3,99 €
Günter Knauss, der unbestechliche steirische Ermittler, wird - gemeinsam mit seiner Kollegin Anni, zu einem Mordfall gerufen. Diesmal ist es ein Kind das sein Leben ließ. Ein emotional anspruchsvoller Fall für Günter und Anni.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 87
Veröffentlichungsjahr: 2019
"Ja, natürlich", sagte er langsam. Sie dachte an die Kinder, die bisher verschwanden. Sie waren auch oft erst später aufgefunden worden - manchmal ähnlich wie dieses hier. Noch nie hatte es jemand gewagt, jemanden von aussen hinzuzuziehen. Noch nie wurde die Polizei in solchen Fällen verständigt. Von vier, fünf hatte sie selbst gehört - sowas wurde vertuscht. Die Kinder wurden abgängig gemeldet, von ihren Eltern, aber man fand sie nicht oft. Manchmal suchten die verzweifelten Eltern jahrelang. Aufrufe in der Zeitung und im Radio, Infoblätter an den Bäumen mit Suchhinweisen. Alles vergeblich. "Hat er wieder zugeschlagen?", riss er sie aus ihren Gedanken. Der Lieferant trat näher und blickte sich um. Keine Kampfspuren. Nur abgelegt. "Wer?" "Du weißt genau, wen ich meine", antwortete der junge Mann gereizt. Er deutete mit dem Kopf in Richtung Wirtschaftsgebäude. Die Erzieherin wusste in der Tat, wen er meinte. Seit Jahren gab es Gerüchte, es verschwänden Kinder aus dem Hort. Auch aus dem Dorf. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass dies allgemein bekannt war. Nun würde der Tod dieses Jungen im Ort zum Gespräch werden. In diesem Moment parkte ein Auto auf dem Hof. Der Lieferant hatte längst bemerkt, dass die Erzieherin unter Schock stand und ging die Teppen nach oben um den Beamten den Weg zu weisen. Zum toten Jungen. Günter Knauss trug schwarz. Der Ermittler der Weststeiermark war von oben bis unten in eleganten dunklen Zwirn gehüllt. In seinem Beruf war der Tod kein seltener Besuch. Auch Anni trug gedeckte Farben, wenn auch nicht so elegant wie ihr Kollege. Ihr Anzug war aus der neuen Kollektion eines hiesigen Schneiders, er sie vor einiger Zeit als Modell für seine, den Herrenanzügen nachempfundene, Kollektion entdeckte. Sie betrachtete Herrenanzüge als passende Berufsbekleidung, so wurden die beiden bald einig und sie bezog fast all ihre Dienstkleidung bei diesem Unternehmer. Knauss und Anni wurden in den Keller geleitet. Der Mann in Lieferantenuniform hastete. Anni fragte sich, wozu die Eile überhaut noch erforderlich war? Der Tod war ja bereits eingetreten. Ein großer Nachteil in ihrem Beruf, wie sie fand. Sie sinnierte über den Gedanken noch einen Augenblick, ehe sie den Knaben im Kohlenkeller erblickte. Enttäuscht, dass der Junge tatsächlich nicht mehr am Leben war, sah sie sich dort um. Es erfasste sie ein Gefühl der Wut auf jene, die diesen Tod nicht verhindert hatten. Eine Enttäuschung gewissen Ausmasses. Sie versuchte, sich diese Gedanken nicht anmerken zu lassen, schließlich war es ihre Aufgabe, sich um diese Vorfälle zu kümmern, diese aufzukären. Ein Dienst an jenen, für die man zu spät gekommen war, nicht rechtzeitig eingewirkt hatte. Und dennoch, ein emotionaler Moment. Sie schloss aus der Position des Körpers und aus der Art, wie der Kohlenstaub seinen Körper überzog, dass man ihn einige Zeit übersehen hatte. Absichtlich oder unabsichtlich. Möglicherweise hätte man ihn früher entdecken können. Durch die kleine Öffnung in der Wand zum Heizraum konnte man mit einer Schaufel direkt Kohle oder Koks in den Ofen schaffen. Dies war auch geschehen. Aber den Jungen hatte man nicht entdeckt. Wohl aber hatte ihn dies mit dem Kohlenstaub versehen, der jetzt auf seinem Haar und seiner Haut glitzerte. Knauss sprach gerade mit der Erzieherin, die einen beherrschten Eindruck auf auf Anni machte. Sie war leicht untersetzt und die etwas zu strenge Aufmachung hätte besser in die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts gepasst. Sie hörte, wie er sie bat, sich für ein weiteres Gespräch bereitzuhalten. Er wollte mehr über den Hintergund des Jungen erfahren. Knauss geleitete sie zum unteren Treppenabsatz und widmete sich danach wieder dem vermeintlichen Tatort. Jungen wie dieser, der hier tot vor ihm lag, gingen hier zur Schule, spielten im Garten Fußball und wurden im Hort versorgt. Sie wurden nicht ermordet. Das wollte nicht in seine Gedanken. Doch er war eigens für diesen Moment ausgebildet worden und, auch wenn er Gott-sei-Dank nicht oft zu solchen Fällen gerufen wurde, er sollte die Routine besitzen, diese ohne allzugroße emotionale Involviertheit aufzuklären. Kindermorde waren eben schwierig. Und dies war ein Mord. Kein Unfall. Anni untersuchte währenddessen den hinteren Bereich des Kohlenkellers und den Heizraum. Sie hörte, wie Günter im Nebenraum telefonierte. Wohl offenbar waren die Kolleginnen und Kollegen von der Spurensicherung gefordert und sollte keine Zeit verlieren, den kleinen Leichnam zu bergen. Warum eigentlich, fragte sie sich trotzig. Warum sollte man so viele Schüler und Lehrer, Erzieher nicht mit dem Geschehenen konfrontieren? Ein kleiner Junge, ein Schutzbefohlener, hatte gewaltsam sein Leben gelassen und nun wollte ihr Kollege die, die weggesehen hatten, damit dieser Tod stattfinden konnte, schonen? Etwas rebellierte in ihr. Alles drehte sich plötzlich. Sie empfand Übelkeit und verließ den Raum schnell um Luft zu schnappen. Sie fühlte Trauer. Günter Knauss sah sich indes im übrigen Keller um. Kühltruhen, Kästen, ein Heizraum. Im nächsten Raum verwahrloste, verflieste Duschkojen. Kalt, unfreundlich. Wie ungern er selbst hier duschen würde. Er erinnerte sich plötzlich an die Polizeikaserne, in der die sanitären Gegebenheiten während seiner Ausbildung ähnlich waren. Und an seine Abneigung gegen Sport. Die Angst vor dem Fußpilz bei jedem Schritt und die Überwindung, sich immer in diese Atmosphäre nackt zu entkleiden. Es hatte geraume Zeit gedauert, dass er diese Erlebnisse vergessen und seine Begeisterung für Mannschaftssport wiedergefunden hatte. "Was entdeckt?", riss ihn Anni aus dem Gedanken, die sich inzwischen wieder gefangen hatte und hinter ihm stand. "Nur Erinnerungen an meine Jugend." "Bei diesem Anblick denkst du an Deine Jugend?", gab sich Anni erstaunt, als sie über seine Schulter blickte. "Ja, Sport. Wir hatten solche Duschgelegenheiten ... oder Duschpflichten?", überlegte er beiläufig, "Komisch, dass sich der Trend zu Plexiglas-Duschkojen erst nach meiner aktiven Zeit etabliert hat. Und offenbar auch nicht überall, wie ich gerade sehe. Da verliert man ja jede Lust an Körperhygiene." Ein Schauer lief über seinen Rücken. "Wahrscheinlich will man alle duschenden Kinder im Blick haben", überlegte Anni. "Dass keiner was anstellt, mit sich oder den anderen. Oder man will mit allen zusammen was anstellen. Ich hab gelesen, da gibt es eigenartige Rituale." "Du dürftest sogar Recht haben. Unfassbar, dass du mich nach so vielen Jahren noch überraschst, was die menschliche Natur und ihre Absichten betrifft." Er verließ die Räumlichkeiten und lenkte seine Schritte wieder in den Flügel mit dem Heizraum und den Kohlenkeller. Nach einer kurzen Besichtigung der übrigen Räume, wandte er sich wieder dem jungen Mordopfer zu. Es war immer dieselbe Fassungslosigkeit, die ihn bei Fällen dieser Art nahezu sprachlos machte: 'Wie konnte jemand einen so jungen Menschen aus dem Leben scheiden lassen? Wer war zu einer solchen Tat fähig? Wohlweisslich, dass seine Eltern ihn lieben und nicht nur die, sondern auch Verwandte, Bekannte, Freunde? Vielleicht hatte er sogar schon eine Freundin?' Dass ihn seine Umgebung mochte, daran kann es keinen Zweifel geben. Die hellbraunen Haare kurz geschnitten, die Kleidung tadellos. Pulli, Jeans, T-Shirt, Turnschuhe. Gerade spielte er noch, dann traf er seinen Mörder, der ihn hier offenbar ablegte. Wie gelangte er an seinen Mörder? Oder der Mörder an ihn? Schließlich wohnt der Junge im Hort. Man brauchte nur nach oben zu gehen, und hatte zu seinem Privatleben Zugang. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, antwortete Anni: "Bei uns im Ort gab es auch ein Kloster, in dem Kinder untergebracht waren. Dort war der Keller ein Strafort. Hatte eines was angestellt, wurde es in den Keller gesperrt. Dabei muss noch nicht viel an Vergehen stattgefunden haben, oft wurden die Kinder auch nur gleich so in den Keller gesperrt. Präventiv quasi." "Du meinst", überlegte Knauss, "der Fundort ist ein Hinweis auf den Hintergrund? Dass er praktisch hier abgelegt wurde, weil uns der Täter sagen will, 'er war ein schlimmer Bub'?" "So ungefähr." "Es könnte aber auch sein, dass der Bub einfach im Affekt starb und der Täter, oder die Täterin, keinen anderen Einfall hatte, als ihn hier abzulegen. Vielleicht wusste der Täter von diesem Ort." "Oder die Täterin." "Aber hier sind in erster Linie Jungs im Hort und in der Schule. Keine Mädchen. Die Täterin müsste dann schon Erzieherin sein." Zum Glück durfte er alle solche Gedanken aussprechen. Er und Anni hatten inzwischen ein solches Vertrauensverhältnis, dass eine Ermittlung in alle Richtungen möglich war, ohne dass es zu unvorhersehbaren Reaktionen kam. "Hm. Also könnte sich ein Täter, der hier vielleicht selbst einst Zögling war und -", der Blick fiel auf den Lieferanten, der die Polizei verständigt hatte, "- den Hausbrauch kennt, den Jungen getötet und hier abgelegt haben." "Ja, aber warum hätte dieser jemand dann die Polizei verständigen sollen? Wo ist das Motiv?", sinnierte er. "Nun, das war nur ein Gedanke. Erst die Untersuchung wird uns Aufschluss geben, woran er starb. Aber jedenfalls deutet alles auf innere Verletzungen hin." Eigenartig, dass man anscheindend mit dem Stigmata des Schlimmseins eine Art Erklärung für den Ermittler hinterlassen kann, grübelte Günter. Ist er tatsächlich eine Art Grätz'n gewesen, oder hat sich der Täter - oder die Täterin - nur einer solchen, in der Gesellschaft weithin geltenden Etikettierung bedient, um uns in eine Richtung zu lenken?, dachte er leise vor sich hin. So können wir uns beruhigt eines anderen Falles widmen, denn dieser Fall ist praktisch dargelegt. Tod begründet durch mangelnde Angepasstheit, schwer erziehbar. Der sandige Betonboden knirschte leise unter seinen Schritten. "Sag", wandte sich Günter an Anni, "was ist noch so geschehen im Erziehungskloster in Eurem Ort?" "Eine ganze Menge. Dort war immer was los." "Was zum Beispiel?" "Gerüchteweise ist der Pfarrer Vater einiger Kinder gewesen. Doch der wurde dann aus den Diensten der Kirche entlassen, als das aufflog, denn als Geistlicher wird man vom Vatikan dazu angehalten, sich um die Kinder zu kümmern, die man in die Welt setzt." "Und in Hinblick auf die Unterbringung der anderen Kinder?" "Du meinst, welche Erziehungsmethoden dort üblich waren?" "Ja." "Nun, die Kinder wurden in die Keller gesperrt, und die Erzieher ließen sie später wieder raus. Meist waren sie vom Katecheten, der den Religionsunterricht leitete, in die Kammern gewiesen worden. Leider waren die weltlichen Erzieherinnen und Erzieher in der Unterzahl, weshalb man ab und an auch mal einen Schüler darin vergaß." "Erzähl weiter!", bat Günter, der selbst von solchen Dingen schon gehört hatte. "Diese suchten sich dann Schlupflöcher und gelangten durch die Kohlenrutsche oder Lüftungsöffnungen ins Freie. Andere erinnerten an sich durch lautes Klopfen. Manche wurden auch von ihren Freunden gesucht und baten die Erzieher, die bestraften Kinder wieder herauszuholen. Wenn dies geschah, dann horteten sich die Kinder in verschworenen Gruppen zusammen, die sich Geheimnisse, wie Möglichkeiten der geheimen Kommunikation oder des Entkommens aus den Gemäuern teilten. Oft wurden auch Schwächen der Pfarrer, Lehrer und Erzieher ausspioniert und in diesen Fällen verwendet, um Mitglieder der Bande wieder freizukriegen." "Du kennst dich aber gut aus." Anni lächelte in sich hinein und verbarg, welche Quellen sie hatte. "Bist du nie ausgebüchst als Kind?" "Nein, eigentlich hat mich nie einer wo eingesperrt. Wir haben uns aber alle möglichen Wege in und aus den Gebäuden gesucht. Das kam mir später beim Fensterln sehr zugute", grinste Günter. "Du hast gefensterlt?" "Ja." "Kaum zu glauben. Wo denn?", fragte sie neugierig. "Ich meine bei wem?" "Ich glaub nicht, dass ich Dir das auf die Nase binden sollte. Du bist ja dann wieder nicht zu bremsen und googlest herum."