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Any Cherubim

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Beschreibung

Fesselnd, düster, ergreifend - das große Finale von "Broken Feelings".   Sechs Jahre hat Noah geschwiegen und die Drohungen über sich ergehen lassen. Für die Wahrheit war er zu feige, zu schockiert. Doch jetzt ist Cat endlich wieder Teil seines Lebens, und er würde alles tun, um sie nicht noch mal zu verlieren. Allerdings droht Noahs mühsam aufgebautes Kartenhaus in sich zusammenzufallen. Cat schreckt vor nichts zurück, um endlich die Wahrheit aufzudecken, während Noah weiß, dass sein Geheimnis ihrer beider Leben zerstören wird … "Broken Feelings - Verloren" ist der zweite und letzte Teil der Liebesthriller-Dilogie "Broken Feelings".

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Broken Feelings – Verloren

Band 2

Any Cherubim

Man kann die Wahrheit nicht finden. Man kann nur aufhören, sie zu übersehen.

1

Cat

Ich schloss die Augen. Eine Welle der Erleichterung schwappte über mich hinweg, als das Flugzeug abhob und ich San Francisco den Rücken kehrte. Mein Herz war zerrissen, mein Gehirn außer Kraft gesetzt. Ich wusste nicht mehr, wo ich stand, was ich tun, geschweige denn, wem ich noch trauen konnte. In den letzten Stunden hatte ich mich in irgendwelchen Nischen der Abflughalle versteckt, aus Angst, der Rosenstalker könnte mir auflauern. Dabei war das unmöglich, oder? John und sein Komplize saßen doch im Gefängnis. Ich kapierte gar nichts mehr und wollte nur noch eines: abhauen.

Ich war aus dem Appartement geflohen, in das Taxi gestiegen und zum Flughafen gerauscht. Ich flüchtete – vor Noah, dem Meer aus blauen Rosen, das mich im Schlafzimmer erwartet hatte, und vor Beckys anklagendem Gesicht, das ich ständig vor Augen hatte. Es war ein Albtraum, aus dem ich nicht erwachte. Ich stand vor einem Abgrund, nur Millimeter davon entfernt hinabzustürzen in das grässliche Maul eines Monsters, das mich mit Haut und Haaren zu verschlingen drohte.

Während des Fluges hatte ich im Tagebuch geblättert, hatte die Zeilen immer wieder gelesen, in der Hoffnung, dass ich etwas falsch interpretiert hatte. Aber es stand hier, schwarz auf weiß: Noah hatte Becky geschwängert. Hatte er mich damals deshalb verlassen? Wieso hatte man das vor mir geheim gehalten? Tausendmal durchforstete ich meine Erinnerungen nach Hinweisen, nach Kleinigkeiten, die ich vielleicht übersehen hatte, doch da war nichts. Waren Noahs Erklärungen über sein Verschwinden Lügen, die ich leichtgläubig geschluckt hatte? Hatten mich alle jahrelang belogen? Mein Herz brannte, weil es sich anfühlte, als würde ich alles verlieren, was ich liebte.

Vom Flughafen in Eugene nahm ich den Bus nach Pleasant Hill. Ich hätte auch Mr. Claus anrufen können, aber er würde mich bestimmt ausfragen, warum ich hier war, und schließlich wollte ich nicht jedem den brisanten Fund auf die Nase binden. Fingerspitzengefühl war angesagt. Wenn meine Hände nur nicht so zittern würden ... Ich brauchte unbedingt Nachschub von meinen heißgeliebten Erdbeerbonbons.

Ich zog meine Sonnenbrille auf, als ich am Ortsrand aus dem Bus stieg, hievte die Reisetasche über die Schulter und lief die Hauptstraße entlang. Es war bereits später Nachmittag und der Himmel mit dichten Wolken verhangen. Das Grau passte zu meiner Stimmung. Auf dem Weg schaltete ich mein Handy ein. Kaum hatte ich wieder Empfang, summte und vibrierte es unaufhörlich. Noah, Inma und Maja hatten versucht, mich zu erreichen. Bestimmt hatten sie die Rosen entdeckt. Ich schrieb meiner besten Freundin eine Nachricht, dass ich gut angekommen war, und beeilte mich, endlich nach Hause zu kommen.

Vor dem geschwungenen schmiedeeisernen Tor straffte ich die Schultern, bevor ich den Klingelknopf betätigte. Ausdruckslos starrte ich zur Überwachungskamera, die oberhalb des Gatters angebracht war, und wartete. Nichts rührte sich. Ungeduldig trat ich von einem Bein aufs andere. War niemand zu Hause? Verdammter Mist! Dann würde ich eben über meinen Geheimweg aufs Grundstück gelangen. Noah und ich waren ständig über die Gartenmauer geklettert. Es gab eine bestimmte Stelle, die das Eindringen besonders einfach machte. Ich lief am Gemäuer entlang, bis ich zu unserem geliebten Ahornbaum kam, der mit seinen unzähligen Ästen auf das Anwesen ragte. Mit Schwung warf ich meine Tasche hinüber und kletterte auf den Baum. Balancierend gelangte ich über den dicken Ast Schritt für Schritt zum Mauerwerk und sprang. Etwas unelegant landete ich auf der Wiese und blickte mich um. Niemand war zu sehen. Ich schnappte meine Tasche und marschierte durch die Allee, die zu unserem Haus führte.

Nach wenigen Minuten tauchte die Villa groß und eindrucksvoll zwischen den Bäumen auf. Die Leute sagten immer, mit den beiden tragenden Säulen am Eingang, dem hübschen Springbrunnen auf dem Vorplatz und den gepflegten Büschen sei es das schönste Anwesen in ganz Pleasant Hill. Nur zu gut wusste ich, dass der Schein trog.

Kurz wunderte ich mich über die vielen Luxuskarossen, die kreuz und quer vor unserer Villa parkten. Hatte Mom etwa auch Mr. Claus gefeuert? Er hätte dieses Durcheinander niemals geduldet. Immerhin wusste ich jetzt, dass jemand da sein musste. Trotzdem war das alles merkwürdig.

Nervös trat ich die wenigen Stufen hinauf. Beim Öffnen der Eingangstür wurde ich von Musik und Gelächter empfangen, das aus dem Salon zu mir herüberschallte. Eine Party. In der Eingangshalle stellte ich meine Tasche ab und blickte zu den zwei riesigen Porträts von Becky, die Mom nach ihrem Tod hatte anfertigen lassen. Der Kloß in meinem Hals schwoll an, während mir meine Schwester entgegenlächelte und der Duft der Blumen, die Martha jede Woche aufstellte, in meine Nase strömte. Die schweren Teppiche verschluckten meine Schritte, als ich an der Bibliothek vorbei zum Salon lief. Ich zog die Schiebetür einen winzigen Spalt auf und lugte hinein. Mom feierte mal wieder eine ihrer berühmten Partys; ihr Gekicher war nicht zu überhören. Sie stand am Piano beim Fenster. Für einen Moment hielt ich den Atem an, als ich ein Whiskeyglas in ihrer Hand sah. Shit! Sie war rückfällig geworden.

Seit Dads Auszug war Mom ständig in Feierlaune. Sie schämte sich nicht, ein Fest daraus zu machen, dass sie ihren kranken Alten losgeworden war. Galle stieg meine Speiseröhre empor. Ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, hineinzustürmen, ihr das Glas aus der Hand zu schlagen und vor ihren Gästen die Leviten zu lesen. Sie war betrunken, und es widerte mich an. Sie kicherte wie ein Schulmädchen und warf sich einem Typen an den Hals, den ich nur von hinten sehen konnte. Wer waren diese Leute? Nicht ein Gesicht kam mir bekannt vor.

Wütend beschloss ich, sie vorerst nicht zu informieren, dass ich hier war, und zog die Schiebetür wieder zu. So konnte ich wenigstens ungestört nach dem Totenschein, dem Obduktionsbericht und anderen Papieren suchen. Mom darum zu bitten, würde nur unnötige Fragen aufwerfen, wobei ich vermutete, dass sie in ihrem Zustand sowieso nichts kapierte. Ich schlich zur Küche und sah mich nach Martha um. Hier war sie nicht. Auch im Garten suchte ich sie vergebens. Während Mom sich weiter volllaufen ließ und feierte, schulterte ich meine Tasche und stieg unbemerkt die Steintreppe zu meinem Zimmer hinauf.

***

Sonnenlicht durchflutete mein altes Zimmer, das voller Erinnerungen steckte. Alles war genau so, wie ich es verlassen hatte. An den Wänden hingen noch die Poster von Pink, die ich seit meiner Jugend vergötterte, daneben stand ein leeres Regal, das ich bei meinem Umzug nach San Francisco nicht mitgenommen hatte, und mein Bett war mit einem Leintuch abgedeckt. Ich ging zum Fenster und ließ frische Luft herein. Verärgert und enttäuscht riss ich das Laken vom Bett und plumpste erschöpft in die Kissen. Ich war müde von der Reise, der letzten Nacht und all den Ereignissen, die ich verkraften musste. Musik und Gelächter dröhnten bis in mein Zimmer, aber darauf achtete ich nicht. Vielmehr wollte ich mich auf den Grund meiner Heimkehr konzentrieren: Ich musste die Wahrheit über Beckys Tod erfahren, und mit der Suche fing ich am besten in Dads altem Arbeitszimmer an.

Jetzt war ich ganz froh, dass Mom mit einer Party abgelenkt war und nicht ahnte, dass ich wie ein Geist durchs Haus spukte. Im Flur öffnete ich leise die Tür zu Dads Büro. Er hatte einen Teil der Einrichtung in die Residenz mitgenommen, unter anderem seine Regale und den handgefertigten Mahagonischreibtisch. Die alten, schweren Stücke waren einer modernen Möblierung gewichen. Sorgfältig schloss ich die Tür hinter mir und machte mich an die Arbeit, durchsuchte alle Schubladen, sämtliche Mappen und Ordner. Alles, was ich fand, waren Rechnungen, irgendwelchen Schriftverkehr und uninteressante Papiere. Ich wusste genau, dass Dad irgendwo einen Ordner mit Beckys Unterlagen aufbewahrte. Mein Blick fiel auf das Gemälde, hinter dem ein Tresor versteckt war. Früher hatte ich die Zahlenkombination gekannt. Ob die noch aktuell war?

Ich nahm das Bild ab und stellte an dem kleinen Rädchen die Zahlen ein, an die ich mich erinnerte. Egal, welche Kombination ich verwendete, der verflixte Safe ließ sich nicht öffnen. Frustriert schlug ich mit der Faust gegen das Metall. Martha wüsste, wo ich fündig werden könnte. Wo steckte unsere Haushälterin nur?

Es fiel mir schwer zu warten – Geduld war noch nie meine Stärke gewesen. Ich ließ mich auf das Sofa in der Ecke sinken und starrte entmutigt in die Luft. Durch das Wiedersehen mit Noah drängten sich die Erinnerungen an die Vergangenheit wieder an die Oberfläche, meine Albträume waren wesentlich präsenter, und meine Gedanken kreisten oft um Becky. Nach dem Tod meiner Schwester war ich nie wieder auf dem Dachboden gewesen und hatte auch selten ihr Zimmer betreten. Überhaupt war es schwer, mich hier im Haus aufzuhalten. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass mich all die Ereignisse erdrückten. Jetzt fragte ich mich, wie ich das so lange ausgehalten hatte.

Ich verließ das Büro, blieb im Flur stehen und blickte auf die Steintreppe, die hinunter in die Eingangshalle führte. Eine Erinnerung, von der ich geglaubt hatte, sie erfolgreich verdrängt zu haben, schob sich in den Vordergrund.

***

Cat, 16 Jahre alt

Ich sitze auf der Steintreppe und starre durch das Geländer in die offene Bibliothek zu meiner Schwester, die in einem weißen Sarg umringt von bunten Blumen aufgebahrt liegt. Ganz Pleasant Hill ist gekommen und trauert. Die schwarzgekleideten Menschen stehen Schlange, um sich von dem Engel zu verabschieden, von dem sich viele erhofft haben, dass er unseren Ort eines Tages berühmt machen würde. Die Leute weinen oder haben betretene Mienen. Auch Dad, der in den letzten Tagen um Jahre gealtert ist, wischt sich immer wieder über die Augen. Ich sehe ihm an, dass er krampfhaft versucht, stark zu sein. Er schüttelt Hände und will das alles irgendwie begreifen. Mom sitzt, umringt von ihren Freundinnen, in Dads Ohrensessel und blickt ins Leere. Seit Tagen ist sie in diesem Zustand, nimmt kaum Notiz von etwas. Ihre Schreie, als sie es erfahren hat, dröhnen noch immer in meinen Ohren.

Ich fühle nur Schmerz und bin nicht sicher, wie lange ich das aushalten kann. Noah hat einen Dolch in meine Brust gerammt – und Becky hat mir den Todesstoß verpasst, als ich sie auf dem Dachboden gefunden habe. Noah fehlt mir, sogar sehr, aber ich bin auch wütend auf ihn. Ob er weiß, was geschehen ist? Ich bin mir sicher, dass er zurückkommen würde, wenn er es wüsste. Seit Wochen ist er fort, und Becky habe ich nun auch verloren. Sie war an meiner Seite, als ich nach ihm suchte, hat mit mir um ihn getrauert. Ich bin so leer wie noch nie in meinem Leben. Es ist, als wäre ich ebenfalls gestorben.

Dort drüben liegt sie, schön wie Dornröschen. Sie hat sogar Farbe im Gesicht, damit sie so natürlich wie möglich aussieht. Martha hat eine hochgeschlossene Bluse und ein Tuch für Becky ausgesucht, um die Würgemale zu verdecken. Ihre zarten Hände sind gefaltet. Ich kann den Blick nicht von ihr abwenden, in der absurden Hoffnung, dass sie aufwacht. Aber sie tut es nicht. Ich will es nicht wahrhaben. Ich habe sie geliebt, mit all ihren Seltsamkeiten, ihrer stillen und doch besserwisserischen Art.

»Cat«, höre ich eine Stimme, die mir ins Ohr flüstert. »Cat?«

Ich schaffe es erst, vom Sarg aufzublicken, als mich jemand am Ärmel zieht. Dieser Jemand hat sich neben mich auf die Treppenstufe gesetzt. Mir ist eiskalt, als ich klar und deutlich meine Schwester neben mir sehe.

Keuchend schaue ich mich um, aber niemand scheint sie zu bemerken. Wie ist das möglich? Becky ist quicklebendig! Im ersten Moment bin ich nicht in der Lage, etwas zu sagen, versuche herauszufinden, ob ich träume oder high bin. Ich presse die Augen zusammen und warte einige Sekunden. Liegt es vielleicht an den Tabletten, die mir Martha seit dem Tag auf dem Dachboden gibt? Es muss eine Halluzination sein. Aber sie hört nicht auf.

Als ich die Lider wieder öffne, sehe ich Becky immer noch neben mir. Sie ist totenbleich und hat all die dunklen und violetten Flecken am Hals. Ihre langen Haare hängen strähnig über ihre Schultern. Ihre Haut hat diesen seltsamen blauen Unterton, und es geht eine Eiseskälte von ihr aus. Ich friere, schlinge die Arme um meinen Körper, und meine Lippen beben. Das kann nicht sein. Abwechselnd blicke ich in die Bibliothek und zu ihr zurück. Ich sehe meine Schwester immer noch im Sarg liegen und gleichzeitig neben mir sitzen. Ich muss total übergeschnappt sein.

»Du hättest es verhindern können«, flüstert sie anklagend. »Wo warst du, Cat? Warum hast du mich nicht gerettet? Du bist egoistisch und denkst nur an dich. Wie viele Male habe ich dich vor den Bestrafungen unserer Eltern bewahrt? Wie oft habe ich für dich gelogen?«

Ich schlucke, denn das sind genau die Fragen, die ich mir unaufhörlich stelle. Sie hat mich immer beschützt, sich für mich eingesetzt. »Es tut mir leid«, flüstere ich. »Das habe ich nicht gewollt. Komm zurück, ich mache es wieder gut! Bitte!«

Ganz langsam schüttelt sie den Kopf. »Nein, dafür ist es zu spät.«

Ich kann nicht anders und lasse meinen Tränen freien Lauf. »Verlass mich nicht, Becky. Bitte. Wir lieben dich doch so sehr.«

Ihr Blick wandert zu den trauernden Gästen und zu unseren Eltern. »Das war eine falsche Liebe. Jetzt bin ich verdammt, und das ist eure Schuld. Das werde ich euch nie verzeihen, hörst du? Niemals.«

Ein eiskalter Lufthauch erfasst mich, als sie sich erhebt und langsam die Treppe hinuntergeht. Sie darf nicht für immer aus meinem Leben verschwinden! Zitternd vor Kälte stehe ich auf.

»Geh noch nicht! Verlass mich nicht«, bettle ich verzweifelt.

Tatsächlich dreht sie sich noch mal zu mir um. Ich erschaudere. Ihre Augen sind glühend rot, und die dunkelblauen Adern schimmern durch ihre alabasterfarbene Haut. Ich weiche zurück, als ich seltsame Bewegungen auf ihren Armen, am Dekolleté und im Gesicht wahrnehme. Die Haut wölbt sich, als würde sich darunter etwas schlängeln und winden. Meine einst so schöne Schwester sieht grauenhaft aus – wie ein Zombie.

»Hast du etwa Angst vor mir?« Sie hat ihren Kopf leicht gesenkt und blickt mich mit einem diabolischen Grinsen an. Ich nicke. »Du kannst es wiedergutmachen, Cat.«

»Wie?«

»Komm mit mir. Dann können wir für immer zusammen sein.« Sie streckt ihre Hand nach mir aus.

Mit ihr gehen?

Schmunzelnd schaut sie die steilen Stufen hinunter. Bedeutet das, ich soll auch sterben? Ist das der Ausweg, die Lösung, um dem Schmerz zu entfliehen?

»Was hast du denn noch zu verlieren?«

Mein Blick wandert über die Steintreppe. Martha hat uns immer ermahnt, vorsichtig zu sein, als wir Kinder waren und die Treppen hinauf und hinunter gerannt sind. Oft habe ich mir das Schienbein aufgeschlagen, weil ich nicht aufgepasst habe. Ein Sturz aus dieser Höhe könnte mit dem Tod enden.

»Es ist ganz leicht, und du wärst deine Schuld los, kleine Schwester. Dort wo ich jetzt hingehe, gibt es nichts und niemanden, der uns mehr wehtun kann. Kummer und Sorgen spielen keine Rolle mehr.«

Sie spricht von Erlösung, davon, frei zu sein, nie wieder zu fühlen. Ja, das klingt verlockend. Langsam hebe ich meine Hand und greife nach dem Frieden, den Becky mir verspricht. Ich will es, brauche es und ...

»Vertrau mir«, flüstert sie.

Mein Fuß rutscht wie von selbst an die Kante. Ich schließe die Augen, wanke. Noch bevor ich den Halt verliere und Beckys Finger berühre, kommt mir ein Gedanke. »Was, wenn Noah eines Tages zurückkehrt?«

»Er hat dich verlassen. Er kommt nicht wieder«, erinnert sie mich barsch und fordert mich ungeduldig auf, es endlich hinter mich zu bringen.

Aber Noah lässt mich nicht los, ebenso wenig der Gedanke an Martha und Grandpa. Kann ich ihnen das antun? Wäre es nicht egoistisch, einfach Schluss zu machen? Ich liebe meine Schwester sehr, aber ihr Weg kann nicht meiner sein.

Als Becky erkennt, dass ich nicht mit ihr kommen werde, wandelt sich ihr Gesicht zu einer teuflischen Fratze. Plötzlich durchbrechen Würmer ihre Haut, fressen sich mit scharfen Fangzähnen durch ihr Fleisch. Ich will wegsehen, aber das Grauen hindert mich. Verzweifelt schnappt Becky nach mir, und ich zucke zusammen. Ich verliere den Halt an der Stufe, und in der Sekunde weiß ich, dass ich fallen werde. Panik erfasst mich, und ich bereite mich auf den bevorstehenden Schmerz vor.

Genau in diesem Augenblick höre ich eine geliebte Stimme und spüre kräftige Arme, die mich vor dem Sturz bewahren. »Zuckersternchen.«

Ein vertrauter Geruch von Leder und Freiheit holt mich in die Wirklichkeit zurück. Grandpa Bambam hält mich fest in seinem Arm. Sofort weicht die Kälte, und Wärme breitet sich in mir aus. Zitternd halte ich mich am Geländer fest, während ich die Steintreppe nach meiner Schwester absuche. Sie ist fort.

»Es tut mir leid, Becky«, wispere ich leise.

»Cat? Wolltest du etwa ... Nichts muss dir leidtun. Ihr Tod ist nicht deine Schuld.«

»Grandpa?« Benommen schaue ich zu ihm auf, in sein vertrautes Gesicht. Ich bemerke Martha, die unten auf der ersten Stufe steht, eine Hand vor ihren Mund hält und stumm weint. Sie und Grandpa wissen, was ich beinahe getan hätte, aber sonst hat niemand etwas davon mitbekommen. Mom sitzt immer noch regungslos im Ohrensessel, und Dad steht schweigend vor Beckys Sarg. Mir wird klar, dass ich mir meine Schwester auf der Treppe nur eingebildet habe. Meine Schuldgefühle spielen mir einen Streich.

»Na komm, meine Kleine, wir gehen an die frische Luft. Mir scheint, das hast du dringend nötig.« In Grandpa Bambams Armen steige ich die Stufen hinunter. Ich fühle mich sicher, und mit jedem Schritt kehrt meine innere Wärme zurück.

Kurz bevor wir die Haustür erreichen, schaue ich zur Steintreppe, wo Becky – oder vielmehr der Zombie – gestanden hat. Dort liegt ein kleiner Wurm, der sich verzweifelt nach Erde krümmt, in der er sich verstecken könnte.

***

Die alten Schuldgefühle holten mich ein, schnürten mir die Luft zum Atmen ab. Panisch raste ich die Treppe hinunter, drängte mit aller Gewalt die Bilder von damals aus meinem Gedächtnis und konnte erst wieder tief einatmen, als ich das Haus hinter mir gelassen hatte und über die Parkwiese rannte. Verdammter Mist!

2

Noah

»Es ist genug für heute. Spar deine Kräfte, du wirst sie noch brauchen.« Dylan war erschöpft und hob halbherzig die Punch-Pads, auf die ich unermüdlich einschlug.

Seit Stunden trainierte ich, als stünde der Teufel persönlich vor mir. Der Streit mit Cat, die aufgestaute Wut und die Erinnerungen waren kurzzeitig verpufft. Jetzt hatte ich mich zwar abreagiert, konnte aber Cats verzweifelten Blick, als sie mich anklagend angesehen hatte, nicht vergessen.

Dylan ließ die Arme sinken und fixierte mich. Jetzt, nachdem er mir die halbe Nacht dabei geholfen hatte, mich von meinen Dämonen zu befreien, wollte er Antworten. Angestrengt legte ich den Kopf in den Nacken und genoss die letzten Sekunden, in denen das Adrenalin durch meinen Körper rauschte, bevor ich ihm mal wieder ausweichende Auskünfte über mein Seelenleben geben musste.

»Okay, Champ. Du hast mich aus dem Bett geworfen, damit ich mit dir trainiere, und nachdem du wie ein verrücktes Tier auf mich eingeprügelt hast, verdiene ich zumindest eine Erklärung, was mit dir los ist. Geht es um den Kampf oder um deine Kleine?« Er strich die Punch-Pads von den Händen und warf mir eine Wasserflasche zu.

Es war nach Mitternacht gewesen, als ich ihn dazu gebracht hatte, mit mir in die alte Werft zu fahren. Ich hatte mächtig Dampf ablassen müssen, nachdem Cat gegangen war. Ich schuldete ihm etwas. Ich trank ein paar Schlucke. »Es ist etwas geschehen, womit ich nicht gerechnet habe.«

»Und was?«

»Cat hat das Tagebuch ihrer verstorbenen Schwester gefunden, und darin stand, dass sie in mich verliebt war.« Ich stieß den Atem aus. Es ging mir immer noch nicht in den Kopf. »Sie war schwanger, als sie sich das Leben nahm.«

Dylans Blick durchbohrte mich. »Und jetzt denkt Cat, dass du ...?« Ich nickte. »Und? Hast du?«

»Nein. Ich wollte immer nur Cat«, gab ich kleinlaut zu.

»Und das glaubt sie dir nicht«, stellte er fest.

Ich schüttete mir das restliche Wasser über den Kopf und löste die Bandagen von den Händen. »Ich weiß es nicht.«

Dylan beobachtete mich wachsam. »Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, habe ich recht?«

Mein bester Freund war nicht dumm. Schon lange wusste er, dass ich Dinge vor ihm verheimlichte, er hatte aber nie von mir verlangt, dass ich sie ihm anvertraute. Ich wünschte mir, ich könnte ihm einfach alles erzählen.

»Hör zu, ich weiß nichts von dem Mist, den du mit dir herumträgst, aber lass nicht zu, dass es dich auffrisst, Mann. Was auch immer du getan hast, Cat wird dir verzeihen.«

»Was macht dich da so sicher?«

Er zuckte mit den Schultern. »Die Kleine ist verknallt in dich. Sie liebt dich, Bro. Rede mit ihr und sag ihr die Wahrheit.«

Ich schnaubte. Wenn alles ans Licht kam und Cat erfuhr, dass ihr Vater ein Mörder war und ich ihre Schwester vielleicht vor dem Selbstmord hätte bewahren können, dann würde ich sie verlieren. Das könnte sie mir niemals verzeihen.

»Es ist viel komplizierter«, raunte ich Dylan zu, während ich den Reißverschluss der Sporttasche zuzog.

»In was für einer Scheiße steckst du? Billy und seine Leute sitzen dir im Nacken, Robinson ebenfalls, und jetzt scheint dich deine Vergangenheit einzuholen. In wenigen Stunden findet der Kampf statt, du kannst keine Ablenkung gebrauchen. Du musst dich auf das Wesentliche konzentrieren.«

Er machte sich Sorgen, mit Recht. Dylan zum Mitwisser zu machen, kam aber für mich nicht infrage. Immerhin deckte ich einen Mörder. Ich hatte genug Probleme, und ich wollte Dylan nicht mit hineinziehen. Er wusste nur über Billy Bescheid und half mir, so gut er konnte.

»Mach dir nicht so viele Gedanken, ich krieg das hin«, sagte ich zuversichtlich. »Lass uns hier abhauen.« Dylan war nicht überzeugt, aber ich war froh, dass er nicht länger nachfragte. Ich legte einen Arm um seine Schulter. »Danke. Ich liebe dich, Mann.«

»Ich dich auch, du Idiot.«

Es war bereits Vormittag, als ich erwachte. Ich hatte mich die restliche Nacht durch die Laken gewälzt und an Cat gedacht. Ständig hatte ich ihr schönes Gesicht vor mir, wie sie mich ansah und dabei so sexy lächelte, dass ich hart geworden war. So konnte es nicht zwischen uns enden. Es gab so vieles, was wir beide uns noch nicht geschenkt hatten, und wenn ich noch vor wenigen Wochen geglaubt hatte, leicht wieder von ihr loskommen zu können, so hatte ich mich gewaltig getäuscht. Schon längst waren meine alten Gefühle für Cat wiedererwacht, hatten sich fest in mir eingenistet und würden mich nicht mehr loslassen. Aber ich wusste auch, dass ich das eigentliche Problem war. Ich, der harte Typ mit einer beschissenen Vergangenheit, der es nicht fertigbrachte, den Mund endlich aufzumachen und sich von all dem Mist zu befreien.

Cat verdiente jemanden, der ehrlich zu ihr sein konnte. Manchmal wünschte ich mir, ich würde nicht so tief für sie empfinden, denn es tat weh zu wissen, dass ich nicht dieser Jemand sein konnte. Liebe und Schmerz lagen nah beieinander, und im Grunde wäre es nicht schwer, ihr die Wahrheit zu sagen. Doch der Inhalt meiner Worte könnte alles zerstören.

Ich hatte mir Urlaub genommen, damit ich nicht mit den Verletzungen arbeiten musste, die ich vom Kampf heute Abend davontragen würde. Robinson hatte den Urlaubszettel mit mürrischem Blick unterschrieben, aber das war mir egal. Ich hatte keine Wahl. Alles, woran ich im Moment denken konnte, war Cat. Vielleicht hatte sie sich beruhigt und wir konnten reden.

Eilig zog ich mich an und lief die Treppen zu ihrem Appartement hinauf. Ich würde ihr klarmachen, dass sie mir vertrauen konnte. Gestern Abend hatte ich gesehen, wie gern sie mir geglaubt hätte. Sie war unsicher, und ich verstand das. Ich musste einfach mit ihr sprechen. Ich nahm gleich drei Stufen auf einmal, blieb aber mitten auf dem Treppenabsatz stehen. Wieso war ihre Wohnungstür offen?

»Cat?« Langsam und mit einem seltsamen Gefühl im Magen schob ich die Tür auf und trat ein. Es war still und von Cat nichts zu sehen. »Cat? Bist du da?«

Auf der Schwelle zu ihrem Schlafzimmer fand ich einen Waschbeutel und Kosmetikutensilien auf dem Boden, bevor mein Blick auf das Blau stieß, das mir aus dem Raum entgegenleuchtete. Meine Gedanken rasten, während ich die Drohung las.

Dachtest du, das war's?

So leicht kommst du nicht davon!

Die Wahrheit ist noch viel grausamer, als du dir vorstellen kannst.

Nur ich kenne sie.

Fuck! Was zum Teufel war hier los? Wusste noch jemand über unsere Vergangenheit Bescheid? Hastig sah ich mich in den anderen Räumen nach Cat um, während ich ihre Nummer wählte. Ihr Handy war ausgeschaltet, und eine Bandansage sprang an. Ein dumpfes Gefühl schlich in meinen Magen. Was, wenn ihr etwas zugestoßen war? Ich rief Detective Weather an, und gleich im Anschluss versuchte ich es erneut bei ihr. Eine solche Menge an Blumen konnte nur mit einem größeren Fahrzeug angeliefert werden. Das musste jemandem aufgefallen sein. Wenn John dafür nicht verantwortlich war, kam nur einer infrage: Chief Spence.

Ich hatte früher schon den Verdacht gehabt, dass Cats Vater dahinterstecken könnte, aber als John festgenommen worden war, war für mich die Sache erledigt gewesen. Doch irgendetwas passte nicht zusammen. Cat hatte inzwischen ein vertrautes und inniges Verhältnis zu ihm. Würde der Chief seine eigene Tochter so tyrannisieren und sogar schwer verletzen, nur um sie von mir fernzuhalten? War Cat bei ihm gewesen und hatte ihm von Beckys Tagebucheinträgen erzählt?

Ich informierte Dylan und machte mich sofort auf den Weg ins Ivy Blue. Cat wollte heute wieder arbeiten, da ihre Suspendierung aufgehoben worden war, nachdem die Polizei die blaue Scheiße als erledigt angesehen hatte. Falls Cat in Gefahr war, hatten wir schon zu viel Zeit vertrödelt. Bilder von den Verletzungen, die man ihr zugefügt hatte, jagten durch meinen Kopf, und Panik breitete sich in mir aus. Warum war ich nicht früher auf die Idee gekommen, nach ihr zu sehen? Sie hatte die Nacht bei Inma verbracht, meine Nachrichten alle ignoriert. Die Drohung hallte in mir nach und trieb mich an, Cat unbedingt zu finden.

Ich sah mich im Restaurant um und checkte den Speisesaal, dabei entdeckte ich Maja und Wilson, die beim Kücheneingang standen. Zielstrebig ging ich auf sie zu, grüßte nickend den Maître und wandte mich an Maja. »Wo ist Cat?«

»Keine Ahnung. Zu Hause, nehme ich an. Was ist denn los?« Maja kannte mich gut, merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Steckt das Mädchen etwa immer noch in Schwierigkeiten?«, wollte Wilson wissen. In seinem Ton schwang leichtes Missfallen mit.

»Ich weiß es nicht. Die Polizei ist in ihrem Appartement. Ihr Schlafzimmer ist voll mit Blumen und einer neuen Drohung.«

»Ach du Scheiße.« Maja riss die Augen auf. »Aber ich dachte, das wäre vorbei?«

»Ja, das haben wir alle geglaubt. Falls du sie sehen solltest, sag mir sofort Bescheid.«

»Mach ich.«

Ich ließ die beiden stehen und eilte in die Lobby, wo ich Spike am Fahrstuhl fand. Kurz erzählte ich ihm, was geschehen war, und bat ihn, mich in den vierten Stock zu fahren, wo Inma gerade die Zimmer säuberte. Sie war vermutlich die Letzte, die Cat gesehen hatte.

»Scheiße, Mann. Sag mir bitte nicht, dass der Mist von vorne losgeht!«

»Ich weiß es nicht, deshalb müssen wir sie finden.«

»Ich sehe gleich mal im Hotelgarten nach, da ist sie öfter.«

»In Ordnung.« Der Aufzug stoppte, die Türen öffneten sich.

»Halt mich auf dem Laufenden, was mit deiner Kleinen ist, okay?«

»Mach ich.«

Eilig lief ich den Flur entlang, wo ich Inmas Wäschewagen vor der Suite am Ende des Ganges stehen sah. Ohne anzuklopfen, ging ich hinein. Cats beste Freundin bezog gerade ein Bett und warf schmutzige Laken auf den Boden. Als sie mich entdeckte, seufzte sie und rollte mit den Augen. »Ich wusste, du würdest irgendwann bei mir auftauchen.«

»Wo ist sie?«

Sie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, strich seelenruhig das Laken glatt und arbeitete routiniert weiter. »Keine Ahnung.«

»Du musst es mir sagen! Es ist wichtig, Inma.«

»Ich muss gar nichts, Noah. Ich finde, du solltest ihr ein wenig Zeit zugestehen, nach dem, was sie gestern erfahren hat. Lass sie einfach in Ruhe, okay?«

Schon klar, dass Cats beste Freundin sich gegen mich wandte. »Cats Appartement stand vorhin offen, und ihr Schlafzimmer ist voll mit hunderten blauen Rosen. Ihr Waschbeutel und ihre Kosmetik lagen auf dem Boden, und von Cat fehlt jede Spur. Vielleicht ist sie in Gefahr.«

Inma sog die Luft ein und wurde bleich. »Was? Aber ...«

»Wo ist sie?«

Sie war sichtlich geschockt von den Neuigkeiten und dachte angestrengt nach. Mit zittrigen Fingern griff sie in ihre Rocktasche und holte ihr Handy heraus.

»Sie hat es ausgeschaltet«, klärte ich sie auf. »Ich habe pausenlos versucht, sie zu erreichen.«

Inma vergewisserte sich selbst, wählte Cats Nummer und steckte das Handy frustriert in ihre Tasche zurück, als die Abwesenheitsmeldung kam.

»Bevor ich zur Arbeit gegangen bin, haben wir uns verabschiedet. Sie wollte ein paar Sachen aus ihrem Appartement holen und den nächsten Flug nach Pleasant Hill nehmen. Scheiße, Noah! Meinst du, sie wurde ...?« Ihre Stimme brach.

»Ich weiß es nicht.« Ich biss mir auf die Lippe. Der bloße Gedanke, dass der Kerl Cat geschnappt haben könnte, ließ meine Eingeweide zusammenschrumpfen.

»Ich versuche es bei ihr zu Hause«, sagte Inma und holte erneut ihr Handy heraus. Während sie in der Spence-Residenz anrief, ging ich in der Suite auf und ab. Vielleicht saß Cat noch im Flieger und hatte deshalb ihr Telefon ausgeschaltet.

»Mist! Da nimmt auch niemand ab. Was machen wir jetzt? Ist die Polizei verständigt?«

»Die habe ich als Erstes angerufen.« Ich wählte sofort die Nummer von Weather und informierte ihn. Die Polizei konnte feststellen, ob Cat an Bord war oder nicht.

Inma kämpfte mit den Tränen. »Wie ist das möglich? John kann doch nicht vom Gefängnis aus so etwas tun, oder?«

»Beruhige dich, wir finden Cat schon. Vielleicht kommst du mit mir. Weather will bestimmt auch mit dir sprechen.«

»Ist gut.« Inma ließ alles stehen und liegen und begleitete mich zur Appartementanlage, wo der Detective schon auf uns wartete.

Die Polizei nahm die Ermittlungen auf. Sie entdeckten auf den Überwachungsaufnahmen einen weißen Transporter mit dem Logo einer ortsansässigen Gärtnerei und zwei ihrer Mitarbeiter, die die Sonderbestellung abluden. Eimerweise schleppten sie die Rosen in Cats Appartement. Der Auftraggeber hatte viel Geld ausgegeben und die dreistellige Summe online bezahlt. Wie Detective Weather und ich erwartet hatten, verliefen alle Spuren im Sand.

Als die Polizei in Cats Wohnung fertig war, standen wir vor der Appartementanlage und unterhielten uns. Der Detective war ebenfalls über Cats Verschwinden besorgt. John und sein Komplize hatten keine Anrufe getätigt und auch keinen Besuch empfangen. Es war also höchst unwahrscheinlich, dass sie vom Gefängnis aus den Auftrag an die Gärtnerei gegeben hatten. Ich war mir aber sicher, dass John mehr wusste, als er zugab. Weather wollte ihn nochmals verhören.

Als wir endlich die Nachricht bekamen, dass Cat an Bord der Maschine war, war ich erleichtert. Das alles war ziemlich seltsam. Ich entschied mich, nach Antworten zu suchen.

»Ich muss kurz weg«, raunte ich Dylan zu, als wir zu Robinson ins Büro zitiert wurden.

»Wo willst du hin? Was soll ich dem Boss sagen?«

»Dir wird schon was Nettes einfallen«, rief ich ihm zu und lief zum Schiebetor. Ich konnte damit leben, dass Robinson mich dafür verfluchen würde. Womit ich nicht leben konnte, war die Ungewissheit, ob der ehemalige Polizei-Chef etwas mit der Rosenscheiße zu tun hatte, mit der man Cat terrorisierte.

Wenig später parkte ich vor der Residenz und starrte auf das Gebäude. Gleich würde ich dem Mörder meines Vaters und dem Mann begegnen, der mich jahrelang erpresst hatte. Wie oft hatte ich mir vorgestellt, ihm ein Messer an die Kehle zu halten und ihn dazu zu bringen, meine Familie in Ruhe zu lassen? Damals war ich zu eingeschüchtert gewesen, hatte zu viel Angst vor ihm gehabt. Wie ein Feigling hatte ich alles hingenommen und mich nie gewehrt.

Erst nachdem Hudson mir mit verschiedenen Kampfsportarten einen Weg gezeigt hatte, die Dämonen in mir zu bezwingen, hatte ich ein Ventil gefunden. Ich wurde älter und begann, den Mord aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Ich akzeptierte, dass Gerechtigkeit nicht immer mit Gesetzen erreicht werden konnte. Selbstjustiz war auch ein Verbrechen, aber ich verstand, warum der Chief so gehandelt hatte. Die Bluttat an meinem Erzeuger lag sechs Jahre zurück, und keinen verdammten Tag hatte ich ihn vermisst. Cats Vater hatte nicht nur Blutrache an dem Vergewaltiger seiner Tochter genommen, sondern auch meine Mom und mich von unserem Peiniger befreit.

Ich schaffte es nicht vollständig, die Erinnerungen an die Nacht am Papenfus Creek abzuschütteln, denn der Chief sorgte dafür, dass ich weiterhin Todesangst um meine Familie hatte. Er hatte mich beobachten lassen, mir Fotos geschickt, die Mom bei der Arbeit und später mit Timi zeigten. Keine Ahnung, wer das für ihn erledigte und ob es sich nur um eine Person handelte. Allerdings wusste er dadurch genau, wo er uns finden konnte, wo wir lebten und wie einfach es für ihn war, uns etwas anzutun. Auf jedem Foto war am Rand der Lauf einer Waffe zu sehen, und mir war klar, was das bedeutete. Er sicherte sich damit mein Schweigen. Erst als ich monatelang keine Post mehr bekommen hatte, begann ich zu hoffen, dass es vorbei war. Nach zwei Jahren Ruhe wagte ich es, New York zu verlassen.

All das sorgte dafür, dass ich nicht an einen Zufall glaubte, als ich erfahren hatte, dass der Chief sich in dieser Residenz in San Francisco eingemietet hatte und Cat nun auch hier war. Nur die Sache mit den Rosen war mir ein Rätsel und passte nicht ins Bild. Zudem fragte ich mich, ob der Chief von der Schwangerschaft seiner Tochter gewusst hatte. Es wurde höchste Zeit für einen Besuch – und vor allem für ein paar Antworten.

Mein Blick war immer noch auf den teuren Bunker gerichtet. Der Chief ließ sich das Leben hier einiges kosten. Die Spence' waren einen gewissen Luxus in Pleasant Hill gewohnt. Mit ihren Autos, einem Chauffeur, Bediensteten, ihren exklusiven Statussymbolen und der Villa waren sie die reichste Familie, die ich kannte. Mein Erzeuger hatte sich früher immer abfällig darüber geäußert und hin und wieder in der Kneipe Stimmung gegen die Spence' gemacht.

Egal, wie viel Kohle sie besaßen und welche Macht der Chief hatte, ich war bereit, ihm die Stirn zu bieten. Die Zeiten, in denen ich mich herumschubsen ließ, waren endgültig vorbei. Ich stieg aus, ging auf das Gebäude zu, lief am Portier vorbei, der mir grüßend zunickte, und betrat die Eingangshalle. Gleich links befand sich der Empfangstresen. Ich trat zu der Dame, die aufsah, als ich am Schalter ankam. »Hallo. Ich möchte gern Mr. Spence besuchen.«

Die junge, hübsche Frau mit blonden Locken lächelte. »Sind Sie ein Verwandter?«

»Nein, ein alter Freund.«

»Dann tragen Sie sich bitte hier ein.« Sie reichte mir eine Liste und einen Stift. Schnell füllte ich alles aus und gab ihr den Wisch zurück. »In Ordnung. Ich melde Sie an«, sagte sie, nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte. »Mr. Spence? Sie haben Besuch. Ein Mr. Graham ist für Sie da ... Sehr wohl, Sir.« Die Empfangsdame legte auf. »Er erwartet Sie in der Fürstensuite.« Sie deutete in den langen Flur hinter mir.

Nickend dankte ich ihr und machte mich mit einem nervösen Ziehen im Magen auf den Weg. Vor seiner Tür angekommen, klopfte ich an. Ein Summen ertönte, und ich trat der Person entgegen, die mein Leben vor sechs Jahren völlig auf den Kopf gestellt hatte.

Ein schmächtiger Mann, der mir den Rücken zugekehrt hatte, saß in einem Rollstuhl und blickte aus dem Fenster. Leise schloss ich die Tür hinter mir.

»Ich habe mich schon gefragt, wann du hier auftauchen würdest, Noah.« In der Mitte der Fürstensuite blieb ich stehen. Er betätigte einen Hebel am Rollstuhl und drehte sich zu mir.

Er war gealtert, sein Haar ergraut, sein Körper gebrechlich, nur sein Blick war scharf und wach wie der eines Adlers. In meiner Erinnerung war er eine respektvolle und große Erscheinung gewesen, aber heute war er ein gebrochener, alter Mann. Mein Instinkt riet mir, vorsichtig zu sein – egal wie harmlos er nun wirken mochte. Ich war froh, dass ich meine Angst im Griff hatte. Ich fühlte mich stark, trotz des leisen, nervösen Zuckens in meinen Eingeweiden.

»Ich bin beeindruckt«, nuschelte er und musterte mich. Cat hatte mir von seinen sprachlichen wie körperlichen Schwierigkeiten erzählt, aber ich war schockiert, es mit eigenen Augen zu sehen und zu hören.

»Aus dem verschüchterten, übergewichtigen Jungen von einst ist ein richtiger Mann geworden.«

Sein Mund hing ein wenig schief, und seinen rechten Arm hielt er steif an sich gedrückt. Er bot mir an, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

»Ich stehe lieber. Danke. Woher wussten Sie, dass ich kommen würde?«

Er steuerte seinen Rolli hinter den Tisch. »Nun, nachdem du von Cat erfahren hast, dass ich hier bin, war es nur eine Frage der Zeit.« Er grinste, was durch seinen hängenden Mundwinkel gruselig wirkte. »Allerdings habe ich gehofft, du würdest früher den Weg zu mir finden. Ich wollte schon jemanden auf dich ansetzen, um dich zu suchen, aber das hat sich nun erledigt.«

Er hatte mich ausfindig machen wollen? Warum?

Das Sprechen strengte ihn an, es klang verwaschen und undeutlich, sodass ich mich auf seine Worte konzentrieren musste. Ich erinnerte mich an seine kalte, raue Stimme von früher. Wie oft hatte ich mich in meinen Träumen vor ihr gefürchtet? Jetzt war der Schrecken aus ihr verschwunden.

»Erzähl, wie geht es deiner Familie?«

Ich lachte schnaubend. Was trieb er für Spielchen? Er tat gerade so, als wären wir Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten und zwischen Whiskey und einer Zigarre über alte Zeiten plauderten.

»Ich bin nicht gekommen, um Smalltalk mit Ihnen zu halten, Mr. Spence. Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Bis heute weiß niemand von unserem Geheimnis.«

»Gut. Ich hoffe, das wird auch so bleiben. Ich würde nur ungern den Befehl erteilen, deinem Bruder oder deiner Mutter etwas anzutun.«

Ich biss die Zähne zusammen. Selbst wenn er krank und gebrechlich war, gab es keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Ich wusste, wozu er auch jetzt noch fähig war. Er hatte seine Leute, die die Drecksarbeiten für ihn erledigten. »Ehrlich gesagt habe ich mich schon gewundert, ob Sie mich vergessen haben. Seit über zwei Jahren habe ich nichts mehr von Ihnen gehört. Von ihrem Komplizen habe ich lange keine Bilder und Drohungen mehr bekommen.«

Er schmunzelte. »Wie du siehst, war ich mit anderen Problemen beschäftigt.« Er deutete auf seine Beine und den Rollstuhl. »Aber keine Sorge, ich hatte immer eine Absicherung, falls du unser Geheimnis doch verraten hättest. Ein Anruf hätte genügt.«

Seine Machtspielchen schüchterten mich nicht mehr ein. Ich war kein kleiner, schwacher Junge mehr, den er mit seinen Drohungen, Fotos oder was auch immer verängstigen konnte. »Was tun Sie hier in San Francisco? Und erzählen Sie mir nicht, Sie sind wegen der guten Pflege in der Residenz.«

»Ob du es glaubst oder nicht, genauso ist es.«

Das nahm ich ihm nicht ab. Auch wenn er an einen Rollstuhl gefesselt, körperlich und sprachlich nicht fit war, schien sein Verstand immer noch scharf und wach zu sein. Ich verschränkte die Arme und beobachtete ihn. Irgendwas störte mich an ihm, ich konnte nur nicht sagen, was es war. Vielleicht hatten das Bild, das ich jahrelang von ihm im Kopf gehabt hatte, und seine jetzige Situation damit zu tun. Der Unterschied zwischen damals und heute war krass. Er war ein Mörder, nun aber krank und gebrechlich an einen Rollstuhl gefesselt.

»Du bist doch nicht ohne Grund hergekommen, oder? Was hast du auf dem Herzen?«

»Nachdem ich von Cat erfahren habe, dass Sie in der Stadt sind, und ich lange nichts von Ihnen gehört habe, dachte ich, es wird Zeit, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten.«

»Um was geht es?«

Aufmerksam musterte ich ihn, hielt einen Moment inne, bevor ich weiterredete. »Zum Beispiel würde ich gerne Näheres über Beckys Tod erfahren.«

Er runzelte die Stirn, und ein harter Zug legte sich um seine Augen. Ich blickte auf seinen gesunden Arm. »Und was genau?«

»War Becky schwanger zum Zeitpunkt ihres Todes?«, platzte es aus mir heraus.

Ruckartig hob er den Kopf und sah mich an. »Wer behauptet das?«

»Ich habe mich gefragt, ob das der Grund für den Selbstmord war«, überging ich seine Frage.

»So ein Schwachsinn.« Er betätigte den Knopf an seinem Rollstuhl, wandte sich von mir ab und griff sich an die Brust. Ein leises Keuchen war zu hören. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und drehte den Stuhl zurück in meine Richtung. »Meine Tochter war nicht von diesem Schwein schwanger.« Die Vorstellung schien für ihn völlig abwegig zu sein, aber andererseits wusste er es vielleicht selbst nicht. »Woher hast du den Mist?«

»Im Laufe der Jahre habe ich mir eben Gedanken gemacht.«

»Dein Vater hat meine Tochter in den Tod getrieben. Er war ein Dreckskerl und hat verdient, was er bekommen hat.« Er war aufgebracht und seine Aussprache ungewöhnlich deutlich. »Becky war krank«, widersprach er vehement. »Uns beiden ist klar, wer sie auf dem Gewissen hat.«

Ich hasste es, an meinen sadistischen Vater erinnert zu werden. Er hatte nicht nur mir das Leben schwergemacht, sondern auch meiner Mutter, Becky und wer weiß wem noch. Nachdem ich erfahren hatte, was für Gräueltaten er begangen hatte, traute ich ihm alles zu. Ich war froh, dass dieser Mistkerl niemandem mehr etwas antun konnte.

Offensichtlich wusste der Chief nichts von Beckys Tagebucheinträgen. Sie hatte diese brisante Information so formuliert, dass man glauben musste, ich wäre der Vater ihres Kindes gewesen. Ich war mir sicher, er hätte damals anders reagiert, wenn er davon gewusst hätte.

»Warum haben Sie mich weiter beschatten lassen?«, fragte ich ihn, um ihn auf ein anderes Thema zu lenken.

Er senkte den Kopf, fing meinen Blick ein und hielt ihn fest. »Du hast wohl geglaubt, dass du mich nach meinem Schlaganfall losgeworden bist, was?«

»Um ehrlich zu sein, ich habe es gehofft, Sir.«

Er grinste schief und gequält. »Tut mir leid, aber ich bin noch am Leben.« Das Grinsen verschwand jedoch sofort, und er lehnte sich ein Stück über den Tisch. »Hör zu, Noah. Ich will, dass du etwas für mich tust.« Ich kniff die Augen zusammen. Verschwörerisch senkte er seine Stimme. »Bring Cat dazu, dass sie die Stadt verlässt.«

»Ich soll was?«

»Ich weiß, wie sehr du meine Tochter immer noch magst ... Ich will, dass du deine Beziehung zu ihr beendest, und zwar noch heute.«

Cat sollte aus San Francisco verschwinden? War das nicht auch die Forderung, die der Rosenstalker an sie hatte? »Ist das eine neue Erpressung?«

»Sieh es, wie du willst.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Du tust, was ich dir sage, Cage Fighter. Sorg dafür, dass meine Tochter San Francisco verlässt, dann wird deiner Familie kein Haar gekrümmt und dein illegales Geschäftsgeheimnis bleibt bei mir.«

Scheißkerl! Wut stieg in mir auf. »Oder Sie bringen Cat selbst um, wenn ich mich nicht an Ihre Forderung halte?«

Fragend sah er mich an. »Umbringen? Wovon sprichst du?«

Der Mistkerl war einfach unglaublich. Stellte er sich absichtlich blöd? »Sie widern mich an, Chief. Den Mord an meinem Vater konnte ich nachvollziehen, aber dass Sie gegen Ihre eigene Tochter so brutal vorgehen würden, das ist erbärmlich. Was sind Sie nur für ein Mensch?«

»Wovon zum Teufel sprichst du?«

»Tun Sie nicht so, das wissen Sie genau. Sind nicht Sie es gewesen, der ihr Blumen mit Drohungen geschickt hat, der bei ihr einbrechen und sie sogar krankenhausreif schlagen ließ? Und einen Freund von uns haben Sie auch verprügeln lassen. Alles nur, weil Sie Cat von hier vertreiben wollten? Warum? Was ist der Grund?«

Unruhig wanderte sein Blick durch den Raum, dabei schüttelte er immer wieder den Kopf. Der Chief ballte seine linke Hand zur Faust. An seinem Hals traten Adern hervor, und er rang um Fassung. Er war es nicht gewohnt, dass man ihn unter Druck setzte. Auch früher schon nicht. Cat war die Einzige gewesen, die ihm widersprochen und sich deshalb stets Ärger eingehandelt hatte.

»Wovon zur Hölle redest du? Was ist passiert? Ich würde meiner Cat doch nie ...«

Wusste er es nicht oder spielte er Theater? Es war schwer, ihn einzuschätzen, aber konnte man einem Mörder glauben?

»Rede!«, zischte er mich undeutlich an und schlug ungeschickt die Faust auf den Tisch.

»Fragen Sie doch Ihre Tochter. Ach, das geht ja nicht, weil sie heute nach Pleasant Hill geflogen ist. Sie scheinen Ihr Ziel erreicht zu haben, Mr. Spence.«

Perplex starrte mich der ehemalige Polizei-Chef an, dabei schien sein Hirn auf Hochtouren zu arbeiten. »Wa...? Wieso weiß ich nichts davon?«

»Was glauben Sie denn?«

Ich erzählte ihm kurz von den Ereignissen und erklärte, warum Cat ihn eine ganze Weile nicht besucht hatte. Er sah besorgt aus, und ich neigte dazu, ihm zu glauben, dass er vielleicht doch unschuldig war. Andererseits pochte mein Instinkt darauf, aufmerksam zu bleiben. Ich verschwieg ihm die Festnahme von John und dem anderen Komplizen. Falls die beiden in seinem Auftrag gehandelt hatten, könnte ich nach einer Verbindung zwischen ihnen suchen. »Ihre neue Erpressung war also völlig unnötig. Cat ist bereits in Pleasant Hill.«

»Sie hat San Francisco verlassen?«, murmelte er.

»Warum wollten Sie, dass Cat nach Pleasant Hill zurückkehrt? Verstehen Sie nicht, dass Ihre Tochter Sie liebt und nicht im Stich lassen will?« Er schien mir gar nicht zuzuhören. Seine Lippen bebten, und er schaute durch mich hindurch, während er all die Informationen verarbeitete. »Sagen Sie mir die Wahrheit. Warum wollten Sie Cat nicht bei sich haben?«

Schweigend erwiderte er meinen Blick, und da er keine Anstalten machte, mir zu antworten, stand ich auf und schlenderte zur Tür. Die Begründung, die er Cat gegeben hatte, nahm ich ihm nicht ab. Wieso sollte jemand seine Tochter verlassen, nachdem sie ihn aufopferungsvoll gepflegt hatte? Oder wollte er vielleicht doch seinen Ruhestand als einsamer Wolf genießen?

Ich war mir nicht sicher. Der Chief war auch jetzt ein gerissener Hund.

»Sorg dafür, dass Cat in Pleasant Hill bleibt.«

»Und wenn ich es nicht tue?«

»Das kannst du dir doch denken, oder?«

Es war alles gesagt. Schweigend lief ich aus der Suite und schloss die Tür hinter mir. Erleichtert lehnte ich mit dem Rücken dagegen und war froh, ihm nicht länger gegenüberstehen zu müssen. Kurz hielt ich inne und lauschte, ob er mir nachkommen und noch etwas zurufen würde. Stattdessen vernahm ich üble Flüche, aber er blieb, wo er war.

»Wir haben ein Problem«, hörte ich den Chief in der Fürstensuite deutlich und mit klarer Stimme sagen. »Kommen Sie in die Residenz. Sofort!«

Es erstaunte mich, wie gut er sich plötzlich artikulieren konnte. Kein Sprachfehler, keine Silben, die er verschluckte. Dann folgten Schritte. War jemand bei ihm? Irgendetwas stank gewaltig, daran hatte ich keinen Zweifel mehr. Der Chief spielte wieder seine verdammten Spielchen.

3

 

 

Cat

 

 

 

Sonnenstrahlen kitzelten mich. Ich brauchte einen Moment, um wach zu werden. Orientierungslos richtete ich mich auf. Ich war zu Hause. Mein Hirn sprang wie ein alter Leierkasten an, und sofort drang die Erinnerung von gestern wieder in mein Bewusstsein.

Nachdem die Panikattacke abgeklungen war und ich mich beruhigt hatte, war ich zum Gästehaus gelaufen und hatte Martha gesucht. Ursprünglich hatte sie ein Zimmer im Erdgeschoss der Villa bewohnt, aber als Dad aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war es für alle Beteiligten einfacher gewesen, dass er in Marthas Räumlichkeit einzog. So konnte er mit dem Rollstuhl auch mal auf die Terrasse. Im Gegenzug hatte ich mich bei Mom durchgesetzt, dass unsere Haushälterin ins Gästehaus ziehen durfte. Dort hatte ich gestern Abend vergeblich auf sie gewartet. Resigniert war ich irgendwann zurückgegangen und hatte Martha in Gedanken verflucht, da sie sich immer geweigert hatte, sich ein Handy anzuschaffen. Als unnötigen elektronischen Firlefanz hatte sie die Dinger bezeichnet.

Ich sprang auf und lief in das angrenzende Badezimmer. Ich hatte wieder die Fragen im Kopf, die mich aus San Francisco fortgetrieben hatten. Je länger ich über eine mögliche Schwangerschaft Beckys nachdachte, desto mehr begriff ich, in welchem Dilemma meine Schwester gesteckt haben musste. Mom und Dad wären ausgeflippt, hätten wahrscheinlich alles getan, um einen Skandal wie diesen zu verhindern. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass meine Eltern sie zu einem Schwangerschaftsabbruch gedrängt hätten und Noah dazu, Pleasant Hill zu verlassen.

Oder war er freiwillig abgehauen, hatte sie im Stich gelassen und war deshalb verschwunden? So weh diese Version tat, sie konnte passen … oder nicht? Bei dem Gedanken schrie mein Herz auf, wollte mich an den Schultern packen und schütteln. Falls das die Wahrheit sein sollte, war ich mir sicher, dass ich mich nicht so schnell davon erholen würde.

Welche Erklärung gab es sonst? In mir brannten Fragen, und Martha war vielleicht die Einzige, die Licht ins Dunkel bringen konnte. Ich musste sie unbedingt finden.

Eine Katzenwäsche würde ausreichen. Schnell zog ich mich an und machte mich auf den Weg nach unten, wo alles still war. Langsam beschlich mich die Angst, dass Mom Martha tatsächlich verjagt haben könnte. Gerade wollte ich noch einmal im Gästehaus nachsehen, da hörte ich ein dumpfes Geräusch aus dem Salon. Ich ging hinüber und öffnete die Tür einen Spalt. Ein muffiger Geruch empfing mich. Die Jalousien waren komplett heruntergelassen, nur die kleine Lampe am Flügel war eingeschaltet. Der Fernseher flimmerte lautlos. Wo zuvor noch gefeiert worden war, war jetzt nur Chaos übriggeblieben.

»Geh weg, du alte Hexe! Ich hab dir gesagt, dass ich niemanden sehen will«, lallte Mom herablassend.

Alte Hexe? So hatte sie mich noch nie betitelt. Ich trat hinein. Ein Sonnenstrahl aus der Empfangshalle strömte in den Salon, sodass ich schemenhaft ihre Gestalt im Ohrensessel erkennen konnte. Ich ging zu ihr und blieb wortlos vor ihr stehen.

Mom sah schrecklich aus. Dunkle Schatten deuteten auf zu wenig Schlaf hin. Ihr Make-up war verschmiert, und die sonst so schöne Lockenmähne stand strähnig und wirr zu allen Seiten ab. Sie trug noch immer ihr Partyoutfit, das mit undefinierbaren braunen Flecken besudelt war. Ich war nicht geschockt; der Anblick war mir nicht fremd.

Sie beugte sich vor, um mich anzusehen. »Du? Was willst du hier?«

Die Eiswürfel schlugen leise gegen ihr Glas, und es war ihr noch nicht einmal unangenehm, dass ich sie beim Trinken beobachtete. Ihr Alkoholdunst strömte mir entgegen, und ich unterdrückte ein Würgen. Nur meine Abscheu und die Enttäuschung konnte ich nicht verbergen. Ihr Rückfall weckte böse Erinnerungen, die zu unserem schlechten Verhältnis beigetragen hatten. Ohne ein Wort wandte ich mich ab, ging zum Rolloschalter, der an der Wand neben der Fensterfront angebracht war, und drückte den Knopf. Die Jalousien setzten sich in Bewegung, und Tageslicht durchflutete den großen Raum.

Sofort fluchte Mom. »Verdammt noch mal, Catherine! Lass sie wieder runter!«

Mit einer Hand schirmte sie ihre Augen vor dem hellen Licht ab, und das Ausmaß ihrer nächtlichen Partyorgie wurde sichtbar. Überall um sie herum lagen leere Champagner- und Whiskeyflaschen, sogar vor dem Piano hatten sie nicht haltgemacht. Die Gäste hatten schmutziges Geschirr mit Essensresten darauf abgestellt. Auf dem Boden vor dem Sessel stapelten sich Fotoalben, aus denen einige Bilder von Becky herausgefallen waren. Was für ein Chaos! Dad wäre ausgerastet.

»Wie kannst du zulassen, dass –«

»Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten«, unterbrach sie mich.

Nach ihrer letzten Entziehungskur vor vier Jahren schien es, als hätte sie ihr Problem in den Griff bekommen. Sie hatte wieder gearbeitet, war beliebt in der Gemeinde gewesen und hatte Erfolg gehabt. Als ich mich damals dazu entschied, zu Dad nach San Francisco zu gehen, warf sie mir vor, sie im Stich zu lassen, verweigerte mir sogar jede finanzielle Unterstützung, wenn ich nicht nach ihrer Pfeife tanzte. Selbst Dad schlug sich auf ihre Seite, aber seine Motivation lag lediglich darin, dass er es lieber gehabt hätte, ich würde endlich studieren und mir ein Leben aufbauen.

Mom war rechthaberisch, egoistisch und ein absoluter Snob. Sie liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, hielt sich für eine großartige Mutter, die alles für ihre Töchter getan hatte. Für sie war immer nur Becky wichtig gewesen und die berufliche Entwicklung, die meine Schwester einmal machen sollte. Ich war die ungezogene, lästige zweite Wahl. Das hatte sich auch nach Beckys Tod nicht geändert. Obwohl ich keinen Grund gehabt hätte, Mitgefühl zu empfinden, tat meine Mutter mir dennoch leid. Tief in mir lauerte das winzige schlechte Gewissen, das sie mir eingeredet hatte, als ich beschlossen hatte, Pleasant Hill zu verlassen.

»Schau nicht so«, herrschte sie mich an. »Ich trinke, ja und?! Wieso bist du überhaupt hier? Hat dein Daddy«, sie spie das Wort fast angewidert hervor, »dich endlich weichgeklopft? Oder brauchst du Geld?« Sie richtete sich auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Verschwinde und nimm Martha gleich mit. Sie ist gefeuert. Sag ihr das«, brabbelte sie, rollte sich wie ein beleidigtes Kind im Sessel zusammen und zog eine Decke über ihre Schulter.

Kaum merklich schüttelte ich den Kopf und blickte ihr finster entgegen. Sie wusste genau, dass eine Kündigung Unsinn war. Mein Grandpa väterlicherseits hatte damals in seinem Testament bestimmt, dass unsere Haushälterin unkündbar war. Für mich gehörte Martha zur Familie, deshalb gab ich nichts auf das, was Mom in ihrem betrunkenen Zustand faselte.

»Auch auf die Gefahr hin, dass es dir nicht passt, ich bleibe. Und was Martha betrifft: Du weißt genau, dass du ohne sie aufgeschmissen bist. Wo ist sie?« Ich öffnete alle Fenster und die Tür zum Garten, um kühle, saubere Luft hereinzulassen. Der Gestank war nicht zum Aushalten. Anschließend machte ich mich daran, die Fotos vom Boden einzusammeln und ins Familienalbum zurückzustecken.

»Keine Ahnung.« Mom wollte ihren Whiskey ansetzen, doch bevor das Glas ihre Lippen berührte, entriss ich es ihr. »Gib das sofort wieder her, Cat!«

»Nein. Geh dich duschen und zieh dir etwas Frisches an. Du siehst schrecklich aus, Mom. Ich suche Martha, und wenn du Glück hast, helfen wir dir vielleicht beim Saubermachen.«

Damit ließ ich sie allein, nahm im Vorbeigehen noch einige leere Flaschen mit und lief in die Küche. Es war hart, die eigene Mutter so zu sehen. Wenn sie so drauf war, nutzte sie jede Gelegenheit, um mir wehzutun. Sie zeigte mir, wie sehr sie unter Beckys Tragödie litt. Jedes Mal sah ich in ihren Augen, dass sie sich wünschte, ich hätte mir den Strick um den Hals gelegt und nicht Becky.

In der Küche stellte ich alles auf der Theke ab, dabei fiel mein Blick auf ein riesiges Vorratsglas, das auf dem Regal neben dem Küchenschrank stand. Daraus leuchteten mir Grandmas rosafarbene Erdbeerbonbons entgegen. Meine Nervennahrung. Sofort lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich nahm das Glas herunter, öffnete es, griff herzhaft mit der Hand hinein und stopfte mir so viele wie möglich in meine Hosentasche. Ich steckte sogar einige in meine Gesäßtasche und bemerkte nicht, dass mich jemand dabei beobachtete.

»Cat?« Martha ließ vor Überraschung ihre Einkaufstaschen fallen und sah mich völlig entgeistert an.

»Na endlich! Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Freudestrahlend stellte ich das Bonbonglas ab und lief ihr entgegen, um sie an mich zu drücken.

»Um Gottes willen, Kind, was machst du denn hier? Ist etwas mit deinem Vater?« Sie löste sich aus der Umarmung und sah mich sorgenvoll an. Dann zog sie mich erneut an ihre weiche Brust. Wie hatte ich sie vermisst!

»Nein, es geht ihm gut. Wo hast du gesteckt?«

»Ich habe eine alte Freundin besucht, wieso? Wie kommst du überhaupt hierher?«, wollte sie wissen, nachdem sie mich von oben bis unten gemustert hatte.

»Erst mit dem Flugzeug, dann mit dem Bus«, witzelte ich. Es tat gut, in ehrliche Augen zu blicken, ein warmes Lächeln zu bekommen und sich willkommen zu fühlen. Mit dem im Nacken gebundenen Dutt und ihrem klaren, wachen Blick sah sie genauso vertraut und liebenswürdig aus wie immer.

»Was ist passiert? Geht es dir und deinem Vater wirklich gut?«

Ihr konnte ich nichts vormachen. Sie hatte mich schon als Baby gekannt und immer gewusst, wenn ich was zu verbergen versuchte. Ich schaute zu Boden. »Martha, du musst mir helfen. Ich habe etwas Schreckliches erfahren und ...«

Sie griff sich an die Brust. »Himmel, Mädchen! Du machst mir Angst.«

Ich schielte zur Tür, weil ich nicht wollte, dass Mom davon etwas mitbekam. »Es geht um Becky.«

»Um deine Schwester? Was ist mit ihr?«

»Können wir in mein Zimmer gehen?«, fragte ich leise. »Dort sind wir ungestört.« Ich bückte mich und hob die herausgepurzelten Äpfel auf. Nachdem ich ihre Tragetasche auf der Theke abgestellt hatte, kam sie bereitwillig mit mir nach oben.

In meinen vier Wänden angelangt, setzten wir uns auf mein Bett. Als ich ihr von Noah erzählte, meiner Beziehung zu ihm, den seltsamen Rosen mit den Drohungen, dem Angriff im Park, dem Einbruch in Inmas Wohnung, Spike, der beinahe mit seinem Leben bezahlt hatte, und zuletzt von Beckys Tagebuch, das ich in einem meiner Umzugskartons gefunden hatte, war Martha vollkommen geschockt. Unsere arme Haushälterin war ganz und gar aufgelöst, als ich endete. Das letzte Rosenmeer, das ich vor der Abreise in meinem Appartement entdeckt hatte, verschwieg ich. Die Tatsache, dass ich eventuell wieder in Gefahr war, würde sie nur noch mehr aufwühlen.

»Jesus, Maria und Josef!« Sie stöhnte und bekreuzigte sich mehrfach. »Noah Graham ... unglaublich! Und ihr seid ...?«

»Ja, irgendwie sind wir zusammen, aber es ist kompliziert. Erst recht, nachdem ich das hier gefunden habe.« Ich kramte das Tagebuch aus meiner Tasche und streckte es ihr entgegen.

Sie runzelte die Stirn. »Das kommt mir bekannt vor.«

»Das ist Beckys Tagebuch. Lies die letzten Einträge.«

Martha blätterte darin, während ich wartete. Sie hob die Brauen, riss dann die Augen auf, als sie zu den brisanten Stellen kam. Erst nach einer Weile klappte sie es zu und schaute nachdenklich in die Ferne. »Ich bin sprachlos, Kind. Das ist ...«

»Genau, es ist beängstigend. Noah hat gestern alles abgestritten, aber warum sollte Becky so etwas schreiben, wenn es nicht wahr ist? Du hast sie gekannt. Sie war ein ehrlicher Mensch, zwar verschlossen und still, doch sie hätte niemals Lügen in ihr Tagebuch gekritzelt.«

»Das stimmt, aber du darfst nicht vergessen, dass sie krank war. Sie lebte in ihrer eigenen Welt, zu der wir nie Zutritt hatten. Deine Schwester war ein liebes Mädchen, aber sie war voller Geheimnisse.«

Erstaunt hob ich die Brauen. »Was meinst du damit?«

»Manchmal hat sie Selbstgespräche geführt, wirres zusammenhangloses Zeug. Einmal hat sie sogar laut gelacht über ihren Monolog. Erst als sie Medikamente bekam, wurde es besser.«

»Medikamente? Davon hatte ich ja keine Ahnung.«

»Deine Eltern wollten nicht, dass sich das in Pleasant Hill herumspricht. Du weißt doch, wie die Leute hier sind. Schnell werden irgendwelche Geschichten in die Welt gesetzt. Deshalb behielten sie es für sich. Offiziell sagten sie, Becky würde zu ihren Gesangsstunden gehen, wenn sie einen Termin bei ihrem Psychologen hatte. Das war zweimal die Woche.«

Ich erinnerte mich, dass Becky viele Gesangsproben gehabt hatte, aber dass sie in diesen Stunden bei ihrem Psychiater gewesen war, davon hatte ich bis jetzt keine Ahnung.

»Was soll ich denn jetzt glauben, Martha? In dem Tagebuch steht es nun mal schwarz auf weiß: Becky war schwanger von Noah. Erinnerst du dich, wie traurig sie damals war, als er gegangen ist? Sie muss total verzweifelt gewesen sein. Wahrscheinlich hatte sie Angst vor Moms und Dads Reaktion. Womöglich wussten sie es und haben sie zu einem Abbruch gezwungen. Wenn Becky wirklich ein Kind von Noah erwartet hat und er deshalb Pleasant Hill verlassen hat, dann ... dann hat er sie auf dem Gewissen.« Meine Stimme brach, und ich schluckte die aufkommenden Tränen hinunter.