich muss mir eine andere Arbeit suchen.«

Sabina war aber auch ein ausgesprochenes Tischvorsteherküken. Nach ihrer Entlassung zog sie ans entgegengesetzte Ende des Reiches und schickte dem Dolmetsch von da eine merkwürdige Postkarte. Aber das ist alles nebensächlich. Vielleicht erkläre ich es später mal. Oder auch nicht.

Sieht so aus, als wären wir ein wenig abgeschweift, mein hochwerter Nabuccosaurus.

Was lässt sich noch zum Ruhme unseres Imperiums sagen? Auch wir haben hier, stellt Euch vor, U-Boote und Wüsten, sogar einen Dracula haben wir – keinen Vampir, einen echten. Wie überhaupt alles echt ist hier.

Ja, was noch? Es ist dunkel geworden. Die Wunde im Gras hat sich geschlossen.

Ach so, was ich zu sagen vergaß: Kannibalismus ist auch bei uns noch nicht ausgestorben, und der uns alle aufzufressen droht, ist kein Geringerer als der Monarch höchstselbst, oder ist es eine Monarchin, ich habe länger nicht im höfischen Adressbuch nachgesehen, und sowieso hängt das Geschlecht von der Sprache ab, jedenfalls gibt es den einen Herodes den Großen, aber sonst, wenn man nicht ständig daran denkt, ist das Leben hier ein lustig Liedlein, das mir heute Morgen in der Straßenbahn einer angehängt hat, während er am Bahnhof ausstieg.

Lustig auch, sich vorzustellen, wie Ihr diesen Brief in ein paar Jahren zugestellt bekommt und Euch vielleicht gar nicht mehr entsinnen könnt, einstmals der Kaiser dieses wunderbaren, an meine Wand gepinnten Imperiums gewesen zu sein …

Stift, Notizblock, Wasserglas. Sonnenschein draußen vorm Fenster. Das Wasser im Glas wirft einen schillernden Sonnenkringel an die Decke – das ist schon kein Kringel mehr, sondern ein ausgewachsener Schwimmring, und für einen Moment sieht es aus wie ein großes Ohr. Oder ein Embryo. Die Tür geht auf. Der Nächste.

Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten.

Antwort: Ich war Zollangestellter an der kasachischen Grenze. Militärs beförderten Drogen in ihren Autos, und mein Chef hatte mit ihnen einen Deal. Wir sollten vor alledem die Augen verschließen, ganz normal abfertigen. Ich schrieb einen Brief an den FSB. Ein paar Tage später wurde meine Tochter von einem Auto angefahren. Ich bekam einen Anruf. Das sei nur eine Vorwarnung gewesen, hieß es.

Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten.

Antwort: Bei den Gouverneurswahlen unterstützte ich aktiv den Kandidaten der Opposition, nahm an Protestmeetings teil und sammelte Unterschriften. Ich wurde aufs Polizeirevier bestellt, ich sollte gefälligst aufhören, Enthüllungen über die Gebietsleitung in die Welt zu setzen. Mehrmals wurde ich von Milizionären in Zivil verprügelt. Meinem Asylantrag habe ich medizinische Gutachten über einen Kieferbruch, einen Armbruch und weitere Prügelfolgen beigefügt. Wie Sie sehen, bin ich invalid und kann keiner Arbeit nachgehen. Meine mitgereiste Ehefrau hat Magenkrebs.

Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten.

Antwort: Ich bin aidskrank. In unserer Stadt haben sich alle von mir losgesagt. Selbst meine Frau und die Kinder. Infiziert wurde ich im Krankenhaus, bei einer Bluttransfusion. Ich habe alles verloren: Arbeit, Freunde, mein Zuhause. Ich habe nicht mehr lange zu leben. Ich dachte mir, wenn ich schon sterben muss, dann hier bei Ihnen, unter menschlichen Umständen. Sie werden mich schon nicht rauswerfen. [Ref 6]

Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten.

Antwort: Es war einmal im rechtgläubigen Muntenien ein Woiwode mit Namen Dracula. Einmal ließ ihm ein türkischer Pascha durch Gesandte ausrichten, er solle sich ihm unterwerfen und dem christlichen Glauben abschwören. Während die Gesandten mit dem Woiwoden sprachen, nahmen sie ihre Mützen nicht ab, und auf die Frage, warum sie den hohen Herrn in dieser Weise beleidigten, sprachen sie: So ist es, Herr, in unseren Landen nun einmal Sitte. Da befahl Dracula seinen Dienern, den Gesandten die Mütze am Kopf festzunageln, und sandte ihre Leichname retour mit der Botschaft, es gebe nur einen Gott, aber die Sitten seien verschieden. Der erboste Pascha kam mit einer riesigen Armee gegen das rechtgläubige Land gezogen, ein Morden und Plündern hob an. Der Woiwode Dracula sammelte seine nicht sehr zahlreichen Heerscharen, überfiel die Muselmanen des Nachts und tötete gar viele von ihnen, schlug die übrigen in die Flucht. Am nächsten Morgen ließ er seine Kämpfer, so sie am Leben geblieben, zum Appell antreten. Wer seine Wunden vorne trug, dem erwies er höchste Ehre und hieß ihn einen Recken. Wer aber am Rücken wund war, den ließ er pfählen und sprach zu ihm: Du bist kein Mann, du bist ein Weib. Wie der Pascha davon hörte, zog er mit seinen verbliebenen Truppen ab und wagte das Land kein weiteres Mal zu überfallen. So lebte der Woiwode Dracula in seinen Landen hin. Nun war es aber so, dass es in Muntenien zu jener Zeit eine große Zahl an Bettlern, Krüppeln, Kranken und Siechen gab. Und da er nun sah, wie viele in seinem Land unglücklich waren, hieß er sie alle zu sich kommen. Und es kamen Unglückselige, Krüppel und Waisen sonder Zahl, die der hohen Gnade gewärtigten, und ein jeder sprach zu ihm von seinen Fährnissen und Nöten: Der eine hatte sein Bein verloren, der andere ein Auge eingebüßt, dem Dritten ward der Sohn getötet, der Vierte hatte einen Bruder, der aufgrund eines ungerechten Urteils schuldlos im Kerker einsaß. Und der Jammer war groß, und ein großes Stöhnen ging über das ganze muntenische Land. Da hieß Dracula sie alle miteinander in ein großes Haus einziehen, das eigens dafür errichtet worden war, und ließ ihnen erlesene Speisen und Getränke im Überfluss vorsetzen. Man tafelte und war fröhlich. Und er kam zu ihnen und sprach: »Was könntet ihr noch wollen?« Und alle erwiderten ihm: »Ach, das wisst nur Ihr, hoher Herr, und Gott allein. Tut, was der liebe Gott Euch eingibt!« Also sprach er zu ihnen: »Wollt ihr, dass für euch alles Leid in diesem Jammertal ein End hat, dass keine Not an gar nichts mehr ist, ihr nicht mehr weinen müsst ob eines verlorenen Beines oder eines ausgeflossenen Auges, eines toten Sohnes und eines unrechten Spruchs?« Und sie, in Erwartung eines Wunders, antworteten so: »O ja, das wollen wir, Herr!« Da hieß er das Haus zusperren, mit Stroh umlegen und anzünden. Und es ward ein gewaltiges Feuer, und alle verbrannten darin.

Hochwerter Nabuccosaurus!

Ich habe im Briefkasten nachgesehen – wieder nichts von Euch.

Wir murren nicht. Bestimmt habt Ihr andere Sorgen. Schließlich sind es Staatsaufgaben, die Eurer harren. Hoffentlich müsst Ihr nicht gerade jemandem den Krieg erklären oder habt unliebsamen Besuch von Außerirdischen. Auf alles muss man ein Auge haben. Da bleibt keine Zeit zum Schreiben.

Bei uns ist alles beim Alten.

Das Universum wächst sich aus. Der Dolmetsch tut, was des Dolmetschs ist.

Zu Hause gleich alles zu vergessen, was tagsüber gewesen ist, das funktioniert nicht. Man trägt es bei sich.

Diese Menschen, diese Reden – man wird sie nicht los.

Und dabei ist es immer dasselbe. Was könnte es im Dolmetschdienst Neues geben? Alles läuft in eingefahrenen Gleisen. Alles in der höheren Orts beglaubigten Form. Jede Frage erfolgt nach Schema F, jede Antwort genauso. Bei der Standardeinweisung schont Petrus inzwischen seine Stimme, lässt sie den Dolmetsch für den verschüchterten GS vom Blatt übersetzen. Also liest der Dolmetsch vor: »Guten Tag! Schön, dass Sie da sind! Treten Sie ein, bitte schön, lassen Sie uns gemeinsam diesen endlos langen Tag verkürzen! So setzen Sie sich doch, Stehen macht nicht klüger, wie man sagt, gewiss sind Sie müde von der Reise. Ich lasse gleich den Samowar aufstellen! Und die Stiefel, die stellen wir hierhin, näher zum Ofen. Nun, wie gefällt Ihnen unser bester aller weißen Flecken auf der Landkarte, wo der Mensch ist, was er ist, und spricht, wenn er schweigt? Ach, Sie haben noch gar nichts davon gesehen? Na, das wird schon noch! Wollen Sie sich vielleicht lieber hier herüber setzen, vom Fenster weg? Nicht dass Ihnen noch kalt wird? Sagen Sie Bescheid, wenn es zieht? Fein. Wo waren wir stehen geblieben? Ah ja. Hier kreuzen alle möglichen Leute auf, wissen Sie. Verlottert, nicht sehr gescheit, mit schlechten Zähnen – und lügen wie gedruckt. Behaupten, sie hätten ihre Dokumente verloren – und das nur, damit man sie nicht gleich wieder zurückschickt. Erzählen Schauergeschichten von sich. Andere als schauerliche kommen hier gar nicht vor. Und das in allen Einzelheiten. Halten einem ihre Elefantenpatschhände unter die Nase, in die ihnen angeblich flüssige Vaseline gespritzt worden ist. Gruselmärchen und Räuberpistolen. Die lassen Sachen vom Stapel, man könnte sich hinsetzen und einen Kriminalroman schreiben. Als hätte die Mama ihnen nie beigebracht, dass man immer die Wahrheit sagen muss. Schinden Mitleid. Wollen ins Paradies. Schöne Märtyrer! Aber um Mitleid geht es nicht. Es geht um die Klärung von Sachverhalten. Will man ihnen den Zutritt zum Paradies verwehren, muss man unbedingt rauskriegen, wie es sich wirklich verhält. Aber wie soll man das rauskriegen, wenn die Leute mit den Geschichten, die sie auftischen, verwachsen sind. Da steigt man nicht dahinter.[Ref 7] Also hilft nur eins: Wenn man schon nicht hinter die Wahrheit kommt, sollte man zumindest hinter die Unwahrheit kommen. Die Vorschrift besagt, dass unglaubhafte Aussagen Anlass geben, diesen Stempel hier zum Einsatz zu bringen. Also geben Sie sich gefälligst ein bisschen Mühe beim Ausdenken Ihrer Legende, und vergessen Sie nicht: Details sind das Allerwichtigste! Zum Beispiel die Sache mit der Auferweckung – wer hätte ihr Glauben geschenkt, wäre da nicht der in die Wunde gelegte Finger gewesen oder der gebratene Fisch, den man gemeinsam aß? Aber von dem Stempel mal ganz abgesehen – Hand aufs Herz: Ist die Welt denn tatsächlich so schwarz, wie ihr sie malt? Schaut euch doch mal um! Da die Gewitterwolken, wie sie bäuchlings durch den Staub gekrochen kommen. Dort drüben auf der Bank hat jemand gegessen und die Zeitung liegen gelassen, jetzt hockt da ein Spatz und pickt Buchstaben. Und auf dem Wehr, seht ihr, blitzt ein Flaschenhals, die Flasche ist zerbrochen, schwarz ragt der Schatten vom Mühlrad. Der Flieder riecht nach billigem Parfüm und glaubt, dass alles gut wird. Selbst die Steine leben, vermehren sich durch Bröckeln … Aber das ist wie den Mäusen gepfiffen, ihr hört ja gar nicht zu. Kennt nur die eine Platte: überfallen, gefesselt, in den Wald verschleppt, verprügelt und liegen gelassen. Vielleicht hatten die Prügel ja ihren guten Grund? Schulden zum Beispiel – muss man die begleichen oder nicht? Na also. Oder diese zwei Knaben, die wir neulich an einem Tag hier hatten, die haben sich gemeinsam gestellt: Der eine behauptete aus einem Kinderheim bei Moskau zu kommen und der andere aus Tschetschenien. Acht Tage später hat die Polizei ihre Pässe geschickt, die hatten sie in einer Betonröhre neben den Eisenbahngleisen versteckt, Arbeiter haben sie zufällig gefunden. Beide aus Litauen. Auf Urlaub in der Schweiz. Hotels sind teuer, und so hatten sie ein Dach überm Kopf und freie Kost. Außerdem ergab die Knochenanalyse, dass beide weit über sechzehn waren. Stempel eins, Stempel zwo. Oder der Antrag einer Familie: Vater, Mutter, Tochter Jerusalems. Gaben vor, Flüchtlinge aus Judatin zu sein – außerstande, die Verfolgungen durch die Urslawen zu ertragen. Das sind, sagen sie, keine Urslawen, das sind wahre Faschisten. Gott erlöse die Juden, und wenn das nicht geht, dann wenigstens die Gojim! Sie fingen an zu erzählen, wie sie von den Christen malträtiert worden waren: Mann und Frau hatten sie die Vorderzähne ausgeschlagen und die Tochter, die noch keine zwölf war, vergewaltigt. Petrus befragte jeden einzeln, wie es sich gehört. Papa und Mama sagten so ziemlich dasselbe aus, wie einen auswendig gelernten Text: briefliche Drohungen, nächtliche Anrufe, Überfall auf offener Straße vor der Haustür et cetera. Dann wurde das Mädchen hereingebeten. Durch die offene Tür konnte man sehen, wie die Kleine sich bei Mama anklammerte, nicht hereinwollte, aber die Mama sagte: Geh nur, hab keine Angst. Sie kam herein, setzte sich auf die Stuhlkante. Petrus hielt ihr ein Täfelchen Schokolade hin, zur Aufmunterung sozusagen, er hatte für diesen Zweck immer ein paar davon im rechten Schreibtischkasten liegen. Das beinhalten die Vorschriften zwar nicht, aber was ließe sich dagegen sagen? Und nun stellte Petrus die Frage, wie man es denn zu Hause mit der Religion halte, und das Mädchen gab zur Antwort: Ei gewiss, wir gehen immer in die Kirche, und bekreuzigte sich brav, zur Bekräftigung. Da hat das Mädel vor Schreck etwas durcheinandergebracht. Wahrscheinlich ist der Herr Vater ein Großhändler in Nöten, und mit den urslawischen Geschäftspartnern ist nicht zu spaßen. Für ihr Gesuch haben sie sich eine Nullachtfünfzehn-Legende ausgesucht, auf Nummer sicher, nach dem Motto: Will da etwa einer den Judäern das Mitgefühl versagen? Wird schon klappen, werden sie sich gedacht haben, zumal fehlende Vorderzähne sich schlecht simulieren lassen, und auch die Vergewaltigung des Kindes entsprach laut medizinischem Gutachten den Tatsachen. Stempel… Und erst, wenn es ans Unterschreiben des Protokolls geht – was man da nicht alles erlebt! Der eine nickt nur devot, wie um zu beteuern: Wir sind ungebildete Leute und unterschreiben alles; der andere möchte unbedingt noch die Orthografie der Ortsbezeichnungen abgleichen. Wieder ein anderer, erschienen mit einem Packen Bescheinigungen aus allen nur erdenklichen Klapsmühlen, Kittchen und Knochenflickereien, tat kund, er traue auf dieser Welt niemandem mehr, und verlangte eine schriftliche Übersetzung des Protokolls – die mündliche genüge ihm nicht, und was er nicht zuvor selbst gelesen habe, unterschreibe er schon aus Prinzip nicht.[Ref 8] Dafür bekam er von Petrus gleich den Stempel. Am liebsten hätte er noch einen Sitzstreik veranstaltet. Die Wache musste gerufen werden und mit der Hellebarde fuchteln. So einer steht auch in unserer nächstenliebenden Gesellschaft mit einem Bein in der Knochenflickerei. Na, und der Vierte hätte gern im Protokoll stehen, dass hier bei uns schönes Wetter ist, nicht zu warm und nicht zu kalt, während die vier Jahreszeiten bei ihm zu Hause Winter, Winter, Winter und nochmals Winter heißen. Den Trick kennen wir. Sich als Winteropfer einschleichen, und dann: zappzarapp! Wie oft hatten wir das schon: Man lernt sich kennen beim Interview – und kann drauf warten, sich irgendwann auf dem Polizeirevier wiederzusehen, denn auch dort verdient der Dolmetsch sein Brot. Nanu, wen haben wir denn da? Alte Bekannte! Beim Diebstahl ertappt. Dann geht das Scheingeplänkel wieder los: Nein, den Direktor vom Migros-Markt haben wir nicht gebissen am Kassenausgang, und wenn doch, dann nur, weil der uns gewürgt hat … Nun gut, zurück zu unseren Hammeln, wie der Franzose sagt. Seht euch doch mal an! Schon grauhaarig, und immer noch auf der Flucht! Wo habt ihr euern Pass? Das wisst ihr nicht? Aber wir wissen es: im Schließfach am Bahnhof. Oder im Flüchtlingsheim beim netten Nachbarn, der war schon vor euch hier. Ihr lasst euch auf euern ausgedachten Namen mit Spesen ausstatten, inklusive Genehmigung zur Nutzung von Postpferden zu amtlichem Behufe, und anschließend spaziert ihr hier raus und holt als Erstes eure Pässe wieder. Stimmt’s? Und wenn ihr euch eingerichtet habt im warmen Nest, geht’s auf Tour: Geklaut wird, was zu klauen geht, und das Geklaute billig weiterverhökert. An langen Fingern bleibt viel kleben. Dem lieben Gott die Zeit stehlen und den Leuten das Portemonnaie. In der Not klaut der Teufel das Weihwasserbecken.[Ref 9] Und erzählt uns nur nix von wegen Arbeit! Auf euereins hat man gerade gewartet! Hier gibt’s auch ohne euch genug Arbeitsuchende. Viele sind berufen, ihr Deppen, und wenige auserwählt. Bei uns in den Geschäften klaut ihr, auf euern Flohmärkten schlagt ihr’s los – das ist eure ganze Arbeit. Diebstahlsicherungen? Ach was. Sagt bloß, ihr wisst nicht, wie man Taschen präpariert? Ganz einfach: Man nehme Aluminiumfolie und klebe sie innen an, dann entsteht etwas wie eine Reflexionshülle, und kein Alarm wird ausgelöst. Du kannst raustragen, so viel du lustig bist. Und verschickst es an deine Leute. Wie? Na, zum Beispiel mit der Post. Man kann ja Geschenksendung draufschreiben, Gebrauchtwaren oder sonst einen Quatsch. Wichtig ist vor allem der Absender. Da sucht man sich im Telefonbuch eine möglichst ehrenwerte Adresse, am besten gleich irgendeinen Wohltätigkeitsverein. Dann kommt niemand auf falsche Gedanken. Alles klar? Was soll das heißen: geht schief? Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! Ihr wäret nicht die Ersten und nicht die Letzten! Also sagt gefälligst die Wahrheit und nichts als die Wahrheit! Und denkt daran, euern Geschichten, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen, glaubt schon lange keiner mehr, das Leben besteht doch wohl auch noch aus Liebe und Schönheit, ich schlafe, aber mein Herz wacht, da ist die Stimme meines Freundes, der anklopft: Tu mir auf, liebe Freundin, meine Schwester, meine Taube, meine Fromme!, denn mein Haupt ist voll Tau und meine Locken voll Nachttropfen. »Fühlen Sie sich über Ihre Rechte und Pflichten ausreichend in Kenntnis gesetzt wie auch darüber, dass ins Paradies sowieso keiner vorgelassen wird?« – GS: »Ja.« – Petrus nimmt dem Dolmetsch das Blatt mit dem Begrüßungstext wieder ab. »Noch Fragen?« GS: »Mögen die Sprecher fiktiv sein, das Gesagte ist wahrhaftig. Wahrheit gibt es nur dort, wo es etwas zu verbergen gibt. Gut, die Leute sind vielleicht nicht echt, aber die Geschichten sind es! Wenn sie im Kinderheim nicht den mit den aufgeworfenen Lippen vergewaltigt haben, dann einen anderen! Und die Story von dem verbrannten Bruder und der getöteten Mutter hat der junge Litauer irgendwo aufgeschnappt. Ist es wichtig, wem genau sie passiert ist? Sie bleibt authentisch, so oder so. Leute sind hier nebensächlich, es geht um die Geschichten, die entweder echt oder unecht sind. Man muss eine echte Geschichte erzählen, das ist es. So wie sie sich abgespielt hat. Nichts dazuerfinden. Wir sind, was wir sagen. Ein frisch gehobeltes Schicksal ist wie eine Arche, prallvoll mit Menschen, die keiner haben will. Alles Übrige ist die Sintflut. Was im Protokoll über uns steht, das werden wir sein. Aus Worten geboren. Verstehen Sie doch: Gottes Idee eines Flusses ist der Fluss.« – Petrus: »Dann kommen wir jetzt zur Sache.« Und los geht’s mit Frage, Antwort, Frage, Antwort. Derweil weht es Schneeflocken zum Oberfenster herein. Wie das? Eben war Sommer, und nun liegt Schnee. Durch das Fenster schaut man auf den Hof, wo ihn irgendein Schwarzer unter Polizeiaufsicht mit einer großen eisernen Schaufel vom Fußweg schippt. Das dünne Blech schrammt den Asphalt – nicht anders als in Moskau. Und eben trifft der zweite Schwung fröstelnder GS zur Befragung ein: Überwiegend Schwarze und Asiaten, eingemummt in Jacken und Schals, trampeln über den frischen Schnee, und irgendjemandes Kind, ein kleiner Araber oder Kurde, vielleicht auch Iraner, wer kennt sich da aus bei Fünfjährigen, müht sich eifrig, eine Handvoll Schnee zusammenzuschieben und einen Schneeball daraus zu formen, die Mama zischt ihn an und zerrt an seiner Hand. Frage, Antwort, Frage, Antwort. Dann ist Pause, Kaffee aus dem Plastikbecher. Blick durch ein anderes Fenster auf einen anderen Hof, auch hier Schnee, kleine Negerlein werfen Schneebälle. Aber diese Kinder hatten wir doch eben erst, oder ist schon wieder ein Jahr vergangen? Und wieder Frage, Antwort, Frage, Antwort. Als ob man Selbstgespräche führt. Sich selbst Fragen stellt. Sich selbst Antworten gibt.

Vor dem Einschlafen versucht der Dolmetsch ein wenig zu lesen, um auf andere Gedanken zu kommen. Er möchte sich, bevor er das Licht löscht und das Kissen aufs Ohr legt, noch einmal ans andere Ende des Reiches träumen: an Kyros’ Seite marschieren, den Euphrat zur Rechten, in fünf Tagesmärschen fünfunddreißig Parasangen durch ödes Gebiet.[Ref 10] In diesem Landstrich war der Boden ganz eben, glatt wie das Meer, aber voll von Wermutpflanzen. Was sonst noch an Gehölz und Schilfpflanzen dort wuchs, war alles wohlriechend wie Gewürz. Ein Baum stand nirgends, aber alle möglichen wilden Tiere, sehr viele wilde Esel und zahlreiche Strauße gab es dort, aber auch Trappen und Rehe. Diese Tiere wollten die Reiter mehrmals verfolgen. Wenn aber einer die Esel verfolgte, liefen sie voraus und blieben dann stehen; denn sie liefen viel schneller als die Pferde. Wenn sich die Reiter wieder genähert hatten, taten sie das Gleiche. Daher war es nicht möglich, sie zu fangen, außer wenn die Jäger sich in Zwischenräumen aufstellten und sich bei der Jagd ablösten. Das Fleisch der gefangenen Tiere war ähnlich dem Hirschwildbret, nur etwas zarter. Einen Strauß fing niemand; die verfolgenden Reiter gaben es bald auf; denn weit enteilte er auf der Flucht, wobei er sich der Füße zum Lauf bediente und sich mit den Flügeln, die er wie ein Segel gebrauchte, vom Boden hob.

Er klappt das Buch zu, will einschlafen, da fängt im Kopf der Kreisel wieder an: Frage, Antwort, Frage, Antwort. Wieder geht es um irgendwelche falschen Milizionäre, die nur darauf aus sind, die Tür aufzubrechen, die Wohnung zu stürmen, das Unterste zuoberst zu kehren, Nieren zu prellen, einen Arm zu brechen oder eine Rippe. Und Petrus hat eine Frage: Sie sind als Kind mit Ihren Eltern auf dem Schwarzmeerschiff Rossija gefahren und entdeckten überall da, wo man es am wenigsten vermutete, zum Beispiel an den Deckenlüftern, in erhabenen Frakturbuchstaben die Inschrift ADOLF HITLER? Antwort: Stimmt. Frage: Ihr Sohn kroch einmal, als Besuch da war, aus Langeweile unter den Tisch und zog den Gästen der Reihe nach die Pantoffeln von den Füßen, und die Füße tasteten blind suchend auf dem Parkett herum? Antwort: Stimmt. Frage: Ihrer Mutter hat man, als sie aufgebahrt lag, einen Papierstreifen auf die Stirn gelegt, worauf ein Gebet stand, und Ihnen kam plötzlich der Gedanke: Wer soll das bloß lesen und wann? Antwort: Stimmt. Frage: In Perm gibt es ein Flüsschen mit Namen Styx? Das über Nacht zugefroren war? Sie warfen einen Knüppel auf das Eis, er hüpfte immer weiter, und das Eis hatte so einen hohlen und luftigen Klang? Antwort: Stimmt. Und wohin kraulte des Nachts nur immer dieses Mädchen, einen Arm nach vorn unter das Kissen gestreckt, den anderen nach hinten geworfen, Handfläche nach oben, und Sie hätten diese Hand so gern geküsst, fürchteten aber, das Mädchen zu wecken? [Ref 11]

Gegen Morgen erwachte der Dolmetsch schweißgebadet und mit pochendem Herzen: Er hatte von der Galpetra geträumt, und alles lief ab wie damals: dass er in ihrem Unterricht saß, zur Tafel gerufen wurde … Als wären nicht Jahrzehnte Leben dazwischen gewesen! Nun lag er da, die Hand am Herzen, starrte an die allmählich heller werdende Decke und suchte sich zu fassen.

Wieso musste er immer noch Angst vor ihr haben?

Was genau in dem Traum passiert war – er hatte es sofort vergessen, nur die alte Schulangst, sie klang nach.

Und was das Unangenehme an solchen Träumen ist: Man weiß nie, in welchem Reich man aufwacht und als wer.

Der Dolmetsch hatte den Computer schon ausgeschaltet und schaltete ihn nun wieder ein, um aufzuschreiben, wie er sich schlaflos herumgewälzt hatte und unversehens die Erinnerung an die Exkursion aufgetaucht war, die Galina Petrowna – von allen Galpetra genannt – mit uns nach Ostankino ins Museum für die Kunst der Leibeigenen machte. Es war erst September, hatte jedoch schon geschneit, Apollo von Belvedere posierte inmitten der kreisrunden Grünanlage im Schnee. Wir warfen mit Schneebällen nach ihm. Alle wollten dorthin treffen, wo das Feigenblatt war, keiner schaffte es, und dann brüllte die Galpetra uns an, und wir gingen zur Führung ins Museum. Ich entsinne mich an den Hall in den kalten, dunklen Sälen, die vielen von der Zeit gedunkelten Gemälde an den Wänden. Die hellen, unscharfen Fenstervierecke auf dem gebohnerten Parkett ließen an Eisschollen denken. Und wir fegten mit Riesenfilzpantoffeln über den Schuhen wie Schlittschuhläufer umher, versuchten dem Vordermann auf die Fersen zu treten, damit er hinfiel. Die Galpetra zischte uns an und verteilte Kopfnüsse. Als wäre es gestern gewesen, sehe ich sie vor mir mit ihrem dunklen Damenbärtchen über den Mundwinkeln, im lila Wollkostüm, ein gehäkeltes weißes Mohairmützchen auf dem Kopf, Winterstiefel mit halb offenem Reißverschluss, damit die Beine nicht so schwitzten, und über den Stiefeln die Museumspantoffeln wie lappländische Schneeschuhe. Von den Darlegungen des Museumsführers weiß ich noch, dass, wenn die leibeigenen Ballerinen im Theater schlecht getanzt hatten, sie hinterher im Pferdestall bei geschürztem Rocke gezüchtigt wurden. »Bei geschürztem Rocke« – wohl deswegen in Erinnerung geblieben. Und wie der Donner vorgeführt wurde, entsinne ich mich: Wenn die Handlung auf der Bühne ein Gewitter vorsah, wurden Erbsen in eine riesige Holzröhre geschüttet. Diese Attraktion war Bestandteil der Führung; irgendwer, den man nicht sah, kippte von oben eine Tüte Erbsen in das Rohr. Vor allem aber weiß ich noch, dass mir während dieser Führung jemand flüsterte, unsere Galpetra bekäme ein Kind. Die Vorstellung, unsere alterslose schnurrbärtige Klassenlehrerin könnte schwanger sein, erschien mir damals vollkommen abwegig. Unvorstellbar. Denn dazu hätte, so viel wusste man, passiert sein müssen, was zwischen Mann und Frau passiert. Frau, wohlgemerkt – nicht unserer Galpetra! Ich starrte der alten Jungfer, die in der Schule einen wütenden Kampf gegen Lidschatten und Wimperntusche führte, auf den Bauch und konnte nichts bemerken – die Galpetra war so dick wie immer. Ich konnte und wollte es nicht glauben, denn unbefleckte Empfängnis kam nicht infrage, doch der Satz: »Die ganze Schule weiß, dass sie bald in Schwangerschaftsurlaub geht!« überzeugte mich. So standen wir und lauschten, wie die Erbsen sich in ein fernes Donnergrollen verwandelten, in der Galpetra wuchs etwas auf unerklärliche Weise, durch das Fenster und den fallenden Schnee konnte man den Fernsehturm Ostankino sehen, und Apollo Belvederski schritt durch den Schnee darauf zu, ohne Spuren zu hinterlassen.

Dem Dolmetsch ist es an diesem tungusisch trüben Morgen beschieden, als Dolmetsch in einer Einzimmerwohnung gegenüber dem Friedhof aufzuwachen. Vielleicht sind deswegen die Mieten hier nicht ganz so hoch. Aber das Grün dort drüben ist ganz normales Grün. Üppig, bauschig, fiedrig. Und das Radio berichtet an diesem Morgen überall, und nicht nur in der Nachbarwohnung, mit munterer Stimme von den Morden und Raubüberfällen der vergangenen Nacht. Das Krematorium ist unscheinbar, wie irgendeine Villa am Hang. Man sieht es nie qualmen, obwohl dort natürlich – wie überall hierzulande – emsig gearbeitet wird. Das liegt an den Filtern. Im Schornstein sind Filter eingebaut, um den Regen nicht zu verschmutzen.

Von der Katze auf der Mauer schrieb ich schon.

Die Nachbarn bekam der Dolmetsch lange Zeit gar nicht zu Gesicht. Nur ihre Wäsche war zu sehen. Gewaschen wird im Keller, wo mehrere Waschmaschinen stehen. Sie sind fast immer belegt, und auf den Leinen in den Trockenräumen harren verwaschene Socken, gestopfte Altweiberstrümpfe und Vorkriegsunterhosen ihrer gewohnten Inhalte.

Vorkrieg? Von welchem Krieg ist die Rede?

Etwas an diesem Haus kam dem Dolmetsch sonderbar vor, als er vor einem, nein, schon vor anderthalb Jahren hier einzog. Er begriff nicht sogleich, was an dem riesigen Gebäude anders war. Als Erstes fiel die hartnäckige Stille auf und dass keine Kinderstimmen zu hören waren. Erst nach einer Weile kam ihm zu Bewusstsein, dass es im Haus ausschließlich Einzimmerwohnungen gibt, in denen alte Leute wohnen. Verwaschene Socken und Strümpfe in wandelnder Form sozusagen.

Der Dolmetsch wohnt parterre, eine Tür geht auf den Rasen hinaus. Dort liegt beständig etwas herum. Jetzt zum Beispiel, im tropfenschillernden Gras direkt vor dem Fenster, eine nasse, ausgequetschte Colgate-Zahnpastatube.

Die Nachbarn zu beiden Seiten sieht man nicht, doch zu hören sind sie. Der eine hat einen Schlüsselbundanhänger, der auf Pfeifen reagiert, mit dem pfeift er sich eins. Der rechte führt zwitschernde Selbstgespräche. Er ist nachtaktiv, sommers wie winters in Unterhemd und langen Unterhosen. Einmal, als der Dolmetsch gegen zwei Uhr morgens nach Hause kam, fegte sein Nachbar das Trottoir.

Die Zahnpastatube stammt aus dem sechsten Stock. Seit er hier wohnt, regnet es die verschiedensten Dinge auf den Rasen vor seinem Fenster, und beileibe keinen Müll. Einmal fiel ein Telefon herab, dann wieder komplette Bettwäschegarnituren, ein Radioapparat, Lebensmittel, Schöpfkellen, Flaschenöffner, diverser Bürokram: Notizblöcke, Schachteln mit Büroklammern, Briefumschläge. Nicht jeden Tag kommt etwas geflogen, manchmal eine Woche gar nichts, und dann, aus heiterem Himmel, eine Schere. Der Dolmetsch hat alles in schwarzen Plastikmüllsäcken gesammelt und, was er gebrauchen konnte, kurzerhand eingesteckt: Gefunden ist gefunden. In der Tischschublade liegen allerlei Himmelsbleistifte, Himmelsklebstoff, eine Himmelsschere. Und der Dolmetsch hat lange nicht gewusst, wer das alles herabwirft und aus welchem Grund. Bis der Rasen eines windigen Tages ganz mit weißen Blättern bedeckt war – wie unter einem Papierbaum im Herbst. Stimmzettel! Man muss wissen, hierzulande wird alle naselang ein Referendum angesetzt. Die Zettel waren adressiert. An: Frau Eggli. In: der besten aller Welten. Der Dolmetsch ging nachschauen zur Tafel mit den Namensschildern, und es passte: Frau Eggli wohnt genau über ihm im sechsten Stock. Er stieg hinauf und klingelte: Vielleicht hatte es ja Zugluft gegeben und die Papiere von ihrem Fensterbrett geweht. Er wollte sie zurückbringen. Lange machte niemand auf. Der Dolmetsch wandte sich zum Gehen, da hörte er ein Schlurfen hinter der Tür. Schließlich öffnete sie sich einen Spalt. Als Erstes fuhr ihm ein beißender Geruch in die Nase, dann konnte der Dolmetsch eine Frau im schummrigen Türspalt ausmachen, die schätzungsweise achthundert Jahre alt war. Er wunderte sich, wie ein derart ausgemergeltes Geschöpf so viel Geruch absondern konnte. Er bat um Entschuldigung für die Störung und brachte die Rede auf die Stimmzettel, die ihr wohl aus dem Fenster gefallen seien, er bringe sie zurück. Die Alte schwieg. Er fragte, nach einem Blick der Vergewisserung auf das Klingelschild: »Sie sind doch Frau Eggli, oder?« – »Nei, das bin i nöd!«, nuschelte sie zahnlos und knallte die Tür zu. Dann also nicht, entschied er. Vielleicht ist sie als Säugling jemandem untergeschoben worden. Und immer noch fällt gelegentlich etwas von oben herunter. [Ref 12]

Vorher hat der Dolmetsch in einem anderen Haus gewohnt, und das nicht allein, sondern mit Frau und Sohn. Doch es ergab sich, dass seine Frau jetzt die Frau eines anderen ist. Dergleichen kommt vor in unserem Reich wie in allen übrigen auch. Nichts Außergewöhnliches.

»Wie geht’s?«, fragt der Dolmetsch seinen Sohn am Telefon jedes Mal.

»Gut«, antwortet der Sohn darauf immer.

Zu Weihnachten, als der Dolmetsch sich am Telefon erkundigte, ob das übersandte Geschenk – ein Zauberkasten – denn gefiel, sagte der Sohn: »Alle kriegen nur von einem Papa Geschenke, ich krieg von zweien welche. Cool, was?«

»Cool«, gab der Dolmetsch zurück.

Außerdem schickt der Junge mitunter lustige Briefe, denen Zeichnungen beiliegen. Einmal hat er sich ein Land ausgedacht und eine Landkarte dazu gezeichnet.

Der Dolmetsch hat sie mit Reißzwecken an der Wand befestigt.

Frage: Sie geben also an, Asyl für Ihre viel geplagte, verwundete Seele zu suchen, die die Torturen und Erniedrigungen leid ist, die Armut und das Banausentum, den Plebs und den Pöbel und die allerorts lauernde Gefahr, zum Spielball und Opfer des Bösen zu werden – als läge auf Ihrem Geschlecht wie auf allen übrigen ein unausrottbarer Fluch, und wie einst Ihre Großmütter und Großväter gelitten, so leidet auch die heutige Generation, und so werden leiden die noch Ungeborenen bis ins siebte Glied und gelegentlich darüber hinaus.[Ref 13] Als Corpora Delicti brachten Sie bei: einen durch die Lochzange eines unausgeschlafenen Kontrolleurs entwerteten Fahrschein für die Strecke Romanshorn – Kreuzlingen, eine Seite aus einem Schulheft mit irgendwelchen Krikelkrakeln darauf und einen bis zur Fadenscheinigkeit abgetragenen Körper. Aber der Reihe nach. Fürs tägliche Brot – Sie hatten ja Familie und die alte Mutter am Hals und eine Schwester, die ewig nicht unter die Haube kam – verdingten Sie sich als Leibwächter bei einem Journalisten mit florierender TV-Show, einem cleveren Giftzwerg, den die Leute jedoch vergötterten, da er in ihre Hütten und Paläste einen Funken Licht und Hoffnung brachte. Dem Mann war, Gott weiß woher, brisantes Material über den Ursprung des Bösen in die Hände gespielt worden. Es ging um eine Nadel. Die Nadel war in einem Ei verborgen, das Ei in einer Ente, die Ente in einem Hasen, der Hase in noch irgendwem, und alles zusammengenommen steckte in einem Diplomatenkoffer. Und der Plan des furchtlosen Journalisten war es, den Koffer vor laufender Kamera auszupacken, die Nadelspitze abzubrechen und das Böse zu vernichten. Die Mächtigen dieser Welt (das Böse denkt ja immer, dass es das Gute sei und das Gute demzufolge das Böse) sahen dem Treiben natürlich nicht tatenlos zu. Unser Held bekam anonyme Drohbriefe, die er vor aller Welt verlas und anschließend in kleine Schnipsel zerriss, womit er den unsichtbaren, doch allgegenwärtigen Feinden seine Verachtung demonstrierte. Und eines Abends im Schneetreiben, Sie hatten sich gerade bis zum nächsten Morgen von ihm verabschiedet, bestieg er sein Auto, das wie in einem Futteral aus nassem Schnee steckte, mit ihm seine neue Frau, von der alten hatte er sich – ein halbes Jahr vor diesem breiigen Matsch, den die Scheibenwischer von seiner Windschutzscheibe schoben – scheiden lassen, und Sie dachten noch in dem Moment: Den sehe ich nun nie wieder, doch Ihre Gedanken gingen keinen etwas an, und das war im Übrigen schon immer so gewesen. Die beiden saßen im Auto, hatten die Heizung eingeschaltet und wünschten sich, während es drinnen langsam warm wurde, glücklich zu sein und lange zu leben und gemeinsam, möglichst am selben Tag und zur selben Minute, zu sterben. Vergiss doch die Wahrheit, sagte sie, wozu brauchen wir die, Slawik, Liebster, ich habe Angst um dich und um mich. Ich flehe dich an, lass die Finger davon! Er hatte die Antwort schon auf den Lippen, da flog das Auto in die Luft. Die Ermittler gingen von einem Versehen aus, man habe den Sprengstoff wohl einfach ins falsche Auto gepackt; also wurden die Personalien sämtlicher Besitzer eingeschneiter BMWs eruiert, die ihre Wagen an diesem Matschabend vor dem Fernsehzentrum Ostankino abgestellt hatten, wo unter jeder Parkplatzlaterne fluffige Schneepyramiden gewachsen waren. Auch nach dem Koffer mit der Wahrheit wurde gesucht, vergeblich. Die Exfrau des zu Tode Gekommenen, in ihrer Weiblichkeit gekränkt und mit Füßen getreten, hatte den Verräter ihrer Liebe noch zu seinen Lebzeiten aus ihrem Unbewussten zu drängen versucht; von Zeit zu Zeit rief sie bei ihm an, ohne einen Ton zu sagen … oh, wie sie sich gleichen, all die Einsamen, Verlassenen, die ihre Wut in den Telefonhörer schnauben, um sie zu ersticken! Vor Angst, den Verstand zu verlieren, ging sie zum Psychotherapeuten und heulte zwei Stunden lang – sie hatten doch so viele Jahre miteinander verbracht! Der Therapeut – er hatte ein Glasauge und die Gewohnheit, es mit der Hand zu beschirmen – wartete geduldig ab, bevor er den Vorschlag machte, sie solle ihr zurückliegendes glückliches Leben als einen Videofilm betrachten, den sie zu Ende geschaut habe, nun empfehle er ihn noch ein zweites Mal ganz entspannt und mit geschlossenen Augen im Schnelldurchlauf anzusehen – was für eine lächerliche Zappelei, zum Küssen schlugen die Nasen wie Schnäbel gegeneinander, kopuliert wurde mit der Emsigkeit von Feldhamstern –, um die Kassette anschließend aus dem Gerät zu nehmen und in den Müllschlucker zu werfen. Wir haben im Haus keinen Müllschlucker, antwortete die Frau. Als sie schließlich erfuhr, was passiert war, heulte sie von Neuem los, doch diesmal ganz anders: Sie durfte sich jetzt eingestehen, ihn zu lieben, durfte an die gute Zeit zurückdenken und diese Erinnerungen genießen. Es waren Wonnetränen nun, die die Seele reinwuschen und Erleichterung brachten. Solange er am Leben gewesen, hatte sie seiner nur in der Vergangenheitsform gedenken können – als wäre er tot; nun war es geschehen, er war tatsächlich gestorben, sie musste sich nicht mehr verstellen. Einmal, als sie in die leere Wohnung kam, spürte sie, dass in ihrer Abwesenheit jemand da gewesen war. Alle Gegenstände lagen an ihrem Platz, doch das Gefühl war sonderbar zwingend. Da die müden Beine schmerzten, streckte sie sich auf dem Bett aus und nahm plötzlich den Geruch auf ihrem Kopfkissen wahr: Es war sein Rasierwasser. Er hatte sie also aufgesucht. Und das war gar nicht verwunderlich: Die Seele eines ermordeten Mannes will diese Welt nicht verlassen, da eine ihn liebende Frau in ihr zurückbleibt, die seines Schutzes bedarf. Wir möchten so gern glauben, dass uns nahestehende Menschen, wenn sie aus dem Leben geschieden, doch nicht ganz für uns verloren sind, sondern irgendwo in der Nähe, sodass sie uns in schweren Momenten beistehen können … Viel ist schon geschrieben worden über die Relativität des Todes: wenn sich plötzlich herausstellt, dass ein Toter lebt – und mit ihm alle, die je eines natürlichen oder unnatürlichen Todes gestorben sind. Denn die Graswurzeln leben fröhlich weiter, wissen nicht einmal, dass das Gras schon zerkaut ist. Ein andermal beim Nachhausekommen fand sie auf dem halb blinden, von Altersflecken überzogenen Großmutterspiegel eine schwungvolle Inschrift mit Lippenstift vor – von seiner Hand. Darin teilte der Tote ihr mit, der Mörder seien Sie. Was ja nicht fernliegt: dass man einen Mord dem Leibwächter überlässt. Den Gärtner zum Bock macht sozusagen. So ist es am einfachsten und sichersten, das leuchtet jedem ein. Und Sie fänden sich unversehens zwischen Hammer und Amboss wieder. Den Auftrag anzunehmen hätte Folgen, ihn abzulehnen bekäme einem genauso schlecht. Den Schwarzen Peter hatten nun Sie. Auch Tote können selbstverständlich irren, aber … So nehmen die Ermittlungen eine neue Wendung. Der Mord an dem Journalisten wird Ihnen zur Last gelegt. Sie sehen sich gezwungen unterzutauchen. Die Geschichte gewinnt an Fahrt; um sich von dem Verdacht reinzuwaschen, müssen Sie wohl oder übel den wahren Mörder finden, und besser noch: die ganze unter die Räder gekommene Wahrheit ans Licht befördern. Das ist nun schon ein richtiger Krimi. Unterdessen hatte die Exfrau des Ermordeten einen Termin bei einer Wahrsagerin. Vor ihr hatte übrigens eine Frau dort gesessen, die darum bat, ihre Familie von einem Fluch zu erlösen: Binnen eines einzigen Jahres war ihr plötzlich und unerwartet der Mann verstorben, die Tochter samt Schwiegersohn und Enkelkind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, der andere, von Geburt an schwer kranke Enkel mithin zur Waise geworden, zu alledem hatte die Wohnung gebrannt. Im Zimmer der Wahrsagerin duftete es nach Weihrauch, und der alte Baum vor dem Fenster barg unter seiner Rinde Aufzeichnungen, die ein Käfer ins Holz gefressen hatte und in denen er sein Käferleben beschrieb, keiner würde sie jemals lesen. Nachdem die Wahrsagerin das vereinbarte Honorar im Umschlag entgegengenommen und nachgezählt hatte, gab sie ihr auf die Frage, wie man am besten in Kontakt zu einem Ehegatten tritt, der nicht mehr am Leben, aber trotzdem da ist, eine Internetadresse: Dort würde sie, sobald der erste Stern am Himmel erschien, mit ihm chatten können. Zur angegebenen Stunde befand sich in dem Chatroom nur ein einziger Besucher. Er. Und sie interessierte nur eine einzige Frage, ihr Zeigefinger hämmerte sie steif in die Tastatur: Liebster, warum hast du mich verlassen? In seiner Antwort war vom Code eines Schließfachs am Weißrussischen Bahnhof die Rede, doch sie beharrte auf ihrer Frage: Ich möchte nur wissen: warum? Aber lassen wir die beiden eine Weile allein und schauen, wie es Ihnen inzwischen erging. Nach Hause, wo man Ihnen gewiss schon auflauerte, konnten Sie nicht mehr.[Ref 14] Sie hatten Angst, dass man Ihrer Frau und dem Sohn etwas antun könnte, auch wenn das Kind schon groß und gar nicht von Ihnen war, was für die Liebe und den Fortgang der Geschichte absolut keine Rolle spielt, Sie fuhren also zu einem alten Freund aus Armeetagen, der als Kind nicht genug mit Zinnsoldaten gespielt hatte und deshalb ein Panorama der Schlacht von Waterloo in Zinn zusammentrug. Eine Armeefreundschaft wiegt mehr als alles Übrige, so schien es Ihnen. Menschen, die einander einmal so überaus nah gewesen, suchen diese verflossene Nähe noch nach vielen Jahren wiederzufinden, auch wenn sie inzwischen ganz andere sind – vergleichbar etwa dem Wasser, das einmal in einer Vase war und längst zu Dampf oder Regen geworden ist. Sie berichteten, der Freund rauchte und hörte zu, zwei Ströme Rauch aus seinen Nasenflügeln prallten in den Makkaroniteller. Die Sache war aussichtslos, so viel verstand er, und dass er, wenn er Ihnen half, selbst dabei draufgehen konnte – doch gerade das reizte ihn. War es Dostojewski, der gesagt hatte, sein Leben zu opfern sei vielleicht das leichteste von allen Opfern? Am nächsten Morgen zog Ihr Freund sein gestreiftes Matrosenhemd an und begab sich zur Exgattin des Journalisten, um über sie mit dem Geist des Toten in Kontakt zu treten und Aufschluss über den Verbleib des verschollenen Diplomatenkoffers zu erhalten. Die Angestellten der Wäscherei gegenüber hatten Schüsse gehört und die Polizei verständigt, und als die diensthabende Einheit dem Stau der Rushhour endlich entronnen und vor Ort angelangt war, griff sie sich unseren edlen Helden und vermochte ihm während des kurzen, verzweifelten Handgemenges ein paar silberne Teelöffel in die Tasche zu schieben; umsonst seine Beteuerungen, er habe die Frau tot auf dem Bett vorgefunden, die Nase ins Kissen vergraben, mit einer Kugel im Herzen. Er hatte sich auf sie gestürzt in der Hoffnung, sie wiederbeleben zu können – darum klebte ihr Blut an ihm. Dann hatte er ihr die Pistole aus der Hand gezogen, die jemand hineingelegt hatte, damit es wie Selbstmord aussah,